Lothar Höbelt Die Erste Republik Österreich 1918–1938

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Lothar Höbelt Die Erste Republik Österreich ( 1918–1938) Das Provisorium 2018 Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar

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Lothar Höbelt

Die Erste Republik Österreich (1918–1938)

Das Provisorium

2018

Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek :Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

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Coverabbildung : Rudolf Konopa, Die Ausrufung der Republik vor dem Parlament am 12. November 1918, Gemälde ; © WienMuseum, Inv.-Nr. 48845

© 2018 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln WeimarKölblgasse 8–10, A–1030 Wien, www.boehlau-verlag.com

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Korrektorat : Philipp Rissel, Wien Einbandgestaltung : Michael Haderer, Wien

Satz : Michael Rauscher, WienDruck und Bindung : Hubert & Co, Göttingen

Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem PapierPrinted in the EU

ISBN 978-3-205-20539-5

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

I. Die Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151. Geografie : Der Rest ist Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152. Ökonomie : »Produktion ohne Markt, Markt ohne Produktion« . . . . . . . 27

Das liebe Geld : Kapital und Inflation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27Die Lücke in der Zahlungsbilanz : Industrie und Landwirtschaft . . . . . . 34Armut = Krise ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42Vorsprung durch Technik ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

3. Der Anschluss : Die überstrapazierte Selbstverständlichkeit . . . . . . . . . 50

II. Zu groß für Österreich : Die Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . 591. Die Sozialdemokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

Die Einheit der Arbeiterklasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59Partei und Gewerkschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65Links oder rechts ? Wien und die Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

2. Die Christlichsozialen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76Pro und contra Lueger : Populisten und Konservative . . . . . . . . . . . . 76Pro und contra Seipel : Bürgerblock oder Weltanschauungspartei ? . . . . . 84Das Ende des Kulturkampfs ? Literarische Indizien . . . . . . . . . . . . . 91

3. Das dreigeteilte »dritte Lager« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95Das Bürgertum : Beamte und Industrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95Bauern und Arbeiter : Landbund und NSDAP . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

Exkurs I : Der Kummer mit dem Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . . . 104Exkurs II : Der Adel und die Legitimisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113Exkurs III : Das Phänomen der Wehrverbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

III. Die politischen Konjunkturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1291. Die »Österreichische Revolution« 1918–1920 . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

Der Sprung in die Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129Große Koalition mit gebundener Marschroute . . . . . . . . . . . . . . . . 137Das Pflichtpensum : Friede und Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

2. Die Österreichische Gegenrevolution 1920–1923 . . . . . . . . . . . . . . . 155Auf Umwegen zum Bürgerblock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155Genf : Die Revanche für den 12. November ? . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

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Inhaltsverzeichnis6

3. Die Mühen der Ebene 1923–1927 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168Das Leiden der Beamten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168Das Dilemma der Föderalisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175Die Einheitsliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

4. Schubumkehr 1927–1929 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190Der Justizpalastbrand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190Die Renaissance der Heimwehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194Seipels taktischer Rückzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

5. Der »Unabhängige mit der Kornblume« : Die Ära Schober 1929–1931 . . . 206Das Verständigungskabinett Streeruwitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206Die Verfassungsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214Der Schoberblock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

IV. Die großen Krisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2371. Der Zusammenbruch der Creditanstalt 1931/32 . . . . . . . . . . . . . . . 237

Der »schwarze Freitag« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237Die versäumte Chance ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241Das Verlöschen des Bürgerblocks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

2. Minderheitsregierungen 1932/33 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256Der agrarische Kurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256Übergangslösung Dollfuß ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261Lausanne oder Hirtenberg ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

3. Der unvorhergesehene »Staatsstreich auf Raten« 1933 . . . . . . . . . . . . 276»Ein Wink der Vorsehung« : Die Geschäftsordnungspanne vom 4. März 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276Die Opposition : »Roter und brauner Sozialismus« . . . . . . . . . . . . . . 284Vaterländische Front und Ständestaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294

4. Das »Bürgerkriegsjahr« 1934 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303Vom Jänner-Krach zum Februar-Aufstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303Vom Februar-Aufstand zur Mai-Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309Der Juliputsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318

5. Die Ära Schuschnigg 1934–1936 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323Illegale und Befriedungsaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323Das Ende der Heimwehren und das Veto gegen die Monarchie . . . . . . . 330Das Juli-Abkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

6. Die Endphase des Regimes 1937/38 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344Austerity und Pluralismus ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344Die Nazis spalten : Seyß-Inquart und Göring . . . . . . . . . . . . . . . . . 350Der Dammbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356

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Inhaltsverzeichnis 7

V. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363

Anhang : Wahlergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413

Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415

Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450

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Vorwort

»The past is a foreign country. They do things differently there.« Leslie P. Hartley, The Go-Between (1953)

Die Erste Republik wird meist als missratene Vorgängerin der Zweiten betrachtet. Diese Erzählung von Verblendung und Einkehr, vom »Staat, den keiner wollte« zur »Insel der Seligen«, wie es Hellmuth Andics in seiner Chronik beschreibt, hat sich als Selbstbewusstsein stiftender Prolog der Zweiten Republik bewährt, aber er trägt wenig bei zum Verständnis der Zwischenkriegszeit. Die Erste Republik war nicht die Vorläuferin der neutralen Alpenrepublik nach 1945/55, sondern sie bestand aus den Waisen und Abtrünnigen der Habsburgermonarchie, in einem seltsamen Mischungs-verhältnis übrigens, denn es gab nach 1918 kaum politisch aktive Monarchisten, aber relativ bald eine weitverbreitete Nostalgie nach der guten alten Zeit, oder zumindest einzelnen Aspekten davon. Selbst geeichte Republikaner sehnten sich bei Gelegen-heit nach Zuständen wie in der Monarchie, von der Wirtschaft einmal ganz abgese-hen, die sich über Jahrzehnte vergeblich bemühte, wiederum »Vorkriegsqualität« zu erreichen, sprich : das Niveau von 1913 – einmal kam ihr da die Weltwirtschaftskrise dazwischen, dann der Zweite Weltkrieg ; erst in den heute gern als »restaurativ« verteufelten Fünfzigerjahren war es dann so weit.

Die Erste Republik war geprägt davon, was sie von der Monarchie geerbt hatte, vielleicht mehr noch, was sie durch ihren Zerfall verloren hatte. Doderer sprach ein-mal von den selbstständig weiterschwimmenden Teilen eines Wracks,1 aber streng-genommen im Zusammenhang mit Ungarn, das immer noch um einiges kompakter und selbstbewusster war. Sie war ein Provisorium, das den Charakter des unfertig-behelfsmäßigen nie ganz hinter sich ließ : Selbst als man nach zehn Jahren daranging, die Verfassung zu reformieren, blieben mehr Baustellen als Fundamente zurück. Da-für ragten ein paar erratische Blöcke wie das berühmt-berüchtigte Kriegswirtschaft-liche Ermächtigungsgesetz in die neue Ära hinein. Freilich : Gerade in Österreich weiß man, dass Provisorien mitunter recht langlebig sein können. Der längstdie-nende österreichische Regierungschef, Graf Eduard Taaffe, der sich nicht zufällig gerne auf das Fortwursteln oder »Durchg’fretten« berief, formulierte einmal kasu-istisch, da alles veränderlich sei, sei eigentlich alles natürlich auch bloß provisorisch.

