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KATHERINE HOWE DIE FRAUEN VON DER BEACON STREET

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K a t h e r i n e h o w e

D i e F r a u e n

v o n D e r B e a c o n S t r e e t

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Für mei nen Lieb ling

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e r S t e r t e i L

D i e S a m t S c h a c h t e L

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P r o L o G

Nord at lan tik, Auf ho her See14. Ap ril 1912

i r gend wo un ter dem Ge klirr und Ge mur mel im Spei se-saal, un ter dem stets spür ba ren vib rie ren der Schiffs mo-

to ren be gann eine uhr zu schla gen. helen alls ton schloss ihre hand noch fes ter um den ell bo gen ih rer toch ter, schob die Spitze von eu lahs Är mel bei sei te, um die Fin-ger in ihre arm beu ge zu le gen. Sie warf eulah, die vor lau-ter Be geis te rung das Ge wicht der Be rüh rung gar nicht zu spü ren schien, ei nen Blick von der Sei te zu. eulah war so de zent ge schminkt, dass es selbst für helens kun di gen Blick kaum zu er ken nen war, und in ih rem Ge sicht, das vor auf re gung leicht ge rö tet war, stand ein of fe nes Leuch-ten, das nur die we nigs ten jun gen Frau en in ih rer um ge-bung zu stan de ge bracht hät ten. helen seufz te vor Zu frie-den heit. Sie wur de es nie müde, die welt mit eu lahs au gen zu se hen, jung und vol ler Le bens lust.

aber na tür lich nicht zu viel Lust.»Dein haar hast du heu te aber be son ders hübsch hoch ge-

steckt«, mur mel te sie und ge lei te te eulah mit ent schlos se-ner hand auf den gro ßen trep pen auf gang zu. Die blon den Lo cken ih rer toch ter, die für helens Ge schmack meis tens viel zu un ge bän digt wa ren, hat te eulah im na cken zu ei-nem klei nen Kno ten ge schlun gen und in ein zar tes schwar-zes haar netz ge hüllt, das von ei nem klei nen Schmet ter ling

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aus email le zu sam men ge hal ten wur de. Die aus ge brei te ten Flü gel des in sekts beb ten und schim mer ten, wenn eulah sich be weg te, als wür de es je den mo ment da von fat tern.

»ist das ei gent lich mei ne Bro sche?«, frag te helen laut, als sie den haar schmuck wie der er kann te, und eulah dreh-te sich in ge spiel ter un schuld zu ihr.

»es macht dir doch nichts aus, mut ter?«, frag te sie lä-chelnd und zeig te ihre Grüb chen. »nel lie hat ge sagt, dass alle mäd chen in new York sol che Bro schen tra gen, und ich dach te …«

helen hielt ih rem Blick ge ra de so lan ge stand, um zu ver-deut li chen, dass die Bro sche im mer noch ihr ge hör te, doch ohne eulah da bei ein schlech tes Ge wis sen ma chen zu wol-len. Sie wuss te sehr wohl, dass sie mit ih rer toch ter all-zu nach sich tig war. Doch eulah hat te die be son de re Gabe, je den, der mit ihr zu tun hat te, von der ab so lu ten Lo gik ih rer an sich ten zu über zeu gen, ganz gleich, wie un or tho-dox die se wa ren. und helen muss te zu ge ben, dass nel lie, das neue mäd chen, das sie auf ihre rei se mit ge nom men hat ten, ein händ chen für die neu es ten haar trach ten hat te.

»na ja«, lenk te sie ein. eulah lach te und leg te die hand auf die ih rer mut ter. Sie wuss te, dass die Schlacht ge won-nen war, be vor sie über haupt be gon nen hat te.

»Du soll test al ler dings nicht ver ges sen, mein Lie bes, dass du bei all der new Yor ker mode im mer noch ein Bos to ner mäd chen bist«, füs ter te helen, was eulah mit ei nem Stöh-nen quit tier te. nach dem nun auch die se sanf te müt ter li che Zu recht wei sung ge äu ßert und hin ge nom men wor den war, blie ben die bei den ei nen mo ment lang am Fuße der trep-pe ste hen, um sich be reit zu ma chen.

helens Blick wan der te ein letz tes mal prü fend über das Äu ße re ih rer toch ter, um sich zu ver ge wis sern, dass al les an sei nem Platz war, be vor sie die trep pe er klom men und

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den Spei se saal der ers ten Klas se be tra ten. eu lahs blaue au-gen fun kel ten vol ler vor freu de un ter dem klei nen Schlei er, doch da hin ter lau er te noch et was an de res, das helen nur mit mühe ein ord nen konn te. Sie sah ge nau er hin. viel leicht war es ent schlos sen heit.

