Die Erben des Pythagoras - Leseprobe #3

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Die letzte aktualisierte Leseprobe meines derzeitigen Romans. Genre: Steampunk/Greekpunk

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Die Erben des PythagorasLESEPROBE #3

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Die Erben des Pythagoras

LESEPROBE #3

Emanuel May

Verlag GmbH

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Copyright: c© 2010 Emanuel MayWebsite: www.ret-world.de

Herstellung und Verlag:��������

ISBN: XXXXXXXXXXXXX

Printed in Germany.

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Vorwort des Autors

Bevor der gefeite Leser sich in die Welt der Pythagoreer undWissenschaftler stürzt, möchte ich ihm noch einige Worte mitauf den Weg geben.

Zunächst einmal möchte ich darauf hinweisen, dass es sichbei dieser hier erscha�enen Welt um eine alternative Weltge-schichte handelt. Beschriebene Ereignisse können Ereignissenin unserer Welt entsprechen oder ähneln, sollen diese aber kei-neswegs darstellen. Das Gleiche gilt für Personen und Namen.

Andererseits beruhen Aspekte, wie das Weltbild oder die py-thagoreischen Lehren auf wirklichen Theorien oder Glaubens-richtungen unserer Welt.

Ich habe sehr viel recherchiert, um eine möglichst realisti-sche und genaue Darstellung der Gegebenheiten und Ereignissebieten zu können.

Da ich davon ausgehen muss, dass der werte Leser wenigbis kein Wissen über das antike Griechenland und deren Kulturhat und sich zudem auch nicht in den Randerscheinungen derFranzösischen Revolution auskennt, muss ich auf einige Dingegesondert und vorneweg hinweisen, die in dieser Form nichtim eigentlichen Romantext erklärt werden.

Das wäre zunächst einmal die Windrose der alten Grie-chen. Da die lateinische Kultur in dieser Welt fast vollständigverdrängt wurde, herrscht die griechische vor. Daher sind vie-le Namen und Bezeichnungen ein wenig anders, als man siekennt. Die au�älligsten Änderungen sind wohl in den Him-melsrichtungen zu �nden.

Die alten Griechen hatten Namen für die acht Winde, dieaus den verschiedenen Himmelsrichtungen über Griechenlandzogen. Hier eine Au�istung:

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Norden � Boreas

Nordosten � Kaikias

Osten � Notos

Südosten � Apheliotes

Süden � Euros

Südwesten � Lips

Westen � Zephyr

Nordwesten � Skiron

Ein ähnliches Unterfangen gibt es bei dem Kalender- undZeitsystem. Diesem habe ich die Kalenderreform der Franzö-sischen Revolution zugrunde gelegt, allerdings in einiger Hin-sicht verändert.

Das Kalendersystem der Welt dieses Romans besteht nunaus zwölf Monaten, je drei Zehntagewochen und fünf Zwischen-tagen. Das Jahr beginnt mit den fünf Zwischentagen am Tagdes Mittsommers. Nach den fünf Tagen beginnen die regulärenMonate. Die fünf Zwischentage, beginnend am Mittsommertaglauten:

Tag der Tugend

Tag des Genies

Tag der Arbeit

Tag der Meinung

Tag der Belohnung

Tag des Glaubens (Zusätzlicher Schalttag)

Danach beginnen die zwölf Monate:

Messidor (Sommerbeginn)

Thermidor

Fructidor

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Vindemare (Herbstbeginn)

Brumare

Frimare

Nivose (Winterbeginn)

Pluviose

Ventose

Germinal (Frühlingsbeginn)

Floreal

Praerial

Jeder Monat ist in drei Zehntagewochen unterteilt. Die zehnTage einer Woche lauten:

Primidi

Duodi

Tridi

Quartidi

Quintidi

Sextidi

Septidi

Octidi (Wochenende)

Nonidi (Wochenende)

Decadi (Wochenende)

Letztlich bleibt nur noch das Zeitsystem zu erwähnen. Da-bei handelt es sich um ein Dezimalzeitsystem. Ein Tag enthält10 Stunden, je 100 Minuten, je 100 Sekunden. Da die Umrech-nung in unser gewohntes Zeitsystem nicht sehr intuitiv ist undich den Leser nicht durch lange mathematische Umrechnungenquälen möchte, gebe ich hier nur einige Beispiele:

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0 Uhr Dezimalzeit = 0 Uhr

2:50 Uhr Dezimalzeit = 6 Uhr

5 Uhr Dezimalzeit = 12 Uhr

6:25 Uhr Dezimalzeit = 15 Uhr

7:50 Uhr Dezimalzeit = 18 Uhr

8:44 Uhr Dezimalzeit = 20:15 Uhr

10 Uhr Dezimalzeit = 24 Uhr

Der gefeite Leser sollte nun mit jeglichem Grundwissen die-ses Romans ausgestattet sein. Ich wünsche ihm viel Spaÿ beimLesen der Lektüre.

Emanuel May

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Prolog

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Alle Menschen streben von Naturnach Wissen.

Aristoteles

α

Alexandria, 21.04.272, 5:51 Uhr

Es war ein kühler Frühlingstag. Die Sonne war gerade am Auf-gehen, doch die Stadt war bereits hell erleuchtet. Was aus derFerne wie ein erblühendes Blumenbeet aussah, wirkte von Na-hem doch ungleich gefährlicher.

Wie aus einem Ameisenhaufen wirrten tausende schwarzeund braune Punkte herum. Menschen auf der Flucht vor denFlammen, die ihre Heimat zerstörten. Alexander der Groÿegründete diese Stadt einst, doch konnte sie nie in seiner ganzenPracht bewundern, da er sie noch im Gründungsjahr verlieÿund bis zu seinem Tode nie mehr betrat.

Kaiser Aurelian befand sich allerdings gerade in der Stadt,doch er hielt sich nicht damit auf die Pracht der Stadt zu be-wundern. Stattdessen begnügte er sich damit die Stadt anzün-den zu lassen, um damit die verbliebenen palmyrischen Solda-ten aus ihren Verstecken zu treiben.

Es war ein Akt der Verzwei�ung, die den alten römischenKaiser so kurz vor seinem Ziel noch befallen hatte. Er hatteeine Vision, die er zu Vollenden gedachte: Die erneute Eini-gung des römischen Reiches. Das palmyrische Reich und ganzMesopotamien waren beinahe die letzten Scherben, die es vomalten römischen Reich aufzulesen gab. Doch bevor sich Aure-lian der Herrscherin Zenobia und ihrem Palmyra annehmenkonnte, musste er die letzten Scherben Ägyptens einsammeln.

Sein Heerführer Probus hatte die palmyrischen Soldatenaus ganz Ägypten verjagt. Dummerweise hielt sich der Groÿ-teil der Armee noch immer hinter den Stadtmauern Alexan-

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drias verschanzt. Eine alte römische Stadt anzuzünden war si-cher nicht die beste und ruhmreichste Lösung für das Problem,besonders nachdem der restliche Feldzug in Ägypten beinaheverlustfrei von statten ging.

Doch Aurelian war verzweifelt. Und er plante bereits dievollständige Zerstörung Palmyras. Für ein zerstörtes Viertelin Alexandria, sollte eine ganze Stadt vernichtet werden. Erwürde Zenobia schon aus ihrem Loch ausräuchern können.

Doch zunächst musste er die restlichen Soldaten aus demTempelbezirk Alexandrias vertreiben. Aurelian warf noch einenletzten Blick auf die aufgehende Sonne und die untergehendeStadt und trat zurück in sein Zelt. Man würde ihn rufen, wennes Neuigkeiten gäbe.

Eine einsame Ameise rannte durch das Gewirr von Straÿen undFeuer, durch andere Mengen an Ameisen, die sich auf Plätzenzusammenrotteten und an wieder anderen Ameisen vorbei, diegerade jenen zusammengerotteten Ameisen au�auerten. DieKämpfe in den Straÿen nahmen kein Ende. Doch die Ameiserannte weiter.

Sein Name war Celerus der Schnelle, denn Rennen konnteer schon immer gut. Wenn man ihn mit vollem Namen an-sprach, so nannte man ihn Titus Manius Celerus. Celerus warAlexandriner und irgendwie machte ihn das auch zu einem Rö-mer. Er selbst betrachtete sich jedoch einfach nur als BürgerAlexandrias. Er war nie in Rom gewesen und das einzige waser von der anderen Seite des Mittelmeeres mitbekam, warendie halbjährlichen Steuereintreibungen.

Die groÿe Stadt allerdings gab ihm alles, was er zum Le-ben brauchte: Eine bescheidene Unterkunft, ein ihn liebendesMädchen und eine ausreichend ertragreiche Arbeit. Diese be-stand zumeist aus der gleichen Tätigkeit, der er auch geradeeben nachging: Rennen. Celerus war Bote für die Groÿe Biblio-theca Alexandrina und das Museion, die gröÿte Wissensstättewestlich des Orients.

Man gab ihm dabei verschiedene Aufträge. Meistens sollteer Bücher von den Schi�en im Hafen laden und diese entwederins Museion oder in die Zweigstelle der Bibliothek des Sera-peion bringen oder sie gleich in eine der vielen Lagerstätten

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bringen. Über tausend Rollen hatte er in seinem Leben bereitstransportiert - mehr als er jemals hatte lesen dürfen.

Es war nicht so, dass Celerus zu ungebildet gewesen wäre,die Rollen zu lesen. Er hatte schlichtweg nie die Zeit dazugefunden. Lediglich die Goldenen Verse las er regelmäÿig. Erhatte sich eine Rolle davon selbstständig kopiert, worauf ersehr stolz war.

Aber nun durchströmte nicht Stolz, sondern Angst seineVenen. Er hatte Angst vor dem Feuer, welches sich durch Alex-andria fraÿ. Es war keine Angst zu sterben, auch keine Angstsein Haus zu verlieren. Er hatte Angst um das Museion und dieBibliothek. Das Wissen der Welt wurde darin aufbewahrt undsollte es den Flammen zum Opfer fallen, wäre dies ein Stichins Herz der zivilisierten Welt.

Celerus rannte weiter. Er hatte Angst zu spät zu kommen.Das Feuer könnte bereits auf die Häuser der Bibliothek überge-gri�en haben. Dann wäre alles verloren. Sollte Celerus jedochvor dem Feuer im Museion eintre�en, dann Bestand die Ho�-nung das Wissen der Welt zu retten.

Denn Celerus hatte einen Plan. Er kannte Alexandria sogut wie kaum jemand sonst in der Stadt. Und er kannte Orte,an denen Lebende nur sehr selten zu �nden sind. Das passendeVersteck für das Wissen der Toten.

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Man schrieb das Jahr 1189. Die römische Zeit Alexandriaswar lange vorbei. Seit einem halben Jahrtausend gehörte diegroÿe Hafenstadt nun schon zum islamischen Ägypten. Dieswar nicht unbedingt eine schlechte Sache, brachte diese Zeitder Stadt doch einiges an Wohlstand und Kultur ein.

Alexandria blühte zur Metropole auf.Leider war der neu gewonnene Wohlstand nicht in allen

Teilen der Stadt sichtbar.Der Karmouz-Bezirk, einst das reichste Viertel der anti-

ken Stadt, verkam zunehmend. Die Fassaden waren bröckeliggeworden und Schlaglöcher schmückten die P�asterstraÿen.

Dies alles ist aber nicht mit dem Zeugnis der Verwahrlosungzu vergleichen, welches der gesamte Marktplatz des Viertelsan diesem Nachmittag mit Schrecken beobachten musste: Dieörtliche Moschee stürzte in den Boden und hinterlieÿ einenmächtigen Krater.

Nicht, dass man nicht erwartet hätte, dass diese uralte Mo-schee bald in sich zusammenstürzen würde. Während der Isla-misierung Alexandrias über einem alten Tempel erbaut, war esnur eine Frage der Zeit bis das jahrtausende alte Fundamentdem Gewicht des einst prächtigen Gotteshauses nachgab.

Nein, das Besondere an diesem Ereignis war, dass das Hausnicht einfach in sich zusammen�el. Stattdessen stürzte es inden Boden hinab und hinterlieÿ einen riesigen Schutthaufen,sowie ein Loch von etwa achtzig Metern Durchmesser und einerTiefe, die immerhin ein Viertel dessen betrug.

Man könnte es als eine ironische Fügung des Schicksals be-trachten, dass sich ausgerechnet drei Maurer zu aller erst indie Grube wagten.

Der werte Leser sollte jedoch wissen, dass der Beruf desMaurers im islamischen Mittelalter keineswegs von ungebilde-ten Tölpeln ausgeübt wurde. Im Gegenteil: Um ein Gebäudeerrichten zu können, bedurfte es eines langjährigen Studiumsder Mathematik und Architektur.

Jene drei Männer, welche sich in die unterirdischen Geheim-nisse Alexandrias hinabwagten waren intelligente und gebildeteLeute.

Desshalb dauerte es auch nicht lange, nachdem sich diedrei Männer, die auf die Namen Hussin, Hamet und Fawzihörten, mit Hilfe einiger Hanfseile an den Abstieg gemachthatten, bis sie erkannten, dass sie geradewegs ins Reich der

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Toten kletterten: Uralte Katakomben voller steinernen Särgeund menschlichen Skeletten.

Niemand in Alexandria konnte sich an diese uralten Tunnelerinnern, das riesige Netzwerk voller Gräber und Opferaltareantiker Zeiten war vollkommen in Vergessenheit geraten. Werweiÿ wie lange die Katakomben unter Alexandria noch auf ihreEntdeckung hätten warten müssen, wäre die alte Moschee nichtin den Boden gebrochen?

Möglicherweise hätte erst irgendein dummer Esel durch dieStraÿe brechen müssen, bis man sie entdeckt hätte.

Der schlanke Hussin setzte als Erster einen Fuÿ auf den mitrötlichem Staub bedeckten Boden. Forschenden Blickes sah ersich um.

Der Raum, oder das was von ihm übrig war, sah aus wieein Thronsaal. Mit altägyptischen Reliefen versehene Säulentrugen die Decke. Anerkennend stellte Hussin fest, dass alles indem Raum, von den Säulen, über die Reliefe in den Wänden,bis zu den steinernen Tischen inmitten des Saals direkt ausdem Stein gehauen wurde.

Als schlieÿlich auch Hamet und Fawzi in der antiken Grab-kapelle, denn genau um das schien es sich hier zu handeln,ankamen und man ihnen von oben noch Fackeln und Lampenan Seilen herunter gelassen hatte, gingen die drei Maurer, diesich nun wie Abenteurer vorkamen, auf den einzigen Ausgangzu, den sie sahen.

Augenscheinlich war dies entweder der Ausgang der Kapel-le oder der Eingang in einen noch gröÿeren Raum. Zwei Säulenumrahmten das sauber ausgeschlagene Loch in der Wand. DieSäulen wurden von zwei Figuren mit Schlangenköpfen �an-kiert. Über den Köpfen der Figuren waren Rundschilde ausdem Stein geschlagen. Ein leichter Schimmer veriet die ur-sprüngliche gelbe Farbe auf den Schilden.

�Unsere Vorfahren hatten ohne Zweifel herausragende Stein-metze.�, bemerkte Hamet fasziniert und strich mit den Fingernvorsichtig über die Konturen des linken Schlangenmenschen.

�Man bedenke nur einmal die Arbeit an den Pyramiden.�,stimmte Fawzi zu, �Solche Werke bedurften wahrlich dem Se-gen Allahs!�

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Hussin deutete auf den Schlangenmenschen, den Hametnoch immer begutachtete.

�Nur waren unsere Vorfahren keine Moslems, sondern glaub-ten an diese gar gruseligen Tiergötter. Ausgerechnet eine Schlan-ge! Wie kann man solch ein hinterlistiges Tier anbeten?�

�Ein jeder Mensch ist seit der Schöpfung Moslem, Hussin.Diese armen Seelen hatten nur keinen Propheten, der sie er-leuchtete.�, predigte Fawzi.

Nun schweigend traten die Männer durch den Durchgangund sahen sich im anschlieÿenden Raum um.

�Sprachlos wird man hier!�, erklärte Hamet, als der Scheinseiner Fackel den Raum erhellte.

Seine beiden Kameraden nahmen dies etwas wörtlicher, alser selbst, und standen nur staunend im Durchgang.

Ein überwältigender Anblick bot sich ihnen. Sie standenam Fuÿe eines langen, steil in die Tiefe führenden Ganges. Anden seitlichen Wänden befanden sich farbige Reliefe, welchewohl altägyptische Opferkulte darstellten. Interessant warendie Vermischungen der Stile. Neben einer Darstellung der al-tägyptischen Gottheit Isis war auch die Mamma Lupa, jeneWöl�n, die der Sage nach Romulus und Remus, die mythi-schen Gründer Roms säugte, vertreten. Zwischen Hieroglyphenverbargen sich geschickt untergebrachte lateinische Lettern, jaselbst einige griechische Buchstaben waren zu �nden. Die ge-samte linke Wand beschrieb ein Bild, nach dem sich der grie-chische Göttervater Kronos in den Gott Serapis verwandelte,aus dem schlieÿlich Osiris hervorging. Die rechte Wand stell-te die Krönung Herakles' mit römischen Lorbeeren und derägyptischen Doppelkrone dar.

Obwohl die Maurer gebildete Männer waren, so kanntensie doch nur die arabische Schrift, weshalb ihnen diese über-aus wertvolle, interkulturelle Entdeckung entging. Die einzigeAusnahme bildete Fawzi, der ein wenig der lateinischen Schriftund Sprache kundig war. Doch auch ihm blieben die Zeichenauf den Wänden ein Rätsel.

Sie gingen den Gang hinab und begutachteten die Darstel-lungen. So viele heidnische Götter, so viel Unwissen von derwahren Bescha�enheit der Welt. Ihre Vorfahren waren wirklichzu bedauern gewesen, dass sie den Propheten nicht erleben undseine heilige Schrift nicht lesen durften.

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Der Gang zog sich endlos dahin. Hussin überlegte in wel-che Richtung sie gingen. Wenn ihn nicht alle Sinne täuschten,dann müssten sie gerade unter dem westlichen Hafenbecken,vielleicht gar schon unter der Insel Pharos sein.

Plötzlich blieben seine Kollegen stehen. Hamet fasste ihnan der Schulter und zeigte stumm nach vorn.

Ihr Staunen galt dem Ende des Ganges. Nach über tausendSchritten endete dieser in einem riesig wirkenden Tor aus, wiees schien, purem Gold. Langsam gingen die drei Männer aufdie prachtvolle Tür zu.

Auch sie war mit Reliefen versehen, doch diese zeigten kei-ne mythischen Darstellungen, sondern wesentlich simplere Zei-chen. Im oberen Bereich der Tür waren eine Gruppe von Lö-chern in das Gold geschlagen. Sie waren etwa drei Zentimetertief und bildeten als ganzes ein nach oben gerichtetes gleich-schenkliges Dreieck. Eine schnelle Zählung ergab genau zehnLöcher. Direkt darunter war in lateinischen Buchstaben dasWort Tetraktys geschrieben.

Etwa einen Handbreit tiefer war Tripel zu lesen, darun-ter befand sich eine seltsame Apparatur aus einer Hand vollDrehscheiben, auf denen verschiedene arabische Zahlen zu se-hen waren.

Hussin erkannte sofort, dass es sich um ein Schloss für dieTür handelte, doch verstand er das System nicht wirklich. DasSchloss bestand aus drei Zeilen mit je drei Spalten. In derersten Zeile waren die beiden Zahlen 3 und 4 zu lesen, diedritte Spalte konnte mit einem Drehrad mit einer beliebigenZahl zwischen 1 und 9 festgelegt werden. In der nächsten Zeilewaren die beiden ersten Spalten durch Drehräder festlegbar,die dritte Spalte zeigte eine 10. Die letzte Zeile begann wiedermit einem Drehrad, darauf folgte die Zahl 12 und schlieÿlichwieder ein Drehrad, dieses zeigte jedoch Zahlen von 11 bis 19.

�Ein Rätsel�, stellte Hamet fest.Fawzi, der sich immer für gebildeter, als die anderen beiden

Männer hielt, �ng sofort an die Drehscheiben auf möglicheWerte zu stellen.

�Aber kein sonderlich schweres. Die erste Spalte lautet si-cherlich 3, 4, 5. Danach folgt die Verdopplung jener Zi�ernwomit wir auf 6, 8 und 10 kommen. Die letzte Zeile ist sicher-lich die Verdreifachung der ersten Zeile, womit wir 9, 12 und 15

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hätten.�, erklärte er und drehte die Scheiben auf die richtigenPositionen.

�Das klinkt intelligent�, befand Hussin zustimmend.Hamet wartete bis Fawzi die letzte Drehscheibe auf die rich-

tige Position eingestellt hatte, dann stemmte er sich gegen dieTür. Als diese sich nicht bewegen wollte, halfen die anderenbeiden Maurer mit, doch auch das half nichts. Die Tür lieÿsich nicht ö�nen.

�Bist du sicher, dass das die richtige Kombination ist?�,fragte Hamet seinen Kollegen. Dieser warf ihm nur einen ab-schätzigen Blick zu.

�Versuch es doch selbst einmal.�Hamet nickte und machte sich daran die Drehscheiben an-

ders einzustellen.�Ich versuche es einmal hiermit. Die erste Zeile belasse ich

auf 3, 4 und 5. Aber in der zweiten Zeile ändere ich die Zahlenzu 4, 7 und 10. In der letzten Zeile stelle ich 8, 12 und 16 ein.�,erklärte Hamet, �Deine Überlegungen mit den Vielfachen wa-ren eigentlich keine Schlechten, jedoch verfolge ich einen an-deren Ansatz. Jede Zi�er erhöht sich zur nächsten Spalte umdie gleiche Menge. In der ersten Spalte ist dies immer 1, in dernächsten Zeile 3 und in der letzten 4.�

Wieder drückte man gegen das Tor, doch auch diesmal lieÿes sich nicht ö�nen.

Die Blicke wanderten zu Hussin.Dieser trat vor und betrachtete den oberen Bereich der Tür

ein weiteres Mal.�Ein Dreieck. Habt ihr beiden ach so gebildeten Männer

denn vergessen, was wir einst in der Universität gelernt haben?Seht euch doch obiges Dreieck einmal genauer an.�

Hamet und Fawzi taten wie ihnen geheiÿen und sahen sichdas Dreieck aus Löchern ein weiteres Mal an.

�Es besteht aus vier Reihen. In der ersten Reihe ist einPunkt, in der zweiten sind es zwei, in der dritten drei undin der letzten Reihe vier Punkte. Macht zusammen Zehn.�,bemerkte Hamet.

�Es hat einen rechten Winkel�, ergänzte Fawzi.Hussin verbeugte sich vor seinem Kollegen.�Ein rechter Winkel. Genau auf dies wollte ich euch hin-

weisen. Fällt euch denn nichts dazu ein?�, fragte Hussin.

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Beide warfen sich nur vielsagende Blicke zu und traten danneinen Schritt zurück.

�Erlöse uns bitte, Hussin�, bat Fawzi.Hussin lächelte siegesbewusst und �ng an die Zi�ern zu

verstellen.�Mein werter Fawzi. Dein Ansatz war zunächst nicht ver-

kehrt. Tatsächlich ist die erste Reihe nach wie vor gleich: 3, 4und 5. Die zweite Zeile ist ebenfalls so, wie du es richtig er-kannt hast: Ein Vielfaches der ersten Zeile. 6, 8 und 10 ist alsoebenfalls richtig. Lediglich in der dritten Zeile muss ich dichkorrigieren. Denn diese lautet wie folgt: 5, 12, 13. Bevor ihrfragt, erkläre ich euch armen Seelen das Verfahren. Erinnertihr euch an die Methode, wie man in einem Raum feststellenkann ob zwei Wände zueinander im rechten Winkel liegen?�

Fawzi stieÿ Luft zwischen den Zähnen hervor.�Man nimmt ein Seil mit zwölf Knoten mit gleichen Ab-

ständen zueinander und nagelt drei Knoten davon direkt an dieerste Wand, die nächsten vier an die zweite Wand und wenn dierestlichen 5 Knoten wieder zum ersten Knoten zurückreichen,dann hat man einen rechten Winkel.�

Auch Hamet schien nun die Lösung erkannt zu haben.�Natürlich! Und mit jenen anderen Zahlen funktioniert dies

ebenfalls! Lasst es uns versuchen!�, rief er erheitert. Seine Stim-me hallte dreifach wider.

Hussin stellte die letzte Drehscheibe ein. Ein kratzendesGeräusch ertönte, dicht gefolgt von einem lauten dumpfen Schlag,als wäre ein schwerer Stein zu Boden gefallen. Dann schwangdie goldene Tür wie von Geisterhand auf und gab den Blickauf den Raum dahinter frei. Der kuppelförmige, mit goldenerFarbe bestrichene Raum war riesig und vollgestopft mit...

�Schriftrollen? All dies für einen Haufen antiken Papy-rus?�, stieÿ Hamet enttäuscht hervor.

Auch Hussin blieb im Gang stehen, doch eher vor Begeiste-rung, als vor Enttäuschung. Lediglich Fawzi wagte sich in dieneu entdeckten Gewölbe vor.

Der Raum war nicht nur kreisförmig angelegt, er hattegänzlich die Form einer Kugel. Fawzi warf einen Blick auf denBoden, auf dem er stand und schob den rötlichen Staub mitdem Fuÿ zur Seite. Er stand auf Glas, wie er nun bemerkenmusste. Der gesamte Fuÿboden des Raums war eine antike

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Glasplatte, durch die man sicherlich hindurch sehen könnte,wäre sie nicht vollständig mit Staub und Erde bedeckt.