Dennoch : Die gewisse Selbstzufriedenheit der beati possidentes, der Konservati-ven mit einem kleinen k, die sich in der subkutanen Überzeugung niederschlug, im Prinzip ja doch in der besten aller möglichen Welten zu leben, fehlte den Österrei-chern vor bald hundert Jahren – vielleicht weil es so wenig beati possidentes gab – und selbst wer insgeheim so dachte, getraute es sich nicht laut zu sagen : Gefordert war

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Vorwort12

ein Bekenntnis zur Alternative, zumindest ein Lippenbekenntnis. Ob Anschluss oder Restauration, Vergesellschaftung der Produktionsmittel oder ständische Gliederung der Gesellschaft, im Extremfall dann vielleicht Faschismus oder Kommunismus, all diesen Entwürfen gemeinsam war ein latentes Misstrauensvotum gegen die beste-hende Ordnung, die eben nicht als Ordnung empfunden wurde.

Die Ideologien, die hinter diesen Entwürfen standen, sind seither nach Strich und Faden zerzaust worden, von den besserwissenden Nachgeborenen, schlimmer und überzeugender noch : von der Geschichte selbst, die sie alle nacheinander ad absur-dum geführt hat. Vom Linzer Parteitag bis zum Trabrennplatz, vom Korneuburger Eid bis zur einen oder anderen »Führerrede« (und gerade an Führern herrschte kein Mangel !), sind sie bis zur Erschöpfung zitiert und analysiert worden. Diese Exegese in allen Ehren, aber stellt sich für den Historiker die eigentliche »ideologiekritische« Frage nicht ganz anders ? Nämlich : Waren all diese ideologischen Versatzstücke auch tatsächlich geschichtsmächtige Ideen, maßgebend für die Taten und Untaten, gegebenenfalls auch die Unterlassungssünden, unserer handelnden Personen ? All diese Zukunftsentwürfe waren nämlich die längste Zeit vor allem einmal durch ihre Unerreichbarkeit gekennzeichnet. Man hielt an den Visionen fest, zweifellos ; aber man musste sich inzwischen doch auch irgendwie über die Gegenwart hinweghelfen. Gerade wenn einem an der gegenwärtigen Ordnung prinzipiell wenig lag, konnte man in dieser Hinsicht ziemlich voraussetzungslos und ganz pragmatisch handeln.

Ernst von Salomons »Fragebogen« ist ein literarisches Meisterwerk und gerade deshalb als Geschichtsquelle besonders kritisch zu hinterfragen, aber die Episode, wie der deutsche Freikorpsführer mit seinen österreichischen Kameraden zusam-mentrifft, die alles noch viel radikaler sehen, verdient an dieser Stelle dennoch zitiert zu werden. Der Preuße will die vermeintlichen »Fundis« verwundert gefragt haben, wie sie all das denn umsetzen oder verwirklichen wollten, und erhielt zur Antwort ein entwaffnendes Schulterzucken : Wir packeln halt. Sprich : Man dachte weiter in Großmachtkategorien und weltbewegenden Konzepten ; war sich dabei aber der Grenzen der Politik in einem Kleinstaat sehr wohl bewusst. Auf Sicht galt es weiter-hin zu »packeln« – und das galt auch für diejenigen (wie Salomons Gesprächpartner, die Söhne des Paradeideologen Othmar Spann), die jegliches »Packeln« im stolzen Bewusstsein der eigenen Rechtgläubigkeit nach außen hin weit von sich wiesen.

Wenn man die Geschichte der Ersten Republik nicht als klassische Tragödie sch-reiben will, als Moritat der Sünden wider die Demokratie (die bürgerliche oder die soziale, die mechanische oder die wahre, welche auch immer), oder als Geschichte der »versäumten Gelegenheiten«, sondern so »wie es eigentlich gewesen ist«, sprich : als möglichst realitäts- und quellennahe Rekonstruktion des Kontexts, in dem unsere Vorfahren agierten, so ist dieses »Wir packeln halt« kein schlechtes Leitmotiv. Zwar gab es in jedem der drei politischen Lager immer wieder Stimmen, die sich diesem Vorwurf nicht aussetzen, sondern abwarten wollten, bis ihre Zeit gekommen war,

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Vorwort 13

warten auf die nationale oder soziale Revolution, auf das neue Jahr 1813 oder ein zweites Jahr 1917. Allenfalls gute Katholiken mochten sich erinnern, dass das Reich Gottes bekanntlich nicht von dieser Welt ist. Doch letztendlich spielt sich Politik – aller Rhetorik, oder auch echter Überzeugung zum Trotz – nicht ganz unbeeinflusst von konkreten Interessen ab, denen mit politisch korrekter Abstinenz nicht gedient ist. Selbst berüchtigte Katastrophenpolitiker ließen sich da gerne ein Hintertürchen offen. So stichelte eine Zeitung wohl nicht zu Unrecht, warum der Bannfluch Adolf Hitlers gegen jegliche Teilnahme an Wahlen im Jahre 1923 ausgerechnet in Kärnten nicht befolgt zu werden brauchte ?

Die Erste Republik hatte ihr gerüttelt Maß an zeitbedingten Verbohrtheiten, so wie jede Epoche ; sie war nicht frei von political correctness, die sich bloß in andere Richtungen bewegte als die heutige. Um nur zwei hervorragende Beispiele zu nen-nen : Die ständige Berufung auf den Anschluss als Quelle allen Heils, als unablässiges »ceterum censeo«2, muss zuweilen wohl auch braven Deutschnationalen ebenso auf die Nerven gegangen sein wie das heutige »O mani padme hum« in Bezug auf die EU den Befürwortern des Beitritts 1994. Ein gewisses Maß an Antisemitismus ge-hörte fast überall genauso zum Standardrepertoire der Politik wie heute die eilfertige Distanzierung davon. Aber es wäre m. E. ein Irrtum, daraus die Schlussfolgerung abzuleiten, die Politiker der Zwischenkriegszeit wären so sehr im Wolkenkuckucks-heim ihrer Vorurteile befangen gewesen, um zugunsten der Taube auf dem Dach den Spatz in der Hand geringzuschätzen. Unverständlich erscheint so manches vielleicht nur dann, wenn man sich nicht bemüht, die näheren Umstände zu erforschen und zu erklären. Die Politiker der Zwischenkriegszeit standen schließlich nicht vor der Herausforderung, ihren Nachfahren zu gefallen, sondern ihren Zeitgenossen. Man sollte sich in diesem Zusammenhang an ein Marx-Zitat erinnern, allerdings nicht von Karl, sondern von Groucho Marx : »What has posterity ever done for me ?«

Ich hingegen habe bei den Recherchen für dieses Buch die Unterstützung vieler Freunde und Kollegen genossen, bei denen ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bedanken möchte : Mein alter Freund Rudolf Jerabek hat mir seine Transkriptio-nen der christlichsozialen Klubvorstandsprotokolle 1931/32 zur Verfügung gestellt ; Annemarie Hartleb (†), Baron Johann-Christoph Allmayer-Beck (†), Graf Ernst Hoyos (†), Graf Dominik Revertera und Fürst Georg Starhemberg haben mir den Zugang zur Hinterlassenschaft ihrer Vorfahren eröffnet ; für ihre Begleitung nach Horn, Helfenberg und Eferding danke ich Baronin Gertraud Buttlar und HR Georg Heilingsetzer ; in den staatlichen Archiven haben mir insbesondere Pia Wallnig und Roman Gröger vom Österreichischen Staatsarchiv ; Cornelia Sulzbacher und Josef Goldberger vom Oberösterreichischen Landesarchiv ; Gerhard Pferschy und Gernot Obersteiner vom Steiermärkischen Landesarchiv, Alois Niederstätter vom Vorarl-berger Landesarchiv und Robert Kaller vom Institut für Zeitgeschichte die Arbeit sehr erleichtert. Vielfältige Anregungen verdanke ich meinen Studenten, die sich

