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Die erste Rudolf-Steiner-Schule Berlin 1928 bis 1938 (oder auch 1923 bis 1941) Die erste Waldorfschule wurde zwar im Jahre 1928 eröffnet, schon 1923 hatte aber der erste Unterricht auf Grundla- ge der Waldorfpädagogik begonnen: In von Jahr zu Jahr wechselnden Berliner Wohnstuben wurden kleine Gruppen von schulpflichtigen Kindern bis einschließlich der 4. Klas- se in „Privatzirkeln“ mit Genehmigung der Schulbehörden unterrichtet. Seit Mai 1928 gibt es die eigentliche Rudolf-Steiner-Schule Berlin. Im ersten Jahr hieß sie schlicht Freie Schule Berlin und begann in einem Hinterhaus in der Genthiner Straße mit 56 Kindern in zwei Klassen (eine 1. Klasse mit 17 Kin- dern und eine kombinierte 2./3./4. Klasse mit 39 Kindern) und zwei Lehrern, der jungen Magdalene-Ithwari Kiefel und dem lehrerfahrenen Herbert Schiele. Noch im Dezem- ber desselben Jahres kam Annie Heuser als weitere Lehrkraft hinzu, und die Klasse von Herbert Schiele wurde geteilt. Die wachsende Schule zog bald darauf in ein freigeworde- nes Schulgebäude in der Großbeerenstraße nach Kreuz- berg. 1933 begann der Aufbau der Oberstufe mit dem ersten 9. Schuljahr durch den die Schüler begeisternden Mathematiker Robert Schiller. Auf dem Hintergrund des bedrohlichen Zeitgeschehens gründeten die insgesamt acht Waldorf- bzw. Rudolf-Steiner-Schulen in Deutschland am 10. Mai 1933 in der Berliner Schule in der Groß- beerenstraße 54 den Bund der Waldorfschulen. Einen Monat zuvor (am 7. April 1933) war das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ verkündet worden, welches alle politisch bedenklichen Beamten und alle Juden aus dem Staatsdienst entfernen sollte. Dieser Erlass wirkte alarmierend, obwohl die Eingriffe in den Lehrplan geringfügig blieben. Der eigentliche Kampf um die Waldorfschulen war aber eingeleitet. In Stuttgart bestand der Kultusminister auf dem Aus- scheiden von Lehrern nicht-arischer Abstammung. Die Stuttgarter Waldorfschule gab dem Druck im Frühjahr 1934 nach, und vier Waldorflehrer jüdischer Abstammung verließen die Schule. In Berlin trennte sich die Eurythmistin Lola Jaerschky vom Kollegium, um als Halbjüdin nicht die Schule zu belasten. Im Februar 1934 zog die Rudolf-Steiner-Schule in ein größeres Gebäude in der Berliner Straße in Charlottenburg, nahe dem „Knie“ (dem heutigen Ernst-Reuter-Platz). Für den Ausbau der Schule war das Gebäude in der Großbeerenstraße zu klein geworden. Im Reichserziehungsministerium wurde der Erlass zur Erstickung aller deutschen Waldorfschulen vorbereitet. Darin heißt es: „Die Waldorfschulen oder Rudolf-Steiner-Schulen … sind nach der von ihnen vertretenen Weltanschauung, der Zusammensetzung ihres Lehrkörpers, ihrer Unter- richtsmethode und ihrem Charakter der Standesschule im neuen Staate nicht mehr tragbar. Die Unterrichtsministerien der Länder bitte ich, die Neuaufnahme von Kindern in die Waldorfschulen (Rudolf-Steiner-Schulen) zum Beginn des Schuljahres 1935 zu untersagen.“ Der schon am 17. November 1934 geplante Erlass wurde wegen des Einschreitens von Ernst Schulte-Strathaus, zu- ständig für Kulturfragen im Amt Heß, jedoch nicht sogleich ausgefertigt. Nach einem handschrift- lichen Vermerk auf dem oben zitierten Entwurf wurde in Aussicht genommen, die Waldorfschulen Gründungsplakat 1928

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Die erste Rudolf-Steiner-Schule Berlin 1928 bis 1938(oder auch 1923 bis 1941)

Die erste Waldorfschule wurde zwar im Jahre 1928 eröffnet, schon 1923 hatte aber der erste Unterricht auf Grundla-ge der Waldorfpädagogik begonnen: In von Jahr zu Jahr wechselnden Berliner Wohnstuben wurden kleine Gruppen von schulpflichtigen Kindern bis einschließlich der 4. Klas-se in „Privatzirkeln“ mit Genehmigung der Schulbehörden unter richtet.

