Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen...

49
Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen Arbeit mit Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung Wie lässt sich die professionelle Beziehung in der sozialen Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung bewusst gestalten? Bachelorarbeit Vorgelegt von Jeannette Völker Studiengang Soziale Arbeit urn:nbn:de:gbv:519-thesis 2016 0440-6 Hochschule Neubrandenburg Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung 1. Betreuer: Prof. Dr. Anke Kampmeier 2. Betreuer: Prof. Dr. Werner Freigang

Transcript of Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen...

Page 1: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in

der sozialen Arbeit mit Menschen mit

sogenannter geistiger Behinderung

Wie lässt sich die professionelle Beziehung in der sozialen Arbeit

mit Menschen mit geistiger Behinderung bewusst gestalten?

Bachelorarbeit

Vorgelegt von

Jeannette Völker

Studiengang Soziale Arbeit

urn:nbn:de:gbv:519-thesis 2016 – 0440-6

Hochschule Neubrandenburg

Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung

1. Betreuer: Prof. Dr. Anke Kampmeier

2. Betreuer: Prof. Dr. Werner Freigang

Page 2: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

Abstrakt

Zwischenmenschliche Beziehungen, ihre Bedeutung und ausgewählte As-

pekte, mit denen sie bewusst gestaltet werden können, sind die Kernpunkte

dieser Arbeit.

Die Auseinandersetzung mit dem komplexen Begriff der geistigen Behinde-

rung erweitert zielführend den Blick auf eine ethische Grundhaltung.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Beziehungen im professionel-

len Kontext durch systemtheoretische Grundsätze und Haltungen des Sozi-

alarbeiters, durch Beachtung der Phänomene zwischenmenschlicher Kom-

munikation und Sensibilisierung in Bezug auf psychotherapeutische Grund-

sätze, bewusst positiv und entwicklungsfördernd gestaltet werden können.

Page 3: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

Inhaltsverzeichnis

Einleitung................................................................................................................... 1

1 Aspekte zum Begriff der Beziehung ................................................................. 4

1.1 Die professionelle Arbeitsbeziehung .................................................................... 4

1.2 Pädagogischer Ansatz in der professionellen Arbeitsbeziehung .......................... 5

2 Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung ........................................ 7

2.1 Der Begriff der geistigen Behinderung ................................................................. 7

2.2 Geistige Behinderung und die Klassifikationen .................................................... 9

2.3 Kritische Anmerkung zu den Klassifizierungen ................................................... 14

3 Aspekte der Gestaltung von Beziehung ......................................................... 16

3.1 Beziehungsgestaltung nach Carl Rogers ........................................................... 16

3.2 Kommunikation als Gestaltungsmittel für Beziehungen ..................................... 21

3.2.1 Axiome der Kommunikation ......................................................................... 22

3.2.2 Störmomente der Kommunikation ............................................................... 27

3.2.3 Nonverbale Kommunikation ......................................................................... 31

3.3 Grundprinzipien und Haltungen in der Systemtheorie ........................................ 33

4 Bedeutung der Beziehungsgestaltung für die Soziale Arbeit mit Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung an einem Fallbeispiel ........ 37

4.1 Falldarstellung aus systemtheoretischer Perspektive ......................................... 37

4.2 Empathie, Kongruenz und Akzeptanz in der Praxis ........................................... 39

4.3 Kommunikationsaspekte in der Praxis ............................................................... 40

5 Zusammenfassung und Ausblick ................................................................... 42

6 Quellenverzeichnis ........................................................................................... 44

Page 4: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

1

Einleitung Soziale Arbeit ist nach der Definition des IFSW1 global, eine praxisorientierte

und gleichzeitig wissenschaftliche Disziplin. Sie ist sowohl zielorientiert, als

auch ergebnisorientiert und beinhaltet ethische Grundhaltungen und Prinzi-

pien. Soziale Arbeit fördert soziale Entwicklung, sozialen Wandel und den

sozialen Zusammenhalt der Menschen, möchte sie stärken und befreien. Sie

berücksichtigt in ihrer Profession die Gleichheit und Würde aller Menschen,

unter der Beachtung der Menschenrechte und der Achtung vor der Vielfalt,

und richtet sich an die komplexen Beziehungen zwischen Menschen und ih-

rer Umwelt (URL1: Deutscher Berufsverband für Sozial- und Heilberufe

2016). Die Betrachtung der zwischenmenschlichen Beziehung in der Sozia-

len Arbeit kann dabei kaum überschätzt werden, denn sie bildet nach Lüssi2

die Grundlage für die soziale Arbeit. Soziale Arbeit ist demnach in ihrem Kern

auch Beziehungsarbeit, denn ohne eine tragfähige Beziehung ist sie nicht

möglich.

Was Beziehung im professionellen Kontext ist, welche Bedeutung der Bezie-

hungsaspekt in der Arbeit mit Menschen mit einer sogenannten geistigen

Behinderung erhält, und wie Sozialarbeiter diese bewusst gestalten können,

wird in dieser Arbeit herausgestellt werden.

Dazu wird zunächst im ersten Teil die professionelle Beziehung in Abgren-

zung einer Beziehung im privatrechtlichen Kontext dargestellt. Um sich mit

Beziehung in der sozialen Arbeit auseinanderzusetzen, ist es erforderlich,

abzubilden was eine solche ausmacht und welche Merkmale hier zu finden

sind. Da der Beziehungsaspekt nicht losgelöst betrachtet werden kann, wird

der Blick auf das pädagogische Handeln gerichtet und auch dieser Begriff,

unter Berücksichtigung des komplexen Phänomens Beziehung, näher be-

stimmt.

1 IFSW – International Federation of social workers.

2 Peter Lüssi – Schweizer Sozialarbeiter, Hochschullehrer und Begründer der systemischen Sozial-arbeit.

Page 5: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

2

Im zweiten Teil dieser Arbeit werden unterschiedliche Definitionen und Klas-

sifikationsformen für den Begriff geistige Behinderung beschrieben. Zum ei-

nen um aufzuzeigen, wie komplex der Begriff ist und zum anderen um her-

auszuarbeiten, aus welchen Betrachtungsweisen heraus sich der Begriff und

die unterschiedlichen Klassifikationsformen kritisch betrachten lassen.

Anhand der Theorie von Carl Rogers werden bedeutende Aspekte für die

Beziehungsgestaltung im Hauptteil dieser Arbeit beschrieben. Es sind Aspek-

te, die Sozialarbeiter in ihrer Tätigkeit verinnerlichen sollten, wenn sie die

Beziehung zum Klienten bewusst positiv und entwicklungsfördernd gestalten

möchten. Die Ausführungen von Kongruenz, Empathie, Wertschätzung, posi-

tiver Zuwendung und bedingungsfreies Akzeptieren unter der Berücksichti-

gung der Wahrnehmungswelt des Klienten bilden hierfür Grundlagen. Als

weitere Basis für die Gestaltung von Beziehungen wird die Kommunikation

nach Paul Watzlawick beschrieben. Es ist unmöglich nicht zu kommunizie-

ren, so der erste Grundsatz in der Theorie von Watzlawick. Neben der akti-

ven Sprache gibt es weitere Aspekte, die eine Beziehung zum Menschen

beeinflussen können. So ist es wichtig für den Sozialarbeiter den Inhalts- und

Beziehungsaspekt von Nachrichten, die Interpunktion von Ereignisfolgen, die

Inhalte von digitaler und analoger Sprache und die symmetrischen und kom-

plementären Wechselwirkungen in der Kommunikation zu beachten. Stör-

momente in der Kommunikation lassen sich oftmals nicht vermeiden, sie

dann jedoch zu erkennen und zu deuten, sollte ebenfalls Bestandteil der So-

zialen Arbeit sein. Die Grundprinzipien und therapeutischen Grundhaltungen

der Systemtheorie nach Sigrid Haselmann heben weitere Aspekte für eine

positive Gestaltung von zwischenmenschlichen Beziehungen hervor und

werden das dritte Kapitel abschließen.

Um die Besonderheiten der Beziehungsgestaltung für die Soziale Arbeit mit

Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung praxisnah darzu-

stellen, werden im vierten Kapitel die Theorien des Hauptteils anhand eines

Fallbeispiels nochmals verdeutlicht.

Im fünften Kapitel werden die Erkenntnisse dieser Arbeit und abschließend

die Herausforderungen, eine Beziehung im professionellen Kontext zu ge-

Page 6: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

3

stalten, zusammengefasst sowie gewonnene Handlungsempfehlungen für

Sozialarbeiter daraus abgeleitet.

Der folgende Text wurde aufgrund der besseren Lesbarkeit im maskulinen

Genus verfasst, wobei jedoch – sofern diese nicht ausdrücklich gekenn-

zeichnet wurden – allzeit beide Geschlechter gemeint sind.

Page 7: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

4

1 Aspekte zum Begriff der Beziehung Ein Blick auf die professionelle Arbeitsbeziehung zeigt im ersten Teil dieser

Arbeit die Bedeutsamkeit der Wahrnehmung unterschiedlicher Beziehungs-

ebenen in der sozialen Arbeit auf. Dazu soll zunächst herausgearbeitet wer-

den, was professionelle Arbeitsbeziehung genau bedeutet, welchen Ansatz

diese Beziehungsform verfolgt, wie sie sich unterscheidet von einer Bezie-

hung aus dem privaten Kontext und welche Rolle der pädagogische Ansatz

hierbei spielt.

1.1 Die professionelle Arbeitsbeziehung Nach Susan Arnold kennzeichnet sich die professionelle Arbeitsbeziehung im

Kontext der Sozialen Arbeit zunächst dadurch, dass sich ein professionell

Tätiger (im folgenden Text der Sozialarbeiter) und der Adressat (im folgen-

den Text der Klient) begegnen. Demnach ist sie also eine Form der zwi-

schenmenschlichen Begegnung und gleichzeitig eine Art der zwischen-

menschlichen Beziehung, die zwischen einem Sozialarbeiter und dem Klien-

ten zustande kommt. Nach Susan Arnold besteht bei Beiden eine Vorprä-

gung in einer ganz bestimmten Weise. Sie haben bestimmte Vorstellungen

voneinander und ebenso Erwartungen aneinander. Unter anderem unter-

scheidet sich eine professionelle von einer alltäglichen Beziehung durch

eben diese zugeschriebenen Rollen und Erwartungen (vgl. Arnold 2009,

S. 27). In unterschiedlichen sozialen Tätigkeitsfeldern finden sich jedoch

auch Ähnlichkeiten, wie beispielsweise:

Ungleichgewicht durch die Unterschiede in Bezug auf Machtressour-

cen und Kompetenzen

Abhängigkeit der Interaktionspartner voneinander

Bestand der Arbeitsbeziehung über einen bestimmten Zeitraum

Relevanz der Beziehung für beide Interaktionspartner

formal festgelegtes Rollenverhältnis

(vgl. Schweer 1996, zit. nach Arnold 2009, S. 27 f.).

Page 8: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

5

In der sozialen Arbeit spielt der norm- und zielbezogene Ansatz eine beson-

ders große Rolle. Bei der Begegnung von Sozialarbeiter und Klient liegen

dabei zunächst recht unterschiedliche Interessenlagen vor. Aus der Sicht des

Sozialarbeiters sind die Ziele des Klienten mit Schwerpunkt auf normative

Aspekte zu betrachten und durch eine personelle Beeinflussung zu realisie-

ren (vgl. Schweer 1996, zit. nach Arnold 2009, S. 28). Eine solche Beziehung

im pädagogischen Umfeld lässt es nicht zu, dass diese, beispielsweise bei

Unzufriedenheit, beendet werden kann. Auch eine unfreiwillige Beziehung

muss weitergeführt werden (ebd.). Dies zeigt eine differenzierte Darstellung

zu einer zwischenmenschlichen Beziehung im rein privatrechtlichen Kontext,

bei der die Entscheidung über Weiterbestehen oder aber Beendigung jedem

Partner zusteht. Die ziel- und normbezogene Arbeitsweise und auch die un-

terschiedlichen Interessenlagen von Sozialarbeiter und Klient in Bezug zur

professionellen Begegnung bedürfen einer besonderen Beachtung in der

Reflexion der sozialen Arbeit und ihren Beziehungen.

Im Gegensatz dazu lässt sich der phasenhafte Verlauf in zwischenmenschli-

chen Beziehungen auf die professionelle Arbeitsbeziehung übertragen. So

durchlaufen Sozialarbeiter und Klient die einzelnen Phasen wie folgt: Phase

des Beziehungsaufbaus, Phase der Auseinandersetzung mit einem gemein-

samen Thema und Phase der Ablösung (vgl. Arnold 2009, S. 28). Ein Aspekt

zur Gestaltung von Beziehungen ist die Kommunikation, welche im Kapitel

3.3 noch genauer beleuchtet wird, sowie die Interaktion. Das aufeinander

bezogene und sich gleichzeitig beeinflussende Handeln von Personen wird

von Ursula Piontkowski3 als Interaktion beschrieben und ist mit Blick auf den

pädagogischen Kontext Gegenstand des nun folgenden Kapitels (ebd.).

1.2 Pädagogischer Ansatz in der professionellen Arbeitsbeziehung Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik als Beruf –

Grundformen pädagogischen Handelns“ den pädagogischen Ansatz profes-

sioneller Beziehungen.