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Vorwort14

mit einschlägigen Themen beschäftigt haben : Susanne Bauda, Ute Bauer, Gerald Brettner-Meßler, Roman Eccher, Harald Fiedler, Robert Lukan, Andreas Pauschen-wein, Hannes Rosenkranz, Dietmar Schimanko, Lucas Stecher, Norbert Zand und Wolfgang Zaunbauer ; von den Seminaristen des SS 2016 insbesondere Egor Lykov und Benedikt Stimmer ; für diverse zweckdienliche Hinweise zu danken habe ich Eli-sabeth Lehner, Eva Reinhold-Weisz, Klaudia Tanner, Johann Girschik, Sepp Koller, Reinhold Lopatka, Wolfgang Maderthaner, Max Obauer, Martin Pfundner (†), Klaus Reisch, Alois Steinhauser, Helmut Wohnout, Alois Wurzinger und Michael Pammer, der außerdem so freundlich war, einige Grafiken zur Verfügung zu stellen. Für die Bereitstellung von Bildmaterial aus seiner reichhaltigen Sammlung bin ich ein weite-res Mal auch Mario Strigl zu Dank verpflichtet. Bei der Erstellung von Grafiken und der Herbeischaffung von Bildmaterial waren mir mein Bruder Thomas, mein Sohn Daniel und Johannes Kalwoda eine große Hilfe.

Des Manuskripts mit professioneller Expertise angenommen haben sich schließ-lich Ursula Huber und Stefanie Kovacic vom Böhlau Verlag. Herrn Kollegen Robert Kriechbaumer danke ich sehr herzlich für die Aufnahme des Buches in die Serie der Studien der Wilfried-Haslauer-Stiftung.

Lothar Höbelt, Wien/Pardubitz im Herbst 2017

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III. Die politischen Konjunkturen

»Wir kommen vor lauter Räten in die vollendete Ratlosigkeit. Es kann ein berechtigter Gedanke auch überspannt werden und in diesen Zustand drohen wir zu geraten.«255

Karl Renner, 15. September 1919

»Ein Gespenst entsteigt der Gruft. Die Obstruktion ist wieder in das Parlament eingezogen und trübe Erinnerungen an die bösesten Zeiten der Politik im

alten Österreich werden wach.« Neue Freie Presse, 6. April 1923

1. Die »Österreichische Revolution« 1918–1920

Der Sprung in die Republik

War die Erste Republik das Ergebnis einer Revolution oder bloß die Republik, die allergehorsamst auf kaiserlichen Befehl entstanden war ? Die Sozialdemokratie ließ sich das Kompliment gern gefallen, im Herbst 1918 tatsächlich einen welthistori-schen Umbruch bewerkstelligt zu haben. Freilich, schon Otto Bauer hatte in seinem Rückblick auf diese Jahre klargestellt : »Die Revolution, die das Habsburgerreich zerstört hat, war nicht unsere Revolution.« Ja, es habe 1918 in Österreich tatsächlich eine Revolution stattgefunden, aber eine bürgerliche, nämlich eine Revolution des nichtdeutschen Bürgertums der Habsburgermonarchie, und auch diese Revolution war ein Resultat des Sieges der Entente-Armeen. Nicht die Revolution habe die Auflösung des Reiches bewirkt, sondern die Auflösung des Reiches die Revolution ermöglicht.256

Die österreichische Revolution im Kleinen, mit oder ohne Anführungszeichen, nicht die Auflösung der Monarchie, sondern die Umwälzungen in dem Rest, der von Deutsch-Österreich geblieben war, setzte sich fast ausschließlich aus Schritten und Maßnahmen zusammen, die dazu gedacht waren, die eigentliche, die große Revolu-tion, das Pendant zu Paris 1789 und Petersburg 1917, zu verhindern, zu verwässern und zu kanalisieren. Die exzessive Revolutionsfurcht dieser Tage erscheint aus dem Abstand eines Jahrhunderts übertrieben. Die Ereignisse gaben vielmehr Kaiser Karl recht, der all den Versuchen ängstlicher Bürgerlicher, die potenziellen Revolutio-näre zu zähmen und zu integrieren, mit dem Argument begegnete, was immer auch geschehe, der Bolschewismus vermöge sich in Mitteleuropa ja doch nicht zu halten. Nachher wissen wir es eben immer besser. Doch in der Hitze des Gefechts wollte keiner so wirklich die Probe aufs Exempel wagen. Das Bürgertum gab lieber nach.

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Die politischen Konjunkturen130

Viktor Adler soll wenige Tage vor seinem Tod gesagt haben : »Mich beunruhigt nur, daß wir auf keinen Widerstand stoßen. Wo ist die Reaktion ? Wir stoßen mit der Stange in den Nebel.«257

Die Revolutionsfurcht begründete die zentrale Rolle der Sozialdemokratie. In Ungarn, wo es tatsächlich zur Revolution kam, wurde die Partei zwischen Kommu-nisten und Konterrevolutionären zerrieben. In Österreich verwandelte sie die Ko-ketterie mit der Revolution in ein überaus erfolgreiches Geschäftsmodell, in einem Maße, das es äußerst schwer macht, objektive Notwendigkeiten und geschickte In-szenierungen voneinander zu trennen. Das verängstigte Bürgertum, das auf einer formellen politisch-parlamentarischen Ebene ja nie seine Mehrheit einbüßte, sah keine andere Möglichkeit als ein »Appeasement« der revolutionären Kräfte. Doch wer waren die revolutionären Kräfte ? Die unberechenbaren »Massen«, die aus dem geringsten Anlass auf die Straßen gingen, sobald der Autoritätsverlust der alten Ex-ekutive offenbar geworden war ; die »Arbeiter«, die damals gerade in Massen in die Gewerkschaften strömten ; oder die sozialdemokratische Partei, die versprach oder zumindest durchblicken ließ, beide bändigen zu können, wenn man ihren Forderun-gen nachgab. Andernfalls, so lautete die unterschwellige Drohung, würde sie ihre Hände in Unschuld waschen – und die uneinsichtige Bourgeoisie hätte sich alle Fol-gen selbst zuzuschreiben.

Dieses Pokern und Tauziehen um das »Appeasement« der Linken, des linken Flügels der Sozialdemokratie und der ausgewiesenen Linksradikalen, war der eine »rote Faden« des Jahres 1918/19. Der andere war der außengesteuerte Aspekt der »österreichischen Revolution«, wie Otto Bauer ihn zu Recht betont hat. Mit dem Kollaps des alten Obrigkeitsstaates hatte die Stunde des Selbstbestimmungsrechts geschlagen, zumindest in der Theorie. Aber dieses Selbstbestimmungsrecht musste nach allen Seiten hin verteidigt werden, gegen innere und äußere Bedrohungen, vor allem aber gegen Bedrohungen, die im Zerfallsprozess der Monarchie zwischen bei-den Kategorien irrlichternd wechselten. Die Impulse für die Bildung des Staates Deutsch-Österreich, zumindest für das Timing, gingen mindestens so sehr von Wa-shington, von Prag und Berlin aus wie von Wien.

