Die Daseinsweisen der Hysterie

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Die Daseinsweisen der Hysterie. Yon Kurt Schneider. (Aus der Psychiatrischen Klinik der Universit~t KSln [Prof. Dr. Ascha//enburg].) (Eingegangen am 2. Februar 1923.) Dreierlei pflegt die Psychiatrie als hysterische Erseheinungen zu beschreiben: 1. den ,,hysterischen Charakter", 2. dureh Gemfitsbewegun- gen verursachte seelische Ausnahmezustande, die sog. ,,Tsychogenen Psychosen", 3. seelisch bedingte k6rperliche Funktionsst6rungen. Diese drei Formen seien zuni~chst betrachtet. 1. Wenn man sich in der reichen Literatur danaeh umsieht, was man alles zum ,,hysterischen CharaIcter" gereehnet hat, so v~rmiBt man kaum einen Charakterzug, der dem Arzte, oder der Mitwelt tiberhaupt, unangenehm zu sein pflegt: Launenhaftigkeit findet man ebenso wie Schwi~rmerei, Erregbarkeit ebenso wie Pseudologie, BeeinfluBbarkeit ebenso wie Verleumdungssueht, Egoismus ebenso wie fehlenden Ge- sundheitswillen, Mangel an Ausdauer ebenso wie erotisehes Benehmen. Der ,,hysterische Charakter" zerflieBt einem unter den H~nden. Festen Stand gibt nur die Fassung von Jaspers, der hinter dem Wechsel der Erscheinungen den einen Grundzug finder: mehr zu scheinen, als man ist. Zu diesem Zwecke wird eine Rolle gespielt, selbst auf Kosten yon Ehre und Gesundheit, eine Rolle, hinter der das Eigene, das Echte der Per- sSnlichkeit versehwindet, die nur noch ein Schauplatz ist fiir theatra- lische Erlebnisse. Zweifellos ist dies ein wohl umschriebener charak- terologiseher Tatbestand, doch scheint es mir nicht zweekmi~Big, ihn ,,hysterisch" zu hei~en, um damit nicht Zusammenhi~nge zu setzen, die, wie zu zeigen sein wird, nur als mittelbare bestehen und nieht wesens- mi~i~iger Art sind. Ich heiBe den yon Jaspers gemeinten Menschen einen ,,Geltungsbedi~r/tigen", obschon das Wort sprachlieh nieht die volle begriffliche Bedeutung enthi~lt. Dies ist aber bei den meisten deutschen Bezeichnungen so und bei ffemdsprachlichen nur scheinbar anders, weft wir uns hierbei weniger an die Wortbedeutung halten. An sich braucht n~mlich nieht jeder Geltungsbediirftige in dem Sinn geltungsbediirftig zu sein, dab er mehr oder etwas anderes gelten will, als er ist. 2. Es scheint mir nun auch nicht zweckmi~Big, die sog. ,,psycho- genen Psychosen" ,,hysterisch" zu heiBen. Vor allem, well aueh reaktive Depressionen, ja auch paranoide Entwicklungen, also Zust~nde, die wohl niemand ,,hysterisch" heiBen wird, solche ,,psyehogene 18"

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Die Daseinsweisen der Hysterie.

Yon Kurt Schneider.

(Aus der Psychiatrischen Klinik der Universit~t KSln [Prof. Dr. Ascha//enburg].)

(Eingegangen am 2. Februar 1923.)

Dreierlei pflegt die Psychiatrie als hysterische Erseheinungen zu beschreiben: 1. den ,,hysterischen Charakter", 2. dureh Gemfitsbewegun- gen verursachte seelische Ausnahmezustande, die sog. ,,Tsychogenen Psychosen", 3. seelisch bedingte k6rperliche Funktionsst6rungen. Diese drei Formen seien zuni~chst betrachtet.