helen war es ge wohnt, ihr jüngs tes Kind ent schlos sen zu se hen. na tür lich hat ten alle ihre Kin der ei nen aus ge-präg ten wil len, doch eulah hat te sich die Dick köp figk-eit der alls tons be son ders zu ei gen ge macht und sie nach au ßen ge rich tet, auf eine welt, die wie eine ka put te uhr drin gend re pa riert wer den muss te, und zwar mit dem glei-chen ei fer, den ihre bei den äl te ren Ge schwis ter eher nach in nen kehr ten und auf sich selbst be zo gen. viel leicht hat-te eulah je doch auch end lich be grif fen, wel che chan cen ihr die se rei se er öff ne te, wo mög lich noch mehr, als helen ge ahnt hat te.

Die se ent schlos sen heit zeig te sich deut lich in der be son-de ren Sorg falt, die ihre toch ter an die sem abend ih rem Äu-ße ren ge wid met hat te. helen hat te mit wohl wol len quit-tiert, wel chen ein falls reich tum eulah an den tag ge legt hat te, als sie vor ih rer ab rei se den Schnei dern an der tre-mont Street ihre an wei sun gen gab, und ver mut lich hat ten die vie len Stun den, die ihre toch ter in Pa ri ser mo de häu-sern und beim Stu di um des Jour nal des Da mes et des Modes ver bracht hat te, ein Üb ri ges ge tan, um eu lahs an sprü che zu er hö hen.

Den noch hielt helen es für das Bes te, dass eulah nicht den ver such un ter nahm, all zu sehr wie eine Fran zö sin zu wir ken, zu min dest nicht, bis sie von ih rer rei se zu rück wa-ren, und war des halb auch froh, als sie sah, dass eu lahs tail le zwar leicht nach oben ver scho ben war, je doch im-mer noch mit ei ner Sa tin schär pe in leuch ten dem Zin no-ber rot ge gür tet war – Über bleib sel ei nes der De bü tan tin-

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nen klei der, die eulah im ver gan ge nen win ter ge tra gen hat te. Das wie der ver wen de te Sa tin stück war mit ei nem schma len Strei fen Krepp sei de ein ge fasst, mit Spitze dra-piert und schmieg te sich über aus vor teil haft an das mie der des Klei des, wel ches zwar für helens Ge schmack et was zu tief aus ge schnit ten war, da für je doch die Gem me von eu-lahs Groß mut ter be son ders schön zur Gel tung brach te. al-les in al lem kam helen zu dem Schluss, dass die mo na te in ita li en und Frank reich bei ih rer toch ter wun der ge wirkt hat ten. eulah hat te Bos ton als fri sches, leb haf tes mäd chen ver las sen, und ob wohl sie nichts von ih rem ju gend li chen elan ver lo ren hat te, war da ein vor neh mer Glanz hin zu ge-kom men, der ge wiss auf den Ge nuss von ed len Kunst wer-ken, von opern auf füh run gen und den fei nen Ge rü chen in mo di schen res tau rants zu rück zu füh ren war.

ei nen me lan cho li schen mo ment lang ließ helen den Blick über ihre ei ge ne robe schwei fen, ein abend kleid, das schon bes se re Zei ten ge se hen hat te, je doch durch aus noch sei nen Zweck er füll te. es war aus ma ri ne blau em taft, schul ter frei, mit schwar zen Per len be stickt und mit ei ner blass blau en Schär pe um schlun gen. Jetzt wünsch te sie, sie hät te es doch für eine auf fri schung in ma dame Planchet-tes ate li er ge bracht und we nigs tens kür zen las sen, da mit es nicht über den Bo den schleif te. im mer wie der blie ben ihre fa chen abend schu he in den Sei den fal ten hän gen, und sie muss te auf dem ge wie ner ten Bo den halt su chen. he-len run zel te die Stirn und dach te ei nen mo ment lang vol ler weh mut an ihr al ter, wäh rend ihre hand zu dem Kropf-band aus Zucht per len em por wan der te, das sich in die zar te ver tie fung un ter halb ih rer Keh le schmieg te.

na tür lich hat te eulah ih ren Lieb reiz ih rer mut ter zu ver-dan ken, und helen konn te durch aus mit Stolz ver mer ken, dass sie sich selbst gut ge hal ten hat te. nur we ni ge, ganz fei-