Den Ausgangspunkt bildete das Völkermanifest Kaiser Karls vom 16. Oktober 1918, das als Antwort auf die Noten des amerikanischen Präsidenten Wilson gedacht war. Man wollte Wilson, der in seinen 14 Punkten das Selbstbestimmungsrecht an-gesprochen hatte, beim Wort nehmen und eine Auffangposition beziehen, die alle Rechte der Deutschen wahrte : Selbstbestimmungsrecht für Tschechen und Südsla-wen, aber natürlich auch für die Sudetendeutschen. Dahinter stand bei manchen der Staatsmänner in den letzten Tagen der Monarchie ein dialektisches Kalkül : Die Unmöglichkeit der fein säuberlichen Trennung der Siedlungsgebiete werde notwen-digerweise zu einer Anerkennung der Gemeinsamkeiten führen, um der Monarchie in der einen oder anderen Weise ein Überleben zu ermöglichen. Doch dieser Appell

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131Die »Österreichische Revolution« 1918–1920

an Wilsons Worte von vorgestern kam zu spät. Wilson verwies die österreichische Regierung an die Tschechen und Südslawen, die selbst über ihr Schicksal bestimmen würden, eine Entscheidung, der er nicht vorgreifen könne und wolle.

Was blieb, waren die »Nationalräte« als Gründerväter der Nachfolgestaaten. Die Nationalräte setzten sich nach dem Wortlaut des Völkermanifests aus den Mitglie-dern des Abgeordnetenhauses zusammen, die 1911 in deutschen, tschechischen etc. Wahlkreisen gewählt worden waren. Ihre Kompetenzen waren bewusst vage for muliert worden ; ihr ursprünglicher Beruf, als legitimiertes Gesprächsforum für einen »runden Tisch« unter Vorsitz des Kaisers zu dienen, war durch die Absage der Tschechen und Südslawen, aus unterschiedlichen Gründen auch der Polen, nicht mehr aktuell. Die Nationalräte entwickelten stattdessen eine gewisse Eigendynamik, die von der kaiserlichen Regierung zwar nicht »anbefohlen« wurde, der sie aber auch nichts in den Weg legte. Ministerpräsident Lammasch wollte den übernationalen Charakter seines Kabinetts wahren und im Streit der Nationalitäten nicht Stellung beziehen. Dass die Krone nicht »Farbe bekennen« wolle, war einer der Vorwürfe, wie sie z. B. vom Abg. Teufel gegen Karl erhoben wurden. Man wolle ja gern mit der Krone gehen, doch nur, wenn die Krone mit den Deutschen ginge.258

Die Deutsch-Österreicher sahen sich in Zugzwang versetzt, sobald die anderen Nationalitäten mit dem Aufbau einer eigenen Exekutive begannen. Am 28. Oktober übernahmen der tschechische narodni vybor die Macht in Prag. Die neue Regie-rung wurde nicht bloß von der Entente anerkannt, sondern prompt auch von Berlin. Die Deutsch-Österreicher wollten da nicht ins Hintertreffen geraten. Karl Renner wurde noch am selben Abend beauftragt, »den Entwurf eines Organisationsstatu-tes für Deutschösterreich vorzulegen«.259 Auf diese Weise wurde im Handumdrehen eine de-facto-Verfassung aus dem Hut gezaubert. Das Resultat war eine Proporzre-gierung, oder besser gesagt : der Einfachheit halber vorerst einmal eine Proporzre-gierung, die von einer Proporzregierung bestellt wurde.

Der Nationalrat der Deutschen in Österreich hatte am 21. Oktober einen zwan-zigköpfigen Vollzugsausschuß gewählt. Dieser Vollzugsausschuß war – den parla-mentarischen Usancen folgend – nach dem Proporz zusammengesetzt : Von den 1911 gewählten 232 deutschen Abgeordneten hatten 208 die verlängerte Legislatur-periode überlebt : 86 davon gehörten dem Verband der deutschnationalen Parteien an, 66 waren Christlichsoziale, 38 Sozialdemokraten, sieben hatten sich zu den Wiener Deutschfreiheitlichen zusammengeschlossen, fünf unter Oskar Teufel von den Deutschnationalen im Sommer als Unabhängigkeitspartei abgespalten ; dazu ka-men drei Alldeutsche und drei »wilde« Abgeordnete.260 Das ergab für den Vollzugs-ausschuß ein Verhältnis von acht Deutschnationalen (fünf Sudetendeutsche, zwei Kärntner Agrarier und der Salzburger Sylvester)261, sechs Christlichsozialen (je einer für die größeren Alpenländer, nur für Niederösterreich zwei), vier Sozialdemokraten (Adler, Renner, der Tiroler Abram und der Deutschböhme Josef Seliger), den (jüdi-

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schen) Wiener »Sozialpolitiker« Julius Ofner (der in manchen Aufstellungen schon zu den Sozialdemokraten gerechnet wurde) und Oskar Teufel für die Unabhängig-keitspartei.262

Jedes der drei Lager stellte einen der Vorsitzenden des Nationalrates : Der Zufall wollte, dass sich darunter zwei Oberösterreicher befanden : An der Spitze der Christ-lichsozialen wechselten einander die Länder ab ; Landeshauptmann Johann Nepo-muk Hauser war turnusmäßig an der Spitze der Christlichsozialen ; der Linzer Bürgermeister Franz Dinghofer war Obmann der stärksten Fraktion innerhalb des Verbandes der Deutschnationalen Parteien ; für die Sozialdemokraten wurde Seitz gewählt, infolge der Erkrankung des Übervaters der Partei, Viktor Adler. Mit dem Renner’schen Provisorium, das am 30. Oktober vom Plenum des Nationalrates ab-gesegnet wurde, verwandelte sich der Nationalrat in die provisorische Nationalver-sammlung, der Vollzugsausschuß in den Staatsrat. Doch der Staatsrat übernahm eben nicht die vollziehende Gewalt, sondern übertrug sie einem Kabinett, bestehend aus einem »Staatskanzler« und einer Reihe von Staatssekretären.

Der Staatsrat war nach dem Proporz zusammengesetzt. Es war nur logisch, wenn dasselbe auch für die neue Regierung galt. Logisch, aber nicht mehr ganz selbstver-ständlich, denn die Sozialdemokraten waren – am Vorabend ihres Parteitages am 1. November – nur dann zur Mitarbeit in der neuen Exekutive bereit, wenn ge-wisse Bedingungen erfüllt würden. Unter ihren elf Punkten stachen zwei hervor : Sie verbaten sich jede Mitsprache des Kaisers bei der Ernennung der Staatssekre-täre – und sie forderten vorausschauend eine staatliche Arbeitslosenunterstützung, um für die Übergangszeit gerüstet zu sein, sobald nach der Demobilisierung, dem Abbau der Armee und der Rüstungsindustrie, Hunderttausende buchstäblich auf der Straße stehen würden. Oder wie einer der Beteiligten versicherte : »Für versiche-rungsmathematische Überlegungen war im Drang der Ereignisse keine Zeit.«263 Die Wunschliste wurde ohne weitere Debatte akzeptiert, kurz darauf sogar noch durch den Acht-Stunden-Tag ergänzt, die Regierung einstimmig gewählt.