3 Ursula Piontkowski - Professorin für Sozialpsychologie.

Page 9: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

6

Um pädagogisches Handeln genauer zu betrachten, muss man sich zu-

nächst der Frage stellen, was Handeln im Allgemeinen ist. Nach Giesecke4

ist Handeln vor allem auf die Gestaltung der Wirklichkeit gerichtet, bewusst

und willentlich und hat für die Zielerreichung festgelegte Motive. Wenn sich

Handeln nun auf die Veränderungen von menschlichen Verhältnissen, Be-

dingungen oder auch Beziehungen bezieht, spricht man nach Giesecke von

sozialem Handeln. Soziales Handeln steht dabei in einer Wechselseitigkeit

zu anderen Personen. Für das Durchsetzen persönlicher Ziele in Bezug auf

das eigene Handeln sollte sich der Sozialarbeiter bewusst sein, dass sein

Gegenüber frei ist, über sein eigenes Handeln zu entscheiden (vgl. Giesecke

2000, S. 21). Es gibt im Bereich des sozialen Handelns also immer die Frei-

heit anders zu handeln, als man es tatsächlich tut. Pädagogisches Handeln

gehört nach Giesecke zu sozialem Handeln. Daraus ergibt sich für zielorien-

tiertes pädagogisches Handeln ein Wechselspiel mit dem sogenannten „Ge-

gen-Handeln“. Der Kern pädagogischen Handelns liegt, nach Annahme von

Giesecke, darin, sich als Sozialarbeiter einer bestimmten Situation und dem

Klienten gegenüber angemessenen zu verhalten und dabei aus mehreren

Konstruktionen eine Handlungsmöglichkeit als Reaktion auf das Verhalten

und Handeln des Klienten abzuleiten (vgl. Giesecke 2000, S. 21).

Das Ziel pädagogischen Handelns ist es, Kinder oder auch Erwachsene in

ihrer Entwicklung positiv zu fördern, dabei schädliche Einflüsse von ihnen

fern zu halten und somit Bildung und Erziehung zu ermöglichen (vgl. Giese-

cke 2000, S. 22). Pädagogisches Handeln ist demnach eine Form von Lern-

begleitung und kann sich auf unterschiedliche Lern- oder auch Lebensinhalte

beziehen, die dem Bewusstsein des Menschen zugänglich sind (ebd.).

Giesecke, wie auch Arnold stellen mit Blick auf die professionelle Arbeitsbe-

ziehung fest, dass sowohl Sozialarbeiter und Klient oder Pädagoge und Ler-

nender, sich gegenseitig nicht nach persönlichen Gesichtspunkten auswäh-

len können.

4 Hermann Giesecke - Professor für Pädagogik und Sozialpädagogik.

Page 10: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

7

Die zwischenmenschliche Beziehung innerhalb pädagogischen Handelns

dient einem bestimmten Zweck: dem Lernen. Nach Giesecke ist sie ein emo-

tional distanziertes und kulturell geformtes Beziehungskonstrukt, welches

von jedem eingegangen werden kann, der den Lernzweck anerkennt (vgl.

Giesecke 2000, S. 116). Lernen wird nach Giesecke, neben der Vermittlung

von Wissen, auch als Austausch von Erfahrungen zwischen Lernenden und

Lehrenden beschrieben. Individuelle Erfahrungen, die als subjektiv sinnvoll

und gleichrangig verstanden werden führen zum Respekt voreinander. Pä-

dagogisches Handeln mit Blick auf die individuellen Erfahrungen ist also

auch ein geleichberechtigter Umgang von Pädagogen und Lernenden im

Lernprozess (vgl. Giesecke 2000, S. 119).

2 Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung sind in erster Linie

Menschen. Der Begriff der geistigen Behinderung bereitet häufig noch große

Schwierigkeiten. Während eine körperliche Behinderung eine einzelne beein-

trächtigte Funktion beschreibt, erstreckt sich eine sogenannte geistige Be-

hinderung auf den ganzen Menschen. Gerade in der deutschen Sprache hat

der Begriff Geist eine vielseitige Bedeutung. Die Zuschreibungen finden sich

von Gespenst über Verstand bis hin zum Weltgeist (vgl. Speck 2012, S. 45).

Doch was bedeutet nun geistig behindert?

2.1 Der Begriff der geistigen Behinderung Die Be- bzw. Zuschreibung geistige Behinderung steht für einen unklaren,

weit gefächerten Begriff, der dennoch überreichlich genutzt wird. Eine Viel-

zahl von Autoren beschäftigte sich mit dem Terminus der geistigen Behinde-

rung, von denen einige im folgenden Text dargestellt werden.

So findet sich zunächst einmal in dem Wortlaut des Sozialgesetzbuches IX, §

2, Abs. 1 folgende Definition von Behinderung:

„Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit

oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs

Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und da-

Page 11: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

8

her ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind

von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.“ (SGB

IX § 2, Abs.1). In dem Gesetzestext des Sozialgesetzbuches wird Behinde-

rung beschrieben, dem eine Normierung im Bereich der körperlichen, geisti-

gen und seelischen Fähigkeiten zu Grunde gelegt und eine Abweichung von

der festgelegten Norm über einen dazu festgelegten Zeitraum festgestellt

wird.

Im Artikel der UN-Behindertenrechtskonvention vom 13. Dezember 2006 fin-

det sich der Begriff der Behinderung nicht als isoliertes Phänomen wieder.

Nicht die Behinderung steht hier als Merkmal einer Person im Mittelpunkt,

sondern der Mensch innerhalb der Gesellschaft: „Zu den Menschen mit Be-

hinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geisti-

ge oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit

verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten

Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“ (URL2: Institut für Menschen-

rechte 2016). In dem Definitionsbegehren der UN-

Behindertenrechtskonvention finden wir eine Aussage über einen Zeitraum

und über die körperliche, geistige und seelische Form von Beeinträchtigung.

Darüber hinaus wird hier die Teilhabe an der Gesellschaft als Recht von

Menschen mit Behinderungen in die Definition mit eingebracht.

Nach Grossman definiert sich die geistige Behinderung mit der Verlangsa-

mung und Beschränkung der kognitiven Entwicklung und Lernfähigkeit. Die-

se gehen mit Schwierigkeiten im sozialen und lebenspraktischen Anpas-

sungsverhalten einher und sind in der Regel bereits im Entwicklungsalter zu

beobachten (vgl. Grossman zit. nach Strasser5 2001, S.11).

In den Ausführungen von Otto Speck6 findet man zunächst die Rückführung

zur öffentlichen Nutzung des Begriffs. Der Begriff der geistigen Behinderung

wurde erstmalig offiziell 1958 im Zusammenhang mit der Gründung des Ver-

eins „das geistig behinderte Kind“ verwendet. Der Fachausdruck der geisti-

gen Behinderung steht für ein komplexes, verschiedene Aspekte und Dimen- 5 Urs Strasser – Dr. phil. - Rektor der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik. 6 Otto Speck – Professor für Sonderpädagogik.

Page 12: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

9

sionen umfassendes Konstrukt (vgl. Speck, 2007, S. 136). Mit der Komplexi-

tät ist dabei die Zusammensetzung verschiedener Bestandteile und Kompo-

nenten und ihre Vernetzung in jedem einzelnen Menschen gemeint (vgl.

Speck 2012, S. 53). So wie jeder Mensch mit seinen Eigenschaften einzigar-

tig, eben ein Individuum ist, so ist auch jede geistige Behinderung auf unter-

schiedliche Weise und vor allem individuell ausgeprägt. Nach Speck versucht

man den Ausdruck der geistigen Behinderung im pädagogischen Arbeitsall-

tag zu vermeiden, da er defizitbezogen und stigmatisierend ist. Doch auch

die Begriffe „Anders-sein“ implizieren eine Provokation und Stigmatisierung,

so Speck. Wenn ich einen Menschen als anders betrachte, setze ich auch

hier wieder eine Norm an. Anders als Was? Oder anders als Wer? Diese

Fragen bleiben in Bezug auf die Begriffsklärung oder den Versuch einer Be-

schreibung von geistiger Behinderung offen (vgl. Speck 2012, S. 53).

Um den Begriff der geistigen Behinderung aus unterschiedlichen Betrach-

tungsweisen zu beleuchten, gibt es neben der Beschreibung von geistiger

Behinderung aus psychiatrisch-nihilistischer, aus heilpädagogisch-

defizitorientierter, aus entwicklungspsychologischer und IQ-bezogener

Sichtweise unterschiedliche Klassifikationsformen (vgl. Theunissen 2016,

S. 11).

2.2 Geistige Behinderung und die Klassifikationen Geistige Behinderung ist mehr als nur ein Begriff, welcher versucht die indi-

viduellen Eigenschaften eines Menschen in Bezug auf seine kognitiven Leis-

tungen zu beschreiben. Zu den unterschiedlichen Beschreibungen der geisti-

gen Behinderung eines Menschen gibt es unterschiedliche Klassifikations-

formen, von denen im folgenden Kapitel drei Ausgewählte dargestellt wer-

den.

2.2.1 Klassifikation nach ICD – 10

ICD – 10 ist die Abkürzung der Weltgesundheitsorganisation für: International

Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems. In deut-

scher Sprache: die internationale statistische Klassifikation von Krankheiten

Page 13: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

10

und verwandten Gesundheitsproblemen in der zehnten Revision. Das Ver-

fahren dient der Verschlüsselung von Diagnosen in der ambulanten und sta-

tionären Versorgung von Menschen (URL3: Deutsches Institut für Medizini-

sche Dokumentation und Information 2016).

Das Klassifikationsmodell von geistiger Behinderung nach ICD – 10 geht von

einer Störung der Intelligenz aus und findet sich im Klassifikationskatalog

unter F70 bis F79. Die Definition von Intelligenz kann dabei sehr unterschied-

lich sein. Aus rein medizinischer Sicht ist Intelligenz die Gesamtheit kogniti-

ver Fähig- und Fertigkeiten einer Person. Bei einer angeborenen oder auch

erworbenen Reduktion kognitiver Fähigkeiten spricht man von einer Intellin-

genzminderung (vgl. Preuß 2010, S 102).

Intelligenzstörung nach ICD – 10 beschreibt einen Zustand von verzögerter

oder unvollständiger Entwicklung der geistigen Fähigkeiten, die allein oder

zusammen mit jeder anderen psychischen oder körperlichen Störung auftre-

ten können. Dabei sind Fertigkeiten, die sich in der Entwicklungsperiode ma-

nifestieren und die zum Intelligenzniveau beitragen, wie Kognition, Sprache,

motorische und soziale Fähigkeiten besonders beeinträchtigt (URL4: Deut-

sches Institut für Medizinische Dokumentation und Information 2016).

Intelligenz und damit auch der Schweregrad einer Intelligenzstörung wird mit

Hilfe standardisierter Testverfahren gemessen, von erfahrenen Diagnostikern

ausgewertet und mit einem Intelligenzquotienten beziffert (vgl. Theunissen7

2016, S.18). Geistige Behinderungen werden nach ICD – 10 wie folgt klassi-

fiziert:

o F70.- Leichte Intelligenzminderung (IQ 50/55 – 70/75)

o F71.- Mittelgradige Intelligenzminderung (IQ 35/40 – 50/55)

o F72.- Schwere Intelligenzminderung (IQ 15/20 – 35/40)

o F73.- Schwerste Intelligenzminderung (IQ <15/20) (ebd.).

7 Georg Theunissen – Professor für Heilpädagogik.

Page 14: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

11

Der Vollständigkeit halber seien folgende Klassifizierungen nach dem ICD –

10 noch erwähnt:

o F74.- Dissoziierte Intelligenz

o F78.- Andere Intelligenzminderung

o F79.- Nicht näher bezeichnete Intelligenzminderung

(URL4: Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information

2016).

Die Klassifizierung nach ICD – 10 ist weniger am Menschen und seinen Fä-

higkeiten, sondern an den Defiziten orientiert. Sie hilft zur Orientierung und

Klärung von Einschränkungen, um für die betreffende Person insbesondere

medizinische Maßnahmen, Therapien und Förderungen unter anderem auch

über den Regelkatalog der gesetzlichen Krankenkassen in die Wege zu lei-

ten (vgl. Theunissen 2016, S. 17). Gleichzeitig schafft eine Klassifizierung in

Form von ICD – 10 eine gravierende Stigmatisierung von Menschen mit einer

sogenannten geistigen Behinderung, da hier ausschließlich die Intelligenz,

dass heißt also die geistigen Fähigkeiten der Person, berücksichtigt werden

und die Ergebnisse ohnehin von situativen, soziokulturellen und auch sprach-

lichen Bedingungen beeinflusst werden (vgl. Speck 2012, S. 53).

2.2.2 Behinderungsmodell nach ICF

ICF ist die Abkürzung für International Classification of Functioning, Disability

and Health und die deutsche Übersetzung lautet Internationale Klassifikation

der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (URL5: Deutsches Insti-

tut für Medizinische Dokumentation und Information 2005).

Durch die Verabschiedung der ICF im Mai 2001 vertritt die WHO ein Ver-

ständnis von menschlicher Behinderung, das über die bisherigen drei Blick-

winkel von individueller Schädigung, Beeinträchtigung und gesellschaftlicher

Benachteiligung hinaus geht (vgl. Theunissen 2016, S. 33). Die Wechselwir-

kungen von Bereichen wie Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten, Par-

Page 15: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

12

tizipation und Kontextfaktoren werden dabei genauer betrachtet (vgl. Theu-

nissen 2016, S. 34).