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ne Fält chen la gen um ihre mund win kel, ihre au gen blick-ten so klar wie eh und je, und die Lorg net te, die sie mit-tels ei ner gol de nen Ket te an ih rer tail le trug, be nö tig te sie höchs tens zum Le sen von Spei se kar ten. Die Far be, mit der sie ihr haar tön te, war über aus klug ge wählt – nicht ein-mal eulah ahn te, dass helen bei ih rem üp pi gen dunk len haar, das heu te in ei nem ele gan ten tuff auf der Kro ne ih res Kop fes zu sam men ge fasst war, der na tur et was nach ge hol-fen hat te. Zu dem schmei chel te das ma ri ne blau ih res Klei-des helens haut, die bei dem schumm ri gen elekt ri schen Licht wie Per len schim mer te. Zwar hät te sie vom äs the ti-schen Stand punkt aus Gas licht be vor zugt, doch ver mut lich woll te man auf dem Schiff nur mit den al ler mo derns ten an nehm lich kei ten auf war ten. Lan wäre si cher nicht da mit ein ver stan den ge we sen. Beim Ge dan ken an ih ren Gat ten ver düs ter te sich helens Ge sicht kurz, be gann aber fast im sel ben mo ment wie der zu strah len.

»na, wenn das nicht die Da men alls ton sind?«, dröhn te die Stim me ei nes jun gen man nes, und helen spür te, wie je mand sie am ell bo gen be rühr te. als sie sich um wand te, blick te sie in das un be schwer te Ge sicht von Deke emer son, der in sei nem et was zu en gen abend an zug vor ihr stand, mit Po ma de im haar und run den ap fel ba cken, die von den vor-a bend li chen ver gnü gun gen der her ren der Schöp fung in der Bib li o thek be reits deut lich ge rö tet wa ren.

»ach, Dec kie!«, quietsch te eulah und klatsch te in die hän de. »ich hab mich schon ge fragt, ob wir dich tref fen wür den. mut ter sagt, auf der Pas sa gier lis te ste hen ei ni ge un se rer Be kann ten, aber bis jetzt ha ben wir noch nie man-den ge se hen. ist es hier nicht wun der voll?«

»al ler dings. und das erst recht«, brach te emer son mit et was schwe rer Zun ge her vor, »da ich für das abend es sen zwei so char man te Be glei te rin nen ge fun den habe.«

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helen setz te ihr nach sich tigs tes Lä cheln auf. »mein lie-ber mr emer son, wel che Freu de. wir wä ren ih nen über aus dank bar, wenn Sie uns in den Spei se saal be glei ten könn ten. Zu tisch sind wir al ler dings mit mrs wi dener ver ab re det.« Sie leg te eine be son de re Be to nung auf den na men ih rer tisch ge nos sin und schenk te ihm ei nen be deut sa men Blick.

»ach!«, sag te emer son mit ei nem füg sa men wa ckeln sei-ner au gen brau en, denn er hat te be grif fen. »nichts an de res hat te ich im Sinn, als ich auf Sie zu trat.« er reich te bei den Frau en den arm, und un ter all ge mei nem raf fen der rö-cke hol ten sie noch ein mal tief Luft und stie gen die gro ße trep pe zum Spei se saal hi nab.

wäh rend eulah mit Dec kie über die wun der ei ner Spritz tour mit dem au to mo bil durch den Bois de Bou-logne und über die mo di schen es ka pa den der Pa ri ser Frau-en plau der te, stock te helen der atem, als sie die glit zern de Sze ne rie er blick te, die sich vor ihr ent fal te te. Die trep pe selbst war schon ein klei nes wun der und hät te wohl bes ser in ein Pa ri ser ho tel als auf ei nen oze an damp fer ge passt. Sie war aus ed lem holz ge schnitzt – Lan hät te be stimmt ge wusst, aus wel chem ge nau, und sich wahr schein lich ab fäl-lig über die ver schwen dung ge äu ßert, bei der aus stat tung ei nes Schif fes solch teu re höl zer zu ver wen den. wie die meis ten män ner, die zur See ge fah ren wa ren, konn te auch Lan sehr ei gen sin nig sein, wenn es um ver gnü gungs rei sen ging. Doch da ran gab es nichts zu rüt teln: eu lahs eu ro-pa rei se war ein muss ge we sen. wenn er die ver än de run-gen sah, wel che die Fahrt bei sei ner jüngs ten toch ter be-wirkt hat te, wenn er be merk te, wie eu ro pa ihr den letz ten, ele gan ten Schliff ge ge ben hat te, dann wür de Lan helen bei pfich ten, da war sie sich si cher.