Die Sozialdemokraten stellten unter den Staatssekretären nur eine Minderheit. Dafür aber den Chef. Karl Renner wurde »Staatskanzler«, bald als Republikgründer apostrophiert, anfangs verschämt bloß als »Leiter der Kanzlei« des Staatsrates aus-geschildert. Für Renner sprachen seine staatsrechtlichen Vorstudien ; sein Renom-mee als prominenter Vertreter des rechten Flügels der Sozialdemokratie, der schon in der Monarchie beinahe zu Ministerehren gekommen wäre, zumindest aber im Ernährungsamt zusammen mit dem Christlichsozialen Fink gedient hatte. Renner war als Kandidat für den Posten konkurrenzlos ; aber dieses Alleinstellungsmerkmal ergab sich aus der Konstellation. Er war ein Kompromisskandidat, der in seiner Par-tei damals keine Position bekleidete. Sein Parteichef, der todkranke Viktor Adler, übernahm für die letzten Tage seines Lebens den Posten des »Außenministers« (und erbat sich Otto Bauer als Unterstaatssekretär). Die Prioritäten der Partei gingen aus

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den zwei weiteren Ressorts hervor, die sie übernahm : Ferdinand Hanusch übernahm das Staatsamt für soziale Fürsorge, Julius Deutsch wurde Unterstaatssekretär (und der eigentliche »starke Mann«) im Heeresressort.

Die Sozialdemokraten hatten ihre erste Garnitur in die »Regierung« entsandt. Von den Bürgerlichen ließ sich das nur mit Einschränkungen sagen : Für die Christ-lichsozialen beklagte sich Hauser über das mangelnde Interesse : »So schauen wir aus, wir haben niemanden.«264 Das einzige politische Schwergewicht unter ihren Kandidaten war Josef Stöckler, der Obmann des niederösterreichischen Bauernbun-des, im Staatsamt für Landwirtschaft. Die deutschnationalen Parteien waren pro-minent vertreten, mit einer Prominenz freilich, die keinerlei Bodenhaftung mehr verbürgte : Karl Urban war vor nicht allzu langer Zeit noch kaiserlicher Handelsmi-nister gewesen und kehrte jetzt in sein altes Ressort zurück ; Raphael Pacher (Un-terricht) stand als verbindliches Aushängeschild der Deutschradikalen immer schon auf dem Sprung ins Ministerium ; zwei weitere Deutschböhmen (Julius Roller, später lange Zeit Präsident des Obersten Gerichtshofes, und der Egerländer Agrarier Josef Mayer) komplettierten die Liste. Wenn man bedenkt, dass auch die Sozialdemokra-ten fast durchgehend in Böhmen und Mähren geboren waren, gewann das Kabinett rasch den Eindruck einer sudetendeutschen Regierung im Exil, oder doch : am Wege ins Exil ; ihr Engagement erfolgte nicht zuletzt, um diesen Weg vielleicht doch noch überflüssig zu machen.

Die Alpenländer fehlten fast vollkommen, bis auf den Kärntner Steinwender. Die vier »schwarzen« Staatssekretäre waren – mit Ausnahme Stöcklers – allesamt gebür-tige Wiener, darunter allerdings einige, die inzwischen in Niederösterreicher zweit-rangige Posten bekleideten, vom Bürgermeister von Schönau (Carl Jukel) bis zum Stadtrat von Amstetten (Johann Zerdik), aber bald wieder in der Versenkung ver-schwanden. Die Christlichsozialen im Westen und im Süden blieben lieber daheim. Das eigentliche Geschehen spielte sich in den Ländern ab. Bei dieser passiven Re-sistenz des Gros der Partei mochten prosaische Ursachen, wie z. B. die chaotischen bis inexistenten Bahnverbindungen, eine Rolle spielen. Dennoch war die Situation bezeichnend. An Wien hielten sich im November 1918 in erster Linie die Wiener – und die Länder, die Wien – wie sich bald herausstellte – nicht mehr halten konnte.

Auch die nächste Entscheidung wurde Deutschösterreich binnen einer Woche von außen nahezu aufgezwungen. Den Waffenstillstand von Villa Giusti mit Italien am 3. November hatte der Staatsrat noch kluger- und perfiderweise mit einer völlig unrevolutionären Erklärung der negativen Kompetenz quittiert. Während sich in Deutschland die Männer, die am 11. November den Waffenstillstand mit der En-tente unterzeichneten, ein Leben lang als »Novemberverbrecher« beschimpfen lassen musste, erklärten sich ihre österreichischen Kollegen dafür nicht kompetent. Derlei Dinge zählten zum Bereich der gemeinsamen Angelegenheiten der Monar-chie, sie hätten damit nichts zu tun. Hinter dieser Fassade mochte man diskutie-

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ren, ob das neue Deutsch-Österreich jetzt neutral sei, weiter ein Bundesgenosse des Deutschen Reiches oder bloß ein Freund, auf alle Fälle wies man jeglichen Hand-lungsbedarf weit von sich. Selbst die Frage, ob man zum Schutz vor einem italieni-schen Einmarsch oder Plünderungen reichsdeutsche Truppen einladen solle, wurde salomonisch dahingehend entschieden, wenn sie es für richtig hielten, würden die Deutschen es schon von selbst tun, man könne sich da nur die Finger verbrennen.265

Doch um den 8./9. November kam Bewegung in die Sache : Die Verhandlungen mit den Tschechen, die Deutsch-Österreich von einem Drittel seines Staatsgebiets trennten, hatten sich festgefahren. Die Wiener benötigten ganz dringend Kohle ; Prag forderte dafür die Anerkennung des böhmischen Staatsrechts, den Verzicht auf die Sudetengebiete. Im Staatsrat prallten die Gegensätze hart aufeinander. Wie oft in außenpolitischen Fragen gingen die Differenzen quer durch die Parteien. Sollte man sich jetzt schon, zu einem Zeitpunkt, wo man denkbar schlechte Karten hatte, in Konflikte mit den Tschechen einlassen ? War es da nicht vernünftiger, auf die Friedenskonferenz zu vertrauen, auf Wilson, den Weltgeist oder auf die sozialisti-sche Weltrevolution und inzwischen gute Miene zum bösen Spiel zu machen ? Die Gegenseite leitete daraus den Vorwurf ab, drei Millionen Sudetendeutsche um ein Linsengericht zu verschachern, genauer : um ein paar Waggons Zucker oder Kohle.

Ein Schluss freilich ließ sich aus der Talfahrt der deutsch-tschechischen Beziehun-gen ziehen. Die Vorstellung einer Zusammenarbeit der Völker der Monarchie über das Ende der Monarchie hinaus war damit obsolet geworden und endgültig diskre-ditiert. Renner, bislang nach beiden Richtungen offen, traf jetzt seine Entscheidung : Die Unabhängigkeit eines deutsch-österreichischen Rumpfstaates wischte er mit den berühmten Worten vom Tisch, es könne wohl nicht »der höchste Traum unserer nationalen Entwicklung« sein, dass wir »Hotelportiers für englische Lords abgeben oder für solche, die in Gewänder englischer Lords gekleidet erscheinen«. Damit stieß er auf keinen Widerspruch. Entscheidend war die Schlussfolgerung aus diesem Befund. »Man möchte uns zwingen in einem Verband mit Österreich zu bleiben.« Allein die Wortwahl war bezeichnend. Österreich, das war die alte Monarchie, nicht der neue Staat. Bis vor Kurzem hätte Renner selbst dieser Perspektive durchaus et-was abgewinnen können. Der Konflikt mit den Tschechen ließ ihn umdenken – und nicht nur ihn. Jetzt blieb nur mehr der Anschluss an Deutschland ; nur so konnte auch der Anspruch auf die Sudetengebiete einigermaßen plausibel gemacht werden. Otto Bauer erklärte den Anschluss »gewissermaßen für eine Kriegserklärung an die Czechen«, versprach sich dafür aber wenigstens Hilfe aus Deutschland.