Fawzi warf einen Blick nach oben. In der Mitte des Raumshing eine schwarze Kugel von der Decke herab. Um diese Ku-gel herum schwebten dutzende andere Kugeln verschiedenerFarben und Gröÿen. Sollte dies Sterne und Planeten darstel-len? Irgendwie kam Fawzi alles seltsam verdreht vor, als wäredieser gesamte Raum nicht nach den Regeln der Geometriegescha�en.

Schwindel überkam ihn und er widmete sich lieber wiederden Objekten auf seiner Höhe.

Im Raum verteilt waren Regale voller Schriftrollen. Diemeisten der Rollen, lagen allerdings überall im Raum verteiltund stapelten sich an den Wänden.

Auf einem Podest direkt unter der schwarzen zentralen Ku-gel lag eine einzelne Schriftrolle. Am Sockel des Podestes lagein verstaubtes menschliches Skelett. Allem Anschein nach warer Wächter dieses antiken Wissenlagers gewesen.

Fawzi trat an das Podest heran und nahm vorsichtig dieSchriftrolle auf. Ein Klacken ertönte als er den dünnen Me-tallstift aus dem Sockel zog, an dem die Papyrusrolle befestigtwar.

�Eine Falle!�, vermutete Hamet sofort, �Lasst uns besserschnell verschwinden!�

Auch Hussin war zum Aufbrechen bereit, doch zögerte eraufgrund des unglaublichen Fundes.

�Hört ihr das auch?�, fragte Fawzi plötzlich.Hussin und Hamet blieben still stehen und lauschten. Ja sie

hörten es auch. Eine Melodie erfüllte den Saal und die Gängeaus denen sie kamen. Eine Melodie, so einfach, dass sie sicher-lich aus Jedermanns Hand stammen könnte, doch so ergreifend,dass sie jedem der drei ins Herz ging. Einen kurzen Momentüberlegten sie woher sie diese Töne kannten, doch nach einemweiteren Augenblick waren sie so vollkommen von der Harmo-nie erfüllt, dass ihr Denken aussetzte.

Nach einer unbestimmt langen Zeit - waren es Minutenoder schon Stunden? - hörte die wunderbarste aller Musikenauf. Bedrückt standen die drei Maurer in dem seltsamen Raum,mit der noch seltsameren Maschinerie und sahen sich zutiefstberührt um.

�Was war das?�, fragte Hamet schlieÿlich.

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�Das waren die Sphärenharmonien.�, erklärte Fawzi.�Woher weiÿt du das?�, fragte Hussin.Fawzi hielt die Schriftrolle in die Höhe.�Es steht hier. In den goldenen Versen des heiligen Pytha-

goras von Samos.�

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Geschichtlicher Überblick

Eine Welt wie die unsere entwickelt sich evolutionär. Das Best-bewährte bleibt bestehen und Veraltetes oder Nutzloses ist demUntergang geweiht. Möge der Stärkste gewinnen. Das Leben istein ewiger Kampf, bei Mensch, wie Tier oder Reich. Ganze Städ-te verschwanden vom Antlitz dieses Planeten, weil sie einen Kriegverloren hatte oder weil ein gröÿenwahnsinniger Herrscher sie fürunzureichend empfand.

Ein kluger Mann sagte einst: Geschichte schreiben Gewinner.Betrachtet man dies genauer, so fällt auf, dass unsere Welt nichtwirklich auf Gewinnen aufbaut. Natürlich gab es im Laufe der Zeitgroÿe Entwicklungen, Entdeckungen und Er�ndungen, doch sindes nicht diese drei groÿen E's welche unsere Welt zu der machen,die sie ist.

Oftmals ist es der Untergang eines groÿen Reiches, einer groÿenStadt oder eines groÿen Mannes, was Geschichte schreibt. Nochöfter haben diese Untergänge nichts evolutionäres an sich, ja nichteinmal eine Revolution ist dahinter zu �nden. Groÿe Herrschersterben eines natürlichen Todes, sagenhafte Städte verkümmernim Laufe der Zeit und auch riesige Reiche zerfallen in sich selbst,völlig ohne die Bewährung eines Besseren oder eines Gewinners.

Fängt man erst einmal an die Welt aus dieser Sicht zu be-trachten, so stellt man fest, dass es die Natur des Lebens selbstist, welche diesen Lauf aller Dinge beschreibt: Alles geschieht vonselbst. Mit einem groÿen Schlag taucht es auf, durchlebt eine Zeitdes Wachstums und der Blüte, um schlieÿlich nach langen Jahrendes langsamen aber stetigen Zerfalls vergessen und alleine wiederzu vergehen.

Man könnte sagen es ist das Schicksal allen Seins.Doch ein anderer kluger Mann sagte einst: Du darfst dich

niemals umdrehen, wenn du die Stadt verlässt.

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Dieser Mann war Pythagoras von Samos. Schon in jungenJahren erhielt er die Möglichkeit eine groÿe Pilgerreise durch dieganze bekannte Welt zu unternehmen. Er besuchte die groÿenmystischen Stätten Griechenlands, lernte bei den Babyloniern unddurfte selbst einige Jahre in einer ägyptischen Tempelschule stu-dieren.

Schlieÿlich lieÿ er sich im antiken Süditalien nieder und grün-dete eine geistige Schule, deren Ein�uss bis heute in der Welt zu�nden ist.

Er verschrieb sein Leben komplett dem Geistigen. Seine Worte,die Akusmata, bildeten den Grundstein zur Erklärung der Welt.Rätselhafte Aussagen, wie Du darfst dich niemals umdrehen, wenndu die Stadt verlässt sind nie wörtlich zu nehmen. Jener Satzbedeutet einfach nur: Hast du dein Leben gelebt, dann blicke nichtzurück und überlege ob es von Wert war oder nicht. Überlegenicht, ob du deinen Teil erfüllt hast, denn das hast du sowieso. Esist egal wie viel du augenscheinlich erreicht hast, denn das Lebenist nunmal so aufgebaut, dass alles kommt und alles geht.

Würde Pythagoras' Glaube nicht die Reinkarnation beeinhal-ten, wäre er durchaus als depressiv zu bezeichnen gewesen. Dochder alte Grieche war der festen Überzeugung, dass nicht einfachnur alles kommt und alles geht, sondern zudem noch immer wie-der bis in die Unendlichkeit.

Und wie um diesem Glauben noch zusätzlich zu stärken, ver-schwanden die Pythagoreer, die Anhänger und Schüler Pythago-ras', nach einigen hundert Jahren von dieser Erde, nur um ei-nige hundert Jahre später wieder erneut aufzuleben. Jene Neu-Pythagoreer waren auch die ersten, welche Pythagoras heiligeWorte in Schriftform niederlegten - den Goldenen Versen. Dochauch diese zweite groÿe Zeit der Pythagoreer war nach kurzer Zeitvorbei.

Lange Zeit war es ruhig um Pythagoras und seine Lehren.Bis drei Maurer unter Alexandria eine antike Tür ö�neten undden wahrscheinlich gröÿten Fund des Mittelalters machten: DieLagerbestände der Bibliothek von Alexandria, gerettet durch einenklugen Einfall eines einfachen Boten, versteckt unter Toten undversiegelt hinter einem Rätsel, welches nur gebildete Menschen,die mit dem Satz des Pythagoras vertraut waren hätten lösenkönnen. Weitaus wichtiger war jedoch die alte Maschine, an derenwahren Zweck seit dem viele Wissenschaftler forschten.

Jene drei Maurer, die zum ersten Mal nach über tausend Jah-

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ren die Klänge der Sphärenharmonien vernahmen - wenn auch nurdurch die mechanische Apparatur, welche nach dieser einmaligenDarstellung die Klänge nicht mehr preisgeben wollte - gründe-ten kurz darauf die erste Schule des Pythagoras auf ägyptischenGrund.

Viele Jahrhunderte musste sich diese neue Glaubensrichtungvon den Abfällen der groÿen Religionen ernähren, doch im Laufeder Zeit wurde sie immer gröÿer und mächtiger. Ihren Durchbruchhatte sie schlieÿlich im späten 17. Jahrhundert mit ihrem bis dahinberühmtesten Mitglied Denis Papin, dem Er�nder der Dampfma-schine. Dieser berief sich 1690 zum ersten Alpha der Religion undtrat für Gleichberechtigung der Religionen ein. Seit diesem Tagewar der Sitz des Oberhaupts der Religion, des Alphas, die StadtMarburg. Dort wurde auch die gröÿte noch existierende Glaubens-schule der Kirche des Pythagoras gegründet.

Als Papin 1712 in London starb, wurde sein Nachfolger einFranzose namens Francois Léon. Dieser nahm die Entwicklungder jungen Kirche zur Weltreligion in seine starke Hand, woraufsich zunehmend ein Kon�ikt zwischen den groÿen Religionen undder jungen Kirche des Pythagoras entwickelte. Ihren Höhepunkthatte dieser schlieÿlich in der Zweiten Groÿen Inquisition, welchedas Christentum beinahe vollständig ins Exil vertrieb.

Einen zweiten groÿen Sieg erlangte die Kirche des Pythagoraszur Zeiten der französischen Revolution. Als sich die geglückteRevolution über ganz Europa auszubreiten begann, konnten auchdie Pythagoreer unter den Menschen punkten.

Mittlerweile war die Kirche des Pythagoras zur gröÿten Reli-gion der bekannten Welt herangewachsen.

Doch sie hatte noch einen letzten Feind: Die EurafrikanischeUnion.

ImWirren der religiösen, wie auch politischen Reformen und Revo-lutionen wurde eins der wichtigsten Ziele des britischen Empires,wie auch anderer groÿer Reiche zurückgestellt. Die neugegrün-deten Kolonien wurden vernachlässigt, die Stämme der Wildenwurden unterschätzt.

Das Reich von Ghana, sowie das Reich von Mali schlossensich im späten Mittelalter zu einem westafrikanischen Groÿreichzusammen, welches bis in die Kolonisationszeit weiterbestand. Die

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Herrscher von Ghana-Mali waren es schlieÿlich auch, die 1784 denersten und letzten Angri� auf alle europäischen Kolonien gleich-zeitig veranlasste.

Notgedrungen mussten sich die Europäer aus Afrika zurück-ziehen. Durch die Revolution auf dem eigenen Kontinent und demVerlust des Kontakts zur Neuen Welt, mussten sich die Europäereingestehen, dass ihre Vormachtstellung keineswegs gerechtfertigtwar, ja sogar auf sehr wackeligen Füÿen stand.

Um das weltweite Massaker zu unterbinden schloss man schlieÿ-lich 1824 einen Friedenspakt zwischen Afrika und Europa.

Dieser Friedenspakt beinhaltete sowohl einheitliche Migrati-onsbedingungen, wie auch den Austausch von Technologien unterallen Ländern. Die Idee dahinter war: Sind alle Länder auf demgleichen technischen Stand, dann wäre niemand im Vorteil undein Weltkrieg könnte verhindert werden.

Die pythagoreische Kirche machte die im 12. Jahrhundert un-ter Alexandria entdeckte Maschine und das neugegründete Mus-eion als Symbol für den technologischen und spirituellen Bundzwischen Afrika und Europa. 1872 wurde schlieÿlich die Eurafri-kanische Union gegründet, mit Sitz im Museion von Alexandria.

Hätte man in jener Universität nicht begonnen nach alternati-ven Energieträgern zu forschen, um die Dampftechnik abzulösen,hätte sich die Kirche des Pythagoras niemals in ihrer Vormacht-stellung bedroht gefühlt.

Denn Dampf ist der Æther, die Essenz allem Göttlichen. UndEr Selbst sagte einst: Wenn du den Körper verlässt, und in denfreien Æther gelangst, wirst du unsterblich sein: ein unsterblicherGott, nicht mehr sterblich.

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Akt IDi�erenzen

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Über die wägbare Materie werdeich sehr wenig zu sagen haben,dafür aber umso mehr über denÄther und Elektronen.

Hendrik Antoon Lorentzβ

Alexandria, 3. Quintidi Germinal 1899, 7:12 Uhr

Grelles Kalklicht schoss aus dem Projektor. Ein seltsam ver-zerrtes und unscharfes Bild eines Kreises war auf der hellenWand des Hörsaals zu sehen. Der Techniker des Projektorskorrigierte schnell den Winkel und die Schärfe der Linse.

Der unscharfe Kreis schmolz zu einer Abbildung der Welt.�Dies, meine Damen und Herren, ist unsere Welt Gaia nach

dem Modell des Pythagoras von Samos.�Professor Doyle LaForge drehte sich ein wenig zur Seite und

zeigte mit einem langen Zeigestock auf die Abbildung hinterihm.

�Der Fund des Planetophons war nicht nur wegen des In-struments der Sphärenharmonien interessant, nein der kugel-förmige Raum ist gleichzeitig ein reales Abbild unseres Kos-mos.�

Der Zeigestock wanderte auf den äuÿersten Rand des Krei-ses.

�Wie sie alle wissen, besteht unser Kosmos aus einer rie-sigen Hohlkugel, auf dessen Innenseite wir leben. Diese Kugelhat einen Durchmesser von etwa 12740 Kilometern und enthältden gesamten Himmel in ihrem Inneren.�

Doyle LaForge warf einen Blick über die Studenten im Hör-saal.

Das Museion von Alexandria war die weltweit wichtigsteUniversität geworden. Junge Menschen aus aller Welt kamenin die mittlerweile gröÿte Stadt der Welt, um Wissenschaftenund Sprachen zu studieren.

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LaForge kam vor einigen Jahren ebenfalls aus diesem An-lass ins Museion. Wär hätte gedacht, dass er selbst eines Tageshinter dem Pult stehen würde?

�Der Darstellung ist leicht zu entnehmen�, fuhr Doyle La-Forge fort, �dass sich direkt über unseren Köpfen der MondArtemis be�ndet. Er bewegt sich auf einer Kreisbahn um dasZentrum der Erde herum, dem Sternenhimmel Atlas.�

Der Zeigestock wanderte von der Darstellung der Artemisauf die Darstellung des Atlas. Dann deutete der Professor aufdie Abbildung des Apoll.

�Sehen wir uns die Sonne einmal genauer an. Was ist dasBesondere an Apoll, im Bezug auf die anderen Planeten?�

Einer der Studenten meldete sich zu Wort.�Ja, Sie dort. Kennen Sie die Lösung?�Der Student erhob sich von seinem Platz und sprach laut

in den Hörsaal hinein: �Apoll ist der gröÿte Planet und dereinzige, der Hauptplaneten als Satelliten trägt. Es handelt sichhierbei um Aphrodite und Hermes.�

�Sehr gut! Sie können sich wieder setzen.�, lobte Doyle,�Nun diese Antworten waren insofern richtig, als dass wir tat-sächlich Aphrodite und Hermes als Hauptplaneten kennzeich-nen. In der Tat besitzen alle weiteren Hauptplaneten Satelli-ten, die wir jedoch Nebenplaneten nennen. Was also ist derUnterschied zwischen besagten Planetenarten?�

Eine stilvolle Schweigesekunde folgte, dann beantwortetesich Doyle die Frage selbst.

�Nach dem Modell des Pythagoras sind nur jene Plane-ten als Hauptplaneten zu kennzeichnen, welche auf ihrer Bahneinen der acht Töne der Sphärenharmonien anstimmen. Ausdiesem Grund ist Apoll streng genommen kein Hauptplanet,dafür aber Aphrodite und Hermes.�

Eifriges Schreiben setzte bei den Studenten ein. Doyle La-Forge lieÿ ihnen einige Sekunden, bevor er fortfuhr: �Der Sagenach umkreisen Aphrodite und Hermes den Apoll aus Strafe,da sie den Hermaphroditos erschufen. Ein solch frevelhafterVersuch die Pythagoreische Dualität zu unterwandern muss-te von Göttervater Zeus bestraft werden. Apoll selbst gilt alsDirigent für die gesamte Harmonie und die beiden sündigenGötter unterstehen nun seinem wachsamen Auge.�

Einige Studenten schrieben dies nieder, andere wussten nichtso recht ob es von Belang war oder nicht.

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Doyle lächelte: �Sie müssen das nicht mitschreiben. Ich prü-fe auf ihr physisches, nicht auf ihr metaphysisches Wissen.�

Ein paar Studenten kritzelten missmutig über das eben Ge-schriebene.

�Da wir gerade von Besonderheiten der Planeten sprachen.Wer von Ihnen kann mir die besondere Eigenschaft der Artemisnennen?�, fragte Doyle in den Saal hinein.

Bedrückendes Schweigen folgte. Doyle sah in die Runde.Er war sich bewusst, dass es sich hierbei um ein kompliziertesThema handelte. Die Physik des Kosmos war keineswegs lo-gisch oder an bestimmte Regeln verknüpft. Doyle musste sichsogar eingestehen, dass er selbst nicht wirklich an den Aufbauder Welt in dieser Art dachte. Doch es gab keine Alternative.Das Planetarium des Pythagoras, was vor 700 Jahren unterAlexandria entdeckt wurde, zeigte eindeutig wie der Kosmosgescha�en war. In einer unglaublich komplexen Maschinerielief seit Jahrtausenden ein Programm, was die Stellung derPlaneten im Kosmos exakt nachstellte. Suchte man beispiels-weise am Sternenhimmel den Planeten des Ares, so war er ander gleichen Stelle, wie im Planetarium. Und wenn man schoneine so perfekte Maschine baute, dann musste man sich auchsicher sein wie der Kosmos auszusehen hat. Sonst würde dieMaschine doch schon längst falsch liegen, oder?

�Sir. Die Artemis ist nur auf unserer Seite Gaias zu sehen.�,sagte schlieÿlich ein Student in den Raum hinein.

Einige Studenten kicherten.�Was gibt es da zu lachen? Der junge Mann hat Recht!�,

entgegnete Doyle, was sofortiges Schweigen im Saal verursach-te.

Der Professor räusperte sich.�Artemis ist der Mond Gaias, also unserer Kugelhälfte. Die

andere Hälfte, der Tartarus, hat seinen eigenen Mond, Hades.Wir können von unserer Seite der Kugel Hades nicht sehen,aber sein Licht strahlt gelegentlich in den nördlichen Landenam Horizont hervor.�

Ein Student erhob seine Hand. Doyle unterbrach seinenVortrag und bedeutete dem jungen Mann zu sprechen.

�Die Neue Welt, die spanische und britische Entdecker voreinigen Jahren fanden � war dies der Tartarus?�

Dies war eine gute Frage. Viele hielten zu dieser Zeit desExpansionismus und Entdeckungswettstreit den groÿen Kon-

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tinent im Westen für das wahre Paradies. Doch nach dem Mo-dell des Pythagoras müsste sich dort der Tartarus be�nden, dieUnterwelt, die Hölle. Andererseits könnte der Tartarus auch inRichtung Notos, hinter der groÿen Mauer liegen. Zu beidenOrten besteht seit hunderten von Jahren kein Kontakt mehrund die Überlieferungen sind sehr wage und nicht mehr alsLegenden und Sagen.

�Dies, meine Herren, wird sich bald klären. Das wissen-schaftliche Amt für Erkundungsreisen plant meines Erachtensbereits eine Expedition zur verlorenen Neuen Welt. Wenn SieInteresse an einer Teilnahme haben, können Sie sich bei AbuFiruz, dem Leiter der Universität, bewerben.�

Er räusperte sich kurz und fuhr dann mit seinem ursprüng-lichen Vortrag fort.

�Wir kamen nun zu Artemis und Apoll mit Hermes undAphrodite. Wie sieht es weiter aus? Wer von Ihnen nennt mirdie weiteren Hauptplaneten?�

Ein weiterer Student meldete sich zu Wort.�Das müssten sein: Mars, Jupiter, Saturn, Neptun und Ura-

nus.�Doyle sah den jungen Burschen lächelnd an.�Mein Herr. Das veraltete Weltbild kannte nur diese la-

teinischen Planetennamen. Sie sollten eigentlich wissen, dasswir seit einigen Jahren nur noch die griechischen Namen ver-wenden. Die korrekten Bezeichnungen lauten also Ares, Zeus,Kronos, Poseidon und Uranos. Danach folgt die HimmelskugelAtlas. Während die Planeten aus Metallen und Erde bestehen,ist der Raum zwischen ihnen, wie auch Atlas selbst, völlig ausÆther.�

Ein anderer Student erhob nun seine Hand: �Was ist Æther?�Ein Raunen und Kichern ging durch die Menge. Der Stu-

dent nahm schüchtern und beschämt seine Hand wieder her-unter.

�Meine Damen und Herren, bitte. Der junge Mann hierhat eine ganz wichtige Frage gestellt. Was �nden sie daran solustig? Wissen sie alle etwa die Antwort auf diese Frage? Dannkönnen... Sie sie ja auch beantworten!�

Ein Student in der ersten Reihe blickte sich erschrockenum. Warum musste der Professor auch ausgerechnet ihn her-auspicken? Langsam erhob er sich und antwortete: �Nun ja.Æther ist der Sto� aus dem das Weltall besteht. Es hat kei-

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ne messbare Konsistenz und ist quasi... Nichts, nur mit mehrEnergie darin.�

Der Professor sah den Studenten nachdenklich an.�Sehen Sie das als eine zufriedenstellende Antwort an? Mein

Herr, ihre Kommilitonen hätten besser über Sie lachen sollen,statt über den Mann, der eine gute Frage gestellt hatte. Nungut. Möchte es noch wer anders versuchen zu erklären?�

Eine Studentin in höherem Semester meldete sich zu Wort:�Æther, auch bekannt als freie Energie ist ein hypothetischesElement, welches gleichzeitig Materie und Energieform ist. Eskann jede Art von Aggregatzustand annehmen, jedoch strahltjede dieser Formen Energie in einem anderen Spektrum aus.Am Ertragreichsten ist der gasförmige Zustand, welcher sichals Nebenprodukt der Verdampfung von Wasser bildet.�

�Das war eine wunderschöne Antwort. Ich glaube ich habesie wortgenau in meinen eigenen Unterlagen gesehen, welcheich vor einigen Jahren anfertigte. Ich danke Ihnen, dass sie sichso sehr mit meinen Materialien beschäftigt haben, doch könnensie mir auch erklären, was das bedeutet? Sie haben mir zwareine gute Antwort geliefert, aber haben sie diese auch selbstverstanden?�

Der Professor gab dem Techniker ein Zeichen und dieserlöschte das Kalklicht des Projektors. Die Darstellung verschwandvon der Wand.

�Æther ist Energie. Æther ist in uns allen. Æther ist derKosmos. Wenn ihr bei Gewitter einen Blitz über den Himmelziehen seht, dann seht ihr die elektrische Entladung einer An-sammlung von Æther. Dennoch ist Æther keine Elektrizität, siestellt sich durch energetische Entladungen nur als solche dar.Æther ist also alle Energie des Kosmos, ist die Antriebskraftvon allem, auch von uns Menschen. Wenn genügend Energiean einen Ort kommt, dann kann sie sich so stark verdichten,dass sie eine materielle Form annimmt. Diese materielle Formhat wenigstens eine Eigenschaft von herkömmlicher Materie,man kann sie also beispielsweise mit mindestens einem der fünfSinne wahrnehmen, ihr Gewicht oder ihre Ausdehnung mes-sen. Oft sind es nur eine oder zwei Eigenschaften die vorhan-den sind, nur sehr selten sind mehr vorhanden. Letztlich kannman verallgemeinern: Je mehr Æther sich auf einem möglichstkleinen Raum sammelt, desto eher nimmt der Sto� die Eigen-schaften von herkömmlicher Materie an. Was man mit dieser

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Æther-Materie anfangen kann, können wir nur erahnen, dochgewissermaÿen nutzen bereits die gängigen Dampfmaschinenzu einem geringen Anteil Æther, um Kraft zu produzieren. Waswäre jedoch, wenn man die Urenergie selbst anzapfen könn-te? Ein Generator, der Æther als Treibsto� verwendet? EineDampfmaschine ohne Dampf und Wasser, sondern mit reinemÆther betrieben, die um es herum sowieso existiert?�

�Was wäre denn das Ausgangsprodukt dieses Generators?Ich meine zu irgendetwas muss dieser Generator doch das Ætherumwandeln? Ein Perpetuum Mobile ist schlieÿlich unmöglich,Abfälle gibt es immer!�, warf ein Student ein.

�Dies ist ein guter Hinweis. Meine Damen und Herren �machen Sie sich Gedanken darüber, denn dies ist Ihre Haus-aufgabe bis nächsten Quartidi! Viel Erfolg und Auf Wiederse-hen!�

Doyle LaForge sah den Studenten nach, die den Saal verlieÿen.Die Hörsäle des Museions von Alexandria war nunmehr seinZuhause geworden. Er hatte in vielen Städten Eurafrikas lehrendürfen, in noch mehr hatte er studiert. Doch keine Akademieoder Universität hatte ihn so fasziniert, wie das Museion.

Als eine Stadt in der Stadt galt es unter den Alexandrinern,als ein Lebenswerk galt es für die Wissenschaftler.