Mit dem zentralen Bereich der physiologischen und psychischen Körperfunk-

tionen und auch Körperstrukturen gehen physisch biologische Beeinträchti-

gungen einer Person, in Bezug auf ihre körperlichen und mentalen Funktio-

nen hervor (ebd.). Die Beschreibungen der Aktivitäten einer Person geben

Aufschluss über die Funktionsfähigkeiten einer Person, in Bezug auf den Be-

reich der Alltagsbewältigung und der sozialen Kommunikation (ebd.). Gleich-

zeitig werfen sie Fragen danach auf, welche Unterstützungen notwendig

sind, um die Aktivitäten dieser Person zu optimieren. Die Partizipation aus

dem ICF-Modell beschäftigt sich mit den Möglichkeiten der Teilhabe einer

Person in den unterschiedlichsten Lebensbereichen und der Frage, inwieweit

Teilhabe durch die Wechselwirkung von biologischer Schädigung, Aktivitäts-

einschränkungen oder auch Umwelt- und personenbezogenen Kontextfakto-

ren beeinträchtig ist (ebd.). Die Kontextfaktoren beziehen sich auf die soziale

und materielle Umwelt, auf unterschiedliche Systeme (z.B. soziale Dienste),

unterschiedliche Lebensbereiche und auf personenbezogene Daten (ebd.).

Die Wechselwirkungen zwischen dem gesundheitlichen Problem einer Per-

son und den oben genannten Kontextfaktoren sind in folgender Abbildung

der ICF dargestellt.

Abbildung1: Wechselwirkungen zwischen den Komponenten der ICF

Quelle: Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information 2016

Page 16: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

13

Die Abbildung zeigt, dass die Wechselwirkungen in zwei Richtungen beste-

hen, wobei anzumerken ist, dass die Wechselwirkungen nicht im direkten

Zusammenhang zu sehen sind. Eine Störung oder Schädigung in einem der

Kontextbereiche kann das gesundheitliche Problem beeinflussen, so wie das

gesundheitliche Problem Einfluss auf die einzelnen Kontextbereiche hat. Für

die Erhebung der Daten werden zunächst die Kontextbereiche einzeln be-

trachtet und erst dann kausale Zusammenhänge und Rückschlüsse unter-

sucht (URL5: Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Infor-

mation 2016).

Das Behinderungsmodell nach ICF klassifiziert keine Personen, sondern be-

schreibt Situationen und das Zusammenwirken bio-psychosozialer Faktoren.

Behinderung wird als eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit gesehen,

um Lebenssituationen zu meistern und am gesellschaftlichen Leben teilzu-

haben (vgl. Theunissen 2016, S. 35).

2.2.3 Klassifikation nach DSM – 5

The diagnostic and statistical manual of mental disorders (DSM – 5) ist in

seiner fünften Revision neben der ICD – 10 ein weltweit anerkanntes System

zur Klassifizierung von psychischen Störungen. Das DSM-5 ist defizitär ori-

entiert und unterscheidet nach drei Kriterien der Diagnostik:

o Defizite der intellektuellen Funktionsfähigkeit

o Defizite in der adaptiven Funktionsfähigkeit

o Defizite in der kognitiven Hirnleistungsfähigkeit

(vgl. Theunissen 2016, S. 41).

Mit einem klinischen Assessment und einem Intelligenztest werden die Defi-

zite der intellektuellen Funktionsfähigkeit einer Person, soziale Einflussfakto-

ren wie Muttersprache und soziokultureller Hintergrund, und zusätzliche

kommunikative, motorische und sensorische Beeinträchtigungen der Person

diagnostiziert. Intellektuelle Funktionsfähigkeit meint vor allem logisches,

Page 17: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

14

problemlösendes und abstraktes Denken, Planen, Urteilen, experimentelles

und akademisches Lernen und Lernen aus Beobachtung und Erfahrung

(ebd.).

Die Defizite in der adaptierten Funktionsfähigkeit beziehen sich auf Beein-

trächtigungen des konzeptionellen Bereiches (sprachliche Fähigkeiten, Kom-

petenzen im Bereich Lesen, Schreiben, Rechnen, Urteilsfähigkeit, Wissen

und Gedächtnisleistung), des sozialen Bereiches (u.a. Empathie, Kommuni-

kation, Bildung und Pflege von Freundschaften) und des alltagspraktischen

Bereiches (Körperpflege, Arbeitsverhalten, Freizeitgestaltung etc.) (ebd.).

Eine geistige Behinderung – intellectually disability – ist nicht auf eine be-

stimmte Altersgrenze hin festgelegt. Die beschriebenen Symptome müssen

jedoch bis zum 18. Lebensjahr entstanden sein, da dies die Abgrenzung zur

Hirnleistungsstörung – neurocognitive disorder – darstellt. (ebd.).

Neben der Defizitorientierung geht die Klassifikation psychischer Erkrankun-

gen nach DSM – 5 davon aus, dass alle behinderten Menschen mit einem

bestimmten Grad der Behinderung vergleichbare Interessen und Bedürfnisse

haben, einen gleichen Entwicklungsstand von psychischen Funktionen auf-

weisen und daher auch einen identischen Unterstützungsbedarf haben. Per-

sonen werden in Kategorien oder Schweregraden ihrer Einschränkung von

leicht, mäßig, schwer und schwerst eingestuft und nicht als Individuen, son-

dern als zu einer Gruppe gehörend wahrgenommen (vgl. Theunissen 2016,

S. 42).

2.3 Kritische Anmerkung zu den Klassifizierungen Nach Speck ist die Formulierung geistig behindert negativ besetzt, da sie

konkret auf ein Defizit einer Person hinweist, ein festgestelltes Handicap her-

aushebt und damit stigmatisierend für Menschen mit besonderen Bedarfen

ist. Spricht man von Menschen mit einer geistigen Behinderung könnte man

den Eindruck gewinnen alles an diesen Menschen sei defizitär (vgl. Speck

2012, S. 52). Behinderung wird nicht als Eigenschaft einer Person, sondern

als Merkmal dargestellt. Nicht der Mensch innerhalb einer Gruppe oder der

Gesellschaft steht im Blickfeld, sondern seine Besonderheit. Diese Form des

Page 18: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

15

Fokus´ erschwert den Blick auf die Entwicklungschancen, Ressourcen, Be-

dürfnisse und Fähigkeiten einer Person. Auch die Interessen, die Würde und

vor allem der individuelle Wert der Person für die Gemeinschaft werden mög-

licherweise durch den reduzierten Blick nicht wahrgenommen (ebd.).

Um Menschen mit einer geistigen Behinderung sozial in die Gesellschaft zu

integrieren, ist man bemüht die genannten Begrifflichkeiten zu meiden vgl.

Speck 2012, S. 53). Der Versuch die Stigmatisierung durch die Verwendung

alternativer Begriffe zu vermeiden, erweist sich jedoch als äußerst schwierig.

Jeder Austausch beinhaltet wieder neue Stigmatisierungen, da es den Men-

schen mit seinen Merkmalen als andersartig darstellt (ebd.). Es ist wichtig in

der sozialen Arbeit mit Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung,

den Menschen zu allererst als Menschen zu sehen. Einen Menschen mit

gleichen Rechten und seinem Anspruch, so zu leben, wie er es möchte. Es

ist die Pflicht der Gesellschaft keine Sonderformen und Exklusionen zu

schaffen, sondern dafür zu sorgen, dass jeder einzelne Mensch seinen Platz

in der Gesellschaft und nicht am Rand eben jener findet.

Die Klassifizierungen von Menschen mit einer geistigen Behinderung stellen

in jeder einzelnen Form ebenfalls eine Diskriminierung dar. Sie bieten nach

Strasser zwar eine grobe Orientierung über Möglichkeiten und Grenzen, über

Betreuungs- und Förderungsmöglichkeiten innerhalb der Gesellschaft und

stellen dabei gleichzeitig Gruppenbildungen und Kategorisierungen dar.

Nach Strasser sind sie institutionell bedingte Konstruktionen, aber keine Na-

turgegebenheiten. Sie werden nicht dem Menschen als Person, seinen indi-

viduellen Eigenschaften, Merkmalen oder Bedürfnissen gerecht (vgl. Strasser

2001, S. 19).

Für Menschen mit einer geistigen Behinderung einen nicht-stigmatisierenden

Begriff zu finden, benötigt, neben der gesellschaftlichen Akzeptanz, auch die

erforderliche Zeit sich an gesellschaftliche Veränderungen zu gewöhnen.

Page 19: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

16

3 Aspekte der Gestaltung von Beziehung Zwischenmenschliche Beziehung besteht aus so viel mehr als aus reinen

Begrifflichkeiten. Neben der Erkenntnis, dass es unterschiedliche Formen

gibt, liegt ihre bewusste Gestaltung im Fokus der nun folgenden Kapitel.

3.1 Beziehungsgestaltung nach Carl Rogers Beschäftigt man sich mit der Gestaltung von Beziehungen, so kommt man

nicht umhin sich mit der Theorie von Carl Rogers8 auseinanderzusetzen. In

seinem Buch „Therapeut und Klient – Grundlagen der Gesprächspsychothe-

rapie“ beschäftigt er sich unter anderem mit dem Thema der zwischen-

menschlichen Beziehung. Als Berater und Psychotherapeut hat er mit unter-

schiedlichen Berufsgruppen gearbeitet, deren Tätigkeit auch auf der Bezie-

hung zum Menschen basiert. So hat Rogers die Arbeit von und mit Psycho-

logen, Psychotherapeuten, Seelsorgern, Lehrern und Sozialarbeitern durch

langjährige Beobachtungen und empirische Studien wissenschaftlich beglei-

tet und als Ergebnis die Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehung

als wichtigstes Element für den Erfolg von Entwicklung bestimmt (vgl. Rogers

1983, S. 211).

Kongruenz, Empathie, Wertschätzung, positive Zuwendung, bedingungsfrei-

es Akzeptieren und die Wahrnehmungswelt des Klienten wurden von Rogers

aus der Sicht des Psychotherapeuten beschrieben und werden im folgenden

Text auf die Arbeit des Sozialarbeiters übertragen.

Kongruenz

Ein Aspekt für eine positive Entwicklung oder auch Weiterentwicklung wird

durch Rogers mit der Kongruenz beschrieben. Hierbei ist die Übereinstim-

mung des Sozialarbeiters mit sich selbst gemeint und könnte mit dem Begriff

der Echtheit benannt werden. Ist der Sozialarbeiter echt und ohne Fassade,

so Rogers, lebt er offen seine Gefühle und Einstellungen. Die Gefühle die ihn

in diesem Augenblick bewegen, sind ihm bewusst und zugänglich. Anzumer- 8 Carl Rogers – US-amerikanischer Psychologe und Psychotherapeut.

Page 20: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

17

ken ist, dass hier die im zwischenmenschlichen Kontext auftretenden Gefüh-

le beschrieben sind. Die Gefühle, die der Sozialarbeiter aus einer privaten

Situation heraus empfindet, finden an dieser Stelle keine Beachtung (vgl.

Rogers 1983, S. 213).

Ist der Moment in der Situation zwischen den Interaktionspartnern angemes-

sen, so sollten diese Empfindungen auch benannt werden. Rogers´ Hypo-

these lautet hierzu, wenn der Sozialarbeiter zeigt was er im Moment des

Kontaktes mit dem Klienten wirklich fühlt und lebt, so wirkt er auf diesen kon-

gruent. Er begibt sich in diesem Moment in eine unmittelbare Begegnung mit

seinem Klienten indem er ihm von Person zu Person begegnet. Dies bedeu-

tet, dass der Sozialarbeiter ganz und gar bei sich selbst ist und sich nicht

verleugnet. Dieser Zustand kann nicht absolut erreicht werden, doch je mehr

der Sozialarbeiter in der Lage ist, auf seine ganz persönliche Gefühlswelt zu

achten, sich auf sie einzulassen und sie zu akzeptieren, um so größer ist

seine Übereinstimmung mit sich selbst (ebd.).

Nun stellt sich die Frage ob es förderlich ist, kongruent zu sein, wenn bei-

spielsweise negative Gefühle, wie Ärger, Langeweile oder Ablehnung ge-

genüber dem Klienten vorherrschen. In einer Situation mit solchen Gefühlen

rät Rogers, auch hier mit sich selbst in Kontakt und echt zu bleiben und nicht

eine Fassade mit positiven Gefühlen zu errichten, wenn der Sozialarbeiter so

nicht empfindet. Nach Rogers liegt hierin eine Chance für eine vertiefte Be-

ziehung. Indem der Sozialarbeiter echt vor seinen Klienten tritt, wirklich und

unvollkommen, erhalten beide die Möglichkeit sich von Mensch zu Mensch

zu begegnen (vgl. Rogers 1983, S. 214). Wenn das, was sich in dem Sozial-

arbeiter abspielt und was für die Beziehung von Bedeutung ist, für den Klien-

ten klar durchschaubar und transparent ist, dann sind die Voraussetzungen

für eine bedeutungsvolle Beziehung, in der beide dazulernen und sich entwi-

ckeln, gegeben (vgl. Rogers 1983, S. 215).