Freilich : In Deutschland wurde am 9. November die Republik ausgerufen. Die Entscheidung über die Staatsform Deutsch-Österreichs hätte ursprünglich der erst noch zu wählenden Konstituante vorbehalten bleiben sollen. Darauf wollte man jetzt nicht mehr warten. Die Berliner Entscheidung erschien maßgebend. Der sozial-demokratische Parteitag hatte sich schon eine Woche zuvor prinzipiell für die Re-

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publik ausgesprochen. Die Linksradikalen benützten das Thema für ihre Agitation. Die bürgerliche Welt war damals in ihren Sympathien wohl noch gespalten ; die Deutschnationalen noch keineswegs so hysterisch antilegitimistisch wie ein paar Jahre später. Präsident Dinghofer, der den Beschluss über die Republik am nächsten Tag von der Rampe des Parlaments aus urbi et orbi zu verlesen hatte, hielt den An-trag am 11. November selbst noch für verfrüht.266

In Dinghofers heimatlichem Linz begrüßte die nationalliberale »Tagespost« die Republik noch äußerst verhalten : Man gab zu, das Wort Republik klinge vielen noch wie ein Aufruf zu unerhörtem Umsturz in den Ohren. Viele würden wohl lieber »die Tradition des Reiches und seiner Dynastie fortführen«. Da sei es ein Trost, »nicht kaiserlicher sein zu müssen als der Kaiser«, der seine Untertanen mit seiner Verzichtserklärung »aus einem keimenden Gewissenszwang befreit« habe. Aber im Zweifelsfalle wollte man lieber die politische Ordnung opfern als die gesellschaftli-che Ordnung einem Umsturz aussetzen. Stöckler formulierte es im christlichsozia-len Klub ganz unverblümt : »Wenn wir nicht radikal wirken können, werden wir einmal ohne Volk dastehen.«267

Das Votum gegen die Monarchie wurde bewusst nicht als politische Grundsatz-entscheidung ausgeschildert, als Abrechnung oder Bruch mit sechs Jahrhunderten deutscher und österreichischer Vergangenheit, sondern als pragmatische Forderung der Tagespolitik. Den Skeptikern sollten nach Möglichkeit goldene Brücken gebaut werden. Renner formulierte es ohne jedes Pathos, man folge einfach dem Zug der Zeit, wenn man auf eine Staatsform verzichte, »die von ihren Trägern selbst zur Zeit als unhaltbar empfunden wird«. Alexander Lernet-Holenia hat in seiner Novelle »Die Standarte« die Enttäuschung seines Fähnrichs Menis beschrieben, der nach Schönbrunn pilgert, um sich dem Kaiser zur Verfügung zu stellen, dort aber bloß auf Abreisevorbereitungen stößt. Freilich, die Resignation des Monarchen basierte auf der Erkenntnis, dass im Augenblick jeder Widerstand tatsächlich vergebens wäre ; worauf es ankam, war sich ein Hintertürchen für die Zukunft offen zu halten. Sein Minister Seipel lehnte es in den ersten Novembertagen dezidiert ab, auf Wunsch seines Parteiobmannes Hauser den Kaiser zur Abdankung zu überreden. Der Kom-promiss lautete, der Kaiser verzichte auf jeden Anteil an den Regierungsgeschäften, sprich : auf Rechte, die ihm in Deutsch-Österreich laut Koalitionspakt vom 30. Ok-tober ohnehin längst verwehrt waren.268

Wenn außerdem davon die Rede war, Karl werde im Sinne der demokratischen Monarchie die Entscheidung Deutsch-Österreichs über seine Staats- und Regie-rungsform anerkennen, so war damit jedenfalls nicht die Abstimmung gemeint, die im Staatsrat einige Stunden zuvor stattgefunden hatte. Das Protokoll verzeichnet dazu lakonisch, der Passus »Republik« sei mit allen gegen drei Stimmen angenom-men worden. Drei von zwanzig Stimmen, das klang nach einer verschwindenden Minderheit. Drei Gegenstimmen waren kurz darauf freilich auch bei einem anderen

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Thema zu verzeichnen. In diesem zweiten Fall wurde das Abstimmungsergebnis prä-ziser festgehalten, nämlich mit 6 zu 3. Damit erhebt sich die Frage, wie viele Staats-ratsmitglieder zum fraglichen Zeitpunkt tatsächlich anwesend waren. Im Protokoll waren maximal siebzehn eingetragen ; in der Reichspost hieß es am nächsten Tag, drei Christlichsoziale hätten gegen die Republik gestimmt, die anderen drei fehlten. (Nur Jerzabek stimmte als Einziger gegen den Anschluss, doch offenbar nicht gegen die Republik ?) Von den Deutschnationalen galt Mayer als Anhänger der Monarchie ; Teufel unterstützte den Antrag Renners am 11. November zwar »auf das Herz-lichste«, doch gerade er sollte schon bald darauf als berüchtigter »Karlist« gelten.

Robert Freissler als Landeshauptmann des Sudetenlandes – im Zivilberuf Sekretär der Troppauer Handelskammer – fasste zusammen : »Das Tragische der Situation liegt für uns darin, da wir unter dem dringenden Gebot der Stunde über Prinzipien-fragen, in denen unsere Meinungen doch geteilt sind, Beschluß fassen müssen. Wir müssen das Wort Republik aussprechen und müssen den Anschluß an das Deut-sche Reich aussprechen, insbesondere als Vertreter der Randbevölkerung.« Das klang nicht nach rückhaltloser Begeisterung. Bei den Wienern zählte die Revoluti-onsfurcht, oder wie Dinghofer es formulierte, die Gefahr, »russische Zustände bei uns einreißen zu lassen«. Für die »Randbevölkerung«, die immerhin drei Millionen Sudetendeutschen, zählte das Argument, ohne den Rückhalt an Deutschland völlig verloren zu sein. Bauer redete ihnen ins Gewissen, »wir können den Anschluß an Deutschland, das eine Republik ist, nicht proklamieren, ohne selbst zu sagen, daß wir eine Republik sind.«269

Die Beschlüsse des Staatsrates wurden am nächsten Tag von der Nationalversamm-lung klaglos verabschiedet, weil man sich kontroverse Debatten ersparen wollte. Mi-klas wies darauf hin, eine Volksabstimmung wäre den Christlichsozialen lieber gewe-sen ; aber man wolle die Einigkeit bei Gott nicht stören. Präsident Dinghofer schloss die Szene mit dem Hinweis auf die Adressaten : »Unsere Volksgenossen harren draußen vor dem Haus der frohen Botschaft.« Bei der Verlesung der Proklamation kam es dann zum berühmten Eklat. Linksradikale Demonstranten verstümmelten das Rot-Weiß-Rot, die alten Babenbergischen Farben, für die man sich entschieden hatte, zu einem einfärbigen Banner. Es kam zu Schießereien vor dem Parlament. Die Begleitumstände der Zeremonie wurden unfehlbar als schlechtes Omen gedeutet.270

Weit schlimmer : Die Hoffnungen, die sich an die Proklamation vom 12. Novem-ber knüpften, die Rettung des Sudetenlandes durch reichsdeutsche Hilfe, erwiesen sich als illusorisch. Berlin hatte im Vorfeld der Friedenskonferenz mit genügend eigenen Problemen zu kämpfen, um sich mutwillig an einer weiteren Front zu enga-gieren. Die Proklamation wurde als Absichtserklärung gewürdigt, auf die man später gerne zurückkommen werde. Praktische Folgerungen wurden daraus vorerst keine gezogen. Auch die Revolutionsfurcht, die als Treibsatz für den überstürzten Schritt herhalten musste, wurde binnen Jahresfrist als Popanz entlarvt. Die unmittelbaren

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Beweggründe für den »kühnen Griff« nach der Republik waren somit hinfällig. Den-noch wurde der Beschluss selbst nicht mehr in Zweifel gezogen.