Das Museion bestand aus einer Hand voll neu errichteterGebäude, doch die Groÿzahl der Hörsäle und Unterrichtsräu-me lag in den antiken Gebäuden. Man konnte die Anwesenheitder antiken Geister beinahe spüren, sah man sich nur den rie-sigen Innenhof des Museions an. In deren Mitte befand sichder Obelisk von Alexandria, ein über zweitausend Jahre altesObjekt, was im Laufe des letzten Jahrhunderts restauriert undzum Museion gebracht wurde.

Für Archeologen und Geschichtswissenschaftler war das Mus-eion eher Forschungsobjekt, als Lehrstätte.

Für Doyle LaForge war es vor allem eins: Heimat.Nicht dass sich der Professor nicht an sein altes Eltern-

haus in Manchester erinnerte, er hatte lediglich keinen Grundmehr dorthin zurückzukehren. Sein Vater war vor ein paar Jah-ren verstorben, seine Mutter lebte bei ihrer Tochter und deren

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Mann. Er mochte sich nicht ausmalen in welchem Zustand sichdas alte Haus des groÿen Er�nders Gabriel LaForge befand.

Doyles Bruder Ruben war ebenfalls lange Zeit nicht mehrim Elternhaus gewesen. Das letzte was Doyle von ihm hörtewar die Tatsache, dass sich sein Bruder nun gänzlich den Py-thagoreern verp�ichtet hatte. Ihre Mutter hätte es glücklichgemacht, den Vater brachte es ins Grab.

Wie als hätte er ihn aus den Tiefen der Unterwelt her-aufbeschworen sah Doyle seinen Bruder in den sich lichtendenReihen der Studenten sitzen.

Zunächst hielt er es für Einbildung, doch als sich nur nochzwei Personen, neben ihm, im Raum befanden, war er sichsicher: Sein Bruder Ruben hatte den gesamten Vortrag als Zu-schauer mit angesehen.

Die zweite Person im Publikum war Doyles Kollege undFreund Bomani Al-Hazif. Dieser erhob sich, doch Doyle lieÿihn sich mit einer schnellen Geste wieder setzen.

Dann wandte sich Doyle seinem Bruder zu. Er hatte sichstark verändert. Sein einst so gestriegeltes dunkelblondes Haar� er hatte das Haar seine Mutter � �og wie wild über seinenKopf und lag vor seiner Stirn. Das Alter � er war nun fast vier-zig � hatte in seinem Gesicht viele Spuren hinterlassen, dochseltsamerweise wirkte Ruben noch immer ein wenig jugendlich.

Die gröÿte Veränderung war allerdings an den Augen zubemerken. Die tiefbraunen Augen seines Vaters wirkten nunkeineswegs mehr so durchdringend wie einst. Stattdessen hattesich der Farbton in ein mattes Schwarz gewandelt, wirkte nunkühl und berechnend, statt fröhlich und verspielt.

Verbittert musste Doyle feststellen, dass aus seinem kleinenBruder in der Tat ein Pythagoreer geworden ist.

�Ruben! Wie lang ist es her?�, rief er seinem Bruder ent-gegen, worauf sich dieser erhob und auf das Pult zukam.

�Sechs Jahre, schätze ich. Ich glaube das letzte Mal sahenwir uns zu Vaters Beerdigung.�, erklärte Ruben, �Was hast duall die Jahre getan? Nur unterrichtet?�

Doyle lächelte: �Nein, natürlich nicht. Ich bin jetzt Wissen-schaftler für die Regierung. Du verstehst? Verbesserte Dampf-maschinen, bessere Luftschi�e und die Di�erenzforschung.�

Ruben nickte: �Wegen eben dieser bin ich hier.�Der Professor sah seinen Bruder ungläubig an.

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�Wie?Wegen der Di�erenzforschung verschlägt es dich nachAlexandria? Für wen arbeitest du jetzt?�, fragte er mit for-schendem Blick.

Ruben sah seinem älteren Bruder tief in die Augen. Einkurzes Blinzeln, dann sagte er: �Ich arbeite für die akusmati-sche Abteilung der Kirche des Pythagoras und bin auf einerdiplomatischen Reise hier in Alexandria. Es geht um den Aus-tausch von Forschungsergebnissen.�

Doyle sah seinen Bruder durchdringend an. Der Austauschvon Forschungsergebnissen war Aufgabe der EurafrikanischenUnion. Eben deswegen wurde sie gegründet. Rubens diploma-tische Reise machte keinen Sinn. Die Pythagoreische Kirchehatte mit der Wissenschaft nichts zutun, sie gebot lediglichdie Nutzung von Dampf zur Energieerzeugung. Doch die Dif-ferenzforschung hatte rein gar nichts mit Energiegewinnungoder gar dem für die Pythagoreer heiligen Dampf zutun. Wasalso sollte Ruben wirklich hier heraus�nden?

Erst nach ein paar Sekunden brach Doyle schlieÿlich dasSchweigen: �Wie lange bist du hier?�

�Bis nächsten Tridi.��Warum tust du das?�Ruben sah seinem Bruder in die Augen.�Warum tust du das, was du tust, Doyle? Ich wandle auf

den Pfaden der Spiritualität, doch was tust du? Du forschst ansehr gefährlichen Dingen. Du jagst Sto�en hinterher, die nichtmateriell sind, die nicht fassbar sind. Æther ist kein Spielzeug,es ist der heilige Sto� des Dampfes. Daraus Energie erzeugenzu wollen ist, als wölltest du aus unseren Seelen Energie erzeu-gen.�

Doyle sah seinen Bruder sprachlos an. Ruben schüttelteleicht den Kopf.

�Es tut mir Leid, Doyle. Mir ist bewusst, dass dich mei-ne Anwesenheit verwirren mag, aber ich habe meine Gründe.Du kannst mich im Hotel Zum Mönch �nden, ich muss nunleider wieder gehen. Es war schön dich einmal wieder zu se-hen, groÿer Bruder!�, sagte Ruben und umarmte Doyle zumAbschied. Dann verschwand er in Richtung des Ausgangs undnickte beim Hinausgehen Bomani noch einmal hö�ich zu.

Dieser erhob sich nun ebenfalls und sah dem Mann nach.Dann wandte er sich Doyle zu und ging in Richtung des Hör-pults.

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�Ma assalaama�, brummelte der weiÿhaarige Ägypter, alsdie schwere Tür des Hörsaals mit einem hallenden Schlag insSchloss �el.

�Masaa il cheer, Bomani. Was verschlägt dich in meineVorlesung?�, fragte Doyle seinen Freund.

�Massa' in-nuur, Doyle. Ich komme um dich abzuholen.�Bomani Al-Hazif war ein stattlicher Ägypter, nicht viel äl-

ter als Doyle selbst. Er trug das Haar kurz, lieÿ sich aber einenSchnurbart wachsen, den er jeden Morgen sorgfältig p�egte.Man sah den Mann nur selten ohne Zigarette im Mund, weswe-gen es Doyle nicht verwunderte, als sich Bomani in die Innenta-sche seiner Weste gri� und eine Zigarette und ein Streichholzherauszog. Nachdem er sich das Streichholz an seinem Dau-mennagel angerissen hatte, entzündete er die Zigarette undnahm einige tiefe Züge.

Doyle, der gewartet hatte bis Bomani wieder ansprechbarwar, ging einen Schritt zur Seite, um dem Qualm der Zigaretteauszuweichen. Für ihn war dies eher eine lästige, als eine befrie-digende Angewohnheit. Er hatte es noch nie mit dem Rauchengehabt, hatte es aber einige Male versucht. Am Schlimmstenhatte die Pfeife geschmeckt, die ihm einst sein Vater zum Pro-bieren angeboten hatte. Und wenn er sich so die gelblichenZähne des Ägypters vor ihm ansah war er auch ganz froh nichtebenfalls diesem Laster zu frönen.

�Du möchtest mich abholen? Aber wohin willst du michdenn bringen?�, fragte Doyle schlieÿlich.

Bomani nahm einen tiefen Zug an seiner Zigarette und deu-tete mit der anderen Hand auf die verschlossene Tür des Hör-saals.

�Ein gewisser Herr Allaine Dyson möchte dich zu einer Tas-se Tee einladen.�

Doyle lachte auf. Der Präsident der Eurafrikanischen Unionlud ihn zum Tee ein. Sein Freund Bomani war immer wiederfür einen Scherz gut.

Doch dann sah Doyle in Bomanis nur leicht lächelndesGesicht und wurde sich plötzlich bewusst, dass diesmal keinScherz auf seine Kosten gespielt wurde. Bomani meinte esernst.

�Zum Tee?�, fragte Doyle dennoch ungläubig.�Nunja, ich muss gestehen, dass ich nicht weiÿ ob es Tee

geben wird. Aber Präsident Dyson möchte dennoch, dass du

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einer Konferenz des Inneren Zirkels beiwohnst.�Doyle konnte es nicht glauben. Erst wurde er von seinem

Bruder heruntergemacht, ja beinahe gewarnt weiterzumachen,und nun sollte er mit dem gröÿten Ungläubigen der ganzenWelt an einem Tisch sitzen. Man konnte Allaine Dyson alsDoyles Vorbild bezeichnen, doch traf dieser Ausdruck nichtganz auf den Punkt. Doyle schätzte den Mann für seine po-litischen, wie wissenschaftlichen Errungenschaften sehr, dochhatte er selbst keinerlei Interesse an all dem Ruhm, dem sichDyson täglich ausgesetzt sehen musste.

Dennoch war er sehr erfreut über die Möglichkeit den wahr-scheinlich mächtigsten Mann der Welt einmal persönlich zutre�en.

�Dann lass uns gehen!�, rief Doyle erfreut hervor und zogBomani am Arm Richtung Tür. Ruben hatte er schon beinahewieder vergessen.

Der Konferenzraum war groÿ. Man hatte einen riesigen längli-chen Tisch in der Mitte des Raums platziert. Er war aus Edel-holz, wie Doyle bewundernd feststellte. Um den Tisch herumstanden sechs Stühle. Zwei auf jeder langen Seite und zweijeweils an den Enden. Auf dem Stuhl, welcher der Eingangs-tür gegenüber lag, saÿ ein müde aussehender Mann. Er hattevor sich auf dem Tisch einige Akten ausgebreitet und las diesekonzentriert.

Die Stühle auf der linken Seite des Tisches waren ebenfallsbesetzt. Doyle kannte die beiden Männer, welche gerade in ei-ner leisen, aber intensiven Diskussion vertieft waren, vom For-schungszentrum her. Ihre Namen waren Mikkel Yadner, ersterForschungsleiter im Luftfahrt-Institut und Abu Firuz, Leiterdes Museions von Alexandria.

Hinter den beiden Männern gab es eine groÿe Fensterfront.Doyle wunderte sich kurz, weshalb man bei dieser Hitze auchnoch die Fenster o�en stehen lassen konnte, bemerkte aberdann die beiden groÿen Ventilatoren an der gegenüberliegen-den Wand. Wahrscheinlich wurden sie mechanisch über Zahn-räder und Seilzüge von zwei Luftturbinen drauÿen im Garten

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angetrieben. Bei diesen Temperaturen konnte man die heiÿeaufsteigende Luft durchaus zu solchen Zwecken verwenden.

Bomani schob Doyle weiter in den Raum hinein. Der Mannam Ende des Tisches sah auf.

�Guten Tag, Doktor Al-Hazif. Entschuldigen sie, wie sagensie doch gleich hier zur Begrüÿung?�, fragte er lächelnd. Doylekam dieses Lächeln recht aufgesetzt vor.

�Masaa il cheer sagt man, Präsident Dyson�, erklärte Bo-mani freundlich und verbeugte sich hö�ich vor dem Präsiden-ten.

Doyle verbeugte sich ebenfalls und lieÿ sich dann von Bo-mani einen Platz an der verbleibenden Längsseite des Tischesweisen. Er bekam den Stuhl, direkt vor dem Präsidenten undgegenüber von Firuz zugewiesen. Dieser unterbrach sein Ge-spräch mit Yadner und musterte Doyle.

Präsident Dyson wandte sich nun ebenfalls Doyle zu: �Ah,Professor LaForge, wenn ich mich nicht täusche. Ich habe ih-ren Vortrag eben mit Interesse verfolgt. Ihre Abhandlung überden Æther als freie Energie habe ich ebenfalls regelrecht ver-schlungen!�

�Vielen Dank, Präsident Dyson. Leider ist mir bisher nurder theoretische Beweis der Existenz des Æthers gelungen,nicht aber der praktische Nachweis.�, gestand Doyle und setztesich an den Tisch. Bomani nahm zu seiner linken Platz.

Dyson klatschte einmal in die Hände und sagte mehr zusich, als zu den anderen Anwesenden: �Nun fehlt nur noch einTeilnehmer an unserer kleinen Beratung. Wo bleibt sie denn?�

Doyle nutzte die Wartezeit um sich die anderen Anwesen-den nochmal genauer anzusehen.

Yadner war ziemlich gealtert, seitdem er ihn das letzteMal gesehen hatte. Dies war auf einer Konferenz in Johan-nesburg gewesen. Doyle hatte nie die Möglichkeit viele Wortemit seinem Kollegen zu wechseln, doch wusste er aus zahl-reichen Quellen, dass Yadner wohl der bedeutendste jüdischeWissenschaftler der Union war. Er hatte viel in der Luftfahrt-technik erreicht, hatte drei der fortschrittlichsten Luftschi�ty-pen entwickelt und arbeitet angeblich gerade an einem neuenAntriebssystem, mit dem man noch viel höher �iegen konnte,als bisher.

Doyle sah kurz zu seinem Vorgesetzten. Doktor ProfessorFiruz, der führende Wissenschaftler in Alexandria, hatte in

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seinem Leben bisher mehr Preise eingeholt, als jeder andereWissenschaftler auf der Welt, dabei ist er nicht einmal vielälter als vierzig. Er verstand sich gut in Chemie und Physik,war auÿerdem begabter Mathematiker und hatte auch schonoft sein Talent in der Ingenieurskunst bewiesen.

Unter all diesen groÿen Persönlichkeiten kam sich Doyleein wenig fehl am Platz vor. Selbst sein alter Freund BomaniAl-Hazif hatte wichtigere Arbeiten verrichtet, als Doyle selbst.Bomani arbeitete seit längerem an einer neuen Rechenmaschi-ne. Er brachte schon vor einigen Jahren die Forschung mit derEr�ndung der Di�erenzmaschine einen riesigen Schritt nachvorne, ist aber dadurch keineswegs in seinem Elan gemindert.Er glaubt kurz vor einem Durchbruch in der Di�erenzforschungzu sein und die wahrlich denkende Maschine zu entwickeln,was die gesamte Forschung der Welt in neue Bahnen werfenwürde. Seiner, wahrlich ein wenig hochmütigen Vision nach,würde die Weiterentwicklung der Di�erenzmaschine ein neuesZeitalter einläuten. Und er hat den Wunsch dies pünktlich zurJahrhundertwende zu erreichen.

Schnelles Klopfen an der Tür riss Doyle aus seinen Gedan-ken.

�Nur herein!�, rief Dyson zur Tür.Die schwere Eichentür wurde aufgeschoben und eine ge-

bräunte Frau mittleren Alters betrat den Raum. Ihr lockigesHaar war kurz geschnitten, was an sich schon für Getuschelauf den Straÿen sorgen musste. Doch was noch viel ungewöhn-licher war: Sie trug Hemd und Hosen, wie ein Mann! Diese Frauverstieÿ gegen jegliche Sitten und Normen, die Doyle kannte.Sprachlos sah er ihr zu, wie sie sich den langen Mantel vonden Schultern streifte und über die Lehne des verbleibendenStuhls, gegenüber von Doyle, hing. Schlieÿlich setzte sie sichlächelnd zu den Männern an den Tisch. Dyson war der Ein-zige, der sich des Anstands halber vom Stuhl erhob, bis sichdie Dame hingesetzt hatte, der Rest der Männer am Tisch wareinfach zu verblü�t.

�Wie ich sehe haben Sie schon den ganzen Herren hier denKopf verdreht, meine Liebe. Willkommen in unserer Runde!�,begrüÿte sie Dyson lachend.

�Ich danke ihnen sehr, Präsident Dyson�, sagte sie mit ru-higer, betäubender Stimme, die einfach nicht zum Rest ihrerErscheinung passen wollte, �Ich muss mich für meine Verspä-

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tung entschuldigen, es gab jedoch einen Zwischenfall im Hausder Verehrung, Präsident Dyson.�

Dyson hob die rechte Augenbraue und fragte: �Was für einZwischenfall ist denn geschehen, werte Thaki?�

Thaki fuhr sich mit der rechten Hand über ihre Haare, dannberichtete sie: �Vor siebzig Minuten brach ein Unbekannterin Ihr Büro ein und tötete einen Ihrer Doppelgänger. Danachentkam er durch einen waghalsigen Sprung von der Terrassein den Fluss. Wahrscheinlich konnte er mit einem verstecktenBoot entkommen. Die Ermittlungen haben jedoch gerade erstbegonnen.�

Dysons Blick ver�nsterte sich. Bevor er jedoch die Fragestellen konnte, antwortete Thaki schon: �Es war Frank.�

Der Präsident blieb stumm und verschränkte die Finger,wie zum Beten. Dann senkte er den Blick und murmelte mitbrüchiger Stimme: �Frank war ein guter Freund. Diese Weltist nicht gerecht.�

Schlieÿlich sah er auf und blickte über den Tisch hinwegThaki an. Die anderen Männer folgten seinem Blick.

�Sie sind eine gute Beraterin, aber auch meine beste Er-mittlerin, Thaki.�, erklärte Dyson, �Ich wünsche, dass Sie denVerantwortlichen aufspüren und vor Gericht bringen werden.�

Thaki nickte: �Ja wohl, Präsident Dyson!�Dyson schlug mit den Hand�ächen auf den Tisch. Seine

Euphorie von vorhin war gänzlich verschwunden.�Nun denn. Beginnen wir die Besprechung! Ich ho�e die

Herren haben mir bessere Nachrichten mitgebracht�, sagte erdann und warf Firuz einen kurzen Blick zu.

Der Wissenschaftler erhob sich von seinem Platz und be-gann zu berichten: �Mein Team und ich haben groÿe Fort-schritte in der Verbesserung von Liebigs Kunstdünger gemacht.Es ist gelungen das Minimumgesetz zu erweitern, so dass nochgröÿere Erträge zu erwarten sind! Dies wird der Landwirt-schaft, besonders auf dem afrikanischen Kontinent, einen groÿenSchub nach vorne verscha�en. Besonders die hiesige Nilregionwird stark davon pro�tieren.�

Dyson sah ihn schräg an und hob wieder seine rechte Au-genbraue. Firuz nahm wieder Platz und sah den Präsidentenerwartungsvoll an.

�Das ist alles? Ich hätte wirklich mehr von Ihnen erwartet,Firuz. Mal sehen was Ihre Kollegen zu bieten haben�, brummte

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Dyson enttäuscht und sah Yadner an.Dieser erhob sich ebenfalls und begann seinen Vortrag: �Die

neue Antriebstechnik kommt gut voran. Wir konnten einigeerste Prototypen fertigstellen, jedoch haben wir derzeit nochein Problem mit dem Druck. Entweder geht uns der Dampf aus,bevor wir höhere Luftschichten erreichen, oder unser Antriebzerplatzt uns kurz nach dem Start. Wir arbeiten derzeit an ei-nem verbesserten System mit stärkeren Ventilen. Eine weitereÜberlegung ist es, von Wasserdampf auf einen Verbrennungs-motor umzusteigen, auch wenn uns diese Technik noch viel zuunausgereift für den alltäglichen Gebrauch erscheint.�

Der Präsident nickte dem jüdischen Professor zu, damitsich dieser wieder setzte.

�Ich freue mich zu hören, dass Sie Fortschritte machen.Wann beginnen sie die nächsten Test�üge? Ich würde gernebei diesen anwesend sein.�

Yadner überlegte: �Zum nächsten Duodi werden weitereTest�üge in Erwägung gezogen. Ich würde Ihre Anwesenheitsehr begrüÿen, Präsident Dyson.�

Der Präsident nickte und wandte sich nun Bomani zu.�Wie steht es mit der Di�erenzmaschine? Haben ihre Er-

weiterungen Erfolg?�, fragte er.Bomani stand auf und erklärte kurz und knapp: �Wir sind

gerade dabei ein Eingabesystem mit Lochkarten zu entwickeln.Ebenfalls ist ein anderes Team mit dem Multiplikationspro-blem beschäftigt. Wir machen aber derzeit gute Fortschritte.�

Nachdem sich Bomani wieder gesetzt hatte, wandte sichDyson schlieÿlich Doyle zu.

�Und nun möchte ich alles über Ihr Projekt erfahren.�,erklärte Dyson und lächelte Doyle besänftigend an, �Dann er-klären Sie mir mal bitte ihr Prinzip die freie Energie in einemGenerator zu verwenden!�

Doyle schluckte. Irgendwie hatte er es ja geahnt, dass derPräsident auf dieses Thema eingehen würde. Doch was sollte erihm erzählen? Dass der Generator bisher nur auf dem Papierfunktionierte? Dass der Prototyp alles andere als stabil lief undsich Doyle nicht einmal sicher war, dass er wirklich den Ætherein�ng und die Energie umwandelte? Aber irgendetwas mussteer ja nun sagen, alleine schon um seinen Ruf zu verteidigen.

�Der Generator besteht aus vierzehn, etwa zwölf Quadrat-meter groÿen spiegelnden Kollektorplatten. Es ist wirklich ein

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erstaunlicher Anblick.�, begann Doyle, doch Dyson unterbrachihn.

�Das ist ja eine wunderbare Idee, Professor LaForge! Wannkann ich die Anlage besichtigen?�

�J..Jetzt gleich?�, schlug Doyle vor und hätte sich danachsofort innerlich selbst erdolcht. Wie kam er nur auf die Ideedem Präsidenten den völlig unzuverlässigen Prototypen vor-führen zu wollen?

�Nun denn, meine Herren. Lasst uns am Besten alle zusam-men LaForges Errungenschaft bewundern!�, rief Dyson eupho-risch aus und sprang beinahe von seinem Stuhl auf. Die ande-ren Wissenschaftler, wie auch Thaki erhoben sich ebenfalls,nur Doyle blieb noch einen Moment länger sitzen.

Mit ein bisschen Pech war in wenigen Minuten seine be-ru�iche Laufbahn zu Ende. Da half auch Bomanis beruhigendgemeinte Hand auf Doyles Schulter nicht viel.

Die Æthermaschine war in der Tat ein erstaunlicher Anblick.Der Himmel spiegelte sich in den vierzehn kniehohen Kollek-torplatten. Es sah beinahe aus, als hätte man Löcher in dieLuft geschnitten die in andere Welten führten. Die Kollektor-platten waren kreisförmig um das Zentrum herum aufgebaut.Wie in einem silbernen Spinnennetz führten metallene Leitun-gen von den einzelnen Platten zum zentralen Generator.

�Was Sie hier sehen ist die Æthermaschine. Die Kollektor-platten bestehen aus schwarzem Selen. Dieses zeigte sich alsbesonders reaktiv auf Ætherein�uss - zumindest in der Theorie.Tatsächlich erzeugt es auf geradezu gespenstige Weise elektri-schen Strom. Nur das Warum ist uns noch unklar. In der Theo-rie sind dafür die Ladungsunterschiede zwischen dem auftref-fenden Æther und dem Selen verantwortlich.�, erklärte Doyleden Anwesenden.

�Ist die Elektronik nicht verboten?�, fragte Bena Thakiund strich mit einem Finger vorsichtig über die Oberseite einerKollektorplatte.

�Das ist sie. Aber unter bestimmten Bedingungen ist dieForschung damit erlaubt.�, bemerkte Mikkel Yadner.

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�Allerdings�, stimmte Doyle zu, �Ich habe ja auch nicht vorden Elektrischen Strom als solches zu verwenden. Ich möchtekeine Toten wiederbeleben oder Blitze durch den Raum schie-ÿen. Ich übertrage lediglich die ætherische Energie aus derUmgebung zum Generator, der sie wieder in legale kinetischeEnergie umwandelt.�

�Was dennoch vom Pythagoreischen Ministerium für ge-fährliche Apparate überprüft werden muss.�, warf Abu Firuzabschätzig ein.

�Das PMgA wird nichts zu bemängeln haben.�, prophezei-te Doyle gestresst und wandte sich dem Generator im Zentrumder Maschine zu.

Der Apparat bestand aus einem groÿen horizontal ausge-richteten Zylinder und einem kleinen Motor, welcher den elek-trischen Strom zurück in kinetische Energie wandelte und denZylinder drehte. Vom Zylinder aus ging ein Hochleistungs-Wasserdampfrohr zu einem simplen Nachbau eines Dampfzu-gantriebs, allerdings mit den Rädern in der Luft.

�Zur Demonstration der hohen energetischen Stärke derÆthermaschine haben wir diesen Antrieb eines Dampfzugeshier aufgebaut. Er wird auf die exakt gleiche Art betrieben, wiejeder andere Antrieb in betriebsbereiten Zügen der Welt. Le-diglich den Dampf haben wir durch Æther�uid ausgetauscht.�,erklärte Doyle und führte die Gruppe zum Zugantrieb.