Hans Thiersch9 hat sich ebenfalls in seinem Buch „Schwierige Balance –

Über Grenzen, Gefühle und berufsbiografische Erfahrungen“ mit dem Thema

9 Hans Thiersch – Professor für Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik.

Page 21: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

18

der Echtheit des Pädagogen befasst. Als entscheidendes Moment für das

Gelingen des pädagogischen Umgangs benennt Thiersch hier ebenfalls die

Authentizität. Thiersch legt dar, dass der zu handelnde Pädagoge in seiner

fachlichen Haltung, in seinem Interesse am Werden und in seiner Balance

von Nähe und Distanz, in seinen inneren Konflikten von Vertrauen10, Hoff-

nung, Enttäuschung, Entscheidung und Kämpfen glaubwürdig bleiben sollte

(vgl. Thiersch 2009, S. 131).

Empathie

Der zweite Aspekt für eine wachstumsfördernde Beziehung besteht nach der

Ansicht von Rogers im einfühlenden Verstehen, in der Empathie. Das einfüh-

lende Verstehen bezieht sich hierbei auf die Welt des Klienten. Der Sozialar-

beiter sollte in der Lage sein, das Wesentliche von dem, was er verstanden

hat, mitzuteilen. Er sollte fähig sein, die Welt des Klienten so nachzufühlen,

als wäre es die eigene, ohne sich damit zu identifizieren. Die verwirrenden

Gefühle von Ängstlichkeit, Wut und/ oder Unsicherheit des Klienten gilt es

vom Sozialarbeiter aufzuspüren, ohne sich mit den eigenen Gefühlen von

Ärger, Angst oder Unsicherheit zu verstricken (vgl. Rogers 1983, S. 216).

Ist die Gefühlswelt des Klienten dem Sozialarbeiter deutlich erkennbar und

kann er sich darin frei „bewegen“, weil er die Gefühle des Klienten nicht mit

seinen eigenen vermischt, so kann er sein Verständnis hierfür mitteilen und

die Bedeutungsinhalte im Erleben des Klienten, deren dieser sich meist nicht

bewusst ist, klar ansprechen. Dieses empfindsame Einfühlen ist für die Be-

ziehungsgestaltung von Bedeutung, da es einem Menschen ermöglicht, sich

selbst nahezukommen und zu lernen, sich zu wandeln und zu entwickeln

(ebd.).

10 Nähe und Distanz, aber vor allem Vertrauen in der sozialen Arbeit sind im Praxisalltag allgegenwär-tig. Auch diese drei Aspekte bestimmen das Selbstverständnis der Sozialen Arbeit mit Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung und werden in den einzelnen Berufsgruppen viel disku-tiert. Auf Grund der Begrenzung dieser Arbeit, können diese Aspekte nicht weiter ausgeführt wer-den, was jedoch keinen geringeren Wert für die soziale Arbeit kennzeichnen bzw. bedeuten soll!

Page 22: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

19

Genaues Verstehen ist besonders wichtig, aber die Bereitschaft, die Ge-

fühlswelt des Klienten verstehen zu wollen, ist schon hilfreich für den Aufbau

von Beziehungen. Hat der Sozialarbeiter es mit einem verwirrten, ausdrucks-

unfähigen oder auch abwegigen Menschen zu tun, so kann es nützlich sein,

wenn er zumindest bemüht ist, zu verstehen, was den Klienten bewegt.

Durch diese Bemühungen des Verstehens erfährt der Klient von dem Sozial-

arbeiter Wertschätzung. Es vermittelt dem Klienten das Gefühl, dass seine

Ansichten und Gefühle es wert sind, verstanden zu werden (vgl. Rogers

1983, S. 217).

Wertschätzung, positive Zuwendung und bedingungsfreies Akzeptieren

Als dritten Aspekt für die zwischenmenschliche Beziehung beschreibt Rogers

die Art und Weise der Haltung des Sozialarbeiters. Je intensiver er seinen

Klienten und auch den seelischen Vorgängen des Klienten positiv zuge-

wandt, warmherzig und akzeptierend begegnet, um so eher tritt eine Weiter-

entwicklung ein. Durch diese Haltung wird deutlich, dass der Klient mit seiner

gesamten Gefühlswelt als Persönlichkeit wertgeschätzt wird. In dieser von

Rogers beschriebenen Wertschätzung liegt der Vergleich mit Eltern, die ihre

Kinder als Persönlichkeiten bedingungslos annehmen und Gefühle für ihr

Kind empfinden, ungeachtet des augenblicklichen Verhaltens ihrer Kinder.

Übertragen auf die Wertschätzung des Sozialarbeiters gegenüber seinen

Klienten bedeutet dies, dass der Sozialarbeiter sich um seine Klienten als

Menschen voller Möglichkeiten sorgt, ohne dabei besitzergreifend zu wirken

und ihm gleichzeitig alle Gefühle, die in ihm in diesem Augenblick vorherr-

schen, wie Feindseligkeit und Zärtlichkeit, Auflehnung und Fügsamkeit,

Selbstvertrauen und Selbstentwertung gestattet. Diese Art der positiven Zu-

wendung beschreibt Rogers mit dem Gefühl der Liebe, nicht im romanti-

schen, sondern im theologischen Sinne des Wortes, eine Form von Zunei-

gung, die Kraft hat und nicht fordert. Die Achtung des Klienten als eigenstän-

diges Individuum, ohne von ihm Besitz zu ergreifen, wird von Rogers als po-

sitive Zuwendung oder auch Wertschätzung beschrieben (vgl. Rogers 1983,

S. 218).

Page 23: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

20

Direkt an die Hypothese der positiven Zuwendung schließt sich die ver-

suchsweise Darstellung Rogers´ des Bedingungsfreien Akzeptierens des

Klienten an. Je bedingungsfreier die positive Zuwendung zum Klienten und

seiner Gefühlswelt ist, umso wirkungsvoller oder auch belastbarer ist die Be-

ziehung zwischen Sozialarbeiter und Klienten. In der Theorie von Rogers

nimmt der Sozialarbeiter seinen Klienten ganz umfassend, ohne Vorausset-

zungen oder gar Bedingungen wahr, schätzt ihn und wendet sich ihm wohl-

wollend zu. Dabei sieht er den Klienten als Menschen in seiner Ganzheit und

bringt ihm seine bedingungsfreie Zuwendung, ohne Einschränkungen und

ohne Bewertungen, entgegen. Er urteilt weder über den Klienten selbst, sei-

ner Gefühlswelt oder sein Tun. Durch diese Form der Begegnung zwischen

Sozialarbeiter und Klienten ist, nach der Annahme von Rogers, der Beginn

einer konstruktiven Veränderung und die Weiterentwicklung des Klienten

sehr wahrscheinlich (vgl. Rogers 1983, S. 219).

Die Hypothesen der positiven Zuwendung und des bedingungsfreien Akzep-

tierens, sind von Rogers abgeleitet von Beobachtungen zwischen Eltern und

Kind. Falls ein Kind glücklicherweise bei den eigenen Eltern erwünscht ist

und seine Eltern das eigene Kind genauso lieben wie es ist, wächst es mit

gesundem Selbstvertrauen heran und wird selbstbewusst. Wenn die Eltern

ihr Kind nur mögen, wenn es ihren Vorstellungen entspricht, es lediglich ak-

zeptiert wird, wenn es „lieb“ ist und keine Umstände macht, so wächst das

Kind mit Selbstzweifeln oder auch Minderwertigkeitsgefühlen auf. Die Be-

obachtungen von Eltern-Kind-Beziehungen und Eltern-Kind-Interaktionen

haben Rogers veranlasst, eben genau diese Beobachtungen auf die Bezie-

hung und Interaktion zwischen Sozialarbeiter und Klienten zu übertragen

(vgl. Rogers 1983, S. 219-220).

Wahrnehmungswelt des Klienten

Die Wahrnehmungswelt des Klienten ist nach Rogers eine Hypothese,

gleichsam eine Bedingung, die sich auf den Klienten bezieht, während die

vorangegangenen Hypothesen auf der Seite des Sozialarbeiters lagen. Alle

Hypothesen zielen auf beiden Seiten darauf ab, die Voraussetzungen zum

Page 24: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

21

konstruktiven Wachsen einer Beziehung zwischen Sozialarbeiter und Klien-

ten zu schaffen und somit die Weiterentwicklung beider anzuregen (vgl. Ro-

gers 1983, S. 220).

Wenn die zuvor beschriebenen Bedingungen dem Klienten nicht mitgeteilt

und von ihm nicht wahr- und aufgenommen werden, fehlen sie in seiner Welt

der Wahrnehmung und können daher nicht wirksam werden (ebd.). Nach

Rogers sollte der Klient ein Mindestmaß an Kongruenz, Wertschätzung, posi-

tiver Zuwendung und einfühlendem Verstehen des Sozialarbeiters wahrneh-

men können. Ein Sozialarbeiter muss nicht nur ausschließlich feinfühlig da-

rauf achten, was in ihm selbst und in dem Klienten vorgeht, sondern auch

was der Klient von ihm wahrnimmt. Dem Sozialarbeiter muss bewusst sein,

dass selbst bei bester Absicht der Klient von ihm Einfühlungsvermögen als

mangelnde Anteilnahme, bedingungsfreie Zuwendung als Gleichgültigkeit,

Warmherzigkeit als bedrohliches Naherücken und wirkliche Gefühle als un-

echte Gefühle wahrnehmen könnte. Er sollte deshalb ständig bemüht sein,

sich genau so zu verhalten, damit der Klient das was zwischen ihm und dem

Sozialarbeiter auf der Beziehungsebene geschieht, klar durchschauen und

zweifelsfrei verstehen kann (ebd.).

Wenngleich diese von Rogers benannten Bedingungen leicht zu erfassen

sind und für den einen oder anderen in der alltäglichen Arbeit eine Selbstver-

ständlichkeit darstellen, so zeigt sich doch, dass sich die Summe aller Bedin-

gungen in der Umsetzung als eine komplexe Angelegenheit erweist (vgl. Ro-

gers 1983, S. 221).

3.2 Kommunikation als Gestaltungsmittel für Beziehungen Kommunikation und Interaktion bilden im Wesentlichen eine Grundlage für

zwischenmenschliche Beziehungen. Vereinfacht ausgedrückt ist Kommuni-

kation der zwischenmenschliche Austausch von Gedanken und Informatio-

nen mithilfe von sprachlichen oder nicht sprachlichen Mitteln, wie Mimik und

Gestik. Paul Watzlawik hat fünf Axiome zur Kommunikation aufgestellt, die

für die Gestaltung von Beziehungen hilfreich sein können.

Page 25: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

22

3.2.1 Axiome der Kommunikation Die Grundsätze der Kommunikation nach Paul Watzlawik11 sind die Unmög-

lichkeit nicht zu kommunizieren, der Inhalts- und Beziehungsaspekt der

Kommunikation, die Interpunktion von Ereignisfolgen, die digitale und analo-

ge Kommunikation sowie die symmetrische und komplementäre Interaktion.

Aus diesen fünf Grundsätzen der Kommunikation lassen sich Aspekte für die

Soziale Arbeit mit Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung

ableiten.

Die Unmöglichkeit, nicht zu kommunizieren

Kommunikation beschreibt mehr als die allgemeine Bezeichnung für Informa-

tionsweitergabe und besteht aus viel mehr als aus dem Austausch von Wor-

ten. Kommunikation wird darüber hinaus bestimmt durch Körperhaltung und

Körpersprache, durch die Ausdrucksbewegungen während des Sprechens,

durch den Tonfall von Worten, durch die Schnelligkeit oder auch die Lang-

samkeit in der Sprache, durch Pausen, durch Lachen oder auch Seufzen,

also durch die paralinguistischen Phänomene innerhalb eines bestimmten

Zusammenhangs (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 51). Kommuni-

kation ist demnach ein Verhalten jeder Art mit der Eigenschaft, dass man

sich nicht nicht verhalten kann. Folglich ist alles Verhalten innerhalb einer

zwischenmenschlichen Situation aussagekräftig, hat Mitteilungscharakter

und ist somit Kommunikation (ebd.). Man kann demnach nicht nicht kommu-

nizieren. Jedes Handeln oder Nichthandeln, jedes sprechen, schweigen oder

andere Formen der Verneinung, jede Vermeidung von Kommunikation teilt

dem Empfänger etwas mit und wird somit als Kommunikation verstanden

(vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 52). Diese Art der Kommunikation

beeinflusst mein Gegenüber oder auch andere und auch sie können nicht

nicht reagieren und nicht nicht kommunizieren. Jede Form der Kommunikati-

on bedeutet eine Art Stellungnahme und beschreibt die jeweilige Definition

11 Paul Watzlawick - österreichisch-amerikanischer Kommunikationswissenschaftler, Psychothera-peut, Soziologe, Philosoph und Autor.

Page 26: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

23

zwischen den Kommunizierenden (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000,

S. 53).

Der Grundsatz von Paul Watzlawick bedeutet für den Sozialarbeiter, dass er

nicht nur auf die Wahl seiner Worte und seines Sprachbildes achten sollte,

sondern insbesondere auf seine Körpersprache, seine Körperhaltung und

paralinguistischen Phänomene, da jedes nicht gesprochene Wort wirkt.