Die normative Kraft des Faktischen begann ihre Wirkung zu entfalten, gegen die Monarchie, so wie sie es vor 1918 für die Monarchie getan hatte. Wer psycholo-gische Erklärungsmuster liebt, mag zum Schluss kommen, das schlechte Gewissen drängte die frischgebackenen Republikaner dazu, die Monarchie, den Legitimismus und »Karlismus«, jetzt erst recht zu verteufeln, um die eigene Entscheidung nach-träglich zu rechtfertigen.

Große Koalition mit gebundener Marschroute

Das Vierteljahr nach der Staatsgründung war ausgefüllt mit der Sorge ums tägliche Überleben. Noch war bis Anfang März 1919 die Blockade der Entente in Kraft, man behalf sich mit dem Tauschhandel über die neu entstehenden Grenzen hinweg ; die Länder, ja manche Stadtgemeinden (wie z. B. Bregenz) gingen dabei vielfach selbst-ständig vor, ohne Rücksprache mit der Wiener Regierung.

Politisch hieß es abwarten, auf vox Dei und vox populi, auf die Friedensbedin-gungen der Entente und auf das Votum des Volkes, die Wahlen zur Konstituieren-den Nationalversammlung, die für den 16. Februar 1919 anberaumt waren. Gewählt werde sollte auf dem Staatsgebiet Deutsch-Österreichs ; die Entscheidung darüber, was zum Staatsgebiet zählte, sollte aber erst auf der Friedenskonferenz fallen. In diese Zeit fielen dann auch die Sirenenklänge von Entente-Vertretern wie z. B. Allize, dem Chef der französischen »mission d’information et d’enquete economique« in Wien, Deutsch-Österreich könne mit viel günstigeren Bedingungen rechnen, wenn es sich vom Anschluss an Deutschland lossage. Man hatte den Anschluss proklamiert, um die deutschen Gebiete im Norden zu retten. Inzwischen hieß es, man werde nur daran festhalten, wenn deshalb wenigstens keine Gebiete im Süden verloren gingen.271

Die Tiroler setzten auf die italienisch-französische Rivalität und hofften ohne Deutschland – und vielleicht auch ohne Wien – vielleicht doch noch Südtirol be-halten zu können. Man hätte sich den Kopf nicht weiter zerbrechen müssen. An-fang März einigten sich Franzosen und Italiener, das wechselseitige Werben um die Sympathien der Österreicher einzustellen. Sobald der Beschluss bekannt wurde, fiel »die Phalanx der Anschlussgegner, die Allize mit großer Mühe aufgebaut hatte, wie ein Kartenhaus zusammen«. Letzter Anstoß war möglicherweise die Abstem-pelung der Kronen, die Währungstrennung, die in diesen Tagen von tschechoslo-wakischer Seite einsetzte. Damit war jegliche Donaukonföderation hinfällig, zu der man Österreich vielleicht hätte überreden wollen. Ob die Österreicher jetzt ihren Sanktus dazu gaben oder nicht : Der Anschluss wurde verboten – und Südtirol fiel an Italien.272

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Inzwischen, bevor die Beratungen in Paris noch so wirklich begonnen hatten, waren alle Betroffenen bemüht, vor Ort vollzogene Tatsachen zu schaffen. Für die Öster reicher ergab sich daraus ein militärischer Prestigeerfolg, der Kärntner Ab-wehr kampf, als freiwillige Milizen die eingedrungenen slowenischen Verbände noch vor Jahresende wieder über die Karawanken zurückwarfen – und ein unvermeid-licher Rückschlag größten Ausmaßes, als die Tschechen binnen weniger Wochen das gesamte Sudetenland okkupierten. Militärisch konnte man den Tschechen nicht entgegentreten, weil zumindest die »tschechoslowakische Legion« als reguläre En-tente-Truppe galt. Schlimmstenfalls genügte schon ein einsamer französischer Of-fizier, den sie im Gepäck mitführte, um jeglichen Gedanken an Widerstand in die Nähe eines Vergehens wider die Bestimmungen des Waffenstillstandes zu rücken.273

Für den Fall, dass größere Teile des Staatsgebiets bis zu den Wahlen von frem-den Truppen besetzt wurden, hatte man auch bereits entsprechende Vorsorge ge-troffen. Die Abgeordneten dieser Wahlkreise wären im Einvernehmen der Parteien bis auf Weiteres vom Staatsrat zu ernennen. Das war eine schöne Geste, die bewei-sen sollte, dass man die bedrängten Volksgenossen in der Stunde der Not nicht im Stich ließ und zäh an allen Gebietsansprüchen festhielt. Freilich, mit dem Vorrücken der Tschechen ergab sich ein bedenkliches Missverhältnis : Am 16. Februar konnten nur mehr in weniger als zwei Dritteln der 255 Wahlkreise auch tatsächlich Wahlen abgehalten werden. Konnte sich eine Versammlung, die zu über einem Drittel aus kooptierten Mitgliedern bestand, noch auf ihre demokratische Legitimation beru-fen ? Das Problem war schon lange vor dem Wahltag absehbar ; doch typischerweise beschloss man, bis zum 16. Februar darüber nicht weiter zu reden und zu rechten.

Der 16. Februar endete bekanntlich mit einer »roten Springflut, die uns wie eine Naturgewalt ereilte«.274 Freilich : Für eine absolute Mehrheit der Sozialdemokraten reichte es auch wieder nicht. Nach den ersten Ergebnissen erzielte die Partei mit 41 % der Stimmen 69 von 159 Mandaten. Ohne die Frauenstimmen wäre es sich vielleicht ganz knapp ausgegangen. Vor allem aber, wie die AZ festhielt : Die Mehr-heit wäre wohl ziemlich sicher erzielt worden, wenn in den Sudetengebieten ge-wählt worden wäre. Dort lag die Partei schon in der Vorkriegszeit bei 40 % der Stimmen. Wenn man auch dort – wie in Wien und den Alpenländern – ein Plus von 12–15 % oder mehr einkalkulierte, war diese Überlegung nicht von der Hand zu weisen. Doch »die tschechische Okkupation hat das verhindert.«275 Erwies sich der argböse slawische Feind somit als Retter des deutsch-österreichischen Bürgertums vor dem roten Würger ?

Nun waren für genau diesen Fall ja die Bestimmungen des § 40 der Wahlordnung geschaffen worden. Der Haken war nur, die Ernennungen sollten im Einvernehmen der Parteien stattfinden. Die knappen Mehrheitsverhältnisse machten eine solche Einigung nicht einfacher. Ursprünglich hatte man an das Stimmenverhältnis der Wahlen von 1911 als Ausgangspunkt gedacht. Damit würden sich die Sozialdemo-

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kraten inzwischen naturgemäß nicht mehr zufriedengeben. Die bürgerliche Seite erhöhte ihr Angebot deshalb bis auf die Hälfte oder doch fast die Hälfte der sudeten-deutschen Mandate. Das Offert war fair, aber nicht überzeugend. Denn damit war eine Mehrheit in der Konstituante immer noch nicht zu erreichen, die prinzipiellen Bedenken aber nicht ausgeräumt. Josef Seliger, der Obmann der deutschböhmischen Sozialdemokratie, erteilte daher allen weiteren Verhandlungen über das Thema am 22./23. Februar eine deutliche Absage.