1. Wenn man sich in der reichen Literatur danaeh umsieht, was man alles zum ,,hysterischen CharaIcter" gereehnet hat, so v~rmiBt man kaum einen Charakterzug, der dem Arzte, oder der Mitwelt tiberhaupt, unangenehm zu sein pflegt: Launenhaftigkeit findet man ebenso wie Schwi~rmerei, Erregbarkeit ebenso wie Pseudologie, BeeinfluBbarkeit ebenso wie Verleumdungssueht, Egoismus ebenso wie fehlenden Ge- sundheitswillen, Mangel an Ausdauer ebenso wie erotisehes Benehmen. Der ,,hysterische Charakter" zerflieBt einem unter den H~nden. Festen Stand gibt nur die Fassung von Jaspers, der hinter dem Wechsel der Erscheinungen den einen Grundzug finder: mehr zu scheinen, als man ist. Zu diesem Zwecke wird eine Rolle gespielt, selbst auf Kosten yon Ehre und Gesundheit, eine Rolle, hinter der das Eigene, das Echte der Per- sSnlichkeit versehwindet, die nur noch ein Schauplatz ist fiir theatra- lische Erlebnisse. Zweifellos ist dies ein wohl umschriebener charak- terologiseher Tatbestand, doch scheint es mir nicht zweekmi~Big, ihn ,,hysterisch" zu hei~en, um damit nicht Zusammenhi~nge zu setzen, die, wie zu zeigen sein wird, nur als mittelbare bestehen und nieht wesens- mi~i~iger Art sind. Ich heiBe den yon Jaspers gemeinten Menschen einen ,,Geltungsbedi~r/tigen", obschon das Wort sprachlieh nieht die volle begriffliche Bedeutung enthi~lt. Dies ist aber bei den meisten deutschen Bezeichnungen so und bei ffemdsprachlichen nur scheinbar anders, weft wir uns hierbei weniger an die Wortbedeutung halten. An sich braucht n~mlich nieht jeder Geltungsbediirftige in dem Sinn geltungsbediirftig zu sein, dab er mehr oder etwas anderes gelten will, als er ist.

2. Es scheint mir nun auch nicht zweckmi~Big, die sog. ,,psycho- genen Psychosen" ,,hysterisch" zu heiBen. Vor allem, well aueh reaktive Depressionen, ja auch paranoide Entwicklungen, also Zust~nde, die wohl niemand ,,hysterisch" heiBen wird, solche ,,psyehogene

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Psychosen" sind. Eine Grenze ist da nicht zu sehen, hSchstens, wenn man den Begriff der ,,psychogenen Psychose" auf die Bewu[3tseins- triibungen, die D~mmerzustande, beschranken wollte. Es ware aber kein Vorteil, diese ,,hysterisch" zu heiBen, da sie zu den seelisch ent- standenen kSrperlichen FunktionsstSrungen keine einwandfreien und nur theoretisch konstruierbare Beziehungen aufweisen.

3. Es bleibt also lediglich diese dritte und letztc Form iibrig, und ich glaube, dab man mit ihr in der Tat eine sauber ablSsbare und klar zu umschreibende Reaktionsform vor sich hat. ,,Hysterisch" heiBen dann lediglich seelisch entstandene und seelisch /estgehaltene k6rperliche FunktionsstSrungen. Es ist notwendig, das seelische Festgehaltensein mit in den Begriff aufzunehmen, denn seelisch entstanden kann letzten Endes auch eine Apoplexie oder eine Hamopto6 sein.

Fiir diese Fassung der hysterischen Symptome ergeben sich nun bei tieferer Betrachtung zwei Schwierigkeiten. Die erste betrifft die Abgrenzung yon den Phobien, den als Folge von Zwangszustanden auf-' tretenden .kSrperlichen FunktionsstSrungen. Man sieht aber gleich, dab hier bei dem gr5Bten Teil StSrungen des Handelns, des Willens vorliegen, wie etwa bei der Platzangst, wahrend es sich bei den hyste- rischen Funktionsst6rungen um ein Versagen einzelner Funktionen. ein umschriebenes Versagen innerhalb des KSrpers handelt. Die Funk- tionsstSrungen im Sinne der Phobien sind aus der Angst unmittelbar verst~ndlich, es fehlt das, was die Theorie ,,Abspaltung" heiBt, es fehlen jene ,,Ausweichungen" ins Aul]erbewuBte, es fehlt jener Sprung, der die hysterischen StSrungen so ratselhaft macht. Eine zweite Gruppe der Phobien jedoch ist v611ig mit dem identisch, was hier ,,hysterisch" heiBt: man denke an die Erwartungsneurose, die psychische Impotenz, das Stottcrn. Es scheint mir auch durchaus richtig, diese Gruppe zu den hysterischen Erscheinungen zu rechnen.