Bomani sah sich die eigentliche Æthermaschine genauer an.�Als erstes könntest du erklären was Æther�uid sein soll

und direkt danach bitte wofür dieser metallene Zylinder gutist.�

Doyle setzte ein professionelles Lächeln auf und begannmit seinen Erklärungen: �Der Æthertheorie nach ist Ætherein Grundsto� unseres Kosmos. Schon die alten Pythagore-er kannten den Æther als fünftes Element, welches die ande-ren vier Elemente bedingte. Damals wusste man bereits umdie metamorphischen Eigenschaften dieses Sto�s, kannte je-doch keine andere Erklärung, als Æther allgemein als heiligeinzustufen. Heute sind wir einen Schritt weiter. Wir kön-nen nicht nur durch bestimmte Experimente nachweisen, dassÆther existiert, wir können ihn dank der Æthermaschine neu-erdings sogar nutzen! Dies geschieht auf folgende Weise. DieKollektorplatten erzeugen dank dem auftre�enden Æther ei-ne elektrische Spannung. Der Æther selbst wandert auf dieser

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Spannung zu der Fluidturbine. Das ist der Zylinder den Siehier sehen. In diesem Zylinder wird der Æther gesammelt unddank eines simplen Motors in Bewegung gesetzt. Die Turbi-ne wird sich im Laufe der Zeit immer schneller drehen, daimmer mehr Æther als Energieträger zur Verfügung steht. DerÆther selbst sammelt sich innerhalb des Zylinders und beginnt,mit zunehmender Masse, sich zu materialisieren. Aufgrund derDrehbewegung der Turbine nimmt der Æther einen �üssigenAggregatszustand an. Daher der Name Æther�uid. Bei zuneh-mender Geschwindigkeit verschiebt sich der Aggregatszustandins Gasförmige, welches durch diese typischen Dampfrohre ineine andere Maschine weitergeleitet wird. Dabei werden Drückeweit über tausend Bar erzeugt.�

Doyle sah in die ungläubigen Gesichter und musste in-nerlich lächeln. Natürlich klang dies abenteuerlich. Die besteDampfmaschine war in der Lage einen Druck von etwa 220Bar zu erzeugen, benötigte dazu jedoch eine Temperatur vonüber 370◦ C. Die Æthermaschine kam ohne eine Sto�erhitzungzurecht.

�Ich werde es ihnen nun demonstrieren.�, sagte er und be-tätigte einen Hebel an der Seite des Generators.

Sofort begann sich der groÿe Zylinder zu drehen. Im ers-ten Moment war dies kaum wahrnehmbar, doch schon nachwenigen Sekunden hatte die Turbine Geschwindigkeit aufge-baut. Nach etwa einer Minute begann sich auch der Antriebdes Dampfzugs zu bewegen. Das groÿe Antriebsrad begann einelangsame Drehbewegung. Immer schneller drehte sich die Tur-bine und auch das Antriebsrad beschleunigte sich. Nach weni-gen Minuten war das Antriebsrad bereits schneller als mit einerherkömmlichen Dampfmaschine und nahm sogar noch weiteran Geschwindigkeit zu. Als man die Speichen des groÿen Stahl-rades überhaupt nicht mehr erkennen konnte, schaltete Doyleden Generator ab.

�Was sagen sie dazu?�, fragte er stolz.

Die Gruppe schwieg beeindruckt. Lediglich Dyson beugtesich lächelnd nach vorne und stellte die Frage, auf die Doy-le schon die ganze Zeit gewartet hatte: �Wo ist der Haken,Professor LaForge?�

�Der Haken ist - nun wie soll ich das erklären? - dass dieMaschine nur bei Tageslicht funktioniert.�

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Flüchtige Lächeln zeigten sich auf den Gesichtern Yadnersund Firuz'. Es war kein Geheimnis, dass die beiden berühmtenWissenschaftler nicht viel von dem Briten hielten. Doyle La-Forge war für sie nur ein transparenter Schatten seines Vaters.Hätte Gabriel LaForge die Æthermaschine entwickelt, würdensie sicherlich rühmlicher auftreten. Doch Doyle LaForge warfür sie nur ein Träumer, der meinte in die Fuÿstapfen seinesberühmten Vaters treten zu können. Natürlich hatte er in vie-len Universitäten studiert und war ein unter den Studentenbeliebter Tutor, doch unter den Wissenschaftlern selbst warer mehr eine Rand�gur. Er hielt sich nicht an Regeln, er ver-suchte diese gar zu untergraben. Egal ob es sich hierbei umpolitische Erlasse handelte oder um physikalische Grundgeset-ze. Solch ein Mann konnte durchaus gefährlich werden. Nichtin einer körperlichen Art - Doyle gehörte nicht zu jener Artverrückter Wissenschaftler die gerne einmal ein halbes Fakul-tätsgebäude in die Luft sprengten - eher jedoch in einer Artdes Ruhms und Rangs. Er hielt sich auf ö�entlichen Abendenan die Etikette, was man selbst von Allaine Dyson nicht im-mer erwarten konnte. Doch war ein solch zweifelhafter Forscherdennoch im Stande die gesamte Universität, wenn nicht sogardie Wissenschaft an sich in Verruf zu bringen, einfach nur weiler an Dingen forschte, an denen man nicht zu forschen hat.

�Das Æther �ieÿt in elektrischem Strom, sagten Sie?�, ver-gewisserte sich Dyson nachdenklich. Ein kurzes Nicken vonDoyle genügte und er überlegte laut weiter: �Nehmen wir ein-mal an, dass sich Æther normalerweise selten von der Stellebewegt. Immerhin ist ja der gesamte Kosmos, ja jeder Punktder Welt immer voller Æther. Nimmt man nun an, dass sichÆther genauso von elektrischem Strom, wie auch von Lichtübertragen lässt, dann haben wir unser Problem bereits gelöst.Die LaForge'sche Æthermaschine funktioniert desshalb nur amTage, da der Æther ein Medium braucht um sich zu bewegen,was das Sonnenlicht wäre. Durchaus eine plausible Theorie,nicht wahr?�

Doyle nickte zustimmend. Daran hatte er selbst auch schongedacht.

�Nun gut�, sagte Dyson abschlieÿend und klatsche dabei indie Hände, �Ich danke Ihnen für diese anschauliche Demonstra-tion. Ich bin schwer begeistert, das müssen Sie mir glauben. Ichheiÿe Sie also im Namen der Eurafrikanischen Union herzlich

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Willkommen im inneren Zirkel der höchsten Wissenschaftler.�Bomani trat einen Schritt auf Doyle zu.�Wir haben auch gleich einen ersten Forschungsauftrag für

dich. Natürlich kannst du nebenbei jederzeit weiter an deinerÆthermaschine forschen. Deine neue Hauptaufgabe wird den-noch die Erforschung des Planetophons des Pythagoras sein.Ich selbst bin auch dort vor Ort, wir sind also Partner in diesemProjekt. Was sagst du dazu, Doyle?�

Doyle wusste nicht was er sagen sollte. Er war einfachsprachlos.

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Geschichtlicher Überblick

532 vor Christus gründete Pythagoras von Samos seine Glaubens-schule im heutigen Unteritalien.

Was zunächst als kleine Schule der Wissenschaft und Mys-terien begann, entwickelte sich schnell zu weitaus mehr: EineReligion, die selbst nach Pythagoras' Tod noch sehr lange Zeitfortbestand und immer wieder neu aufblühte.

Die Pythagoreer glaubten an die strikte Trennung von Spiri-tualität und Materie, was sie als Dualität bezeichneten. Allerdingsglaubten sie auch daran, dass beide durch bestimmte Sto�e ver-knüpft wären. So enthielten Metalle verschiedene Dämonen, diebei einem Schlag einen bestimmten Ton abgaben. Demnach warenGlocke, wie auch der Gong heilige Instrumente.

Aristoteles versuchte später diesen Dämonen, diesem fünftenElement der Welt einen Namen zu geben. Nach dem Studiumeiniger pythagoreischer Schriften prägte er den Ausdruck Quint-essenz.

Tatsächlich kannten die Pythagoreer bereits einen Namen fürdieses fünfte Element, was neben Wasser, Feuer, Erde und Luftden Kosmos zusammenhielt: Æther.

Im Jahre 1687 wurde dieser Æther von einigen Neupythagore-ern in Wasserdampf nachgewiesen. Spätestens seit der AmtszeitPapins gilt der Wasserdampf als Grundlage jeglicher Energiege-winnung und zu dem als heilig. Ein Brite namens Frank Stoneversuchte einst seine Er�ndung zur Erzeugung von elektrischemStrom per Handkurbel und einigen Magneten patentieren zu las-sen. Die Bezeichnung des Geräts lautete Apparat zur Erquickungder körperlichen Ermüdungen, wie zur Massage oder dem Lösenvon Verspannungen. Als man herausfand, dass diese Erquickun-gen auch bei bereits toten Körpern funktionierten, lieÿ ihn diePythagoreische Kirche einsperren. Im Treiben der Zweiten Groÿen

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Inquisition verlor sich seine Spur, doch man kann davon ausgehen,dass Alpha Léon ihn vaporisieren lieÿ.

Ein Erlass von 1732 verbot schlieÿlich die Forschung, Nutzungund Verbreitung von elektrischem Strom.

Doch dies war nicht der einzige Erlass der Kirche. In den Jah-ren der Zweiten Groÿen Inquisition (1720-1810) wurden mehr alshundert solcher Verbote und P�ichten eingeführt, die von demsogenannten Messiahs-Verbot, über die P�icht der Dualität bishin zum weltweiten pythagoreischen Bohnenverbot einhergehen.

Innerhalb der Pythagoreischen Kirche unterschied man bereitsseit der Gründung durch Pythagoras selbst zwischen Mathemati-kern und Akusmatikern. Die Akusmatiker befolgten Pythagoras'Worte akribisch genau. Sie waren die geistigen Stützen der Bewe-gung. Die Mathematiker waren die Denker und Wissenschaftler,bzw die Handelnden der Bewegung. Sie waren es die jene An-weisungen ausführten, die der höchste Akusmatiker, der Alpha,befahl.

Nur unter ganz seltenen Umständen war es möglich seine Ein-stufung zu ändern. War ein Pythagoreer zum Akusmatiker be-stimmt, dann war es ihm normalerweise unmöglich zu den Ma-thematikern zu wechseln.

Die einzige bisher bekannte Ausnahme machte ein Mann na-mens Jacob Feht. Er gehörte von 1791 bis 1810 LEO an, einerUntergruppierung der Mathematiker, welche während der ZweitenGroÿen Inquisition und der Europa-Revolution polizeiliche Aufga-ben übernahm. Nach Ende der Inquisition wurde es ihm gestattetzu den Akusmatikern zu wechseln. Den Ein�uss, den er dort ge-wann, nutzte er 1850 um seinen Sohn Christoph Feht zum 10.Alpha wählen zu lassen. Christoph Feht ist bis heute Alpha derPythagoreischen Kirche.

Am 3. Tridi Ventose 1887 erinnerte er an das Akusma, wel-ches allgemein Bohnen verbot. Die simplen Worte Du sollst keineBohnen essen! waren von Pythagoras natürlich nicht wörtlich ge-meint, dennoch aÿen viele Pythagoreer keine Hülsenfrüchte. DerSage nach soll Pythagoras sogar einem Stier das Bohnenverbotauferlegt haben, damit dieser nicht eine ganze Ernte von den Fel-dern fraÿ.

Einer anderen Sage nach soll der Tyrann Dionysios II. von Sy-rakus sein Leben lang versucht haben hinter die Geheimnisse derPythagoreer zu kommen. Er versuchte es zunächst auf eine freund-liche Art, wollte in einen pythagoreischen Freundebund eingeladen

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werden. Doch die Pythagoreer durchschauten sein Vorgehen under gri� zu extremeren Mitteln. Er schickte Soldaten aus, die eineGruppe von zehn Pythagoreern überfallen und gefangennehmensollten. Diese allerdings ergri�en die Flucht. Jedoch kamen sieschon nach kurzer Zeit an ein groÿes Bohnenfeld. Das Bohnen-verbot im Hinterkopf weigerten sie sich das Feld zu überquerenund lieferten den nachfolgenden Soldaten einen harten Kampf.Ein jeder der Pythagoreer kämpfte bis zu seinem Tod. Erst aufdem Rückweg trafen die erfolglosen Soldaten auf zwei weiterePythagoreer. Es handelte sich um einen engen Vertrauten Pytha-goras namens Myllias und seiner schwangeren Gattin Timycha ausSparta. Die Soldaten nahmen das Paar gefangen und brachten esnach Syrakus zu ihrem Tyrannen. Dieser drohte mit Folter, woll-te er nun um jeden Preis hinter das Geheimnis der Pythagoreerkommen. Auf die Frage nach dem Geheimnis des Bohnenverbotsbiss sich Timycha die Zunge ab und spuckte sie Dionysios vor dieFüÿe. Eine ähnliche Sage handelt von den beiden PythagoreernDamon und Phintias, welche auch die Protagonisten in FriedrichSchillers 1799 verö�entlichter Ballade Die Bürgschaft waren. Soblieb das Bohnenverbot lange Zeit ein absolutes Geheimnis. Erstdie Neupythagoreer um Christus' Geburt lüfteten die Schleier.

Was damit eigentlich gemeint war, liegt bei näherer Betrach-tung des pythagoreischen Weltbilds auf der Hand. Die mythologi-schen Götter lebten nach der Vorstellung des Pythagoras in denplanetaren Himmelskörpern, ja repräsentierten sie gar. Für sie wa-ren Planeten hohle Hülsen in deren Mitte die Götter lebten. Ausdem gleichen Grund galten auch Hülsenfrüchte als heilig, da auchin ihnen der Kern wichtiger war als die Hülle. Das Bohnenverbotsollte die Pythagoreer daran erinnern, dass sie selbst ebenfalls nurHüllen für etwas weitaus wichtigeres sind: Die Seele mit dem Kör-per als Hülle. Das Bohnenverbot symbolisierte also die Dualität,das Zusammenspiel von Materie und Geist.

Die Dualität wiederum war der erste Teil der heiligen Vierheit,der Tetraktys, symbolisiert durch ein aus zehn Punkten bestehen-des Dreieck mit vier Spalten, wie es die drei Maurer einst an derTür zur groÿen pythagoreischen Maschine fanden.

Die Tetraktys, die Zahl Zehn, setzte sich zusammen aus vierEigenschaften: Die Zahl Eins, die Einheit der Welt. Die Zahl 2,die Dualität. Die Zahl 3, der Geist. Die Zahl 4, die Materie. DieVierheit war die Glaubensgrundlage der Pythagoreer und AlphaFeht wollte mit der Erinnerung an das Bohnenverbot auch an die

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Prinzipien des pythagoreischen Lebensstils erinnern.So lauten auch drei Akusmata und Leitsprüche des Pythago-

ras Die Zahl - ihr gleichet alles., sowie Der Anfang - die Hälftedes Ganzen. und schlieÿlich Was ist das Orakel von Delphi? DieTetraktys.

Danach hatte sich jeder Pythagoreer, nach Alpha Feht sogarjeder Mensch des Planeten zu richten.

Dies wollte er zumindest mit eiserner Hand durchsetzen.

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Aller Glaube ist unwillkürlicheHingebung des Geistes an eineVorstellung von Wahrheit.

Friedrich Heinrich Jacobi

γ

Alexandria, 3. Sextidi Germinal 1899, 5:12 Uhr

Die Dienerscha�t kam, als er gerade die Gabel neben den nunleeren Teller gelegt hatte, und räumte den gedeckten Tisch ab.

�Hat es Ihnen geschmeckt?�, fragte der Oberkellner.�Die Speisen waren vorzüglich!�, lobte Ruben LaForge und

tupfte sich mit einer Serviette die Lippen ab. Dann erhob ersich und erklärte dem wartenden Oberkellner, er würde sichnun zurück in seine Suite begeben. Mit einer Verbeugung ver-abschiedete sich der Angestellte und Ruben verlieÿ das Restau-rant des Hotels Zum Mönch.

Seine Suite befand sich im zweiten Obergeschoss des Hau-ses und bestand aus drei Zimmern. Zu erst betrat man denSalon. Seitlich war eine Garderobe eingerichtet und Canapésschmückten die Mitte des Raums. Zwischen ihnen standen klei-nere Tische mit Aschenbechern und den neuesten Zeitungender Stadt. Im hinteren Bereich des Raums konnte man sich aneiner reich gefüllten Bar bedienen. Seitlich konnte man jeweilsentweder in das groÿe Badezimmer gehen oder in den Schlaf-raum mit einem kleinen Büro. Natürlich alles auf Rechnungder Kirche.

Ruben schob seinen Lochkartenschlüssel in den Schlitz ne-ben der Tür und zog an der Klinke. Nach einem kurzen Mo-ment lieÿ sich die Tür ö�nen. Ruben wusste, dass diese Tech-nik zu Zeiten der Schlüssel-Kopiermaschinen wesentlich siche-rer war, doch irgendwie vermisste er die gewohnte drehendeBewegung beim Aufschlieÿen der Tür.

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Technik war nun überall zu �nden. Ein Blick aus dem Fens-ter reichte, um ihm eine ganze neue Welt vorzuführen. Dort�ogen kleine Heiÿluftballons zwischen den Etagen der Häuserund zwischen diesen hin und her. Dadurch wurden auf schnel-lem Wege Lieferungen zugestellt, die in die überall vorhande-nen Rohrleitungssysteme nicht hineinpassten. Selbst seine Sui-te hatte einen kleinen Lieferantenbalkon, sowie eine vierwegigeRohrpoststation.

Nachdem er sich Schuhe und Mantel entledigt hatte, setzteer sich an seinen Schreibtisch im Schlafzimmer und setzte einTelegramm auf.

Report 1 -STOP-

Stadt Gewachsen -STOP-

Viel Technik -STOP-

Forschung Unbekannt -STOP-

Kein Zugriff Auf Ergebnisse -STOP-

Ruben las sich die wenigen Zeilen noch einmal durch. Ei-gentlich könnte er einen längeren Telegrammstil wählen, daauch jene Kosten von der Kirche übernommen würden. Dochje weniger er direkt mitteilte, desto geringer war die Chancedie Behörden auf ihn aufmerksam zu machen.

Ruben wusste: Was er hier tun sollte war illegal. Es warschlichtweg Spionage. Er war ein Spion der PythagoreischenKirche, ausgesandt um die Forschungen eines Professors desMuseions von Alexandria auf ihre Gefährdung der Weltord-nung zu überprüfen. Er hatte nicht gewusst dabei ausgerech-net auf seinen Bruder zu tre�en. Wenigstens war er nicht direktan der Di�erenzforschung beteiligt, sondern sein Freund Boma-ni Al-Hazif. Doyles Ætherforschung half der Kirche gewisser-maÿen ihre Vormachtstellung des Dampfes weiterhin durchzu-setzen. Bomanis Di�erenzforschung allerdings versuchte diesevollkommen zu untergraben.

Eine denkende Maschine zu erscha�en war ein Versuch esden Göttern gleichzutun. Wer konnte sich anmaÿen Götterwerkzu vollbringen, auÿer Pythagoras selbst? Wenn dieser Al-Hazifkeinen Beweis seiner Reinkarnation des Pythagoras lieferte,würde er sich mit dieser Forschung in hohe Gefahr bringen.Und so wie es derzeit aussah war Alpha Feht tatsächlich die

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Reinkarnation des heiligen Pythagoras. Schlechte Karten fürBomani Al-Hazif.

Das einzige Problem war: Die Ergebnisse der Di�erenzfor-schung wurden völlig unter Verschluss gehalten. Nachdem Al-Hazif 1886 die Di�erenzmaschine erfand und diese sich schlieÿ-lich in den darau�olgenden Jahren weltweit durchsetzte, arbei-tete der Professor an einer überarbeiteten Fassung der Maschi-ne. Einer Maschine die wahrlich zum Denken im Stande war.Doch niemand wusste ob es eine solche Maschine schon gab.Immerhin waren fast fünfzehn Jahre seit der Er�ndung derDi�erenzmaschine vergangen, man könnte annehmen Al-Hazifhatte sich in dieser Zeit nicht auf seinem Erfolg ausgeruht.

Doch gab es bereits eine denkende Maschine? Wie konnteRuben an diese Information herankommen? Man würde ihnsicherlich nicht direkt in die geheimen Forschungslabors desProfessors hineinlassen.

Und da kam Ruben die zündende Idee. Sein Bruder Doy-le hatte sicherlich Zugri� auf diese Informationen, immerhinarbeitete er seit Jahren mit dem ägyptischen Professor zusam-men. Möglicherweise könnte er über Doyle an jene Informatio-nen herankommen, die er benötigte.

Auch wenn dies bedeutete seinen Bruder anzulügen. Py-thagoras sagte einst: �Sei gerecht in Wort und Tat.�

Ist es gerecht seinen Bruder zu hintergehen, um dessenFreund daran zu hindern die Götter zu fordern und Leid überalle Beteiligten zu bringen? Was genau ist Gerechtigkeit?

Ruben sah auf das Papier zu seinen Händen und fügte ei-ne weitere Zeile hinzu. Dann rollte er den Bogen zusammenund schob ihn in eine Röhre, welche er in die Poströhre zumTelegrafenamt schob. Sofort wurde sie eingesaugt und war imnächsten Augenblick verschwunden.

Er sagte einst: �Überlege vor der Tat, damit sie sich nichtals töricht erweist: Unüberlegtes Handeln und Reden sind Sa-che eines unwürdigen Mannes.�

Ruben erhob sich von seinem Schreibtisch und trat in seinSchlafzimmer. Er hatte dort einen Altar des Apoll aufgebaut.Er würde heute Mittag mehr opfern müssen als sonst.

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Ruben trat hinaus auf die Straÿe. Er hatte fast 65 Minutenzu Apoll gebetet und dabei einen Entschluss gefasst. Er würdeDoyle einen Besuch abstatten und versuchen so viele Informa-tionen zur Di�erenztechnik aus ihm herauszubekommen, wieihm möglich war.

Die Gesellschaft würde es als falsch ansehen, da war sichRuben sicher. Doch die Kirche hatte ihm diesen Auftrag er-teilt und er war schlieÿlich zum Mathematiker berufen. Er soll-te nach den Worten Pythagoras' handeln, nicht die Wege derGötter verstehen. Was er tat brachte den Menschen kein Leid,es verhinderte sogar sehr viel. Dem Zorn der Götter muss mansich zwar ausliefern und sich mit seinem Schicksal ab�nden,doch sollte man diesen Zorn nicht bewusst herausfordern, indem man Maschinen baut, die den Menschen gleichkommen.Dies versuchte die Kirche zu verhindern, deshalb war Rubenunterwegs.

Die Mittagssonne blendete Ruben, als er die Hauptstraÿezur Eurosseite des Alexanderplatzes herunterlief. Dort standeneine Reihe von Droschken und warteten auf Passagiere. Rubensah sich mit prüfendem Blick die neuen, pferdelosen Dampfwa-gen an, entschied sich aber letztlich doch für ein traditionellesVerkehrsmittel.

In der roten Pferdedroschke saÿen bereits zwei Personen,als Ruben einstieg. Der Droschkenkutscher stieÿ einen kurzenWarnruf aus und fuhr los, nachdem sich eine Gasse in denMenschen vor ihm gebildet hatte.

Ruben lächelte den anderen beiden Passagieren � augen-scheinlich ein mittelaltes Ehepaar � hö�ich zu und beugte sichdann aus dem Fenster, um dem Kutscher seinen Bestimmungs-ort mitzuteilen.

�Mein Herr, Sie brauchen sich nicht herausbeugen. Sie se-hen auch von hier gut genug.�, erklärte ihm die Dame gegen-über.

Verwundert setzte sich Ruben wieder richtig auf seinenPlatz. Er war gar nicht dazu gekommen dem Kutscher zu sagenwohin er fahren soll.

�Wie bitte?�, fragte er.�Sie sehen auch von innen ausgezeichnet. Sie müssen sich

nicht in Gefahr begeben. Wer weiÿ was man dort drauÿen mit

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ihrem Kopf anstellt!�Ruben blinzelte kurz, dann fragte er: �Was soll man denn

von meinem Kopf wollen? Ich wollte dem Kutscher lediglichmitteilen, wohin ich gefahren werden möchte.�

Der Gentleman ihm gegenüber sah ihn lächelnd an.�Mein werter Herr, sie be�nden sich in einer Droschke für

Touristen. Wir machen hier eine Besichtigung.��Oh.�, sagte Ruben bloÿ. Er dachte daran dem Kutscher

mitzuteilen, dass er gerne aussteigen möchte. Allerdings fuhrdiese Touristenkutsche sicherlich auch am Museion vorbei undda er sich ohnehin nicht um Kosten zu kümmern brauchte blieber sitzen.

�Mein Name ist Ruben LaForge. Ich komme aus Marburgin Deutschland, wurde aber in Manchester, Britanien gebo-ren.�, stellte er sich hö�ich vor.

�Dies ist meine wunderbare Gattin Dona McFarlane undmein Name ist Ian McFarlane. Nett Ihre Bekanntschaft zu ma-chen, Mr LaForge.�

Ian McFarlane verbeugte sich, so gut es in der engen Kut-sche möglich war. Ruben musste sich aufgrund dieser über-triebenen Etikette ein Lächeln verkneifen. Auch er hatte zwareine Schule der Etikette und Hö�ichkeit besucht, doch bloÿweil ihn seine Mutter dazu nötigte. Sie wollte aus ihm einenVorbildsohn erscha�en, ganz in der Tradition der Pythagoreer.Eigentlich sollte er ihr dankbar für ihre Erziehung sein, dennohne diese wäre er schlieÿlich nie in die Pythagoreische Kircheeingetreten. Dennoch war Etikette etwas lästiges, wenn manbedachte, dass jedes Land und jede Region der Welt ihre ei-genen Regeln hatte. Wären sie gerade im Deutschen Reich, somüsste er der Dame gegenüber einen Handkuss geben.