Seit Mai 1928 gibt es die eigentliche Rudolf-Steiner-Schule Berlin. Im ersten Jahr hieß sie schlicht Freie Schule Berlin und begann in einem Hinterhaus in der Genthiner Straße mit 56 Kindern in zwei Klassen (eine 1. Klasse mit 17 Kin-dern und eine kombinierte 2./3./4. Klasse mit 39 Kindern) und zwei Lehrern, der jungen Magdalene-Ithwari Kiefel und dem lehrerfahrenen Herbert Schiele. Noch im Dezem-ber desselben Jahres kam Annie Heuser als weitere Lehrkraft hinzu, und die Klasse von Herbert Schiele wurde geteilt. Die wachsende Schule zog bald darauf in ein freigeworde-nes Schulgebäude in der Großbeerenstraße nach Kreuz-berg. 1933 begann der Aufbau der Oberstufe mit dem ersten 9. Schul jahr durch den die Schüler begeisternden Mathematiker Robert Schiller.

Auf dem Hintergrund des bedrohlichen Zeitgeschehens gründeten die insgesamt acht Waldorf- bzw. Rudolf-Steiner-Schulen in Deutschland am 10. Mai 1933 in der Berliner Schule in der Groß-beerenstraße 54 den Bund der Waldorfschulen. Einen Monat zuvor (am 7. April 1933) war das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ verkündet worden, welches alle politisch bedenklichen Beamten und alle Juden aus dem Staatsdienst entfernen sollte. Dieser Erlass wirkte alarmierend, obwohl die Eingriffe in den Lehrplan geringfügig blieben. Der eigentliche Kampf um die Waldorfschulen war aber eingeleitet. In Stuttgart bestand der Kultusminister auf dem Aus-scheiden von Lehrern nicht-arischer Abstammung. Die Stuttgarter Waldorfschule gab dem Druck im Frühjahr 1934 nach, und vier Waldorflehrer jüdischer Abstammung verließen die Schule. In Berlin trennte sich die Eurythmistin Lola Jaerschky vom Kollegium, um als Halbjüdin nicht die Schule zu belasten.

Im Februar 1934 zog die Rudolf-Steiner-Schule in ein größeres Gebäude in der Berliner Straße in Charlottenburg, nahe dem „Knie“ (dem heutigen Ernst-Reuter-Platz). Für den Ausbau der Schule war das Gebäude in der Großbeerenstraße zu klein geworden.

Im Reichserziehungsministerium wurde der Erlass zur Erstickung aller deutschen Waldorfschulen vorbereitet. Darin heißt es: „Die Waldorfschulen oder Rudolf-Steiner-Schulen … sind nach der von ihnen vertretenen Weltanschauung, der Zusammensetzung ihres Lehrkörpers, ihrer Unter-richtsmethode und ihrem Charakter der Standesschule im neuen Staate nicht mehr tragbar. Die Unterrichtsministerien der Länder bitte ich, die Neuaufnahme von Kindern in die Waldorfschulen (Rudolf-Steiner-Schulen) zum Beginn des Schuljahres 1935 zu untersagen.“ Der schon am 17. November 1934 geplante Erlass wurde wegen des Einschreitens von Ernst Schulte-Strathaus, zu-ständig für Kulturfragen im Amt Heß, jedoch nicht sogleich ausgefertigt. Nach einem handschrift-lichen Vermerk auf dem oben zitierten Entwurf wurde in Aussicht genommen, die Waldorfschulen

Gründungsplakat 1928

„wie alle übrigen Privatschulen zu behandeln“. Erst über ein Jahr später wurde der Erlass dann doch im ursprünglichen Wortlaut am 12. März 1936 vom Reichserziehungsminister Rust verfügt. Auch die Berliner Schule durfte zum Schuljahresbeginn zu Ostern 1936 keine neue 1. Klasse auf-nehmen; ein Jahr später fehlten dann 1. und 2. Klasse. Dennoch schrieb Ernst Weißert, Lehrer an der Berliner Schule, 40 Jahre später: „Das Schuljahr 1937/38 begann trotz des Ernstes der Zeiten mit einem erfreulich blühenden Leben in der Schule. Sie umfasste nun 418 Schüler.“

Kurz darauf wurden die Lehrer der Berliner Schule ultimativ aufgefordert, sich einzeln auf den Füh-rer und Reichskanzler zu vereidigen und das Treuegelöbnis zu Adolf Hitler schriftlich zu bestätigen. Erich Weismann, Lehrer an der Berliner Schule, schreibt dazu: „Hier schieden sich die Geister: Die