Inhalts- und Beziehungsaspekte der Kommunikation

Der Inhalt einer Mitteilung, ungeachtet dessen ob wahr oder falsch, gültig

oder ungültig, oder auch unentscheidbar, ist erst einmal eine Information.

Kommunikation hat also einen Inhaltsaspekt (vgl. Watzla-

wick/Beavin/Jackson 2000, S. 53). Gleichzeitig enthält jede Mitteilung einen

Hinweis darauf, wie ihr Sender sie vom Empfänger verstanden haben möch-

te. Damit definiert die Mitteilung, wie der Sender die Beziehung zwischen

sich und dem Empfänger sieht. Auf diese Weise wird die Mitteilung zur per-

sönlichen Stellungnahme (ebd.). Dies beschreibt den Beziehungsaspekt ei-

ner Kommunikation und zeigt auf, dass gleiche Inhalte von verschiedenen

Kommunikationspartnern unterschiedlich wahrgenommen und gedeutet wer-

den können (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 54).

Beziehungen werden durch Sender und Empfänger selten bewusst und aus-

drücklich definiert. Im Gegensatz dazu rückt deren Interpretation, bei einer

spontanen und von Watzlawick als gesund bezeichnete Beziehung, in den

Hintergrund. Bei konfliktreichen oder hier auch als krank bezeichneten Be-

ziehungen verliert der Inhaltsaspekt fast völlig an Bedeutung, während um

die Definition von Beziehung jedoch wechselseitig gerungen wird (vgl. Watz-

lawick/Beavin/Jackson 2000, S. 55).

In der zwischenmenschlichen Kommunikation besteht eine Relation zwi-

schen dem Inhalts- und dem Beziehungsaspekt derart, dass der Inhaltsas-

pekt die Informationen gibt und der Beziehungsaspekt eröffnet, wie diese

Informationen aufzufassen sind. Beide Aspekte sind miteinander verwoben

und bestimmen sich gegenseitig. Hinsichtlich der Metakommunikation liegt

Page 27: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

24

der Fokus vorrangig auf der Bestimmung des Beziehungsaspektes für den

Inhaltsaspekt (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 56).

In der sozialen Arbeit wird also die Festlegung und Benennung der einzelnen

Rollen bedeutsam, um die Beziehung, in der Sozialarbeiter und Klient zuei-

nanderstehen, zu definieren. Der Sozialarbeiter sollte sich bewusstmachen,

dass seine Nachrichten nicht ausschließlich Informationscharakter haben,

sondern die Interpretation der Informationen eng mit der jeweiligen Bezie-

hung zueinander verwoben ist.

Interpunktion von Ereignisfolgen

Den Aspekt der Interpunktion von Ereignisfolgen entnimmt Watzlawick aus

den Überlegungen von Bateson und Jackson12 in Analogie zu Whorf13 und

berücksichtigt dabei konstruktivistische Annahmen. Jedes Ereignis ist gleich-

zeitig Reiz, Reaktion und Verstärkung in einer triadischen Abfolge. Ein be-

stimmtes Verhalten einer Person ist ein Reiz, dem das Verhalten einer ande-

ren Person als Reaktion folgt, welches wiederum das Verhalten der ersten

Person verstärkt. Diese Form der Interaktion ist eine Kette von Triadenglie-

dern, bei dem jedes einzelne Glied die Abfolge oder auch Ereignisfolge von

Reiz, Reaktion und Verstärkung beinhaltet. Bei der Interpunktion spricht eine

Person einem Ereignis eine persönliche Bedeutung zu und sieht dies gleich-

zeitig als Anlass für weitere Ereignisse (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson

2000, S.57).

Die Interpunktion organisiert Verhalten und ist daher ein wesentlicher Be-

standteil menschlicher Beziehungen. Die Abweichungen in den Ansichtswei-

sen zu den Interpunktionen sind oftmals Ursache von Beziehungskonflikten,

da nicht von jedem Interaktionspartner jede Triade komplett wahrgenommen

und interpretiert wird. Gemeinsame Erlebnisse können deshalb von einzel-

nen Personen unterschiedlich wahrgenommen werden und können bei den

12 Don D. Jackson - war ein US-amerikanischer Psychiater und Psychotherapeut.

13 Benjamin Whorf - war ein US-amerikanischer Linguist.

Page 28: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

25

Beteiligten Zweifel aufkommen lassen, dass es sich um das gleiche Erlebnis

handelt (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S.58-59).

Digitale und analoge Kommunikation

In der zwischenmenschlichen Kommunikation gibt es die digitale und die

analoge Sprache mit denen Objekte dargestellt werden können. Gegenstän-

de oder auch Objekte werden anhand einer Zeichnung, einer Analogie, aus-

gedrückt und durch einen Namen, ein Bezeichnungswort bestimmt (vgl.

Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 62).

Digitale Kommunikation bedeutet, dass Namen Worte sind, deren Verbin-

dung zu dem jeweiligen Gegenstand willkürlich und das Übereinkommen

semantisch für die Relation zwischen Wort und Gegenstand ist. Darüber hin-

aus gibt es keinen weiteren Beziehungsaspekt in der digitalen Kommunikati-

on, wohl jedoch den Inhaltsaspekt. Es gibt keinen erforderlichen Grund wa-

rum der Baum Baum genannt wird. Die Bezeichnung Baum ist rein zufällig

oder auch willkürlich entstanden. Es gibt lediglich ein semantisches Überein-

kommen zwischen Wort und Objekt. Außerhalb dieses Objektes gibt es kei-

nerlei weitere Verbindung. (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 62).

In der analogen Kommunikation finden wir nicht die reine Bezeichnung eines

Objektes, sondern darüber hinaus einen Beziehungsaspekt des Wortes oder

der Nachricht. Nicht allein das Wort hat als Bezeichnung eines Objektes in

der analogen Kommunikation Bestand, sondern die Bedeutung, die bei-

spielsweise von Vorfahren übernommen wurde und in der Kommunikation

mitschwingt (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 62).

Jede Form der menschlichen Kommunikation enthält einen Inhalts- und ei-

nen Beziehungsaspekt und bedient sich digitaler oder analoger Arten und

Weisen, welcher nicht nebeneinander und/oder nacheinander folgen, son-

dern sich beide gegenseitig im Kommunikationsprozess ergänzen (vgl. Watz-

lawick/Beavin/Jackson 2000, S. 64). Analoge Kommunikation besitzt eine

semantische Stärke und eine Schwäche für die logische Syntax, die für

Kommunikation erforderlich ist. Digitale Kommunikation bringt die erforderli-

Page 29: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

26

che, vielseitige logische Syntax mit, jedoch ist die Semantik im Bereich der

Beziehung unzureichend (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 68).

In der Sozialen Arbeit mit Menschen mit einer geistigen Behinderung sollte

der Sozialarbeiter hier auf zwei Ebenen besonderes Augenmerk legen. Er

muss bedenken, dass seine Worte nicht nur eine Bezeichnung für etwas

sind, sondern davon begleitet werden wie bestimmte Dinge gesagt werden.

Der Körperausdruck, die Mimik und Gestik begleiten die reinen Aussagen

und können von den Klienten mehrdeutig aufgenommen und interpretiert

werden. Analoge und digitale Kommunikation sollten deshalb, insbesondere

in der Arbeit mit Menschen mit einer geistigen Behinderung, konformgehen

und das Verhalten des Sozialarbeiters mit dem von ihm Gesagten überein-

stimmen. Für die Deutung von Kommunikation eines Menschen mit einer

geistigen Behinderung bedarf es dem Feingefühl des Sozialarbeiters auch

Mitteilungen mit einer Doppelbedeutung, wie zum Beispiel Tränen vor Rüh-

rung oder Trauer, zu erfassen und in ihrem Sinn durch das Abprüfen digitaler

und analoger Zusammenhänge zu beurteilen.

Symmetrische und komplementäre Interaktion

Die symmetrische und komplementäre Interaktion stellen nach Watzlawick

den fünften Grundsatz für zwischenmenschliche Kommunikation dar und

stehen für Beziehungsformen, die entweder auf Gleichheit oder auf Un-

gleichheit beruhen. Spricht man von einer symmetrischen Interaktion, ist das

Verhalten zweier Personen spiegelbildlich und ihre Interaktion daher sym-

metrisch. Es ist gleichgültig, worin das Verhalten besteht, da sich beide Per-

sonen in Härte und Güte, Stärke und Schwäche ebenbürtig begegnen kön-

nen (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 69). In der komplementären

Interaktion dagegen ergänzen sich die Verhaltensweisen zweier Personen

einander. Diese Interaktionen basieren auf sich gegenseitig ergänzende Un-

terschiedlichkeiten (ebd.). Man unterscheidet die primäre und die sekundäre

Position von Personen in der komplementären Interaktion, welche jedoch

keiner Wertigkeit von stark/schwach oder gut/ schlecht unterliegen. Komple-

Page 30: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

27

mentäre Interaktionen beruhen auf gesellschaftlichen oder kulturellen Kon-

texten (ebd.).

Zwischenmenschliche Kommunikationsabläufe sind entweder komplementär,

wenn die Beziehung der Kommunikationspartner auf Unterschiedlichkeit be-

ruht oder symmetrisch, wenn sie auf Gleichheit beruht (vgl. Watzla-

wick/Beavin/Jackson 2000, S. 70).

Die symmetrische Form der Kommunikation kann für den Aufbau und die

Gestaltung von Beziehung zu Menschen mit sogenannten geistigen Behinde-

rungen vorteilhaft sein. Eine gewinnbringende Ergänzung dazu ist eine wert-

schätzende und respektierende Haltung gegenüber Menschen ganz allge-

mein, ohne aufgrund von Krankheiten und/oder Behinderungen zu differen-

zieren. Ein Menschenbild, welches von dem Menschen als eigenständiges

und selbstbestimmtes Wesen ausgeht, vervollständigt das Profil des Sozial-

arbeiters.

3.2.2 Störmomente der Kommunikation Zu jedem von Watzlawick beschriebenen Axiom gibt es nachweislich auch

mögliche Störmomente oder auch Pathologien, die sich unter bestimmten

Umständen herausbilden können. So sind einzelne Verhaltensweisen nicht

ausschließlich den intrapsychischen Prozessen einer Person zuzuschreiben,

sondern möglicherweise eine Folge von auftretenden Störformen in der zwi-

schenmenschlichen Kommunikation.

Unmöglichkeit nicht zu kommunizieren

Im vorangegangenen Kapitel wurde beschrieben, dass es unmöglich ist,

nicht zu kommunizieren. Und doch gibt es zu diesem Axiom Störmomente,

wenn beispielsweise zwei Personen aufeinandertreffen und einer von beiden

kommunizieren möchte, der andere jedoch nicht. Um nicht kommunizieren zu

müssen, hat man die Möglichkeit der Abweisung, der Annahme oder der

Entwertung des Gesprächspartners (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000,

S. 73).

Page 31: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

28

Eine Person, die kein Interesse an einem Gespräch hat, macht dem Ge-

sprächspartner dies durch Abweisung deutlich. Das erfordert Mut und wird

möglicherweise unangenehmes Schweigen zur Folge haben. Die Herstellung

einer Beziehung wird dadurch nicht vermieden, ob sie demnach förderlich

oder zweckdienlich ist, bleibt fraglich. Annahme ist der Moment, in dem eine

Person, mitunter von negativen Gefühlen begleitet, kein Gespräch möchte,

jedoch dem Ansinnen letztlich nachgibt. Als dritte Möglichkeit könnte der Ge-

sprächsversuch einer Person durch die Entwertung eigener oder anderer

Aussagen gestoppt werden. Wenn eine Person einem Gespräch weiterhin

ausweichen möchte, kann sie Schläfrigkeit, Taubheit oder aber weitere Un-

fähigkeiten vortäuschen (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 73 ff.).

Inhalts- und Beziehungsebene

Von einer gelingenden Kommunikation kann man ausgehen, wenn sich beide

Gesprächspartner über den Inhalt ihrer Kommunikation und außerdem über

die Definition ihrer Beziehung einig sind (vgl. Watzlawick/ Beavin/Jackson

2000, S. 81). Störend für die Gestaltung von Beziehungen ist es, wenn sich

beide Gesprächspartner weder auf der Inhaltsebene noch auf der Ebene der

Beziehung einig sind (ebd.). Darüber hinaus gibt es noch abgestufte Formen

für Störmomente. So ist es möglich, dass sich zwei Personen über den Inhalt

ihres Gespräches uneinig, aber völlig klar in der Beziehungsebene sind. Es

kann auch sein, dass sich beide Partner auf der Inhaltsebene einig sind, aber

die Stufe der Beziehung absolut kontrovers betrachtet wird. Wenn eine Per-

son sich gezwungen fühlt, die eigenen Wahrnehmungen auf der Inhaltsebe-

ne anzuzweifeln, um damit die Beziehungsebene nicht zu gefährden, ist dies

wenig hilfreich für eine gelingende Kommunikation. Meinungsverschiedenhei-

ten zwischen Gesprächspartnern zählen ebenfalls zu den Störformen inner-

halb der Inhalts- und Beziehungsebene (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson

2000, S. 82).