�Was bringt Sie in diese schöne Stadt?�, fragte ihn DonaMcFarlane und riss ihn damit aus seinen Gedanken.

Ruben überlegte einen kurzen Moment und entschied sichfür einen Teil der Wahrheit.

�Ich besuche meinen Bruder hier in Alexandria. Er arbeitetim Museion.�

�Das ist Erstaunlich! Was verschlägt denn einen Gentlemanin diesen... Teil der Welt?�, fragte Dona begeistert und entsetztzugleich.

�Aberdeen hat schöne Universitäten.�, warf Ian ein.

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Ruben lächelte gequält. Warum musste er ausgerechnetauf solch ein weltfremdes schottisches Ehepaar tre�en? Wahr-scheinlich hatten sie nicht einmal mitbekommen, dass Ägyptenein eigenständiges Land war und keine britische Kolonie mehr.Sicherlich sahen sie diese Reise als eine Art Safari an, um dieWilden zu betrachten und einen neuen Sklaven zu erstehen.Ruben verabscheute solche Menschen.

Er brauchte Ablenkung und sah aus dem Fenster.�Sehen Sie! Das groÿe Paneum.�, rief der Kutscher von

vorne in die Kabine herein.Sofort sprangen die beiden Touristen an das rechte Fenster

und ga�ten hinaus.Ruben warf ebenfalls einen Blick nach drauÿen. Er hatte

gestern bereits das Paneum betrachtet, als er mit der Droschkean ihm vorbeifuhr.

�Wo ist es? Ich sehe nur eine Menge Neger.�, entgegnetedie Schottin aufgeregt.

�Es ist der künstliche Berg. Man hat ihn vor zweitausendJahren aufgeschüttet und auf der Spitze ein Pantheon errich-tet. Es ist eines der wenigen überbliebenen Bauten der altenZeit.�, erklärte Ruben genervt, �Auÿerdem ist es unziemlichdie Einwohner der wichtigsten Stadt der Welt als Neger zubeschimpfen.�

�Der Gentleman hat recht, Dona.�, p�ichtete ihm Ian treubei.

�Was ist ein Pantheon?�, fragte Dona, noch immer aus demFenster starrend.

Ruben lehnte sich zurück und legte den Kopf in den Nacken.Ho�entlich war er bald in der Nähe des Museion.

�Ein Pantheon ist ein Tempel für alle Götter. Nicht wahr,Mr LaForge?�, erklärte Ian.

�So in etwa.�, bestätigte Ruben kurz und versuchte dannwieder das Ehepaar zu ignorieren. Er schloss die Augen.

Früher war ein Pantheon tatsächlich ein Gemeinschaftstem-pel für alle Götter, doch zu heutigen Zeiten wurde diese Funk-tion von den pythagoreischen Tempeln übernommen. Die Pan-thea in Alexandria, Athen oder Rom waren nur noch Zeugnissevergangener Zeiten.

�Und dieses riesige Gebäude muss das Museion sein! Obsie dort wohl wirklich so viele Bücher haben?�, hörte RubenDona erfreut sagen.

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�Mr LaForge! Wachen Sie auf. Ich denke hier trennen sichunsere Wege, nicht wahr?�, rief Ian McFarlane viel zu laut.

Ruben ö�nete die Augen und setzte sich gerade hin.�Tatsächlich. Ich wünsche Ihnen beiden noch eine schöne

Urlaubsreise und viel Spaÿ in Alexandria. Auf Wiedersehen.�Ruben klopfte an die Decke der Kabine und der Kutscher

hielt die Droschke an. Während dem Aussteigen nickte Rubenden Schotten noch einmal hö�ich zu. Glücklicherweise würdeer sie nie wiedersehen. Er steckte dem Droschkenkutscher ei-nige Scheine mehr in die Hand, als die Fahrt unter normalenUmständen gekostet hätte und bedankte sich bei ihm.

Dann sah er sich auf der Straÿe um. Sie waren schon einpaar Straÿen am Museion vorbeigefahren, er musste wohl nochein wenig Laufen.

Ruben warf einen Blick zur Sonne. War dies Apolls Antwortauf seinen geplanten Betrug an seinem Bruder? Verdient hatteer es zumindest.

Ruben zwang sich durch die dichte Menschenmenge. Um dieseUhrzeit herrschte in den Straÿen Alexandrias immer ein re-ges Streben. Menschen drängten sich zwischen den örtlichenGeschäften und Ka�eehäusern hin und her.

Vor genau einem solchen blieb Ruben schlieÿlich stehen.Das Ka�eehaus trug den ungewöhnlichen Namen Brian's GoodIdea. Obwohl Ruben noch einige Meter vom Museion entferntwar, ging er einer inneren Eingebung nach in das Gebäude.

Er betrat das Ka�eehaus und sah sich um.Zum Eingang des groÿen, verwinkelten Raumes standen

mehrere Tische und Sitzgarnituren. Gäste saÿen vor ihren Tas-sen und Gläsern und tranken Bier und Ka�ee, unterhielten sichoder spielten Brettspiele. Ruben ging in Richtung der Thekeund sah sich nach Doyle um.

An einem Tisch im hinteren Bereich des Ka�eehauses saÿsein Bruder und las eine Gazette.

Ruben ging zu seinem Bruder an den Tisch und machte,durch Klopfen auf die Tischplatte, auf sich aufmerksam.

�Ruben. Was führt dich hier her?�, entgegnete Doyle er-staunt und legte die Zeitung beiseite.

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�Ich wollte mit dir sprechen.�, erklärte Ruben und setztesich zu seinen Bruder an den Tisch.

�Über was willst du denn mit mir sprechen?��Mich interessiert was du die letzten Jahre so getan hast,

wie du lebst und wie es dir wirklich ergeht. Wir haben unsschlieÿlich ein paar Jahre nicht mehr gesehen.�

Eine junge afrikanische Dame trat an den Tisch heran undfragte Ruben, ob er etwas trinken möge. Er bestellte einenMalzka�ee mit einer Priese Salz. Doyle sah der Frau nach, alsdiese wieder zur Theke ging.

�Ich habe nicht viel getan. Bloÿ gelernt und gelehrt.��Bist du mit dieser Dame bekannt?�, fragte Ruben neugie-

rig.Doyles Blick wanderte für einen kurzen Moment ein Stück-

chen tiefer, dann löste er sich vom Gemächt der jungen Frauund widmete sich wieder Ruben.

�Nicht direkt. Ich bin hier Stammgast, doch bezwei�e ich,dass Fräulein Zarah überhaupt meinen Namen kennt.�

�Du bist kein junger Mann mehr. Wärst du zwanzig Jahrejünger, würde sie dich sicher als eine gute Partie einstufen�,erklärte Ruben ernst.

�Hast du eine Frau? Tri�st du jemanden?�, fragte Doyledarauf.

�Nein�, gestand Ruben. Wie hätte er die Zeit für Frauen?Ständig war er an anderen Orten, immerzu hatte er andereAufträge. Ein Mathematiker der Kirche zu sein war kein Leben,das man mit einer Frau teilen konnte, geschweige denn damiteine Familie ernähren.

�Deine Religion verbietet dir doch nicht den Umgang mitDamen, oder doch?�

�Sicher nicht. Es unterstützt ihn sogar. Ich halte mich le-diglich aus diesen Aspekten des Lebens heraus�, sagte Rubenund seufzte.

Es war nicht so, dass es Ruben nie mit den Frauen versuchthätte. Auch er hatte einmal ein Mädchen geliebt. Doch er hatteauch auf die unglückliche Art gelernt, dass er als Junggeselleein besseres Leben führen würde. Lediglich Abends musste erdes Öfteren an sie denken, wenn er sich den einsamen Genüssenvor dem Schlafengehen widmete.

�Jedermann muss dies für sich selbst entscheiden.��In der Tat.�

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Einen Moment saÿen sich die beiden Brüder schweigend ge-genüber, dann holte Doyle einen rechteckigen Holzkasten unterdem Tisch hervor.

�Hast du Lust auf ein Spiel? Dabei kann man sich dochbesser unterhalten, als nur zu Ka�ee�, sagte Doyle lächelndund klappte den Kasten auf. Darin kamen dreiÿig Spielsteinezum Vorschein, welche in zwei Farben gruppiert waren. Die In-nenseite des Holzkasten war mit grünem Filz bedeckt, welcherauf jeder Deckelseite des Kastens von sechs abwechselnd hellenund dunklen, sich gegenüberliegenden Pfeilen markiert war.

Ruben kannte dieses Spiel unter dem griechischen NamenTavli und hatte darin ebenso groÿe Erfahrung, wie mit Schach.Es war ein Spiel der Philosophen und Gelehrten, wurde aberseit vielen Jahren auch zunehmend von den einfacheren Bevöl-kerungsschichten gespielt.

�Natürlich, gerne�, sagte Ruben, nahm sich die fünfzehnweiÿen Spielsteine und begann sie in dem Kasten aufzustellen.Doyle stellte einen Würfel an die Seite des Kastens mit einerZwei nach oben, dann baute er seine Figuren ebenfalls auf.

Ruben stellte zwei der weiÿen Figuren in die oberste rechteEcke des Spielfeldes und fünf weitere in die obere linkte Ecke.Doyle stellte seinen Figuren die gleiche Menge entgegen. Dannlegten sie eine weitere Reihe von fünf Figuren auf die linke Sei-te des rechten Kastendeckels, Ruben auf die ihm zugewandteSeite, Doyle ihm gegenüber. Die letzten drei Figuren stelltensie auf das zweite Feld von rechts des linken Kastendeckels aufdie gleiche Seite wie die letzten fünf.

Dann begannen sie zu spielen.�Wie geht es Cecilia?�, fragte Ruben, während er einen

Würfel warf. Er zeigte eine Drei.�Cecilia hat Mutter aufgenommen. Nach dem Tod von Va-

ter ging es ihr zunehmend schlechter. Cecilia hat sich ihrerangenommen und seit dem hat sie alle Hände voll zu tun.�,berichtete Doyle und warf ebenfalls einen Würfel. Er zeigteeine Fünf.

�Du bist dran!�, bemerkte Ruben, �Also hat unsere liebeSchwester nun gleich mit drei Kindern zu kämpfen.�

Doyle warf zwei Würfel.�Zwei und Fünf. Ich �nde es nicht sehr freundlich unsere

Mutter als Kind zu bezeichnen. Sie ist eine gestandene Persön-lichkeit gewesen. Das solltest gerade du am Besten wissen.�

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Während Doyle einen Spielstein um fünf Felder und einenzweiten um zwei Felder bewegte, nahm sich Ruben bereits dieWürfel zur Hand.

�Entschuldige, du hast recht. Dennoch fand ich es nicht ge-rade unpassend Cecilias knausrigen Gatten auf diese Weise zubeleidigen. Dieser Mann ist hängt jeden Morgen den Haussegenganz persönlich schief.�

Doyle lächelte über diese Metapher. Ruben warf die Würfelund zog sofort mit einem Spielstein zwei Felder. Dabei schlug ereinen von Doyles Spielsteinen und legte diesen in die Mitte desKastens. Dann zog er noch den verbliebenen Spielstein in derobersten linken Ecke um vier Felder. Während Doyle nun wie-der die Würfel warf, gestand er: �Ich kann Darrin auch nichtsonderlich leiden. Ich war schon dagegen, als er um CeciliasHand anhielt. Doch sie ist mit ihm zufrieden, hat ein schönesHaus und eine wunderbare Tochter. Es hätte sie schlimmertre�en können.�

Doyle zog den Spielstein von der Mitte des Kastens umzwei Felder zurück ins Spiel und einen anderen um sechs Feldervoran. Ruben würfelte eine Drei und eine Eins. Er schlug zweiweitere Spiel�guren von Doyles Farbe.

�Die gute Maia. Schreibt ihr euch noch Briefe? Mir hatsie vor einem Jahr auch einmal einen geschrieben, aber aufmeinen Brief an sie bekam ich nie wieder eine Antwort. Ichhabe sie auch lange nicht mehr gesehen. Ich vermute auch beider Beerdigung unseres Vaters. Wie alt war sie da?�

Doyle würfelte eine Zwei und eine Drei und zog seine beidenFiguren zurück ins Spiel.

�Nicht älter als Neun. Sie macht ihrer Mutter viel Ärger.�Ruben lächelte.�Ganz der Onkel.�Auch Doyle lächelte. Ruben zog einen Spielstein um ein

Feld weiter und überlegte welchen Spielstein er um drei Felderverrücken sollte.

�Ruben. Du bist doch sicherlich nicht wegen diesem Klatschauf der Suche nach mir gewesen.�, überlegte Doyle.

Ruben hielt mitten im Zug inne.�Was willst du damit andeuten?�, fragte er.�Ich bitte dich, Ruben. Was soll dieses Gerede über alte

Zeiten? Dich hat es doch sonst nie interessiert, was aus unsererFamilie wird. Du bist immer deinen eigenen Weg gegangen und

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wolltest möglichst wenig mit deiner ungläubigen Familie zutunhaben. Selbst Mutters Briefe hast du ignoriert! Ich bin zwarebenfalls meinen Weg gegangen, habe mich aber dennoch oftbei unserer Familie blicken lassen oder Briefe geschrieben.�

Ruben setzte den Spielstein neben dem Spielfeld ab.

�Du hast recht, Doyle. Ich bin aus einem bestimmten Grundhier. Ich möchte dich bitten, dass du mir hilfst Zugang zur For-schungsstätte Bomani Al-Hazifs zu erlangen.�, erklärte Rubenernst.

Doyle sah seinen Bruder einen kurzen Moment direkt indie Augen. Dann senkte er den Blick und erhob sich. Die leereTasse lieÿ er stehen.

�Ich muss nun gehen, Ruben. Das Spiel setzen wir ein an-deres Mal fort.�, sagte er, �Dir sollte eigentlich klar sein, dassich dir diese Bitte niemals erfüllen könnte. Was du verlangstwäre Spionage zuzulassen. Du kannst froh sein, dass ich dichnicht den Behörden übergebe. Auf Wiedersehen�.

Dann ging Doyle aus dem Ka�eehaus hinaus. Ruben bliebsitzen und sah ihm nachdenklich nach. Gerade als die Türezurück ins Schloss �el, kam die junge Ägypterin hinter derTheke hervor. Sie brachte Rubens Ka�ee.

�Entschuldigen Sie. Ich musste erst noch einen neuen SackKa�ee aus dem Keller heraufholen. Ich ho�e die Wartezeit warnicht zu lange.�

Ruben lächelte die junge Frau an.

�Natürlich nicht. Vielen Dank, Zarah.�

Zarah machte einen Knicks und verschwand mit verwun-dertem Gesicht.

Ruben trank in Ruhe seinen Malzka�ee. Sein Plan war ge-scheitert. Allerdings war das zu erwarten gewesen. Nun hieÿes, überlegen wie es weiterging.

Er könnte ins Museion gehen und die Professoren dort be-fragen, doch war sich Ruben sicher, dass er bei ihnen auf dengleichen Widerstand stoÿen würde, wie bei Doyle.

Also blieb ihm nur eine einzige Möglichkeit übrig, dennaufgeben stand nicht zur Debatte.

Er musste in die Forschungsstätte einbrechen und sich dieInformationen holen, die er brauchte.

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Ruben klopfte sich den Staub von der Hose. Es grenzte an einWunder, dass man ihn bisher nicht bemerkt hatte. Allerdingswaren die Katakomben groÿ und man bewachte lediglich deno�ziellen Eingang des Planetophons.

Ruben hatte einige Studenten belauscht, die sich, kurz nachDoyles Verschwinden, an den Nachbartisch gesetzt hatten. Siehatten über Doyles Vorlesung am Vortag gesprochen und überAl-Hazifs Di�erenzmaschine. Als das Gespräch schlieÿlich beider Analytischen Maschine angelangt war, wurde Ruben hell-hörig. Dem Gespräch der Studenten nach befand sich eine neueRevision der Di�erenzmaschine in den Gängen vor dem Plane-tophon. Es war zwar noch keine Analytische Maschine, jedochschon einen guten Schritt weiter, als die Di�erenzmaschinen,die bereits überall im Einsatz waren.

Ruben hatte beschlossen sich in das Planetophon einzu-schleichen. Er hatte noch eine Stunde gewartet, dann war erlosgegangen.

Um unbemerkt in die Gänge zu kommen, hatte er den Ein-gang im Euros genommen, nahe des ehemaligen Serapeums.Von dort aus war er zwei Kilometer die Katakomben entlanggelaufen.

Nun musste er sich irgendwo unter den Häfen be�nden,schätzte Ruben.

Er hockte hinter einer Säule in einer groÿen Kapelle. Hat-ten hier Totenmessen stattgefunden? Die Altare lieÿen daraufschlieÿen. Allerdings könnte es sich bei ihnen auch sehr leichtum Opferaltare handeln, wie Ruben feststellte.

Geräusche drangen den Gang hinauf. Sofort duckte sichRuben wieder hinter die Säule in den Schatten.

Man hatte Gaslaternen im Mittelschi� der Kapelle aufge-baut. Sie erleuchteten den Weg zu den Leitern und Flaschen-zügen, die den Ausgang aus den Katakomben auf dieser Seiteder Stadt bildeten. Hier war einst ein Tempel eingestürzt undhatte die Katakomben freigelegt. Erst Jahre später fand manheraus, dass ganz Alexandria untergraben war. Es befandensich wenigstens vier Nekropolia, Städte der Toten, wie die al-ten Griechen sagten, unter Alexandria. Durch eine war Rubendie letzte Stunde gekrochen.

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Aus einem erleuchteten Seitengang kamen drei Männer inStaubmänteln hervor. Sie unterhielten sich lautstark, doch Ru-ben konnte aufgrund des extremen Halls in der Kapelle keinWort eindeutig verstehen.

Die Männer verschwanden bei den Flaschenzügen und be-gannen sich heraufzuziehen.

Ruben rannte geduckt vorwärts und in den Seitengang hin-ein. Er ho�te, dass diese drei Wissenschaftler die letzten hierunten gewesen waren. Immerhin wurde es drauÿen bereits dun-kel.

Der Gang vor ihm zumindest war leer. Dennoch achtete Ru-ben darauf beim Laufen keine zu lauten Geräusche zu machen,denn der Hall würde ihn noch oben im Hafen verraten.

Seltsame Malereien schmückten die Wände. Er erkanntegriechische Götter, wie auch kemetische wieder. Es waren Schöp-fungsgeschichten, vermischt zwischen den Religionen. Man konn-te Transformationen zwischen den Göttern erkennen. Die Ma-ler hatten dies sogar mit Hieroglyphen, sowie lateinischen undgriechischen Schriftzeichen kenntlich gemacht. Zu seiner Rech-ten sah Ruben die griechischen Schriftzeichen für Hermes. Al-lerdings ohne diese hätte er den Götterboten nicht wiederer-kannt. Hermes sah aus, wie eine Mischung aus einem Barbarenund einem Engel. In der rechten Hand hielt er eine Streitaxt,in der linken eine Flasche mit grüner Flüssigkeit.

Ruben löste sich von dieser Götterzeichnung und setzte denWeg fort. Ab und an blieb er stehen, um sich die Zeichnungenvon Krotos und Osiris, sowie Apoll und Apophis anzusehen.

Dann gelangte er schlieÿlich an die groÿe, berühmte goldeneTür, dem Eingang zum Planetophon. War sie einst noch durchein Rätsel gesichert, so stand sie nun weit o�en und gewährteeinem den Blick auf seltsame Maschinen und Apparate.

Als Ruben schlieÿlich in den riesigen Raum trat, wurde ihmbeinahe schwindelig. Er hatte das Gefühl inmitten des Kosmoszu stehen.

Über ihm �ogen alle acht planetaren Götter auf ihren Bah-nen. Apoll brannte hell herab und erleuchtete auch den letztenWinkel des, mit Tischen und Maschinen vollgestellten, Raumsgigantischen Ausmaÿes.

Erst bei näherem Hinsehen erkannte er, dass Apoll nichtwirklich eine Sonne war, sondern lediglich eine riesige Linse,die über Objektive und Spiegel ein entferntes Feuer zeigte. Die

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Planeten selbst kreisten auf metallenen Rohren, aus denen aneinigen Stellen kleine Dampfwolken hervortraten. Wahrschein-lich bestanden die Götter selbst aus Metall.

Ruben trat weiter in den Raum hinein. Die Landkarte, dieauf die Wände des kugelförmigen Raums gemalt worden war,hatte ein paar kleinere Fehler, zeigte aber erstaunlich genaudie Ausmaÿe der Welt. Ruben fragte sich wann dieser Raumerscha�en worden war, da er auf einem technischen Stand war,der beinahe der heutigen Zeit entsprach, von der ausgesprochenrealitätsnahen Kartographie nicht zu sprechen.

Es war fast als hätten die Menschen in der Vergangen-heit ein weitaus gröÿeres Wissen über die Welt gehabt, alsallgemein angenommen. Möglicherweise hatten sie sogar einnoch gröÿeres Wissen, als die Wissenschaftler der jetzigen Zeit,dachte Ruben, als sein Blick über die andere Hälfte des Erd-kugel schweifte. Dort war ein zweiter Kontinent, entweder derTartarus oder die einst entdeckte Neue Welt, welche man seitdem Kontaktverlust vor vielen Jahren vergeblich erneut such-te.

Neugierig sah Ruben in der Mitte des Raums Richtung De-cke. Dort befand sich die Nachbildung des Atlas: Eine riesigeschwarze Sphäre schwebte bedrohlich hoch in der Luft. Rubenerkannte keine Seile oder andere Halterungen, was den unsi-cheren Eindruck des Gebildes nur verstärkte.

Gerade als sich Ruben die Unterlagen auf den Tischen inder Mitte des Raumes genauer ansehen wollte, hörte er aus demGang ein Geräusch. Sofort lieÿ er sich auf den Boden fallen undkroch unter den Tisch, vor dem er eben nochgestanden hatte.

Ein einzelner Mann betrat das Planetophon. Er hatte einengrauen Umhang über die Schultern geworfen, die Kapuze tiefins Gesicht gezogen. So sah mit Sicherheit kein Wissenschaftleraus.

Der Mann blieb in der goldenen Tür stehen und zog einenkupferfarbenen Gegenstand aus der Tasche. Ruben erkannteihn in demMoment, als der Unbekannte ihn mit ausgestrecktenArm in die Höhe richtete: Es war eine Dampfpistole!

Hatte man ihn entdeckt und einen Wachmann geschickt?Doch der Mann hatte ihn unter dem Tisch nicht bemerkt.Stattdessen zielte er mit der Pistole Richtung Atlas. Ein kurzesZischen ertönte und kurz darauf ein heftiger Knall, als die bei-nahe lautlos abgeschossene Kugel die Auÿenhülle der Metall-

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sphäre traf. Sofort trat ein Strahl Dampf aus dem Einschuss-loch aus. Wenige Sekunden später regnete es Metall. Hundertewinzige Schrauben wurden durch den enormen Dampfdruckaus ihren Gewinden gerissen. Die Metallsphäre begann sichselbst zu zerstören.

Ruben kroch noch tiefer unter den Tisch und rollte sichzusammen. Er lag etwa in der Mitte des Raums, Atlas befandsich direkt über ihm. Wenn er sich aus seiner Verankerunglöste, würde Ruben sicherlich zerschmettert werden!

Ein erneuter heftiger Schlag ertönte über Ruben. Ein kurzerBlick zur Tür zeigte Ruben, dass der Saboteur verschwundenwar. Ruben atmete noch einmal tief durch und robbte sichdann unter dem Tisch hervor. Schrauben und Nieten schlugen,Geschossen gleich, auf seinem Körper auf. Ruben bewegte sichgeduckt zwischen den hohen Maschinen hindurch, immer aufden Ausgang zu. Die letzten Meter sprintete er.

Gerade als er die goldene Tür erreichte, verging Apoll ineinem ohrenbetäubenden Klirren. Scherben regneten in denRaum herab und Finsternis legte sich über das Getöse.

Ruben rannte den Gang hinauf und in die Katakomben hin-ein. Hinter sich hörte er aufgeregte Stimmen, doch verstehenkonnte er bei dem Lärm nichts.

Als er die Expolsion hörte, auf die endlich Stille folgte, warer bereits wieder aus den Katakomben herausgeklettert. Erbefand sich im Lips der Stadt und konnte aus diesem Grundnichts sehen. Doch als er schlieÿlich in die Nähe des Hafensgelangte sah er die wahren Ausmaÿe der Sabotage.

Der groÿe Leuchtturm von Pharos war auf ganzer Längeaufgerissen und neigte sich schräg dem Meer entgegen. Es warein Wunder, dass er noch nicht vollständig eingestürzt war. Ru-ben zwängte sich durch die Menschenmassen, die ga�end amHafen standen und die Katastrophe betrachteten. Er mussteheraus aus der Stadt und zwar sofort. Glücklicherweise hatteer nicht viel Gepäck bei sich gehabt, das wenige konnte er ge-trost im Hotel zurücklassen. Das Wichtigste, Geld und seineIdenti�kationskarte, trug er am Mann.

Doyle konnte sich sicher denken, dass er versucht hatte sichin das Planetophon einzuschleichen. Er würde ihn wahrschein-lich für dieses Desaster verdächtigen! Alle Behörden würdennach ihm fahnden und er könnte sich Lebzeiten nicht mehr in

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Ägypten blicken lassen. Das Beste würde die Flucht zurücknach Marburg sein.