einen waren für ein unbeding-tes Weitermachen – den Kindern zuliebe, die einem anvertraut waren. Die anderen mussten in diesem äußeren Kompromiss die Verleugnung, Verfälschung des innersten geistigen Impulses erblicken.“ Letztlich entschloss sich das Berliner Kollegium, kein Treuegelöbnis zu leisten und die Schule zu schließen. Am 26. Au-gust 1937 teilte das Berliner Kol-legium seine Entscheidung der Waldorfschule in Stuttgart, der wegen einer positiven Stellung-nahme von Rudolf Heß erst im Frühjahr 1938 die Genehmigung entzogen wurde, mit: „Hiermit möchten wir Sie darüber infor-mieren, dass unsere Schule als Rudolf-Steiner-Schule mit dem heutigen Tage geschlossen wird. Eine wirtschaftliche Nötigung liegt nicht vor, sondern aus inne-ren Gründen fühlten wir uns zu diesem Schritt verpflichtet und teilen den Eltern und der Behör-de mit, dass wir uns zur Schlie-ßung der Schule gezwungen sehen, um wahr zu bleiben dem Werk Rudolf Steiners gegenüber. Die Elternschaft hat in einer sehr besuchten Elternversammlung unseren Schritt mit dem richti-gen Ernst und Verständnis auf-genommen. Wir bereiten die Kinder zur Aufnahme in andere Schulen vor. Die Umschulung soll Ostern 1938 beendet sein.“Schließungsbrief, 28. März 1938

Die Anthropophische Gesellschaft war schon im November 1935 verboten worden. Die Unverein-barkeit von Nationalsozialismus und Anthroposophie wird in dem Bericht des Reichssicherheits-hauptamtes von 1941 Die Anthroposophie und ihre Zweckverbände (mit dem Vermerk „Geheim!“) an erster Stelle auf den Widerspruch zur Rassenlehre zurückgeführt: „Die Anthroposophie steht im Widerspruch zur nationalsozialistischen Rassenlehre. Nach nationalsozialistischer Auffassung beziehen sich die rassischen Vererbungsgesetze nicht nur auf den Leib, sondern auf den ganzen Menschen, auch auf Geist und Seele. Die Anthroposophie erkennt ebenso wie die christliche Kir-che im Wesentlichen nur eine leibliche Vererbungslehre an, indem sie behauptet, dass lediglich der Leib des Menschen von den Eltern stammt, Geist und Seele aber aus dem Geisterreich in die-sen Leib übersiedeln. Auf Grund dieser rein äußeren Rasseauffassung muss die Anthroposophie auch zu einer internationalen pazifistichen Einstellung kommen.“

Dass die Waldorfschulen nicht einfach wie die Anthroposophische Gesellschaft verboten wurden, lag u.a. an der Tatsache, dass eine plötzliche Schließung den örtlichen Behörden die Eingliede-rung der Waldorfschüler auferlegt hätte. Das progressive Abwürgen durch die Schüleraufnahme-sperre war der bequemere Weg für Rust.

Der Versuch der Rudolf-Steiner-Schule Berlin, nach der Selbstschließung wenigstens die unteren Klassen als „Vorbereitungsanstalt für höhere Lehranstalten“ weiter zu unterrichten, schlug fehl. Als „Umschulungskurse“ wurden dann aber die 3. und 8. Klasse (ab Ostern 1938 4. und 9. Klas-se) sogar ziemlich geschlossen über ein Jahr weitergeführt. Auch für weitere Schüler (insgesamt waren es 70 bis 80) wurde das Verbleiben ermöglicht, insbesondere für die jüdischen Kinder, die großenteils vor der Auswanderung eine Umschulung vermeiden wollten. So kam es, dass die Um-schulungskurse der ehemaligen Rudolf-Steiner-Schule nach langem Suchen am Charlottenburger Ufer in einem alten Gebäude einer privaten Nervenheilanstalt, das jahrelang als Finanzamt ge-dient hatte, eine Unterkunft fanden. Der Abbruch war durch Führerbefehl schon angeordnet, da dort durch Neubauten der Monumentalrahmen für künftige Paraden und Siegesfeiern geschaffen

werden sollte. Als dann der Abbruch begann, zog man in den obersten Stock eines Vorderhauses um. Die Umschulungskurse endeten erst am 1. April 1939. Danach unterrichteten drei Kollegen noch Attest-Kinder auf privater Basis weiter. Nach dem Gesetz war ein solcher Unterricht mit bis zu fünf Kindern möglich; sie mussten ein amtsärztliches Zeugnis vorlegen, dass sie nur in kleine-ren Kreisen unterrichtet werden könnten. Im Zuge der Gestapo-Aktion im Juni 1941 wurde Erich Weismann aus einer privaten Unterrichtstätigkeit heraus verhaftet. Im Gefängnis am Alexander-platz traf er dann auf seine zuvor verhafteten Kollegen Ernst Weißert und Lotte Ahr. Sie waren wegen „Fortführung einer verbotenen Pädagogik“ ins Gefängnis gekommen.

Detlef Hardorp1998

Über den Autor: Detlef Hardorp, geb. 1955, Ph.D. (Princeton) in Mathematik, war Mathematik-lehrer an Waldorfschulen in Hessen und Bayern, derzeit Bildungspolitischer Sprecher der Waldorf-schulen in Berlin-Brandenburg.