Die Formen der Kommunikationsstörung im Bereich der Inhalts- und Bezie-

hungsebene sind häufig in der sozialen Arbeit mit Menschen mit einer soge-

nannten geistigen Behinderung zu finden. In einer bestimmten Art und Weise

Page 32: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

29

besteht eine gefühlte Abhängigkeit des Klienten von dem Sozialarbeiter. So

ist das Bedürfnis nach Anerkennung und emotionaler Nähe bei Klienten mög-

licherweise so hoch, dass eigene Vorstellungen zum Inhalt bestimmter The-

matiken oder Denkweisen zurückgestellt werden, um die Beziehung zur Be-

zugsperson nicht zu gefährden.

Interpunktion von Ereignisfolgen

In der Betrachtung der Störmomente auf der Ebene der Interpunktion von

Ereignisfolgen geht Watzlawick davon aus, dass bei 10000 exterozeptiven

und propriozeptiven Sinneswahrnehmungen des Menschen pro Sekunde, die

Gefahr einer Überschwemmung mit unwesentlichen Informationen besteht.

Damit dies nicht geschieht, müssen die vielen Wahrnehmungen drastisch

nach wesentlichen und unwesentlichen Informationen gefiltert werden (vgl.

Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 92). Was nun als wesentlich oder auch

unwesentlich eingeschätzt wird, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Die

Kriterien dafür liegen in jedem Einzelnen unterbewusst verborgen. Die Kon-

flikte aus der Interpunktion von Ereignisfolgen können dadurch entstehen,

dass jeder Mensch von seiner subjektiv erlebten Wirklichkeit überzeugt ist.

Alles was von dieser subjektiv empfundenen Wirklichkeit abweicht, wird als

störend empfunden. So finden sich in den Störformen der Interpunktion von

Ereignisfolgen die Uneinigkeit zweier Gesprächspartner über Ursache und

Wirkung eines Konfliktes und auch die sogenannte selbsterfüllende Prophe-

zeiung in Bezug auf nicht gelingende Kommunikation wieder (vgl. Watzla-

wick/Beavin/Jackson 2000, S. 93).

Übersetzungen zwischen digitaler und analoger Kommunikation

In der analogen Kommunikation fehlen nach Watzlawick Verbindungsele-

mente, mit denen sich die Wortstruktur und der Satzbau der digitalen Spra-

che ausrichten. Werden analoge Mitteilungen in die digitale Sprache über-

setzt, so müssen diese benannten Elemente vom Übersetzer eingefügt wer-

den (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 96).

Page 33: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

30

Analoges Gesprächsmaterial ist oftmals stark gegensätzlich und ermöglicht

daher oft miteinander unvereinbare Digitalisierungen. Es ist nicht nur für den

Sender schwierig, digitale Übersetzungen für die anlogen Mitteilungen zu

finden. Sender wie auch Empfänger können dazu neigen, sich genau jene

Digitalisierungen für sich zu wählen, die für sie selbst eine individuelle Be-

deutung haben, aber nicht unbedingt für den Kommunikationspartner. Ein

mitgebrachtes Geschenk ist beispielsweise eine analoge Mitteilung. Wie der

Beschenkte dieses Geschenk annimmt oder auch versteht, hängt von der

Beziehung zum Geber ab (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 97).

Ein weiteres Störmoment könnte darin liegen, dass Analogiekommunikatio-

nen gleichzeitig Beziehungsapelle sind. Ein Gesprächspartner kann durch

sein Verhalten Gefühle vorschlagen, aber ob die andere Person diese als

positiv oder aber negativ annimmt kann nicht vorherbestimmt werden. Wäh-

rend eine Person beispielsweise durch eine drohende Haltung anzudeuten

vermag „Ich werde dich angreifen!“, so ist es bildlich kaum darzustellen, dass

man eben nicht angreifen möchte. Eine aus der Tierwelt abgeleitete Logik

wäre eine Absichtshandlung darzustellen, ohne sie tatsächlich auszuführen.

Eine Person demonstriert seinem Gegenüber die körperliche Überlegenheit

in der drohenden Haltung, ohne tatsächlich zu verletzen oder bedrohend zu

handeln (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 98).

Störungen in symmetrischen und komplementären Interaktionen

Symmetrie und Komplementarität beziehen sich auf zwei grundlegende For-

men, in die sich alle zwischenmenschlichen Kommunikationen einteilen las-

sen. In Beziehungen wirken beide Kategorien abwechselnd und in Partner-

beziehungen auf verschiedenen Gebieten. Beide Formen können sich ge-

genseitig stabilisieren, wenn in einer von beiden eine Störung auftritt. Somit

ist es einerseits wünschenswert, gleichzeitig aber auch unerlässlich, sich in

bestimmten Belangen komplementär und in anderen symmetrisch zu verhal-

ten (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 103).

Page 34: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

31

Störungen in symmetrischen Beziehungen treten auf, sobald sie ihre Stabili-

tät verlieren. Sie sind ein mehr oder minder offener Kampf, der in der Verwer-

fung der Selbstdefinition des Partners besteht. In einer stabilen symmetri-

schen Beziehung akzeptieren sich beide Partner so wie sie sind, respektie-

ren sich gegenseitig und setzen ihr Vertrauen in den Respekt des Anderen.

Hier findet sich eine gegenseitige Bestätigung der Ich-und-Du-Definition (vgl.

Watzlawick/Beavin/Jackson 2000, S. 104). Störungen in den komplementä-

ren Beziehungen führen zur Entwertung des Partners. Der Partner muss die

komplementäre Rolle einnehmen, um eine Selbstdefinition des Partners auf-

recht erhalten zu können (ebd.). Vergleichbar mit der Unabdingbarkeit der

Weiterentwicklung einer Mutter-Kind-Beziehung im Laufe der Zeit, ist die

Weiterentwicklung jeder Beziehungsform erforderlich. Ist diese Weiterent-

wicklung stark beeinträchtigt, so ist auch die weitere Entwicklung der Interak-

tionspartner gefährdet. Der Wechsel von einer symmetrischen in eine kom-

plementäre Beziehungsform und umgekehrt sind wichtige homöostatische

Mechanismen, da sich beide Formen gegenseitig stabilisieren (vgl. Watzla-

wick/Beavin/Jackson 2000, S. 105).

3.2.3 Nonverbale Kommunikation Wie in den vorangegangenen Kapiteln beschrieben, lässt sich an dieser Stel-

le noch einmal zusammenfassen, dass die menschliche Kommunikation an-

hand von Sprache und mit Hilfe nicht-sprachlicher Zeichen und Symbole er-

folgt. Die differenzierte Darstellung der nonverbalen Kommunikation ist an

dieser Stellte bedeutsam, da sie ein wichtiger Bestandteil der zwischen-

menschlichen Kommunikation bei Menschen mit einer geistigen Behinderung

ist.

Kommunikation durch Blickverhalten, Gesichtsausdruck, Körperhaltung und

Körperbewegung, Berührung, räumliche Distanz zur anderen Person und

nonverbale vokale Signale sind die wichtigsten Formen der nonverbalen

Kommunikation (vgl. Thomas14 1991, S. 62). Nonverbale vokale Signale wie

stimmliche Merkmale, Pausen, Betonungen oder paralinguistische Äußerun- 14 Alexander Thomas - deutscher Hochschullehrer mit dem Forschungsschwerpunkt interkulturelle Psychologie.

Page 35: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

32

gen begleiten dabei sprachlich vermittelte Informationen (ebd.). Die Kommu-

nikation durch Körperhaltung und Körperbewegung dient dazu, die treffende

Art und Weise von sprachlichen Mitteilungen zu erhöhen, die Beziehungs-

qualität zwischen Interaktionspartnern zu definieren oder auch sprachlich

vermittelte Informationen durch bestimmte Gesten zu ersetzen (vgl. Thomas

1991, S. 63).

In der Kommunikation mit Menschen mit geistiger Behinderung gibt es noch

drei weitere nonverbale Möglichkeiten der Kontaktgestaltung, den olfaktori-

schen, den gustatorischen und den zuvor kurz erwähnten taktilen Kanal, die

hier zur Vollständigkeit der Betrachtung nonverbaler Kommunikationskanäle

genannt werden sollen (vgl. Senckel15 2000, S. 337).

Nonverbale Sprache vermittelt Gefühlsbotschaften und Nachrichten oder

Wünsche zur Gestaltung von Beziehungen, und erklärt so die Sachinformati-

onen einer Nachricht. Die nonverbalen Zeichen sind oft komplex sowie sich

die Gefühls- und Beziehungszustände als komplex darstellen. Bei der Inter-

pretation nonverbaler Signale muss die äußere Situation mit beachtet wer-

den. Nonverbale Signale werden meist nicht bewusst wahrgenommen, da sie

häufig so klein oder auch unscheinbar sind und erst bei nachhaltiger Analyse

sichtbar werden. Nonverbale Zeichen werden somit unbewusst wahrgenom-

men und beantwortet (vgl. Senckel 2000, S. 338).

In den Ausführungen zum Thema Kommunikation wurde dargestellt, dass

Kommunikation mehr als der Austausch von Sprache ist. Es sind Worte,

Sprachbilder und begleitend, neben Mimik und Gestik, die Haltung von Per-

sonen, die in jeder Form der Kommunikation zu finden sind. In der Arbeit mit

Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung gilt es, sich einer

gemeinsamen Sprache bewusst zu werden. Indem der Sozialarbeiter die

Grundregeln zur Kommunikation kennt, hat er die Chance die Kommunikati-

on bewusst zu gestalten. Mit dem Bewusstsein, dass man nicht nicht kom-

munizieren kann und dem Wissen, dass in jeder Mitteilung neben dem In-

haltsaspekt auch ein Stück Beziehung mitschwingt, sollte der Sozialarbeiter 15 Barbara Senckel - Dozentin an der Fachhochschule für Heilerziehungspflege/Heilpädagogik der Diakonie Stetten in Waiblingen.

Page 36: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

33

sensibel sein für die möglichen Störmomente und Störformen in Kommunika-

tionsprozessen.

3.3 Grundprinzipien und Haltungen in der Systemtheorie Bei der Betrachtung der unterschiedlichen Aspekte, um Beziehungen zwi-

schen Sozialarbeiter und Klienten bewusst zu gestalten, sollte zudem die

Systemtheorie mit in den Blick genommen werden.

Lüssi16 beschreibt die Systemtheorie als eine Theorie mit einem Konzept des

gedanklichen Begreifens. Es bedeutet die Wirklichkeit, aus einer bestimmten

Perspektive heraus zu sehen, weg von den Eigenschaften einzelner Perso-

nen und hin zur Betrachtung von Korrelationen miteinander kommunizieren-

der und interagierender Personen. Das System steht dabei für miteinander in

Wechselwirkung stehende Personen, die Beziehungen der Personen unter-

einander und auch die Beziehung der Personen zum System selbst (vgl.

Lüssi 1991, S. 56).

Nach Sigrid Haselmann17 gehören zum Grundkonzept der systemischen

Theorie die Zirkularität, die Kommunikation und die System-Umwelt-

Grenzen. Die Zirkularität beschreibt, wie sich Phänomene wechselwirksam

beeinflussen. Das Verhalten einer Person innerhalb eines Systems verur-

sacht und bewirkt das Verhalten einer anderen Person und umgekehrt. Wei-

terhin wird in der Systemtheorie die zirkuläre Kommunikation unter dem In-

halts- und dem Beziehungsaspekt betrachtet. Was sagen einzelne System-

mitglieder zueinander und was denken sie über das Gesagte? Die System-

Umwelt-Grenzen beschreiben innerhalb der Systemtheorie wer oder was zu

einem System gehört und wer oder was nicht zu einem System gehört (vgl.

Haselmann 2009, S. 159). Die Grundprinzipien und die therapeutische

16 Peter Lüssi - Schweizer Sozialarbeiter, emeritierter Hochschullehrer und Begründer des Begriffs Systemische Sozialarbeit.

17 Sigrid Haselmann – Professorin für Psychologie, psychologische Psychotherapeutin.

Page 37: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

34

Grundhaltung der Systemtheorie beinhalten wesentliche Aspekte für eine

gelingende Gestaltung von zwischenmenschlichen Beziehungen.

Achtung vor der Selbstorganisation der einzelnen Systemmitglieder

Das Prinzip der Achtung vor der Selbstorganisation einzelner Systemmitglie-

der, auch beschrieben als Neutralität, beinhaltet die Achtung vor den Lebens-

und Sichtweisen der Klienten ohne dabei die Sichtweisen des Sozialarbeiters

dem Klienten aufzudrängen (vgl. Haselmann 2009, S. 173). Die Neutralität

bezieht sich, nach Annahme von Sigrid Haselmann, hier auf drei unterschied-

liche Ebenen. Auf der ersten Ebene bedeutet Neutralität, die einzelnen Per-

sonen des Systems mit ihren Verhaltens- und Beziehungsmustern, ihren An-

sichten und Erklärungen, ihren Lebensentwürfen, ihren Lebens- und Ände-

rungswünschen neutral zur Kenntnis zu nehmen. Der Sozialarbeiter ergreift

nicht Partei für einzelne Personen und bewahrt zu einzelnen Systemmitglie-

dern eine innere Distanz. Als zweite Ebene sollte er gegenüber den Ideen

der Systemmitglieder neutral bleiben. Das bedeutet auch keine Werthaltun-

gen oder Problemerklärungen offensichtlich zu bevorzugen und widersprüch-

lichen Ansichten zu Problemlagen offen gegenüber zu stehen. Im dritten As-

pekt bezüglich der Neutralität der Systemtheorie betrachtet der Sozialarbeiter

die Lösungsvorschläge der Systemmitglieder neutral und sieht Symptome als

kreative Lösungsversuche an, ohne sich dabei für eine Position zwischen

Veränderung oder auch Nicht-Veränderung zu stellen (vgl. Haselmann 2009,

S. 174).

Ressourcenorientierung

Alle Klienten verfügen über Selbsthilfekonzepte, die ihnen vielleicht momen-

tan nicht bewusst sind, sich jedoch in ihnen befinden. Sie müssen nicht wirk-

lich etwas neu lernen oder fehlendes bekommen, so die Annahme der Res-

sourcenorientierung der Systemtheorie. Die Grundlagen, welche sie zur

Problembewältigung, zur Entwicklung oder für angestrebte Veränderungen

benötigen, liegen im Klienten selbst. Dem Sozialarbeiter kommt hierbei die

Page 38: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

35

Aufgabe zu, diese möglicherweise verborgenen Fähigkeiten und Ressourcen

der Klienten ausfindig zu machen und sie (wieder) zu aktivieren (vgl. Hasel-

mann 2009, S. 174).