Ruben sah sich am Hafen um und sah ein britisches Dampf-schi� im Becken stehen. Die Passagiere kamen gerade den Stegentlang nach Alexandria gelaufen. Dieses Schi� könnte er zuseiner Flucht verwenden!

Er ging über die Hafenstraÿe. Der Verkehr war zum Erlie-gen gekommen, selbst die Droschkenführer standen neben ih-ren Kutschen und starrten auf die Zerstörung des gröÿten ver-bliebenen Symbols der Stadt. Es war, als wäre die Zeit stehengeblieben. Ruben hatte noch nie so viele Menschen in beinahevölliger Starre gesehen. Lediglich ein junges Mädchen versuchteseinen Ko�er auf den Gepäckträger einer Droschke zu hieven.Der zugehörige Droschkenführer bekam dies nicht einmal mit.

Ein perfekter Tag für Taschendiebe, dachte Ruben bei sichund beschloss eine gute Tat zu vollbringen und dem Mädchenmit ihrem Gepäck zu helfen.

�Lassen Sie mich Ihnen helfen, junge Dame.�Das Mädchen sah ihn verdutzt an. Wahrscheinlich hatte

es nicht damit gerechnet, dass sich jemand in diesen zeitlosenMinuten um sie kümmerte. Waren es auch wirklich ihre Ko�er?Sie sah jedenfalls nicht wie eine Diebin aus, doch das Aussehenalleine konnte einem dabei nie Gewissheit geben.

�Oh, vielen Dank. Ich hatte schon befürchtet, dass sichniemand mehr um mich kümmert! Was ist hier eigentlich pas-siert?�, fragte das Mädchen.

�Ich weiÿ es selbst nicht genau. Irgendetwas ist mit demgroÿen Leuchtturm dort passiert�, tat Ruben unwissend.

�Nun, mich betri�t's wohl nicht�, sagte das Mädchen lä-chelnd und Ruben hob ihren zweiten Ko�er auf den Gepäck-träger der Kutsche.

�Das ist wohl wahr. Dennoch sollten Sie vorsichtig sein.Hier herrscht gerade Ausnahmezustand, da kann es für einejunge Lady durchaus gefährlich werden.�

Das Mädchen lächelte freundlich.�Ich weiÿ mir schon zu helfen, aber Danke.�Ruben verneigte sich leicht vor der Lady und ging dann

wieder seiner Wege. Spätestens als er durch die Zollkontrolleging, ohne untersucht zu werden, hatte er das Mädchen schonvergessen.

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Es würde keine Herausforderung sein auf das Schi� zu kom-men. Ruben ho�te nur, dass es auch bald wieder abfahren wür-de und man es nicht nach ihm untersuchte. Er tadelte sichselbst für seine paranoiden Gedanken und betrat die groÿePlanke zum Schi�.

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Geschichtlicher Überblick

Die britische Krone unter Elisabeth I. gründete im 16. Jahrhun-dert das British Empire. Die Bemühungen der Königin das engli-sche Reich zu vergröÿern wirkten sich auch auf Expeditionen undEntdeckungsreisen aus. Man wollte dem spanischen und portugie-sischen Vorbild nachahmen und dieses gar noch übertrumpfen.

Durch die Unterstützung von Piraterie und Freibeuterei woll-te man die Kolonisierungsbestrebungen der Iberischen Halbinselunterdrücken, wenn nicht gar zum Erliegen bringen.

Die erste britische Kolonie in Amerika war Virginia, benanntnach Elisabeth, der Jungfräulichen.

Nach Elisabeths Tod kam König James VI. an die Macht. Undmit ihm gingen jegliche Kolonisierungsversuche auf der NeuenWelt unter.

Nur ein Jahr, nachdem die Versuche das im Osten gelegeneEnde der Welt, eine riesige sich von Norden nach Süden erstecken-de Mauer, die mehr als fünfzehn Meter hoch war, zu überwindenfehlgeschlagen waren, brach auch 1605 der Kontakt zur NeuenWelt ab. Weder Spanien, noch Portugal oder England bekamenseit diesem Tag noch eine einzige Antwort aus dem Kontinenthinter dem Atlantik. Die Gründe dafür sind bis heute unbekannt.

Jegliche Expeditionen, welche die groÿe Mauer im Osten über-winden konnten, kehrten nie zurück. Nur die groÿe Angst vor ei-nem weltweiten Krieg hielt die drei Weltreiche vom Versuch abdie Mauer mit Gewalt einnehmen zu wollen.

Stattdessen wandte man sich Afrika zu.Mehr als tausend Jahre lang breiteten sich die Kolonien auf

dem Kontinent aus, der Sklavenhandel erblühte. Lediglich zehnafrikanische Groÿreiche lieÿ man in Frieden.

Als 1790 die europaweite Revolution ausbrach, konnten sichdie afrikanischen Groÿreiche zu einem Bündnis gegen die Besat-

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zer zusammen�nden. Schon sechs Jahre zuvor gab es die erstenRückschläge von Seiten der afrikanischen Bevölkerung, doch abdem groÿen Revolutionsausbruch hatten die europäischen Imperi-en jegliche Macht verloren.

Die afrikanischen Staaten, wie Gahna und Ägypten, hättenohne weitere Probleme ganz Europa erobern können. Doch dieMenschen dieses Kontinents waren friedfertigere Menschen, alsdie Europäer. Sie begnügten sich damit die Besatzer aus ihremLand vertrieben zu haben.

Die Europäer allerdings verlangte es nach mehr Sicherheit. Sieversandten Diplomaten in alle Welt, um den Weg für ein Bündniszu ebnen. Daraus entstand schlieÿlich die Eurafrikanische Union,die ihr wissenschaftliches Netz über die ganze bekannte Welt leg-te.

Doch aus der Neuen Welt, wie auch den Landen hinter dergroÿen Mauer, hörte man nichts mehr. Es gab auch keine Expedi-tionen mehr an diese Orte, man war mehr damit beschäftigt, dieverbliebene Macht durch diplomatische Kriege zu erweitern.

Diplomatische Kriege, sowohl zwischen den Staaten, als auchzwischen der Kirche und der Union.

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Mein Leben! Immer wiederkomme ich in eine unbekannteStadt und bin fremd. Auch imJenseits werde ich nur einZugereister oder Refugie sein!

Franz Werfelδ

Alexandria, 3. Sextidi Germinal 1899, 7:88 Uhr

Als Maia das Schi� verlieÿ sah sie die Stadt. Alexandria wareine Metropole, hatte man ihr gesagt, doch Maia hatte nichtmit diesem Anblick gerechnet! Häuser so groÿ wie Berge warfenihre langen Schatten über die Stadt. Im Vergleich zu She�eldwar dies wirklich eine Stadt, ja eine ganze Welt für sich.

Seltsame Gefährte fuhren durch die Straÿen und zogen wei-ÿe Rauchfäden hinter sich her. Fast wie die Lokomotiven, dieMaia aus Britannien kannte, doch fuhren diese hier ohne Schie-nen, kreuz und quer durcheinander.

Alles war so anders und unwirklich. Überall waren Men-schen. Weiÿe, schwarze, alle rannten wild umher, jeder hatteetwas zu tun. Maia kam sich in dieser ganzen Masse verlorenvor.

�Na das kann ja heiter werden�, sagte sie zu sich selbst,packte ihren Ko�er und lief los.

Ein Schwarzer kam auf sie zu, er war nicht älter als zwanzig,und �ng an in einer seltsam knatternden Sprache auf sie ein-zureden. Sie sagte ihm, er solle verschwinden, doch der Mannwollte nicht gehen. Ein wenig verängstigt sah sich Maia nachBeistand um, doch niemand hier hatte Augen für ihr Problem.

Plötzlich gri� der Mann nach ihrem Ko�er. Maia schrie aufund schlug dem Schwarzen ihren Schirm auf den Kopf. Diesersprang lachend zurück, verbeugte sich kurz und deutete aufeine Reihe von Schaltern, zu der die Masse von den Schi�enströmte. Mit einer einladenden Geste bedeutete er ihr, dass sie

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dort hinzugehen habe. Erst jetzt �el Maia seine Uniform auf.Er war scheinbar ein Angestellter des Hafens.

Mit einer Verbeugung entschuldigte sie sich bei dem Mannund lieÿ ihn die Ko�er tragen.

Auf dem Weg zu den Schalter sah sie sich noch einmaldas riesige Dampfschi� an, auf dem sie die letzten vier Tageverbracht hatte.

Dem Prospekt nach hatten auf der DS Margarethe 400 Pas-sagiere Platz. Das Schi� hatte allerdings Ausmaÿe, als könneman ganz London auf ihr Unterbringen. Vier riesige Schorn-steine ragten vom Deck empor und spiehen weiÿe Wölkchenan den Himmel. Während der Überfahrt hatte Maia nicht vielvon diesen gesehen. Sie hatte die meiste Zeit in ihrer Kabineverbracht und gelesen.

Sie war den anderen Passagieren zumeist aus dem Weg ge-gangen. Dies lag hauptsächlich daran, dass sie vorgab einund-zwanzig zu sein, damit sie alleine reisen durfte. In Wirklichkeitwar sie erst fünfzehn, doch das sah man ihr unter all der un-bequemen Garderobe nicht an.

Maia seufzte. Hätte sie Daniel mitgenommen, dann hättesie sich diesen ganzen Ärger sparen können. Er war zwar aucherst sechzehn, aber als Begleitung für eine junge Lady reichtdieses Alter völlig aus. Doch leider musste sie Daniel zurück-lassen, genau wie all ihre anderen Freunde.

Der schwarze Mann blieb an einem der Schalter stehen undsetzte Maias Ko�er ab. Mit einem freundlichen Winken verab-schiedete er sich. Maia verbeugte sich kurz und lächelte. DieserMann war wirklich nicht von Stand. Er kannte nicht einmal diekleinsten Regeln der Etikette. Zum Glück hielt Maia nichts vonsolch schnödem Gehabe. Sie spielte schlieÿlich nur die Lady,damit niemand Verdacht schöpfte.

Ein Räuspern war aus dem Schalter zu vernehmen. Er-schrocken zog Maia ihren Ko�er zu dem Fenster des Schal-ters und lächelte den älteren weiÿen Mann hinter der Scheibefreundlich an. Dieser �ng sofort an in der gleichen seltsamenSprache loszubrabbeln, in der schon der Schwarze gesprochenhatte. Maia verstand kein Wort.

�Kann denn hier niemand englisch?�, seufzte sie.Der Mann im Schalter unterbrach seinen Rede�uss und sah

Maia ein wenig entrüstet an.

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�Natürlich können wir hier englisch sprechen. Aber dasmüssen Sie uns schon sagen, wenn sie kein arabisch verste-hen!�, sagte er vorwurfsvoll.

Maia nickte entschuldigend und setzte die niedlichste Mieneauf, die sie konnte.

�Wie dem auch sei�, sagte der Mann, �Dürfte ich nun bitteihre Einreisebescheinigung sehen?�

�Einreisebescheinigung? Davon hat man mir in Tarent nichtsgesagt!�, entschuldigte sich Maia erschrocken. Ho�entlich ver-hieÿ das keinen Ärger!

�Sie waren also auf der DS Margarethe, wertes Fräulein?�Maia nickte.Der Mann musterte sie für eine Weile. Schlieÿlich erbarmte

er sich und kramte ein Formular hervor.�Nun gut, dann füllen wir die Bescheinigung eben hier aus.

Tragen sie bitte hier ihren Namen, das Datum und den Ortihrer Geburt, sowie ihre EAU-ID-Nummer ein. Sie kommenaus Britannien, nehme ich an?�

�Ja, aus She�eld. Ich wurde dort auch geboren. Mein Na-me ist Maia Cockerham und meine ID lautet 02F-19211884-4734720-4137.�, antwortete Maia wahrheitsgemäÿ und scholtsich innerlich dafür ihr Geburtsdatum mit ihrer ID so leicht-fertig herausgegeben zu haben.

Der Mann notierte alle Daten und fragte schlieÿlich nochnach dem Grund und der geschätzten Dauer ihres baldigenAufenthaltes in Alexandria. Maia erklärte ihm, sie möchte ih-rem Onkel einen Besuch abstatten.

In diesem Moment explodierte der groÿe Leuchtturm, aufder linken Seite der Hafenausfahrt.

Erschrocken zog Maia den Kopf zwischen die Schultern undduckte sich so weit dies ihr Kleid zulieÿ. Als sie merkte, dasskeine Gefahr drohte, stand sie wieder auf und strich ihr Kleidglatt.

Die Menschen um sie herum starrten auf den zerstörtenLeuchtturm. Er stand ein wenig schief auf seinem riesigen So-ckel und neigte sich dem Meer entgegen. Sein aufgebrochenesMauerwerk an einer Seite weckte in Maia die Vorstellung einesim heiÿen Wasser geplatzten Würstchens.

Sie verstand nicht wirklich was geschehen war, nur dassdieser seltsame Leuchtturm den Menschen hier anscheinendsehr viel bedeutete. Anscheinend war in dem groÿen Gebäude

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ein Unfall geschehen, welcher diese kleine Katastrophe ausge-löst hatte, denn Maia konnte sich nicht erinnern, dass Ägyptenmit irgendeinem Staat im Krieg stand.

Warum allerdings die gesamte Stadt sich auf den Straÿenversammelte und ihren scheinbar geliebten Leuchtturm anga�-te, verstand sie nicht.

Sie wollte eigentlich nur weg von diesem gefährlichen Ge-bäude. Ho�entlich gab es hier nicht noch weitere Unfälle dieserArt.

Am Straÿenrand sah Maia eine Reihe von Droschken ste-hen - einige sogar ohne Pferde. Eine solche wollte sie gleichausprobieren. Sie zog ihren Ko�er in der einen und ihre kleine-re Tasche in der anderen Hand hinter sich her. Der Droschken-führer gehörte ebenfalls zu diesen erstarrten Menschen, derenLeben nun geendet zu haben schien, da der Leuchtturm kaputtwar. Sollten sie doch einen neuen bauen, wenn sie unbedingteinen brauchten, dachte Maia.

Der Droschkenführer beachtete sie kein bisschen, also ver-suchte sie ihren nicht sehr leichten Ko�er selbst auf den Ge-päckträger zu heben.

Plötzlich kam ein Mann auf sie zu. Er sah nicht unbedingtschlecht aus, aber ein klein wenig ungep�egt wirkte er schon.Sein Haar �og wild über seine Stirn und es war ein leichterBartansatz zu sehen. Ein bisschen Pomade würde diesen Mannin einen wirklich gut aussehenden Gesellen verwandeln.

�Lassen Sie mich Ihnen helfen, junge Dame.�Maia sah den Mann ein wenig verwirrt an. Sie hatte gedacht

er würde einfach vorbeigehen. Warum sprach er sie an? Hielter sie etwa für eine Dirne oder etwas dergleichen? Aber nein.Maia lächelte ein wenig. Er wollte ihr sicherlich nur helfen dieKo�er auf den Gepäckträger zu heben. Es gab wohl auch indiesem Land Gentlemen.

�Oh, vielen Dank. Ich hatte schon befürchtet, dass sichniemand mehr um mich kümmert! Was ist hier eigentlich pas-siert?�, frage sie, interessierte sich allerdings nicht wirklich da-für. Ein Leuchtturm war kaputt. In She�eld passierten solcheUnfälle täglich. Ständig explodierte irgendwo eine Dampfma-schine in einer Fabrik. Kein Grund für Besorgnis, sofern mansich weit genug von der Industrie fernhielt.

�Ich weiÿ es selbst nicht genau. Irgendetwas ist mit demgroÿen Leuchtturm dort passiert�, erklärte der Mann mit ei-

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nem unschuldigen Gesicht.�Nun, mich betri�t's wohl nicht�, sagte Maia und damit

war das Thema für sie abgeschlossen.�Das ist wohl wahr. Dennoch sollten Sie vorsichtig sein.

Hier herrscht gerade Ausnahmezustand, da kann es für einejunge Lady durchaus gefährlich werden.�

Er war ein wahrer Gentleman. Ho�entlich gab es hier inAlexandria noch mehr solcher Männer, dann konnte sie auchdarüber hinwegsehen Daniel in Britannien hatte lassen zu müs-sen.

�Ich weiÿ mir schon zu helfen, aber Danke.�Der Mann verneigte sich und ging dann seiner Wege. Maia

setzte sich in die Droschke hinein und sah den Kutscher einwenig wütend an.

�Können wir bald losfahren?�, rief sie ihm zu. Der ältereMann erschrack bei ihrer Stimme, sah sie an und nickte. Dannstieg er auf den Kutschbock und ergri� ein seltsames Rad ausMetall.

�Sehr gern, junge Lady. Wohin soll es denn gehen?��Zum Museion bitte�, sagte Maia und lehnte sich zurück.Ho�entlich konnte sie Doyle �nden.

Alexandria war gröÿer, als sie zunächst angenommen hatte.Sah Maia aus dem linken Fenster der Droschke, so konnte siedie groÿartigen Paläste der alten Herrscher Alexandrias be-staunen. Auf der rechten Seite konnte sie einen Blick auf diebelebten Straÿen der Stadt werfen. Die Straÿen bestanden indiesem Viertel zwar aus holprigem Kopfsteinp�aster, doch diegigantischen Hauptstraÿen waren aus feinem Kiesel gebaut, diein Mosaiken Bilder aus längst vergangenen Tagen zeigten.

Erstaunt stellte Maia fest, dass die Straÿen noch immervoller Menschen waren. Immerhin standen sie nicht regungslosda, sondern versuchten sich durch die Massen Richtung Hafenzu drängen, um auch einen Blick auf den Leuchtturm werfenzu können.

Was war nur so besonders an diesem Turm? Ja gut, er warhoch und groÿ und sah mit seinen drei Abstufungen und derGötterstatue auf der Spitze wirklich gut aus, doch warum die

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gesamte Bevölkerung der Stadt alles stehen und liegen lieÿ, nurweil das Türmchen kaputt war, das verstand sie nicht. Sollensie ihn doch wieder aufbauen. In Britannien hätte man schonlängst mit dem Bau begonnen!

Doch es war nicht ihr Belang. Andere Kulturen gingen mitsolchen Lapalien wohl anders um, als zivilisierte Menschen.Maia sah wieder aus dem rechten Fenster und genoss den An-blick der groÿen Paläste und Schlösser. Je weiter sie in dieStadt fuhren, desto langsamer kamen sie allerdings voran. DasGedränge auf den Straÿen wurde immer dichter und hin undwieder rief jemand dem Droschkenführer Worte in Arabischoder sonst einer Sprache zu. Maia wurde es ein wenig mulmigzumute.

Schlieÿlich blieb die Droschke stehen. Maia sah vorsichtigzu beiden Seiten aus den Fenstern heraus. Überall waren Men-schen versammelt und diskutierten in allen Sprachen der Welt.

�Endstation, meine Dame.�, rief der Droschkenführer vomBock herab.

�Ist das Museion in der Nähe?�, rief Maia zurück. DieseMenge auf den Straÿen machte ihr Angst. Sie hatte einmaleinen Arbeiteraufstand in der Textilfabrik ihres Vaters miter-lebt und die Erinnerung an die brutalen Prügeleien zwischenSozialisten und Polizei kamen in ihr hoch. Sie wollte nicht zwi-schen die Fronten zweier wütender Mobs geraten.

�Das Museion ist nur die Straÿe hinab, doch leider kannhier der Wagen nicht weiter. Sie müssen auch nichts bezahlen.Ist das in Ordnung?�, antwortete der Droschkenführer.

�Jawohl�, sagte Maia mehr zu sich und ö�nete mutig eineder Türen.

Der Zustand auf den Straÿen war ohne den Schutz derKutsche noch viel schlimmer zu erleben. Menschen standen inGruppen herum und stritten lautstark, einige andere zwäng-ten sich durch die Herumstehenden hindurch, um näher zumHafen zu kommen und wieder andere sammelten sich in Grup-pen und liefen, laute Parolen rufend, in die Stadt hinein. DieDroschke konnte in der Tat nicht weiterfahren, zu viele Men-schen standen um sie herum.

Maia �üchtete schnell zur nächsten Hauswand und wartetedort, bis der Droschkenführer ihren Ko�er vom Gepäckträgergeholt hatte. Noch bevor sie sich bei ihm bedanken konnte,

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schloss er sich einer Gruppe Richtung Stadt an und war ver-schwunden.

Maia hatte nun wirklich Angst. Sie ergri� ihren Ko�er undmachte sich ebenfalls auf denWeg in die Stadt. Dabei versuchtesie den wütenden Menschen auszuweichen, wo sie nur konnte,doch schon nach kurzer Zeit erkannte sie, dass ihr Kleid völligzerknittert sein würde, wenn sie bei ihrem Onkel ankam undsie dagegen rein gar nichts tun könnte.

Dumme arabische Mentalität, dachte sie bei sich, als sievon einer dunkelhäutigen Frau angerempelt wurde, die zu ei-ner gröÿeren Gruppe von schreienden Frauen gehörte. Sie ent-schuldigte sich nicht, sah Maia nicht einmal an.

Es wurde Zeit, dass sie von den groÿen Straÿen verschwand.Hier war sie jedenfalls nicht sehr sicher.

Maia steuerte die nächste Gasse an und stellte erfreut fest,dass sie absolut menschenleer war. Hier könnte sie einen Mo-ment verschnaufen. Erleichtert stellte sie ihren Ko�er auf denBoden und nahm auf ihm Platz. Dann atmete sie einmal tiefdurch. Es roch hier ein wenig streng, doch lieÿ es sich hierbesser aushalten, als auf den Hauptstraÿen. Erstunken warschlieÿlich noch niemand, zerquetscht allerdings schon.

�Na? Auch keine Lust auf brandschatzen und morden?�,fragte plötzlich jemand. Aus den Schatten zwischen den Häu-sern trat ein Junge hervor. Er lächelte bis über beide Ohren,als er Maias erschrockenes Gesicht sah.

�War nur ein Spaÿ.�, erklärte er grinsend, �Man übertreibthier recht gerne. Morgen wird alles wieder völlig normal sein.�

Der Junge kam noch einen Schritt näher. Maia betrachteteihn einen Moment. Er hatte dunkle Haut, nicht schwarz, aberdoch dunkler als sie selbst. Seine braunen, strubbeligen Haaresahen ein wenig ver�lzt aus und hingen ihm vor die Stirn. Maiaschätzte ihn auf höchstens sechzehn, wenn nicht jünger.

�Du redest nicht viel, was?��Und du redest seltsam.�, erwiderte Maia.�Na vielen Dank!�, stieÿ der Junge beleidigt aus und setzte

in einer übertrieben theatralischen Geste einen Schmollmundauf.

�Entschuldige. Ich heiÿe Maia. Maia Cockerham.�, sagtesie und verbeugte sich ein wenig.

Der Junge beugte sich übertrieben weit nach vorne undhatte wieder dieses weite Grinsen im Gesicht.

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�Gestatten? Meine Name ist Enrico. Es freut mich sehrIhre Bekanntschaft zu machen, meine Lady.�

Einen so charmanten jungen Mann mitten in Ägypten zutre�en, hätte Maia nie für möglich gehalten. Dieser Enrico vorihr, wahrscheinlich war er Spanier, daher sein seltsamer Ak-zent, war wirklich ein aufgeweckter Bursche. Und trotz seinerheruntergekommenen Kleidung und den ungep�egten Haarensah er sogar nicht mal schlecht aus, wie Maia zugeben musste.Fast sogar besser als Daniel. Ja der gute Daniel. Was er wohlgerade tat? Maia zuckte mit den Schultern. Es war jetzt nichtvon Belang.

�Es freut mich auch dich kennenzulernen, Enrico. Was machstdu hier?�

Er erhob sich wieder und �ng an auf der Stelle zu hüpfen.�Spaÿ haben, was sonst? Und ein wenig arbeiten. Die Frage

ist wohl eher: Was macht eine so hübsche Lady wie du in soeiner dunklen und überaus gefährlichen Gegend?�

�Ich besuche meinen Onkel. Er sollte gerade im Museionsein. Er arbeitet dort als Wissenschaftler.�, erklärte Maia.

Enrico nickte bloÿ und sprang weiter auf der Stelle.�Sag mal musst du so springen? Das ist ziemlich nervig.�,

fügte sie hinzu.Enrico hörte sofort auf mit dem Hüpfen und verbeugte sich

wieder ein wenig.�Entschuldige, Lady. Das entsprach wohl nicht gerade der

Etikette, nicht war?��Ganz und gar nicht.�, entgegnete Maia.�Nun dann sollte ich mich wohl wieder meiner Arbeit wid-

men.�, sagte Enrico dann und grinste wieder.�So? Was arbeitest du denn?��Ich helfe schönen Ladies, in dem ich ihnen die Last ihrer

Ko�er abnehme.�, meinte er bloÿ.�Na dann fang mal an. Du bekommst auch etwas dafür!�,

sagte Maia sichtlich erleichtert und erhob sich von ihrem Kof-fer. Während sie sich den Staub von ihrem Kleid klopfte undes wieder in seine normale Form zurecht rückte, hob Enricoden Ko�er hoch.

�Schweres Ding. Damit kann man wirklich nur sehr schwerrennen.�, meinte er.