Sehr viel schwieriger ist eine andere Frage zu beantworten: Wohin soll man denn die einfachen psychogenen Ohnmachten rechnen ? W~re es nicht ein unbefriedigendes AuseinanderreiBen von Zusammenge- hSrigem, wollte man seelisch entstandene BewuBtseinsverluste dann ,,hysterisch" heiBen, wenn sie mit zweifelsfreien KSrpersymptomen, wie Kr~mpfen, verbunden sind, jedoch sie von dieser Bezeichnung aus- schlieBen, wenn solche fehlen ? Und ist die Ohnmacht nicht iiberhaupt selbst eine kSrperliche FunktionsstSrung ? -- Ieh glaube, es ist nicht statthaft, sie zu den hysterischen FunktionsstSrungen zu rechnen. Schon deshalb nicht, weft wieder jenes bei der Abgrenzung yon den Phobien hervorgehobene Kriterium der StSrung einzelner Funktionen des KSrpers fehlt, und weiter, weil es verzwungen ware, die einfachen v611igen BewuBtseinsverluste yon den BewuBtseinstriibungen, in denen noch einzelnes erlebt wird, den Dgmmerzustanden, abzutrennen. Man

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spricht also hier konsequenterweise nur yon psychogenen Zusti~nden, die, wie bei 'den Kri~mpfen, mit in dem hier vertretenen Sinne hysterischen Erscheinungen verbunden sein k5nncn.

Diese ,,seelisch entstandenen und seelisch festgehaltenen kSrperlichen FunktionsstSrungen" haben nun verschiedene Daseinsweisen ihres Entstehens.

a) Ein Grenadier erlebt den nahen Einschlag einer Granate. Er erschrickt heftig, er will etwas rufen, und die Stimme versagt. Er ist nicht verletzt worden, aber die Stimmlosigkeit bleibt. -- Man sieht, dal] hier die erste Reaktion eine durchaus normale und auch eine ganz unindividuelle war: jeder kann jederzeit auf einen solchen Schreck so reagieren. Die erste Reaktion war nichts als eine jener unindividuellen kSrperlichen Begleit- und Folgezusti~nde seelischer Vorgi~nge, insbe- sondere yon Affekten, wie sie nach dem Mechanismus des Reflexes ein- treten. Abnorm ist nicht die Entstehung, sondern die Fixierung der Stimmlosigkeit, der Umstand, da~ aus dem ,,emotiven" ein ,,mnemo- rives" Symptom geworden ist (Raimist). Wir befinden uns hier auf dem Gebiete der ,,symptomatischen Psychologie" von Jaspers: es besteht kein versti~ndlicher Zusammenhang zwischen dem Inhalt des Erleb- nisses und dem Bride der Reaktion. Wir heil~en diese Daseinsweise die ,,Re/lexhysterie". Zittern, Aphonie, Mutismus, tterzklopfen, ttarn- drang, Brechreiz, Ohnmachten, vielleicht auch Kri~mpfe und vieles andere sind solche unindividuelle Begleit- und Folgeerscheinungen yon Affekten. Ihre jeweiligen Fixierungen ergeben die Bilder der Reflex- hysterie.

b) Ein Musketier erhi~lt einen Streifschul~ am Vorderarm; beim ersten Verbinden des durch Blutung und Schlag sehr erschreckten Mannes meint der Sanit~tsgefreite, das miisse gut gehen, wenn der Arm nicht lahm bleibe. Und siehe, als im Lazarett zum erstenmal der fixierende Verband gelSst wird, kann die Hand nicht mehr bewegt werden. -- ttier handelt es sich nicht, wie bei jenem Grenadier, um eine fixierte unindividuelle Begleit- oder Folgeerscheinung eines Affektes, sondern um eine verst~indliche Verbindung des Inhaltes des Erlebnisses mit dem Bild der hysterischen StSrung. Der ,,Weg" geht fiber das ,,Vor- stellen", das Ffirchten, das l~berlegen des Mannes. Dies ist das Gebiet der ,,Ausdruclcspsychologie" im Sinne von Jaspers, und wir hefl]en diese Daseinsweise eine ,,Ausdruclcshysterie". Man k5nnte einwenden, dait wir auch in der versagenden Sprache den Schreck ,,verstehen" oder im Zittern die Angst, es kommt aber darauf an, ob die StSrung verstiind- lich, d. h. sinngesetzlich entstanden ist. Well es sich um individuelle Formen handelt, gibt es hier grundsi~tzlich unzi~hlige Bilder.