Lösungsorientierung

Anstatt zeitintensiv Probleme zu erkunden und zu beschreiben, sollte der

Schwerpunkt der sozialen Arbeit auf der Suche nach sogenannten Ausnah-

men von Problemen liegen. Was gelingt dem Klienten schon gut und was ist

in diesen Situationen hilfreich? Den Fokus auf die Entfaltung von Lösungs-

ideen zu legen, hilft dabei, sich nicht zu lange mit Problemen zu beschäftigen

(vgl. Haselmann 2009, S. 174).

Klientenorientierung

Die Orientierung am Klienten bedeutet, ihm genau das anzubieten, was er

sozusagen möchte und in dem jeweiligen Moment braucht. Es ist nicht von

Bedeutung was aus der Sicht des Sozialarbeiters hilfreich oder nötig für die

betreffende Person ist. Diese Form der Klientenorientierung oder auch Auf-

tragsorientierung ist wichtig in der Arbeit mit Klienten, die entweder unmoti-

viert oder unschlüssig in Bezug auf eigene Wünsche und Vorstellungen sind.

Hier sollte gemeinsam gezielt herausgearbeitet werden, wer, was, von wem,

bis wann und wozu erwartet (vgl. Haselmann 2009, S. 175).

Möglichkeitsraum vergrößern

Das Ziel der Systemtheorie ist es, die Denk-, Verhaltens- und Handlungs-

möglichkeiten der Klienten möglichst zu vergrößern. Sie dazu anzuregen,

bisher Ungedachtes zudenken, Unausprobiertes auszuprobieren und Verän-

derungen oder auch Neuerungen mit einzubringen, ist ein weiteres Hand-

lungsprinzip aus der systemtheoretischen Sicht. Damit Klienten ihren eige-

Page 39: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

36

nen Möglichkeitsraum vergrößern, sollen sie dazu befähigt werden, selbst-

wirksam zu agieren (vgl. Haselmann 2009, S. 175).

Die Grundprinzipien und therapeutische Haltungen aus der systemtheoreti-

schen Perspektive ergänzen die bisherigen Ausführungen über die Möglich-

keiten des Sozialarbeiters, Beziehungen bewusst zu gestalten. Wurden vor-

her aus der Sicht von Rogers die Haltungen des Sozialarbeiters gegenüber

dem einzelnen Klienten und die Aspekte zur Kommunikation zwischen Per-

sonen nach Watzlawick beschrieben, so erweitert die Systemtheorie den

Blick auf das gesamte System in dem ein Klient sich bewegt. Jeder Mensch,

jede Person, ob mit oder ohne Behinderung, ob intelligenzgemindert oder

intelligenzgesteigert, bewegt sich innerhalb von Systemen, die es zu respek-

tieren gilt. Nicht das Verhalten einer einzelnen Person wird fokussiert, son-

dern der systemische Kontext, in dem das Verhalten auftritt. Die Beziehung

zwischen Sozialarbeiter und Klient hat Auswirkungen auf weitere Wechsel-

wirkungen und Verbindungen innerhalb des Systems des Klienten.

Den Ansatz der Achtung vor der Selbstorganisation des Klienten gilt es,

gleichsam auf die soziale Arbeit mit Menschen mit einer Intelligenzminderung

zu übertragen. Auch hier sollte der Sozialarbeiter den Lebensentwürfen und

Lösungsvorschlägen für geplante Veränderungen oder Problembewälti-

gungsideen offen, wertungsfrei und achtend gegenüberstehen. Die Soziale

Arbeit kann und soll ebenfalls auf die Wünsche und Bedürfnisse der Men-

schen mit Behinderung fokussiert sein. Darüber hinaus sollte die Suche nach

Ressourcen, die Orientierung an der Lösung von Situationen, mit dem Ziel

persönliche Möglichkeitsräume zu vergrößern, auf die Arbeit mit Menschen

mit geistigen Beeinträchtigungen übertragen werden.

Page 40: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

37

4 Bedeutung der Beziehungsgestaltung für die soziale Arbeit mit Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung an einem Fall-beispiel

In den vorangegangenen Kapiteln wurden einzelne Aspekte anhand ausge-

wählter Theorien zur Gestaltung von Beziehung und die Notwendigkeit der

Einnahme einer respektierenden Grundhaltung des Sozialarbeiters ausführ-

lich beschrieben. Diese werden nun in diesem Kapitel praxisnah veranschau-

licht. Anhand der Reflexion eines Fallbeispiels sollen die Bedeutung der sys-

temischen Haltung und die Notwendigkeit und die Möglichkeiten von Bezie-

hungsgestaltung aufgezeigt werden.

4.1 Falldarstellung aus systemtheoretischer Perspektive Alexander ist vierundzwanzig Jahre jung und hat eine geistige Behinderung

von sechzig Prozent. Die geistige Behinderung wurde mit Hilfe eines Intelli-

genztests nach einem stationären Aufenthalt in einer Klinik für Nervenheil-

kunde diagnostiziert. Analog der Klassifikationsform nach ICD-10, wie im Ka-

pitel 2.2.1 beschrieben, würde man hier von einer leichten geistigen Behinde-

rung (F.70) sprechen. Alexander ist aus dem Elternhaus ausgezogen und

möchte in einer Wohngemeinschaft Alltagskompetenzen trainieren, um spä-

ter seine eigene Wohnung zu beziehen. Die Übermittlung der Diagnose der

geistigen Behinderung ist für den Sozialarbeiter, der Alexander im Alltag be-

gleiten wird, bedingt aussagekräftig. Die Bezeichnung der geistigen Behinde-

rung beschreibt nicht, was Alexander für eine Person ist, welche Eigenschaf-

ten, Wünsche und Bedürfnisse er hat oder aber welche Unterstützung er be-

nötigt, um seine Wünsche zu verwirklichen. Um ein umfassendes Bild auf-

zeigen zu können, werden in der Falldarstellung Grundsätze der Systemthe-

orie herangezogen.

Beim Einzug in die Wohngemeinschaft stellte Alexander fest, dass er grund-

sätzlich zu wenig Geld für sich zur Verfügung hat. Daher versucht er, im An-

schluss der Auszahlung des wöchentlich festgelegten Wirtschaftsgeldes, den

geringen Betrag in der Spielothek durch Glücksspiele zu erhöhen. Das Risi-

ko, dass am Ende des Tages möglicherweise noch weniger oder vielleicht

sogar kein Geld für den Erwerb von Lebensmitteln zur Verfügung steht,

Page 41: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

38

nimmt er dafür scheinbar in Kauf. Der Sozialarbeiter könnte nun auf dieses

geschilderte Problem ausführlich eingehen, es erkunden und ausführlich be-

schreiben. Hilfreicher ist es jedoch, den Blick auf die Entwicklung von Lö-

sungsideen und auf die Ausnahmen für dieses Verhalten und Handeln zu

lenken. Aus systemtheoretischer Perspektive sollte der Fokus auf Situationen

liegen, in denen es Alexander gelingt, trotz geringer Geldbeträge für sich zu

sorgen und ausreichend Lebensmittel für sich einzukaufen. Der Schwerpunkt

der alltäglichen Begleitung von Alexander sollte es sein, zu sehen welche

Ziele er erreichen möchte und welche Unterstützung er dabei benötigt.

Möglicherweise sieht der Sozialarbeiter die Gefahr, dass der Klient am Mo-

natsende kein Geld mehr zur Verfügung hat, da er viele Geldbeträge in der

Spielothek „verspielt“. Er könnte Alexander ausführlich darüber belehren,

dass es sinnvoller wäre zu sparen oder einfach nicht in die Spielothek zu ge-

hen. Doch das entspricht weder dessen Interessen, noch hilft es bei der Er-

reichung seiner Ziele. Sich an Alexander zu orientieren bedeutet nach der

Systemtheorie auch, sich seinen Bedürfnissen und Zielen anzunehmen und

ihn durch alternative Ideen zu unterstützen, um diese Ziele zu erreichen.

Alexander fällt es schwer, die Tatsache anzunehmen, dass er einen festge-

legten Geldbetrag in der Woche, für den Kauf von Lebensmitteln und persön-

lichen Bedarfen, zur Verfügung hat. Er sucht nach Möglichkeiten, diesen

Geldbetrag zu erhöhen. Dabei greift er auf die ihm bekannte Methode, das

Geld in Automaten der Spielothek zu investieren, zurück. Der Sozialarbeiter

hat nun die Aufgabe sich auf die Suche zu begeben, über welche Selbsthilfe-

strategien Alexander verfügt. Wie schafft er es sich mit Lebensmitteln zu ver-

sorgen, obwohl er den Großteil des Geldes in Spielotheken lässt? Offensicht-

lich ist Alexander dazu in der Lage, zu überblicken, wie viel Geld er für wel-

che Lebensmittel braucht, welcher Supermarkt seinen Bedürfnissen genügt

und wie viel Lebensmittel er bis zur nächsten Geldauszahlung benötigt.

Orientiert an dem Ziel des Klienten, mehr Geld zur Verfügung zu haben, gilt

es als Sozialarbeiter, diesen anzuleiten mehr Handlungsmöglichkeiten zu

erlangen. Attraktive Veränderungen oder auch gewinnbringende Alternativen

zur Geldanlage in der Spielothek sollen hierbei gemeinsam bedacht werden.

Page 42: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

39

Sich mit Alexander auf die Suche nach Möglichkeiten für sein selbstbestimm-

tes Leben zu begeben, ist beispielhaft eine Methode und Haltung der Sys-

temtheorie nach Sigrid Haselmann und gleichzeitig als Handlungsgrundlage

für die soziale Arbeit zu verstehen. Alexander innerhalb seines Systems zu

betrachten, dieses System zu respektieren und seine Lebensentwürfe

gleichsam zu achten, ermöglichen dem Sozialarbeiter eine Beziehung zu ihm

aufzubauen.

4.2 Empathie, Kongruenz und Akzeptanz in der Praxis Für Alexander ist das Bedürfnis in die Spielhalle zu gehen, um mehr Geld zu

gewinnen, allgegenwärtig. An manchen Tagen scheint es für ihn eine uner-

klärbare Not zu sein, noch mehr Geld besitzen zu wollen. Das Gefühl, wel-

ches er bei einem Gewinn erlebt, ist für den Sozialarbeiter kaum nachvoll-

ziehbar. Auch wenn der Sozialarbeiter eben diese Gefühle aus eigenen Er-

fahrungen heraus nicht nachvollziehen kann, ist es hilfreich wenigstens zu

versuchen, sie zu verstehen. Was ist das für ein Gefühl, welches Alexander

antreibt oder auch später begleitet? Welche Not fühlt er möglicherweise täg-

lich, wenn er den Weg in die Spielothek geht? Welche Auswirkungen hat die-

ses Verhalten auf die Systemmitglieder, wie zum Beispiel auf Freunde oder

Familie? Der Versuch, sich in die Gedanken– und Gefühlswelt von Alexander

einzufühlen, vermittelt ihm das Gefühl, dass er es wert ist verstanden zu

werden. Ein Gespür dafür zu entwickeln, welche Gefühle ihn im Alltag und

bei dem Gedanken an die Spielothek begleiten, diese Gefühle mit ihm zu

thematisieren, können es Alexander ermöglichen, sich seiner Gefühlswelt

und den Zusammenhängen zwischen Gefühl und Verhalten bewusst zu wer-

den.

Der Sozialarbeiter begleitet Alexander innerhalb der Wohngemeinschaft im

Alltag. Sie verbringen täglich einige Zeit mit unterschiedlichen Tätigkeiten im

hauswirtschaftlichen Bereich, wie beispielsweise kochen von Mahlzeiten oder

Wohnraumreinigung. Der Sozialarbeiter nimmt Alexander an verschiedenen

Tagen zu unterschiedlichen Zeiten wahr. Was fühlt der Sozialarbeiter, wenn

er ihn im Alltag begleitet? Wie geht es dem Sozialarbeiter, wenn er bemerkt,

dass Alexander „schon wieder“ das restliche Wochenbudget in der Spielhalle

Page 43: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

40

verspielt hat? Sind ihm seine Gefühle wie Ärger oder Enttäuschung bewusst?