�Du musst ja auch nicht rennen. Laufen reicht völlig�, sagteMaia noch, doch Enrico war schon lachend ans Ende der Straÿe

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gerannt. Dort blieb er noch einmal kurz stehen, winkte ihr zuund verschwand auf der Hauptstraÿe.

�Elender...�, �uchte Maia, ra�te ihre Röcke und ranntedem jungen Gauner hinterher.

Als sie am Ende der Gasse ankam, sah sie den Dieb geradenoch in eine weitere Nebenstraÿe einbiegen. Sofort bahnte siesich den Weg quer über die Hauptstraÿe.

Es konnte doch nicht wahr sein, dass sie schon am erstenTag in diesem Land bestohlen wurde! Und dann auch noch ihrgesamtes Hab und Gut! Maia war wirklich wütend. Wenn siediesen Burschen nicht ein�ng, dann hätte sie nichts mehr, au-ÿer dem Kleid an ihrem Leib. Und so wollte sie ganz bestimmtnicht enden. Es reichte ja schon, dass sie Daniel, ihre Familieund ihr Land verlassen musste, sie wollte nicht auch noch inder Gosse enden.

Wütend stieÿ Maia einen Mann zur Seite und rannte in dieGasse hinein. Von dem Dieb fehlte jede Spur.

Ein Fluch lag Maia auf den Lippen, doch ihre Erziehungund der Rest ihrer Würde hielt ihn zurück. Schnell rannte sieauch ans Ende dieser Gasse, doch es war niemand mehr zusehen. War er vielleicht in eines der Häuser gegangen?

Maia sah sich um und bemerkte eine angelehnte Hintertüreines der Häuser. Vorsichtig schlich sie sich an und horchte objemand in der Nähe war. Dann ö�nete sie die Tür und betratdas fremde Haus.

Jetzt wurde sie auch schon dazu gezwungen in ein Hauseinzubrechen. Na das war ja ein schneller Niedergang ihres Le-bens. Erst wurde sie aus dem Elternhaus geworfen und nuntat sie sich als Einbrecherin gut, um einen Dieb zu stellen. Siehatte ursprünglich nur vorgehabt zu ihrem Onkel Doyle zu ge-hen und ihn zu bitten bei ihm einzuziehen. Nur vorübergehendnatürlich. Bis sich ihr Vater beruhigt hatte. Und nun war siemitten in ein Abenteuer geraten und schlich sich in fremdenHäusern herum!

Ein plötzliches Geräusch riss Maia aus ihren Gedanken. Siebefand sich in einer Küche. Vermutlich waren die Bewohner desHauses nicht besonders reich, denn die Küche verfügte ledig-lich über einen veruÿten Holzherd mit einem Topf und einerPfanne. In Maias Elternhaus hatten sie einen Kohleherd mitDampfdruckkochtöpfen, in denen die Dienstleute die Speisen

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zubereiteten. Nichts deutete darauf hin, dass sich in diesemHaus Dienstleute oder überhaupt irgendwer aufhielt.

Bis auf das knarrende Geräusch eben. Es könnte zu einerTür gehören oder möglicherweise ist jemand eine alte Treppehinaufgestiegen. Maia schlich sich jedenfalls vorsichtig voran,durch den Durchgang der Küche in den Flur. Sie zählte zweiRäume auf dieser Ebene und die vordere Wohnungstür.

Hinter einer der Türen war jemand, da war sich Maia sicherund gerade als sie die Klinke der ersten Tür vorsichtig herun-terdrücken wollte, wurde die Tür aufgerissen und ein Mannstand vor ihr.

�Wer zum Teufel sind Sie und was machen Sie hier?�, riefer erschrocken.

Sofort lieÿ Maia sich auf den Boden fallen, bedeckte ihr Gesichtmit ihren Händen und begann gespielt zu weinen.

�Ich habe mich in dieser verwirrenden Stadt verlaufen!�,stieÿ sie scheinbar heulend hervor und versuchte ein paar Trä-nen hervorzupressen. Ho�entlich gehörte dieser Mann nicht zudiesem Enrico oder würde gar die Polizei rufen.

�Was ist denn los, Ian?�, fragte eine Stimme aus dem Zim-mer.

�Ein junges Mädchen hat sich verlaufen. Es kam wohl durchdie Hintertür hinein.�

Eine Frau erschien in der Tür.�Armes Ding. Na komm schon herein.�, sagte sie fürsorg-

lich und half Maia aufzustehen.�Danke�, sagte sie bloÿ, weil sie nicht wusste was sie sonst

sagen sollte. Sie musste schnell weiter und den Dieb �nden!Aber wahrscheinlich war er ohnehin schon über alle Berge.

�Ich bin Dona McFarlane und dies ist mein Gatte Ian.�,erklärte ihr die Frau und schob sie in das Zimmer hinein. Ianschloss hinter ihnen die Tür ab.

Maia sah sich in dem Zimmer um. Es besaÿ ein relativgroÿes Bett und einen Tisch mit vier Stühlen. Auÿerdem gabes zwei Schränke einen Abstelltisch direkt an der Tür und ander Wand stand ein Kanapee. Genau auf dieses wurde Maianun behutsam gesetzt.

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�Dann erzähle uns einmal was passiert ist, kleines Fräu-lein.�, bat Ian McFarlane freundlich. Dona setzte sich nebenMaia, aber Ian blieb der Hö�ichkeit halber stehen.

Maia wusste nicht wirklich was sie von diesem Menschenhalten sollte, doch sie schienen freundlich und hilfsbereit zusein. Und sie hatten englische Namen und sprachen in einemleicht schottischen Dialekt, fügte Maia in Gedanken hinzu. Ins-gesamt erschienen sie bei weitem vertrauenswürdiger als dieserEnrico und da sie sowieso nichts mehr hatte, dass ihr gestoh-len werden konnte (bis auf ihr Kleid, doch sie plädierte aufden Anstand des Ehepaars) beschloss sie einen Moment beiden Leuten zu bleiben und zu verschnaufen. Der Gauner warmit Sicherheit schon längst entkommen, also brauchte sie sichauch nicht mehr zu beeilen.

�Es �ng alles mit meinem Kinderfreund Daniel Simmonsan. Ich komme aus She�eld und in so einer Stadt voller Indus-trie ist man froh Freunde zu haben. Nun ja ich kannte Danielmein Leben lang und meine Eltern gestatteten mir das Spie-len mit ihm zu jeder Zeit. Aber dann kam es zum Tod meinesGroÿvaters und weil meine Groÿmutter nicht mehr alleine indiesem riesigen Haus, was ihnen gehörte, leben konnte, zog siezu uns. Dies hatte einen riesigen Stress für meine Mutter zurFolge und weil es auch in der Fabrik nicht gut lief, mein Vaterbesitzt eine Textilfabrik in She�eld, war die Spannung in derFamilie deutlich zu merken. Naja und dann kam es schlieÿlichdazu, dass mich mein Vater bei einer scheinbar obszönen Tä-tigkeit mit Daniel au�and. Mein Vater suchte mich und stürztein mein Zimmer herein und wir beide, also Daniel und ich, sa-ÿen auf dem Boden und hielten Händchen und unterhieltenuns. Mein Vater sah das und dann war es aus mit der Freund-schaft fürs Leben. Nur weil ich seine Hand hielt, was ja nichtder Etikette entsprach.�, erzählte Maia.

�Dabei hatte ich schon viel mehr mit Daniel angestellt.�,fügte sie hinzu und hielt sich gleich darauf verlegen den Mundzu. Was mögen die beiden Schotten nun bloÿ von ihr denken?

Doch Dona lächelte nur traurig und bekundete ihr Beileidzu der Geschichte.

�Ian und ich haben uns ähnlich kennengelernt. Wir kanntenuns auch unser ganzes Leben und irgendwann hat es einfachgefunkt!�

�Gefunkt.�, stimmte Ian zu.

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Das Ehepaar sah sich verliebt an und Maia sah zu dass sieihre Geschichte zu Ende erzählte: �Das war ja noch gar nichtalles. Natürlich gab es deswegen zu Hause ein riesiges Thea-ter! Meine Mutter beschimpfte mich als Flittchen und meinVater wollte Daniel verhauen. Ich stritt ein wenig mit ihnenund schlieÿlich wurde ich mit einem Ko�er vor die Tür gesetzt.Meine Groÿmutter hatte vorgeschlagen mich in einen pythago-räischen Tempel zu stecken, damit ich dort Anstand lerne undgenau dies hatten meine Eltern auch vor. Allerdings war ihnender Weg dorthin zu weit, also lieÿen sie mich einfach selbst dorthinlaufen. Ich hatte aber auf so etwas keine Lust, also packteich meine Siebensachen und reiste einmal quer durch Europanach Italien und von dort mit dem Dampfschi� hier her. Allesnur um meinen Onkel zu tre�en, damit er erfährt, dass ich nunbei ihm wohnen werde.�

Dona und Ian sahen sich an und nickten dann.�Wie heiÿt denn dein Onkel? Möglicherweise sind wir ihm

ja schon begegnet und wissen wo er wohnt.�, fragte Dona.�Viele Briten gibt es hier ja nicht.�, fügte Ian hinzu.Maia dachte kurz über das Angebot nach. Wenn sich diese

beiden Leute hier auskannten, warum sollten sie ihr dann nichtauch helfen können zu Doyle zu �nden? Alleine hatte sie sichja nun wirklich genug Ärger eingehandelt.

�Doyle LaForge ist sein Name. Er ist Wissenschaftler imMuseion.�, erklärte Maia.

Wieder sah sich das Ehepaar an.�Das Schicksal hat uns zusammengeführt!�, rief Dona thea-

tralisch aus, �Gerade heute Nachmittag haben wir einen MannNamens LaForge getro�en! Er ist zum Museion gegangen undwollte dort jemanden tre�en. Sollen wir dich zu ihm bringen?�

Maia konnte ihr Glück kaum fassen. Entweder war Doylesehr bekannt hier unten oder sie war tatsächlich auf ein paarder wenigen Leute gestoÿen die ihren Onkel kannten. Oder wardies am Ende womöglich doch nur ein Trick? Maia beschloss,dass sie mit dem Ehepaar zum Museion gehen sollte. Immerhinhatte sie selbst keine Ahnung wie sie dort hinkommen sollteund auÿerdem wurde es drauÿen bereits langsam dunkel.

�Das hört sich gut an. Können sie mich zum Museion brin-gen?�

�Natürlich, gerne.�, sagte Ian McFarlane und nahm seinenMantel vom Haken an der Tür.

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Die Anspannung auf den Straÿen schien sich gelöst zu ha-ben. Zwar waren noch ein paar Gruppen wild diskutierenderMenschen zu sehen, doch man konnte sich ohne Probleme fort-bewegen. Irgendwo fuhr ein motorisierter Dampfwagen vorbeiund zog eine Rauchwolke über den Himmel.

Maia folgte dem schottischen Ehepaar einige Straÿen Rich-tung Süden, dann bogen sie nach Westen ab. Dort war dieSituation eine völlig andere. Auf dem Platz vor dem Musei-on hatten sich riesige Menschenmassen versammelt und riefenParolen an die Tore.

�Wir sollten hier bleiben und abwarten ob sich die Mengeverteilt.�, schlug Dona vor.

�Ja, warten wir lieber ab.�, stimmte Ian zu.Dies war auch eine gute Idee, denn an ein Durchdrängeln

zum Eingang der Universität war nicht zu denken. Zu dichtstanden die Menschen auf dem Platz und die Aggression un-ter den Reihen war deutlich zu spüren. Maia hatte wirklichnicht das Bedürfnis ihr Leben in dieser aufsteigenden Wogeder Revolte zu riskieren.

�Was ist hier los?�, fragte Maia ihre Begleiter. Als Antwortbekam sie ein simultanes Schulterzucken.

Gerade als sich Maia nach einem Platz zum Hinsetzen um-sah - einem trockenen und sauberen natürlich, sie wollte janicht ihr letztes Kleid beschmutzen - ö�nete sich die Tür zumBalkon eines groÿen Hauses direkt links vom Museion. Eingroÿer Mann mit weiÿem, gestutztem Bart trat heraus. Er trugeinen Zylinder und einen schwarzen Mantel mit Gehstock undwirkte überaus elegant, wie Maia feststellte. Er ge�el ihr, nurwar er leider viel zu alt. Zusammen mit dem Mann traten nochzwei weitere Männer auf den Balkon. Sie sahen nicht minderelegant aus, doch wirkten sie neben dem Mann mit Zylinderfehl am Platze. Sicherlich waren alle drei wichtige Männer,doch der Mann der nun vorne an das Geländer des Balkonstrat strömte eine ungeheure Aura von Macht aus. Es war Al-laine Dyson.

Sofort begann das Volk auf dem Museion-Platz zu verstum-men. Sie alle waren hier um zu hören was der Präsident derEurafrikanischen Union mitzuteilen hatte.

�Meine Damen und Herren, Bürger Alexandrias.�, begannDyson, �Wir alle sind zu tiefst betro�en über die Katastrophedie unserer Aller Heimat getro�en hat. Der Leuchtturm von

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Pharos war ein Symbol für die Macht des griechischen unddes ägyptischen Reiches, aber auch ein Symbol für Wissen-schaft und Fortschritt. Die Eurafrikanische Union hatte sich,in Bezug auf die alten Traditionen, berufen gefühlt die P�egedes gröÿten Leuchtturms der bekannten Welt zu übernehmen.Umso betro�ener sind wir nun über diesen Vorfall, der einenbeträchtlichen Schaden am Wahrzeichen des AlexandrinischenOsthafens verursachte. Bisher können wir nicht sagen wie die-ser Unfall geschehen konnte, doch wissen wir dass die Beschä-digung des Leuchtturms eine Folge der beinahe vollständigenZerstörung des Planetophons war, eben jenem unterirdischenGebilde, welches die Wissenschaft, wie auch die Kirche seitJahrhunderten in Erstaunen versetzte. Dieser Vorfall, und somöchte ich ihn lieber nennen, ist also ein schwerer Schlag so-wohl für Wissenschaft, wie auch Kirche und vor allem für dasVolk Alexandrias.�

Er legte eine kurze Pause ein.�Nun fragt man sich natürlich wie es zu dieser Katastro-

phe kommen konnte. Leider können wir darüber noch nichtsehr viel sagen, doch hat sich die oberste Leiterin der Wachedes Hauses der Verehrung persönlich für die Ermittlungen indiesem Fall zur Verfügung gestellt. Sie arbeitet eng mit derstaatlichen Polizei zusammen um möglichst schnell das Rät-sel aufzulösen. Wir haben uns zu dieser Zusammenarbeit ent-schlossen, da wir einen Sabotage-Akt vermuten.�

Dies versetzte die Menschenmassen in Aufregung.�Gestern Mittag gab es einen Attentatsversuch auf mein

Leben, der den Tod meines besten Doppelgängers zur Folgehatte. Genau einen Tag später geschieht der Vorfall, der dieZerstörung des Planetophons, wie auch des Leuchtturms vonPharos zur Folge hatte. Bena Thaki und die staatliche Poli-zei ermitteln nun wie diese beiden Folgen zusammenhängen.Sobald es Fortschritte gibt, wird man sie darüber in Kenntnissetzen. Bis dahin bitte ich sie alle ruhig zu bleiben. Wir werdengemeinsam den Verantwortlichen für diese Katastrophe �nden.Ich danke Ihnen.�

Während Dyson und die beiden anderen Männer vom Bal-kon des Hauses der Verehrung verschwanden, begann das Ge-rede unter den Menschen wieder. In zahlreichen Gruppen ver-lieÿen wild diskutierende Menschen den Platz. Maia schnapp-te einige Fetzen der hitzigen Gespräche auf, doch verstand sie

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nicht wirklich warum sich die Menschen noch immer aufregten.Der Präsident hatte ihnen doch alles erklärt.

�Ich bin noch immer der Meinung, dass es die Schuld derWissenschaftler ist. Wir hätten diese Irren niemals in unserLand lassen dürfen!�, rief ein aufgebrachter junger Mann sei-nen Begleitern zu, als er an Maia und den McFarlanes vorbei-lief.

Maia sah der Gruppe noch kurz hinterher, dann verabschie-dete sie sich von den beiden Schotten.

�Ich danke Ihnen sehr für ihre Begleitung. Von hier an �ndeich mich alleine zurecht.�

Ian verneigte sich kurz und Dona lächelte freundlich alssie sagte: �Gerne, Maia. Besuche uns doch einmal wieder. Wirsollten noch etwa zwei Wochen in Alexandria bleiben. Du weiÿtja wo du unsere Pension �ndest, ja?�

Maia nickte, obwohl sie es nicht wusste, winkte kurz undwandte sich dann dem Museion zu. Ho�entlich fand sie ihrenOnkel schnell und konnte diese wahnsinnig gewordene Stadtvergessen. Sie brauchte wirklich eine Pause.

Die Eingangshalle des Museions war weiträumig und in präch-tigen Farben verziert. Eine Reihe von Säulen hielt die hohe De-cke und über eine breite Treppe konnte man die oberen Stock-werke erklimmen. Auf der rechten Seite des Eingangs befandsich ein Informationsschalter. Maia beschloss dort nach Doylezu fragen.

Die Halle war so gut wie leer. Nur wenige Studenten hattensich zu dieser Tageszeit noch nicht auf den Weg nach Hausebegeben.

Hinter dem Schalter saÿ eine gelangweilte junge Frau, wahr-scheinlich ebenfalls Studentin, die nur darauf ho�te ihre Schichtbeenden zu können.

�Guten Tag�, grüÿte Maia hö�ich, �Mein Name ist MaiaCockerham und ich bin auf der Suche nach Professor DoyleLaForge.�

Die Frau versteckte etwas unter dem Tisch des Schaltersund musterte Maia kurz.

�Studentin?�, fragte sie einsilbig.

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�Nichte.�, antwortete Maia genauso einsilbig, woraufhindie Frau die Augen verdrehte.

�Er sollte sich gerade im Konferenzraum aufhalten. RaumC305. Am besten gehst du diese Treppe dort zwei Stockwerkenach oben, drehst dich um hundertachzig Grad und gehst inden Raum direkt auf der anderen Seite der Gallerie.�

Maia dankte der Studentin, welche sich wieder ihrer Zei-tung widmete, die sie unter dem Tisch des Schalters hervorzog,und stieg die Treppe hinauf.

Es war nicht schwer den Raum C305 zu �nden, denn es warder einzige auf dieser Ebene. Schüchtern klopfte Maia an diemassive Holztür des Konferenzraums, doch war das entstehen-de Geräusch zu leise, um die Aufmerksamkeit der debattieren-den Personen auf der anderen Seite auf sich zu lenken.

Um sich nicht die Knöchel wund zu schlagen, bediente siesich des metallenen Türklopfers, der in der Mitte der hohenTür angebracht war. Dies zeigte mehr Wirkung, als das Klop-fen zuvor, denn die Stimmen, die durch die Tür zu hören waren,verstummten und Schritte näherten sich. Dann wurde die Türvon einer jungen Frau geö�net, die Maia zunächst gar nichtfür weiblich befunden hätte.

Sie trug ein Herrenhemd, sowie eine Hose und trug einenunfrisierten, kurzen Haarschnitt. Ihre Gesichtszüge waren esaber die Maia ihre anfängliche Annahme einen Knaben vorsich zu haben überdenken lieÿ. Erinnerungen an ein Gemäldeder Göttin Artemis des französischen Impressionisten Pierre-Auguste Renoir, welches im Haus ihres Groÿvaters im Salonhing, kamen in ihr auf.

�Kann ich etwas für dich tun?�, fragte die Frau, was Maiazurück in die Wirklichkeit holte.

�Ja, bitte. Ich suche meinen Onkel. Mir wurde gesagt erbe�ndet sich in diesem Raum�, erklärte Maia und versuchte ander Frau vorbei in den verrauchten Konferenzraum zu spähen.

�Wie ist denn dein Name?�, fragte die Frau geduldig, ver-sperrte aber Maia die Sicht.

�Maia Cockerham. Mein Onkel heiÿt Doyle LaForge. Kannich ihn sehen?�

Die junge Frau warf einen Blick über die Schulter und batDoyle zur Tür zu kommen.

Nach einem kurzen Augenblick stand Maia endlich wiedervor ihrem Onkel. Er hatte sich kaum verändert, nicht mal sein

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Klamottenstil hat sich der neuen Mode angepasst. Seine Haaretrug er noch immer im Seitenscheitel, aber er hatte sich einenkleinen Kinnbart wachsen lassen.

Verdutzt sah er das junge Mädchen vor sich an.�Maia? Was machst du denn hier?�Mit einem Seitenblick auf die junge Frau, die noch immer

in der Tür stand, sagte Maia: �Verschieben wir das lieber aufspäter, wenn wir an einem ruhigeren Ort sind. Wann bist duhier fertig?�

Doyle warf der jungen Frau einen fragenden Blick zu, dochdiese zuckte nur mit den Schultern.

�Ich weiÿ nicht genau, aber vielleicht kannst du der Kon-ferenz ja beiwohnen.�

Noch bevor Doyle um die Erlaubnis dafür bitten konnte,ertönte schon die Stimme Präsident Dysons aus dem Raum:�Nun lass sie doch nicht dort drauÿen herumstehen. Bitte sieherein!�

�Ich ho�e dir macht der Rauch der Zigaretten nichts aus�,bemerkte Doyle und trat aus der Tür, damit Maia den Raumbetreten konnte.

�Ich heiÿe übrigens Bena Thaki�, stellte sich die junge Fraulächelnd vor. Maia nickte ihr freundlich zu und machte einenSchritt in den Raum hinein. Der bläuliche Qualm von Zigaret-ten lag in der Luft, doch das störte Maia nicht. Ihr Vater warleidenschaftlicher Zigarettenraucher, denn sein Arzt versprachihm davon eine heilende Wirkung für fast alle Gebrechen, undauch Maia hatte einmal an einem noch glimmenden Stummelihres Vaters gezogen. Nach einem heftigen Hustenanfall schworsie sich nie wieder Tabak zu konsumieren, zumal davon dieZähne eine gelbe Färbung erlitten.

Neben dem Rauch befanden sich noch drei weitere Männerim Raum, die den Rauch produzierten, sowie zwei weitere, dieohne Tabak auskamen. Maia erkannte den Präsidenten sofortwieder, denn sein Schapoklak-Zylinder lag zusammengeklapptvor ihm auf dem Tisch. Zu seiner linken Seite saÿ ein weitererMann, den Maia vom Balkon wiedererkannte. Er stellte sichals Abu Firuz, Leiter des Museions vor. Links neben ihm saÿein Mann namens Mikkel Yadner. Doyle nahm gegenüber vonYadner Platz und stellte Maia der Runde vor. Ein Araber na-mens Bomani Al-Hazif verbeugte sich tief und grüÿte sie aufarabisch. Maia wusste nicht, was sie darauf antworten sollte,

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also schwieg sie. Lady Thaki hatte in der Zwischenzeit einenStuhl für Maia an den Tisch gestellt und selbst neben Al-Hazifund gegenüber Dyson Platz genommen. Maia setzte sich andie Tischkante neben Lady Thaki und stellte schüchtern fest,dass Präsident Dyson sie o�en musterte.

�Was für eine schöne junge Dame.�, stellte er schmunzelndfest, �Wenn ihre Mutter nur halb so schön ist wie Sie, mei-ne Lady, dann sind alle guten Gene an ihrem Onkel verlorengegangen.�

Al-Hazif lachte laut auf und auch Doyle lächelte. Maia kamsich ein wenig seltsam vor unter den Männern, doch da LadyThaki auch anwesend war, brauchte sie nichts zu befürchten.

�Vielen Dank. Es ist mir eine Ehre, Sie...�, setzte Maia an,wurde aber von Dyson unterbrochen.

�Lassen wir doch solche Floskeln. Ich bitte darum, dasswir uns duzen.�, erklärte er. �Alle an diesem Tisch�, fügte erhinzu.

Maia nickte. Sie hatte schon davon gehört, dass der Präsi-dent nichts von Etikette hielt.

�Nun gut. Dann sollten wir die Debatte weiterführen.�,beschloss der Präsident.

Zu Maias Erstaunen ergri� Lady Thaki das Wort.�Zurück zu meinem Kommentar über deine Rede, Allaine.

Mit der vermutlichen Verbindung zwischen dem Attentat undder Sabotage hast du dich aber ein wenig zu weit aus demFenster gelehnt! Die Leute könnten sich darauf versteifen, wasin Anbetracht der Tatsache, dass wir überhaupt keine Ahnunghaben, ziemlich gefährlich sein kann. Wir wissen lediglich, dassder Attentäter männlich ist, wobei nicht einmal das wirklichsicher ist. Die Wachen des Hauses konnten nicht viel von ihmsehen, bevor er von der Brüstung in den Fluss sprang. Undwas die Sabotage angeht: Bisher wissen wir nicht einmal obes wirklich Sabotage war! Es könnte auch ein simpler Unfallgewesen sein, immerhin ist diese Maschine sehr sehr alt.�

�Mit Sicherheit älter als tausendfünfhundert Jahre.�, warfAl-Hazif ein.

Lady Thaki nickte ihm zu, sprach allerdings nicht weiter.Alle warteten auf Dysons Reaktion. Maia saÿ auf ihrem Stuhlund kam sich absolut fehl am Platz vor. Diese Menschen warenalle Experten und was hatte sie schon vorzuweisen? Sie war dieZuschauerin, die kaum etwas von den politischen, wissenschaft-

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lichen und religiösen Bedeutungen dieses Zwischenfalls heuteversteht.