c) Ein Landsturmmann, der schon haufig teils ohne erkennbare Ursache, teils nach Aufregungen an Magenschmerzen gelitten hatte,

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erkrankt an einem solehen Zustand, nachdem eine Fliegerbombe in die Nahe des BahnkSrpers niedergefallen ist. -- Auch hier el:he in strengem Sinne hysterische St6rung. Und doch weder der Typus der ,,Reflex- hysterie", noeh der Typus der ,,Ausdruckshysterie". Man steht hier vor dem, was Freud das ,,somatisehe Entgegenkommen der Organe" geheiBen hat. Es scheint keine Frage, dab in solchen Fallen Organ- minderwertigkeiten eine bedeutsame Rolle spielen. Dies zeigt schon das Auftreten soleher StSrungen ganz unabhangig yon Erlebnissen. Es geht daher hier nieht an, den psyehisehen Faktor zu verabsolutieren, auch dann nicht, wenn jede gemtitliche Erregung auf das betreffende Organ ,,sehlagt" und seine Dysfunktion auslSst. Ob und wieweit diese Dysfunktionen neuropathologiseher Art sind, ist noch ganz ungeklart. Wir heiBen diesen Typus, dem die meisten ,,Neurosen" anzugehSren scheinen, die ,,Organhysterie". Auch hier sind die Bilder an Zahl iiberaus groB und sie k6nnen begreiflicherweise auch dieselben sein wie die der Reflexhysterie und Ausdruekshysterie, wie man fiberhaupt niemals aus einem Bilde, einer Form, die Daseinsweise erschlieflen kann.

Mit der Abgrenzung dieser drei Daseinsweisen ist nichts fiber das Problem der Abspaltung, Ausweichung, Automatisierung gesagt und sell nichts gesagt sein. Jede Theorie bleibt hier eine Theorie, wie stets da, we ein Sprung veto Seelisehen ins KSrperliche gemacht wird. Der Leser muB sieh vergegenwartigen, daft es nicht weniger ratselvoll, sondern nur gew6hnlicher ist, dab er seinen Arm bewegen kann, als dab jener Mus- ketier seinen Arm nicht bewegen kann. Man kann ohne zu spekulieren nut das eine sagen, dab es in den meisten Fallen wieder Gemfitszustande sind, die die StSrungen fixieren. So vor allem der Wunsch, abet nieht weniger haufig die Furcht, was unter dem Eindruck der Kriegserfah- rungen vielfach iibersehen wird. DaB Gemfitsbewegungen verdr~ngt waren, ist in vielen Fallen ohne weiteres abzulehnen, in den anderen meist eine unbeweisbare Hypothese. Es scheint aber auch ein einfaches Verlernen yon Bewegungen und veto Unterdrficken yon Bewegungen zu geben. Ein Teil der ,,hysterischen Gew6hnungen" Kretschmers gehSrt sicher hierher. Man daft welter wohl sagen, dab viele Hysteriker die ]%higkeit haben, verschwundene StSrungen anspringen zu lassen, wenn sie diese StSrungen brauchen. Der Anstofl ist willkiirlich, aber der Ablau/ etwa des Krampfes, des Zitterns, erfolgt dann automatiseh.

Noch ein Wort fiber die Beziehungen zu dem geltungsbedfirftigen Charakter. Sie sind mittelbare und lediglich die : dem Menschen, der eine Krankheit zu geltungsbedfifftigen Zwecken braucht, stehen, wenn er sie nicht kfinstlich erzeugt oder rein simuliert, nicht organische Krank- heiten, sondern nut die hysterisehen Mechanismen zur Verffigung. In diesem Zusammenhang kSnnen aUe die drei geschilderten Daseinsweisen der Hysterie auftreten.