Und wenn sie ihm bewusst sind, findet der Sozialarbeiter einen Weg diese

Gefühle Alexander nachvollziehbar mitzuteilen? In dem Moment, in dem sich

der Sozialarbeiter mit seinen Gefühlen, die im unmittelbaren Zusammenhang

mit Alexander und seinem Verhalten stehen, auseinandersetzt und diese

dann auch mitteilt, wirkt der Sozialarbeiter für sich selbst und auf Alexander

glaubwürdig und echt.

Wenn der Sozialarbeiter nun seine Gefühle wahrgenommen, benannt hat

und darüber mit Alexander im Austausch gewesen ist, so ändert es mögli-

cherweise noch nichts an dem getroffenen Lebensentwurf von Alexander.

Möglicherweise gibt es abweichende Sichtweisen des Sozialarbeiters oder

des persönlichen Netzwerkes von Alexander zu dem Versuch, über die Spie-

lothek zu mehr Geld zu kommen, die jedoch an dieser Stelle keinen Platz

finden. Für den Aufbau und die positive Gestaltung von Beziehungen ist es

hilfreich, Alexander und seinen Lösungsversuch zunächst wert zu schätzen

und bedingungs- wie wertungsfrei anzunehmen.

4.3 Kommunikationsaspekte in der Praxis Der Aspekt der Sprache findet sich in der Begleitung von Alexander im Alltag

innerhalb der Wohngemeinschaft auf unterschiedlichen Ebenen wieder. Um

miteinander ins Gespräch zu kommen, muss der Sozialarbeiter zunächst ei-

ne gemeinsame Sprache mit Alexander finden. Das gilt für den Betreuungs-

alltag, wie für die Planung des Unterstützungsprozesses.

Auf die Situation, dass Alexander in der Spielothek seinen Geldbetrag erhö-

hen möchte, lassen sich die einzelnen Axiome zur Kommunikation nach Paul

Watzlawick übertragen. Wenn Alexander dem Sozialarbeiter mitteilt, dass er

direkt nach der Geldauszahlung in die Spielothek gehen wird und der Sozial-

arbeiter daraufhin antwortet, so muss ihm bewusst sein, dass Alexander

auch durch seine Körperhaltung und Körpersprache etwas mitgeteilt wird.

Jede Betonung der einzelnen Wörter oder auch jede Pause zwischen den

Wörtern wirken zusammen als Stellungnahme zu den Themen Umgang mit

Geld und Spielothek. Angenommen der Sozialarbeiter antwortet mit dem

Satz: „Ok Alexander, wenn Du jetzt in die Spielothek gehst, dann sehen wir

Page 44: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

41

uns morgen wieder.“, kann je nach Betonung usw. unterschiedlich von Ale-

xander wahrgenommen werden. Der Inhaltsaspekt ist, dass Alexander jetzt

in die Spielothek geht und er den Sozialarbeiter am nächsten Tag wieder

trifft. Alexander könnte die Nachricht aber auch als Drohung verstehen

„Wenn Du jetzt gehst, gehe ich und heute unterstütze ich dich nicht weiter!“

Je nachdem wie sich die Beziehung zwischen Alexander und dem Sozialar-

beiter definiert, wird die Nachricht entsprechend interpretiert.

Betrachtet man die Interpunktion von Ereignisfolgen, lassen sich die Reiz-

Reaktionsabläufe wie folgt beschreiben. Aus der Sicht von Alexander geht er

in die Spielothek, weil er findet, dass er zu wenig Geld ausgezahlt bekommt.

Er ist zudem davon überzeugt, dass er nach dem Glücksspiel mehr Geld zur

Verfügung hat. Aus der Sicht des Sozialarbeiters hat Alexander möglicher-

weise so wenig Geld, weil er so häufig in die Spielothek geht. Diese unter-

schiedlichen Betrachtungsweisen zum Thema Geld beinhalten Konfliktpoten-

zial. Der Sozialarbeiter sollte sich dessen bewusst sein und sich und seine

Beziehung zu Alexander dahingehend reflektieren. Ihm muss klar sein, dass

beide Interaktionspartner nur einzelne Aspekte des Reiz-Reaktions-

Schemas, in Bezug auf Geld und Spielothek, wahrnehmen.

Abschließend kann gesagt werden, dass anhand einer einzelnen Situation

aus dem Praxisalltag die Systemtheorie, die Aspekte gelingender Bezie-

hungsgestaltung und die Grundsätze der Kommunikation analysiert wurden.

Das Fallbeispiel Alexander, der selbst gewählte Umgang mit dem ihm zur

Verfügung stehenden Geld, stellt lediglich einen Ausschnitt aus dem Alltag

dar. Die Analyse dieser einzelnen Situation beschreibt weder den ganzheitli-

chen Umfang der Sozialen Arbeit noch den vielschichtigen Kern der Bezie-

hungsgestaltung. Es zeigt jedoch, dass es Aspekte gibt, die es dem Sozial-

arbeiter ermöglichen, die Beziehung zu Alexander bewusst zu gestalten. Um

eine Veränderung der Situation, eine Entwicklung und Stärkung der Alltags-

bewältigung von Alexander zu erreichen, sollte der Sozialarbeiter zunächst

bemüht sein, eine Beziehung zu ihm aufzubauen und diese bewusst zu ge-

stalten.

Page 45: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

42

5 Zusammenfassung und Ausblick Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung im Kontext der sozialen Arbeit mit

Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung war Untersu-

chungsgegenstand dieser Arbeit. Unter der Fragestellung wie Sozialarbeiter

die Beziehung bewusst gestalten können, wurden ausgewählte Theorien

eingehender betrachtet.

Um ein Verständnis für die professionelle Arbeitsbeziehung zu bekommen,

wurden Unterschiede, aber auch Ähnlichkeiten in Bezug zu Beziehungen im

rein privatrechtlichen Kontext herausgearbeitet. Diesem Verständnis folgend,

wurde der pädagogische Ansatz innerhalb der professionellen Arbeitsbezie-

hung dargestellt. Mit Blick auf die soziale Arbeit mit Menschen mit einer so-

genannten geistigen Behinderung wurde deutlich, dass diese von sozialer

Gerechtigkeit und Achtung der Individualität und Vielfalt geleitet ist. Sie hat

den Anspruch Stigmatisierung zu vermeiden, Entwicklung zu fördern und den

sozialen Zusammenhalt von Menschen innerhalb der Gesellschaft zu stärken

(URL: Deutscher Berufsverband für Sozial- und Heilberufe 2016).

Neben dem Verständnis, was der Begriff geistige Behinderung beinhaltet,

kommt man zu dem Schluss, dass eine tragfähige Beziehung zwischen So-

zialarbeiter und Klient notwendig ist. Dabei wurden in dieser Arbeit, ausge-

hend von der Begriffsklärung, über dessen kritische Betrachtungsweise, bis

hin zu den vielfältigen Aspekten für die Beziehungsgestaltung, in der Analyse

berücksichtigt. Die Gestaltung eben jener Beziehungen ist nicht der komple-

xe Inhalt sozialer Arbeit, bildet jedoch eine solide Grundlage für die Tätigkeit

im sozialen Handlungsfeld. Folgt man der Annahme, dass ohne Beziehungs-

gestaltung die soziale Arbeit mit Menschen mit einer sogenannten geistigen

Behinderung erschwert ist, könnte man die ausgewählten Aspekte zur Ge-

staltung als ausgesuchte Handlungsanregungen verstehen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Sozialarbeiter, bei Beachtung

der in Kapitel 3 aufgeführten Theorien, in der Lage ist, die Bedingungen für

eine tragfähige Beziehung zu schaffen. Dazu muss er sie bewusst gestalten

und es bedarf einer respektierenden und wertschätzenden Haltung gegen-

über dem Klienten, sowie eines einfühlenden Verständnisses seitens des

Page 46: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

43

Sozialarbeiters. Durch die bewusste Wahrnehmung der Emotionen, welche

in Beiden vorherrschen, werden sie gleichzeitig anerkannt und bekommen so

den notwendigen Stellenwert in der professionellen Arbeit. Die Auseinander-

setzung mit dem Phänomen der zwischenmenschlichen Kommunikation

kann dabei hilfreich sein, sich als Sozialarbeiter der Komplexität bewusst zu

werden und so die Prozesse innerhalb des pädagogischen Handelns wahr-

zunehmen und zu deuten.

Die Abhandlung der Theorien in Verbindung mit dem ausgewählten Fallbei-

spiel führen zu dem Schluss, dass eine tragfähige Beziehung die Basis für

eine gelingende soziale Arbeit bilden und diese tragfähige Arbeitsbeziehung

vom Sozialarbeiter bewusst gestaltet werden kann.

Die Betrachtung weiterer Aspekte, wie beispielsweise von Nähe und Distanz

im Kontext der sozialen Arbeit, sowie Vertrauen als Konstrukt können für die

Erkenntnisse des Sozialarbeiters in Bezug auf die bewusste Gestaltung zwi-

schenmenschlicher Beziehungen hilfreich sein. Berufsbiografischen Aspekte,

beschrieben von Hans Thiersch, und auch Grenzen für die Beziehungsge-

staltung nach Burkhard Müller, können zur Ergänzung und umfassenderen

Sichtweise in Bezug auf pädagogische Handlungsfelder herangezogen wer-

den. Diese im letzten Abschnitt benannten Aspekte konnten innerhalb dieser

Arbeit nicht weiter berücksichtigt werden.

Page 47: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

44

6 Quellenverzeichnis

Arnold, Susan: Vertrauen als Konstrukt. Sozialarbeiter und Klient in Bezie-hung, Leipzig 2009, S. 23 -38

Giesecke, Hermann: Pädagogik als Beruf. Grundformen pädagogischen Handelns, 7. Auflage, Weinheim und München 2000, S. 112 ff.

Haselmann, Sigrid: Systemische Beratung und der systemische Ansatz in der sozialen Arbeit, In: Michel- Schwartze, Brigitta: Methodenbuch soziale Arbeit. Basiswissen für die Praxis, 2. Auflage, Wiesbaden 2009, S. 155 – 206

Lüssi, Peter: Systemische Sozialarbeit. Praktisches Lehrbuch der Sozialbe-ratung, Stuttgart 1991, S. 56

Mund, Petra: Kommunikation in: Fachlexikon der Sozialen Arbeit, 7. Auflage, Baden-Baden 2011, S 525

NOMOS: Gesetze für die Soziale Arbeit, 3. Auflage, Baden-Baden 2013

Preuß, Ulrich: Intelligenzminderung und grenzwertige Intelligenz IN: Preuß, Ulrich; Stümpfig, Sven: Kinder- und Jugendpsychiatrie. Für Pflege- und Sozi-alberufe, 1. Auflage, München 2010

Rogers, Carl: Therapeut und Klient. Grundlagen der Gesprächspsychothe-

rapie, Frankfurt am Main, September 1983, S. 211 – 222

Senckel, Barbara: Mit geistig Behinderten leben und arbeiten, 5. Unverän-

derte Auflage, München 2000, S. 337- 339

Speck, Otto: Geistige Behinderung, In: Theunissen, Georg; Kulig, Wolfram;

Schirbort, Kerstin: Handlexikon Geistige Behinderung. Schlüsselbegriffe aus

der Heil- und Sonderpädagogik, sozialen Arbeit, Medizin, Psychologie, So-

ziologie und Sozialpolitik, Stuttgart 2007, S. 136 -137

Speck, Otto: Menschen mit geistiger Behinderung. Ein Lehrbuch zur Erzie-

hung und Bildung, 11. Auflage, München 2012

Strasser, Urs: Wahrnehmen Verstehen Handeln. Förderdiagnostik für Men-

schen mit einer geistigen Behinderung, 4. Auflage, Luzern 2001

Theunissen, Georg: Geistige Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten, 6.

überarbeitete und erweiterte Auflage, Bad Heilbrunn 2016

Page 48: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

45

Thomas, Alexander: Grundriß der Sozialpsychologie, Band 1: Grundlegen-

de Begriffe und Prozesse, Göttingen, 1991, S. 62 – 64

URL1: https://www.dbsh.de/beruf/definition-der-sozialen-arbeit.html

[Stand 21.07.2016]

URL2: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-

Dateien/Pakte_Konventionen/CRPD_behindertenrechtskonvention/crpd_b_d

e.pdf [Stand 19.06.2016]

URL3: http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-who/index.htm [Stand 19.06.2016]

URL4: http://www.icd-code.de/icd/code/F70-F79.html [Stand 19.06.2016]

URL5: http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icf/index.htm [Stand 20.06.2016]

Watzlawick, Paul; Beavin Janet H.; Jackson, Don D.: Menschliche Kommu-

nikation. Formen, Störungen, Paradoxien, 10. Auflage Bern, 2000, S. 50 ff.

Page 49: Die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der sozialen ...digibib.hs-nb.de/file/dbhsnb_derivate_0000002236/Bachelorarbeit... · Hermann Giesecke beschreibt in seinem Buch „Pädagogik

46

Eidesstattliche Erklärung Ich erkläre an Eides statt, dass ich die vorliegende Arbeit selbständig und ohne Benutzung anderer als der angegebenen Hilfsmittel angefertigt habe. Die aus fremden Quellen direkt oder indirekt übernommenen Gedanken habe ich als solche kenntlich gemacht.

Warnemünde, 21.07.2016

Jeannette Völker