Seligers Njet hatte schwerwiegende Folgen, in zweierlei Hinsicht. Sein Verzicht auf die »Exilabgeordneten« in Wien war keineswegs als taktischer Rückzug zu wer-ten, im Gegenteil : Die politischen Eliten sollten sich seiner Meinung nach nicht in ihre Wiener Büros zurückziehen, sondern den Kampf im Lande selbst aufnehmen. Dieser Kampf sei »unvermeidlich«, denn »wie sollen uns die Ententevölker glauben, daß wir es wirklich ernst meinen mit unserer Sache, da wir uns der Gewalt willig fügen.« Auch wenn Seliger ergänzte, dabei sei selbstverständlich nicht an einen Auf-stand gedacht, endete sein Plädoyer doch in dem Satz : »Wir können die sittlichen Ansprüche auf unser Recht nur rechtfertigen, wenn wir uns ihm selbst zum Opfer bringen.« Diese Opfer gab es dann auch : Als am 4. März in Wien die konstituie-rende Nationalversammlung zusammentrat, fanden im Sudetenland allenthalben Massendemonstrationen für das Selbstbestimmungsrecht statt. In mehreren Städten, z. B. im böhmischen Kaaden und in Mährisch-Sternberg, verlor das tschechoslowa-kische Militär die Nerven und eröffnete das Feuer. Die Bilanz betrug mehr als fünf-zig Todesopfer.276

Für Deutsch-Österreich hatte Seligers Veto ebenfalls Folgen, wenn auch keine so blutigen. Ohne sozialdemokratischen Wahlvorschlag konnte der Staatsrat keine der vorgesehenen Ernennungen vornehmen. Man gab deshalb die Devise aus : Die Nationalversammlung möge sich selbst darum kümmern. Nur für Südtirol und die Untersteiermark wurden, vielleicht nicht ganz konsequent, ein paar zusätzliche Ab-geordnete nominiert (acht für Südtirol, drei für die Steiermark). Man klammerte sich dabei an die Fiktion, das Votum der unbesetzten Landesteile liefere einen Schlüssel über die Mandatsverteilung. Nutznießer der Südtiroler Regelung waren die Christ-lichsozialen, die jetzt wieder bis auf drei Mandate an die Sozialdemokraten heran-kamen. Leidtragende der ausbleibenden Regelung für das Sudetenland waren die freiheitlichen Bürgerlichen, die – bis auf Dinghofer – praktisch ihrer gesamten Füh-rungsmannschaft verlustig gingen. Der Znaimer Teufel, bisher oft im Schlepptau seines südmährischen Landsmannes Renner zu finden, beendete sein Gastspiel im Staatsrat deshalb auch mit einem Misstrauensantrag gegen den Staatskanzler.277

Die »Großdeutsche Vereinigung«, die noch kurz nach den Wahlen mit einer Auf-stockung auf 50 oder 60 Abgeordnete gerechnet hatte, umfasste jetzt nur noch 26 Mitglieder. Diese 26 hätten zwischen den 72 Sozialdemokraten und 69 Christlich-sozialen theoretisch immer noch als Zünglein an der Waage fungieren können, doch

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danach stand ihnen nicht der Sinn. Die Großdeutschen optierten für eine Politik der freien Hand und nominierten – zum Leidwesen der Christlichsozialen – keine Ver-treter mehr für das Kabinett Renner II. Das Angebot der Gegenseite, wie man es in der AZ vom 5. März 1919 nachlesen konnte, war auch keineswegs dazu angetan, eine Regierungsbeteiligung als besonders wünschenswert erscheinen zu lassen. Mit mil-dem Spott machte sich das Blatt über diejenigen lustig, die »sich noch einbilden, die Stimmenzahlen wären das, was zum Schluß den Ausschlag gibt«. Die Weltgeschichte sei nun einmal über parlamentarische Mehrheiten erhaben. »Die Welt ist nun auf dem Weg zum Sozialismus und keine Macht kann es zuwege bringen, daß sich der Weg der Menschheit wendet.« Diese gebundene Marschroute, dass »heute nur eine sozialistische Politik denkbar und möglich« sei, stand am Anfang der später so be-trauerten Großen Koalition, die nach Ansicht ihrer Gründerväter überhaupt keine Koalition sein sollte, jedenfalls nicht »in dem vulgären Sinn, daß heterogene Par-teien sich zusammensetzen und eine Allianz schließen, die nur auf den Werktagsbe-trieb gerichtet ist«. Gesucht wurden ausschließlich Mitarbeiter im Weinberg des Herren, am Aufbau des Sozialismus. Es kann nicht verwundern, wenn diese Erwar-tungshaltung von der anderen Seite mit diversen Hintergedanken beantwortet wurde.

Auf der formalen Ebene wurde der Staatsrat aufgelöst, die Regierung direkt von der Nationalversammlung gewählt. Um den Staatsrat brauche es niemand leid zu tun, urteilte Hauser. Doch ganz im Gegensatz zur Situation in den Zwanziger- und Drei-ßigerjahren war damals noch den Bürgerlichen äußerst unbehaglich zumute bei der Vorstellung erweiterter Kompetenzen für die Exekutive. Es sei eine »große Gefahr, wenn nicht irgendein Hemmschuh für diese Regierung geschaffen« werde, warnte der spätere Bundespräsident Miklas. Die Christlichsozialen engagierten sich deshalb besonders für die Schaffung eines »Hauptausschusses« der Nationalversammlung, der eine gewisse Kontrollfunktion übernehmen sollte. Dem Staatskanzler sollte nicht bloß ein Stellvertreter, sondern ein »Vizekanzler« zur Seite gestellt werden.

Renner wünschte sich als Vizekanzler den Vorarlberger Jodok Fink, der ihm schon im Ernährungsamt der Kriegszeit Gesellschaft geleistet hatte. Fink selbst war mit der Aufgabe nicht glücklich und gab unumwunden zu, »parteipolitisch sei es das beste, wenn wir uns an der ganzen Kabinettsbildung nicht beteiligen«. Besondere Abscheu erregte die Vorstellung, das Ressort Kultus und Unterricht an Otto Glöckel zu über-geben, der er als langjähriger Obmann des ursprünglich überparteilich-antiklerika-len Vereins »Freie Schule« als Gott-sei-bei-uns galt. (Um den Finanzminister riss man sich in einer Zeit des »finanziellen Ruins« schon viel weniger. Großdeutsche Blätter beschwerten sich später, die »kirchlichen Zugeständnisse der Sozialdemokra-ten seien auf Kosten des produzierenden Bürgertums erkauft«.)

Just der spätere Linksverbinder Alfred Gürtler, erst seit wenigen Wochen bei den Christlichsozialen, richtete damals die Aufforderung an seine Parteifreunde : »Wir

Die Republikgründer und ihre HeimatAbbildung 22 : Karikatur Karl RennerAbbildung 23 : Karikatur Jodok FinkAbbildung 24 : Renner-Villa in GloggnitzAbbildung 25 : Finks Hof im Bregenzer Wald