�Ich verstehe deine Vorsicht, Bena. Aber ich bin mir ziem-lich sicher, dass es sich um ein und die selbe Person handelt.Und ich bin mir sicher, dass es Sabotage ist.�, erklärte Dysonund wandte sich an Bomani und Doyle.

�Was sagt ihr dazu?�Doyle sah ein wenig erschrocken aus, doch Maia war sich

nicht sicher ob dies nun daran lag, dass er angesprochen wurde,oder dass der Präsident der EAU ihn duzte.

Bomani Al-Hazif ergri� zu erst das Wort: �Ich stimme ineiner Hinsicht zu: Die Wahrscheinlichkeiten für Sabotage liegensehr hoch. Diese Anlage unter der Insel Pharos war in der Tatsehr alt, doch sie war auch vollkommen gewartet und gep�egt,auch wenn sie Jahrhunderte lang in Vergessenheit geraten war.Doch trotz allem ist diese Maschine pausenlos gelaufen, ange-trieben durch eine Dampfmaschine, versteckt im Leuchturmselbst. Durch überaus komplizierte und sehr geschickt einge-setzten Rohrleitungen und Boilern, die ich hier nicht unbedingtnäher erläutern muss, ist es den alten Griechen gelungen denDampfdruck den ganzen Turm nach unten, bis in diese künstli-che kugelförmige Höhle zweihundert Meter tief unter dem Mee-resspiegel, mitten im Gestein, hinabzuleiten und für den An-trieb des Planetariums zu verwenden. Ursprünglich gab es auchnoch einen Mechanismus, um durch entweichenden Dampf ei-ne Melodie ertönen zu lassen, die den Sphärenharmonien vonPythagoras entsprachen, doch ist dieser bei der Entdeckungdes Planetophons beschädigt worden. Alles andere an dieserMaschine ist allerdings noch in einwandfreiem Zustand - dochfragt mich keiner, wie man das all die Jahre in Stand haltenkonnte.�

�Ich habe eine Befürchtung.�, sagte Doyle plötzlich. DieAnwesenden am Tisch sahen ihn neugierig an. Al-Hazif wirkteein wenig gekränkt über die Unterbrechung.

�Ich habe eine böse Befürchtung�, wiederholte Doyle, at-mete tief durch und legte dann seine Befürchtungen dar: �Ichglaube mein Bruder Ruben ist der Täter. Er war gestern nachder Vorlesung und vor der Konferenz bei mir gewesen und woll-te sich mit mir unterhalten. Bomani war ebenfalls da, er kannes bezeugen. Ruben machte mir Vorwürfe wegen meiner For-schungen und befragte mich zu Bomanis Di�erenztechnik und

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meiner Äthertheorie. Ich sagte ihm natürlich nichts. Meine Ver-mutungen, er wäre ein Spion der Pythagoreischen Kirche be-stätigten sich, als er heute Mittag in Brian's Good Idea nachmir suchte. Wir unterhielten uns einen Moment über unse-re Familie, bis er wieder auf die Di�erenztechnik zu sprechenkam. Er verlangte Zugang zum Planetophon, doch ich verwei-gerte ihm dies. Er ist wütend gegangen und wenige Stundenspäter kam es zur Explosion. Ich befürchte er hat sich über dieKatakomben Zugang verscha�t.�

Dyson dachte einen Moment nach.�Sagte er wo er in Alexandria untergekommen ist?�Doyle nickte: �Ja, er wohnt im Hotel Zum Mönch. Vielleicht

sollten wir dort nach ihm suchen?��Das erledigen Bena und ihr Team.�, erklärte Dyson und

nickte der jungen Frau zu. Diese erhob sich und machte Anstal-ten aus dem Raum zu gehen, drehte sich jedoch noch einmalum.

�Kannst du mir eine Beschreibung deines Bruders geben?�,fragte sie Doyle.

�Er hat dunkelblondes Haar, ein wenig ungep�egt, wie esmir schien. Braune Augen, wie auch ich sie habe und einenleichten Ansatz von Bartwuchs. Er trug einen schlichten brau-nen Anzug. Mehr fällt mir nun gerade nicht ein.�, zählte Doylenach kurzen Nachdenken auf.

Maia wurde blass. Konnte es sein..?�Was ist mit dir, Maia?�, fragte Doyle.�Ich glaube ich habe ihn gesehen, kurz nach dem Unfall mit

dem Leuchtturm. Er half mir meine Ko�er auf eine Droschkezu packen und ging dann zum Hafen hinein. Ich wusste nicht,dass er mein Onkel war und ich glaube er hatte auch michnicht erkannt. Doch... ja ich glaube er war es wirklich!�, sagtesie aufgeregt.

Doyle war ein wenig verwirrt, hatte er doch eigentlich nurfragen wollen ob es ihr gut ginge. Doch dann fasste er sichwieder.

�Also hat er das Land bereits verlassen. Wir sollten den-noch sein Hotelzimmer überprüfen, denn er wird kaum die Zeitgehabt haben seine Sachen zu packen. Apropos, wo sind deineKo�er Maia?�

�Sie wurden mir gestohlen...�, gestand sie schüchtern.

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�Auch darum kümmern wir uns.�, versprach Lady Thakiund verlieÿ schlieÿlich den Raum.

�Und du kommst erst einmal mit zu mir nach Hause underklärst mir was überhaupt passiert ist und warum du michbesuchen kommst.�, sagte Doyle und stand ebenfalls auf.

�Dann wäre die Konferenz hiermit beendet.�, erklärte derPräsident und die Mitglieder des Inneren Zirkels der Wissen-schaftler der Eurafrikanischen Union verlieÿen schweigend denRaum.

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Geschichtlicher Überblick

Wann Pythagoras starb ist nicht überliefert. Geht man nach denBriefen, die sich einige berühmte Pythagoreer gegenseitig zusand-ten, so starb Pythagoras nie wirklich, sondern wurde in Form ande-rer groÿer Pythagoreer reinkarniert, um die Pythagoreer weiterhinanzuführen.

Unter seinen Schülern galt Pythagoras als bedeutender An-führer und Heiliger, doch die Quellen der Antike beweisen, dassnicht jedermann mit der Gesellschaft, die der Mann aus Samosgegründet hatte, einverstanden war. Dies hatte weniger religiöse,als politische Gründe.

Zunächst begann es mit der Rekrutierung der Novizen undSchüler, zu denen nicht nur die Bevölkerung der Stadt Kroton ge-hörte, sondern bald auch Berühmtheiten, wie den Athleten Milon,welcher mehr als sechs mal in Olympia gewann. Milon vermähl-te sich mit einer der Töchter Pythagoras' und stellte sein Hausals ersten groÿen Tempel zur Verfügung. Doch nicht nur Athle-ten, sondern auch Ärzte und Philosophen stellten sich bald aufPythagoras' Seite und weiteten seinen politischen Ein�uss in Kro-ton und Umgebung aus, wie Hippasos, Demokedes und Alkmaion,alles angesehene Vertreter der Gesellschaft. Schlieÿlich engagier-te sich auch Pythagoras' Frau Theano am Scha�en ihres Gattenund konnte viele Frauen dazu bewegen, sich der Glaubensschuleanzuschlieÿen.

Viele Jahre vergangen, doch schlieÿlich konnte Pythagoras sei-nen Ein�uss auf die gesamte Region um Kroton ausweiten. DieStadt selbst war in gewisser Hinsicht kamp�os an ihn gefallen,auch wenn dies bloÿ heiÿt, dass kein Blut vergossen wurde. Po-litisch hatten sich die Bürger Krotons doch eine ganze Zeit langzu wehren gewusst, doch der Ein�uss der Pythagoreer wurde zu-nehmend stärker, bis sie sich schlieÿlich dem Unausweichlichen

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stellten.Nachdem sich die politische Lage in Kroton stabilisiert hatte,

zog Pythagoras nach Metapont an der Basilikata um und ver-brachte dort vielen Quellen nach auch seinen Lebensabend. Diesmuss etwa um 510 v. Chr. gewesen sein, denn ein paar Wochenspäter brach der Krieg zwischen Kroton und Sybaris aus. DerStadt in der Nähe von Tarent waren die Pythagoreer längst einDorn im Auge gewesen und nach dem Tod Pythagoras' wolltensie die nun kop�ose Gesellschaft auf einen Streich erledigen. Dochhatten die Herrscher Sybaris' die Pythagoreer unterschätzt: Auchohne festen Anführer wussten sie sich zu wehren und gewannenschlieÿlich den Krieg. Milon war selbst Heerführer der Pythagore-er gewesen und den Legenden nach war er es, der den feindlichenHeerführer eigenhändig erschlug und somit den Sieg für den Glau-ben gewann.

Für beinahe hundert Jahre konnten die Pythagoreer die Herr-schaft über viele süditalienische Territorien erlangen, doch etwaum 450 v.Chr. brachen die groÿen antipythagoreeischen Unruhenaus. Aufgestachelt durch einige Herrscher benachbarter Stadt-staaten begann eine Vetreibungswelle, wie sie die Welt erst wie-der mit der Christenverfolgung zu sehen bekam. Viele Pythagoreer�üchteten nach Griechenland, doch die meisten blieben in Kro-ton. Als man schlieÿlich Milons Haus umpferchte und mitsamtaller Bewohner darin niederbrannte, war das Ende der Pythago-reer in Italien gekommen. Den Quellen nach überlebten nur dreiPersonen den Brand: Ein Mann namens Lysis, welcher Jahre spä-ter den entscheidenden Grundstein des Neu-Pythagoreismus legte,Philolaos, welcher ein guter Freund Platons wurde und Archipposvon Tarent, der in seine Heimatstadt zurückkehrte und dort nochlange Zeit die Tempel der Pythagoreer am Leben erhalten konnte.

Schüler der drei Männer waren es, die später als Neu-Pythagoreerversuchten die alte Glaubensschule wiederzuerwecken.

Männer, wie Epaminondas, der wohl gröÿte Feldherr Thebens,wie auch Platon gehörten zu den wohl bekanntesten Schülern undFreunden der letzten der alten Pythagoreer. Platon widmete Lysissogar einen seiner philosophischen Dialoge, in dem er versuchteden pythagoreischen Bund der Freundschaft zu erklären. Zwarwaren zu dieser Zeit noch immer nicht alle Geheimnisse der Glau-bensschule gelöst, doch gaben sich die verbliebenen Pythagoreernicht mehr die Mühe diese zu hüten. Lysis selbst verfasste einigeBriefe, in denen er die Methoden und Strukturen, sowie das Welt-

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bild der Pythagoreer zu erklären versuchte. Der wohl berühmtesteist der �ktive Dialog zwischen Pythagoras und dem Tyrannen Hie-ron, in welchem er Kritik an der verschwenderischen Lebensweisedes Herrschers nimmt, nachdem dieser ihn als Berater an seinemHof einstellen wollte.

Der Satz Rufe also nicht Pythagoras, damit er bei dir lebt.Denn auch die Ärzte wünschen nicht mit ihren Patienten krankzu sein. zeugt von der Selbstsicherheit der Pythagoreer und auchdavon, dass Lysis die Glaubensschule noch längst nicht aufgege-ben hatte.

Doch Lysis schrieb auch einen Brief an einen anderen verblie-nenen Pythagoreer Namens Hipparchos. Hipparchos hatte sichnach der Zerstörung des Tempels in Kroton an der sizilianischenKüste niedergelassen und seine pythagoreische Vergangenheit hin-ter sich gelassen. Lysis schrieb ihm einen Brief, um ihn an seineP�ichten als Pythagoreer und vor allem an Pythagoras selbst zuerinnern. Hipparchos war zu einem Trunkenbold geworden, der imSu� alle Geheimnisse der Pythagoreer herausposaunte. Er erzähl-te von den Goldenen Versen, die Damo, eine Tochter Pythagoras'seit Jahren aufbewahrte und nicht verkaufen wollte, obwohl ihrviel Geld angeboten worden war. Damo wurde in der Zeit dar-auf immer wieder von Interessenten geplagt, doch sie verweiger-te allen Auÿenstehenden den Einblick in die Werke ihres Vaters.Schlieÿlich zog sie mit ihrem Mann nach Griechenland. Lysis hieltHipparchos genau diese Sache vor: Er hatte einen Eid als Pytha-goreer geleistet und nur weil ihr Anführer nicht mehr lebte, hieÿdies nicht, dass er ungültig war.

Wenn du also Reue zeigst, werde ich mich freuen, wenn abernicht, bist du für mich tot. waren die letzten Worte auf LysisBrief an Hipparchos. Es ist nicht überliefert, was aus dem Mannaus Sizilien wurde, auch nicht was aus der Tochter Pythagorasgeworden ist. Vermutlich gab sie ihren Kindern ebenfalls den Auf-trag die Goldenen Verse ihres Vaters zu hüten, doch müssen dieseauf irgendeinem Weg nach Alexandria gekommen sein. Die Fragewar nur: Hatte eines der Enkelkinder Pythagoras' seinen Schwurdie Goldenen Verse zu hüten gebrochen, oder ist gar etwas pas-siert, was keiner der verbliebenen Pythagoreer jemals hätte ahnenkönnen?

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Wenn das Schicksal dich tri�t,ertrage es und sei nicht unwillig.

Pythagoras von Samos

Intermezzo ε

Sparta, 26.11.464 v. Chr., 19:26 Uhr

Bistala trat vor die Tür. Es war ein kühler Abend und sie rolltegerade das Regenfass ins Haus, damit es in der Kälte der Nachtnicht gefriert, als ein Mann in den Hof trat. Er war von groÿerGestalt und trug eine dunkle Tunika, die ihn im Dämmerlichtder Talkkerze beinahe unsichtbar werden lieÿ.

Ihr Gatte Aneas trat an ihr vorbei aus der Tür und begrüÿ-te den Fremden.

�Gesegnet seien die Götter. Was führt euch in diese Ge-gend, fremder Mann?�, fragte er hö�ich, wie es den Sitten ent-sprach.

Der Fremde hob seine Hand zum Gruÿ und antwortete:�Gesegnet seien die Hausgötter. Mögen sie euren Ofen warmund die Ziegel dicht halten. Mein Name ist Ostanes und ichkomme den weiten Weg aus dem Süden in diese prächtigeStadt, um zu lernen. Man versprach mir hier eine Hochkul-tur der Philosophie und Wissenschaft anzutre�en, doch bisherfand ich nur schwergerüstete Krieger und Opfertische, von de-nen das Blut tropfte vor. Sagt mir, dürfte ich eine Nacht inihrem trauten Heim verbringen, damit ich des Morgens weitergen Norden ziehen kann?�

Aneas verneigte sich vor dem Mann aus dem Süden, demAkzent nach ein Perser oder Ägypter, möglicherweise aberauch Babylonier. Nachdem sie zusammen das schwere Regen-fass ins Haus gerollte hatten, baten Aneas und Bistala denFremden gastfreundlich ins Haus und stellten sich vor. Bistalamachte sich sofort daran aus Fellen und Tüchern einen Schlaf-

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platz für den Gast herzurichten. Aneas bot Ostanes einen Sitz-platz an ihrem groÿen Tisch an. Ein Getränk lehnte er dankendab und nahm einen Schluck aus einem Gefäÿ, welches er an sei-nem Gürtel hängen hatte.

Aneas wollte den Fremden gerade in ein Gespräch verwi-ckeln, als sein Sohn in der Wiege zu schreien begann. Sofortmachte sich Bistala daran das Kind zu beruhigen, doch derjunge Pythagoras wollte nicht still sein. Da die Amme heutebei ihrer eigenen Familie war, musste Bistala ihr Kind selbststillen. Doch das Beisein des Fremden war ihr unangenehm,weshalb sie noch zögerte ihre Tunika zu ö�nen und dem schrei-enden Kleinkind die Brust zu geben.

Sie warf ihrem Gatten einen �ehenden Blick zu und dieserlenkte Ostanes mit einem Gespräch ab, während Bistala sichso weit entkleidete, dass sie Pythagoras stillen konnte.

�Ihr kommt aus dem Süden? Darf ich fragen woher?�, lenk-te Aneas das Gespräch ein.

Ostanes lächelte weise.�Natürlich dürft ihr fragen. Doch ich befürchte ihr habt

von diesen Orten noch nichts gehört.��Seid ihr aus Babylon? Aus Theben seid ihr nicht, aber

vielleicht aus Tyros?�, riet Aneas.�Nein, von weiter her komme ich. Allerdings habe ich die

besagten Städte schon besucht. Zuletzt war ich in Alexandriaund betrachtete den Bau des gröÿten Seehafens der bekanntenWelt.�

�Ein Seehafen, der bald dem attischen Seebund angehö-ren wird!�, entrüstete sich Aneas. Der attische Seebund, unterder Herrschaft Athens, war schon längst zum Dorn im AugeSpartas geworden. Athen hatte schon viele Verträge nach Spar-ta geschickt, doch diese wurden ausnahmslos zerrissen. Spar-ta würde nicht Untertan einer anderen Polis werden, solangesie Krieger hätte, die ihre Stadt verteidigten. Athen allerdingswurde zunehmend überheblicher, ja beinahe gröÿenwahnsin-nig. Polis über Polis zwangen sie in ihren Bund, der doch nichtviel mehr als ein Knebelvertrag war. Durch ihre groÿe Flot-te konnten sie die Inselstaaten dazu zwingen ihre Abgaben zuleisten, wofür sie Schutz versprochen bekamen. Doch wie esmit diesem Schutz wirklich aussehen würde, konnte bisher nie-mand wissen, denn seit Jahren war es zu keinem Krieg mehrgekommen. Doch Aneas war sich sicher, dass es bald zum Krieg

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kommen wird, wenn Athen weiterhin Verträge an Städte in derUmgebung Spartas schickte.

�Ich verstehe nicht viel von den politischen Gegebenheitender Region.�, entschuldigte sich Ostanes.

Bistala war noch immer damit beschäftigt ihr Kind zu stil-len, doch es wies ihre Brust hab. Sie war mit dem unausge-sprochenen Wunsch des Kindes überfordert. Wäre doch bloÿdie Amme da, sie wüsste was zu tun wäre!

Ostanes warf einen Blick zu Mutter und Kind und wandtesich dann dem nun schweigenden Aneas zu.

�Ich komme aus Persien, vom Hof des Xerxes. Ich bin je-doch nicht in diplomatischer Mission unterwegs, sondern umzu lernen. Mein Meister brachte mir alles bei, was er zu lehrenwusste und schickte mich abschlieÿend auf eine Reise durchdie Welt, damit ich die restlichen Geheimnisse über das Gefü-ge der Welt erlerne.�, sagte er und nahm wieder einen Schluckaus seiner Flasche.

�Seid ihr eine Art Magier?�, fragte Aneas erschrocken. Erhatte von diesem Männern gehört: Geheimnisvolle Fremde, dieauftauchten und die Menschen verzauberten. Ihnen war nichtzu trauen.

Auch Bistala sah nun auf. Schnell legte sie ihren Arm zu-rück in die Tunika und bedeckte ihren Busen. Das Kind hieltsie dabei weiterhin im Arm, es schrie noch immer.

�Ich bin ein Gelehrter. Ob ich die Magie zu nutzen weiÿ,bin ich mir nicht sicher. Ich verstehe mich jedoch darin mitWerkzeugen, wie Sichel, Mörser und Kochtopf umzugehen. Ichvermute auch eure Frau wird damit umzugehen wissen und sieist selbst auch keine Magierin, nicht wahr?�, sprach Ostanesberuhigend.

�Wie soll ich euch glauben? Was führt ihr im Schilde?�,fragte Aneas forschend. Seine Blicke wanderten zwischen Bis-tala, Ostanes und seinem Speer in der Nähe der Tür hin undher.

�Im Schilde führe ich nichts, ich suche lediglich nach einemOrt zu Schlafen und jeglichem Wissen über die Welt. Ich fügeniemandem etwas zu, höchstens Gutes.�, erklärte er, �Lasstmich euch einen Beweis liefern.�

Er ö�nete den Knoten an seinem Gürtel und zog die Schlau-fe der Flasche herab. Dann stellte er das Gefäÿ in die Mittedes Tisches und bat Aneas einen Schluck zu trinken.

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Aneas nahm die Flasche und roch skeptisch an dem Ge-tränk.

�Was ist dies für ein Gift?�, fragte er.�Kein Gift. In meiner Heimat nennen wir dieses Gebräu El

Iksir, oder Blut des roten Löwen. Es gehört zu jenen Geheim-nissen, die mir mein Meister beibrachte, bevor er mich zumAdepten erklärte und in die Welt hinaus schickte. Es heilt Ge-brechen und verlängert das Leben. Ich selbst trinke täglich einwenig davon, damit mir mehr Zeit gewährt bleibt die Geheim-nisse der Welt zu entschlüsseln.�, erklärte Ostanes.

Aneas nahm mutig einen kleinen Schluck aus der Flasche.�Es schmeckt nach abgestandenem Rotwein.�, bemerkte er

enttäuscht.Ostanes lächelte.�Dies ist auch ein wesentlicher Bestandteil, doch die ande-

ren Zutaten bleiben mein Geheimnis. Ich schlage vor ihr gebtdem Jungen ebenfalls einen Schluck, es wird seine Pein lin-dern�

�Welche Pein?�, fragte Bistala erschrocken. Sie traute demMann aus dem Süden noch immer nicht.

�Er zahnt, bemerkt ihr das denn nicht?�, sagte Ostanesmit gehobenen Augenbrauen.

Bistala sah Pythagoras verwirrt in den geö�neten Mund.Tatsächlich konnte sie leichte Verfärbungen des Zahn�eischsfeststellen und an einigen Stellen waren bereits die Zähne zumVorschein gekommen.

�Und dieses Elistier soll helfen?�, fragte sie den Magier.�El Iksir�, berichtigte er sie, �Es wird helfen. Gebt ihm

einen kleinen Schluck davon und seine Schmerzen werden so-fort gelindert sein.�

Behutsam nahm Bistala ihren Sohn auf den linken Armund ergri� mit der rechten Hand das Gefäÿ. Dann setzte sieihrem noch immer schreienden Kind die Mündung an und lieÿihn einen winzigen Schluck trinken. Sofort beruhigte sich Py-thagoras und sah sie mit groÿen Augen an. Dann begann ermit der Lasche des Gefäÿes zu spielen, mit welcher man es amGürtel befestigen konnte.

�Es ist erstaunlich�, stellte Bistala fest und sprach ein in-nerliches Gebet an die Götter, dass es sich nicht doch um einGift handelte.

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�Darf ich fragen wie er heiÿt?�, fragte Ostanes und zeigteauf das Kind.

Bevor Bistala antworten konnte, sagte Aneas schon den Na-men des Kindes.

�Pythagoras, in der Tat.� sagte Ostanes nachdenklich, gababer keine weitere Erklärung ab.

Bistala legte Pythagoras zurück in die Wiege und noch kur-zer Zeit begann er wieder zu schlummern.

�Er ist nach meinem Groÿvater benannt.�, erklärte Bistaladem Fremden, obwohl er sie nicht danach gefragt hatte.

�Sehr gut.�, sagte Ostanes nur und erhob sich.�Was ist nun?�, fragte Aneas, noch immer skeptisch. Seine

Blicke sprangen wieder zu seinem Speer nebend er Tür.�Ich muss euch darum bitten mir die Goldenen Verse zur

Verfügung zu stellen.�, sagte Ostanes.Bistala schrie kurz auf und Aneas sprang von seinem Stuhl

auf.�Woher wisst ihr davon?�, rief er wütend. Was ging hier

vor sich? Wer war dieser Mann wirklich?Doch Ostanes wartete keine weitere Antwort ab. Er ging

auf Aneas zu und legte seine Hand auf dessen Schulter. Ohneein weiteres Wort wurde Aneas schwach. Er ging zum Bett derEhepartner und gri� unter die Matratze aus Stroh und Fellen.Darunter zog er eine kleine Schachtel heraus, worin sich diealten Schriften von Bistalas Groÿvater befanden.

�Aneas, nicht! Ich habe es geschworen!�, schrie Bistala hys-terisch. Tränen rannen ihr über das Gesicht. Sie verstand nichtwas gerade geschah, warum ihr Mann diesem Fremden Mannhalf, doch sie war zu geschockt um sich zu bewegen. Sie hattevon ihrer Mutter Damo den gleichen Auftrag bekommen, wiediese von ihrem Vater: Die heiligen Schriften aufzubewahrenund sie niemandem zu geben. Keinem Fremden und auch kei-nem Freund, keinem Pythagoreer und auch niemandem sonst.Doch Ostanes nahm die Schachtel mit den beschriebenen Pa-pieren entgegen und verlieÿ ohne ein weiteres Wort das Haus.Aneas brach bewusstlos zusammen und Pythagoras �ng wiederzu schreien an.

Bistala brach in Tränen aus über diese Schande. Ein leichterLuftzug folgte dem persischen Magier, als er in der Dunkelheitder Nacht Sparta verlieÿ. Und keine Minute später begann derBoden zu beben, wie noch nie zuvor in der Region. Das Erd-

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beben zerstörte viele Städte Griechenlands und die folgendeArmut wurde zum Auslöser des langjährigen Kriegs zwischenSparta und Athen.

Ostanes sah man in Sparta nie wieder, doch an anderenOrten soll er gewesen sein. Meist waren seine Besuche freund-lich, doch wenn er ging, folgte ihm ein eisiger Hauch magischerNatur.