Das trep pen haus war mit Schnör keln ver ziert und wur-de von ei ner Put te be leuch tet, die auf der Brüs tung in der

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mit te an ge bracht war und eine elekt ri sche Fa ckel trug. Da rü ber schweb te eine be leuch te te Ku gel aus Bunt glas, in Schmie de ei sen ein ge fasst, die helen an die ge wun de nen Blatt mus ter der ein kaufs ar ka den an der rue du Fau bourg er in ner te. am Fuße der gro ßen trep pe hing eine gro ße uhr mit rö mi schen Zif fern und spit zen Zei gern, de ren Zif-fer blatt sich in mit ten des rei chen Schnitz werks eher klein aus nahm. helen be trach te te die uhr, wäh rend sie die letz-ten trep pen stu fen zu rück leg ten; wahr schein lich war es die-ser Zeit mes ser ge we sen, der sie zum es sen ge ru fen hat te. helen run zel te ver wirrt die Stirn.

»mr emer son«, sag te sie und un ter brach da mit eu lahs be geis ter te Schil de rung ih rer Be geg nung mit ei nem opern-sän ger, den sie am vor a bend ih rer ab rei se nach eng land in ei nem café er späht hat te.

»Ja, mrs alls ton?«, er wi der te ihr Be glei ter, be müht um eine sau be re aus spra che.

»ist mit der uhr da drü ben et was nicht in ord nung?«, frag te sie und nick te in rich tung des Zeit mes sers.

»nein, ich den ke nicht.« er lach te und schloss mit ihr auf. »Das Schiff ist fun kel na gel neu, wis sen Sie. wie heißt doch gleich noch das wort, das See bä ren da für ver wen-den? tipp topp?«

eulah ki cher te, ramm te ih ren ell bo gen in mr emer sons Sei te, und helens Stirn run zeln ver tief te sich. ir gend et was stör te sie an der uhr. Sie kam ihr selt sam ver traut vor, ob-wohl sie sie doch noch nie ge se hen ha ben konn te. au ßer-dem konn te sie beim bes ten wil len nicht er ken nen, wel-che uhr zeit sie an zeig te. auch die se ver wir rung war ihr ir gend wie ver traut; be stimmt wür de ihr spä ter ein fal len, wo ran das al les sie er in ner te. Je den falls war es eine sehr selt sa me er fah rung.

Ge nau in die sem mo ment kam ein äl te res Paar, das helen

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vom diens täg li chen vor trags abend kann te, auf dem weg nach oben in die Lounge der ers ten Klas se an ih nen vor bei, und sie kehr te in die wirk lich keit zu rück. Die bei den ver-beug ten sich, und sie nick te und stell te ih nen ihre toch ter und mr emer son vor. Die Grup pe er ging sich ein paar mo-men te lang in all ge mei nem Lob über die Schön hei ten des Schif fes, über das öde ei ner lei des Le bens an Bord, über die Freu de, die es be rei te te, über all im aus land auf Bos to ner Be kann te zu sto ßen, über die elen den Le bens be din gun gen der pa pis ti schen Bau ern im länd li chen ita li en und über die gro ße er leich te rung, nach Bos ton zu rück zu keh ren, wo man end lich wie der eine an stän di ge mahl zeit vor ge setzt be kam.

»hör nur, mut ter, wie herr lich!«, rief eulah aus, als sie sich end lich von dem äl te ren Paar ver ab schie det hat ten. Das Sa lon or ches ter hat te zu spie len an ge fan gen, und sie schrit ten durch die emp fangs hal le und ge lang ten schließ-lich in den herr li chen Spei se saal, der in fest lich stei fem wei-ßem Lei nen ge deckt war. Klei ne Ker zen war fen ein war-mes, fun keln des Licht auf das schwe re Sil ber be steck, und der Saal war er füllt von Grüpp chen mur meln der Gäs te. am ende der em po re dreh ten sich be reits ei ni ge Paa re tan-zend im Kreis, die män ner al le samt wie aus dem ei gepellt in ih ren statt lichen abend an zü gen.

und erst die Frau en! helen lä chel te, als sie den Blick über all die Da men wan dern ließ, die wie eine Schar Pa-ra dies vö gel in mit ten von Pin gui nen die Grüpp chen von schwarz ge wan de ten män nern zum Leuch ten brach ten. Da war mrs Brown, die auf zu spü ren helen am al ler we nigs ten mühe mach te, so laut war ihr or gan mit dem west küs ten-ak zent und so auf fäl lig ihr üp pig mit nerz be setz tes abend-kleid, das eben so un pas send für ei nen abend im ap ril wie un miss ver ständ lich kost spie lig war. und dann war da die schö ne jun ge mrs astor, die ge nau so alt wie eulah und in

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eine ru hi ge Kon ver sa ti on mit mrs ap ple ton ver tieft war. Bei den Frau en war helen noch nie per sön lich be geg net, doch eulah er wähn te sie oft, wenn in den Klatsch spal ten der Town Top ics wie der ein mal über sie zu le sen war. mei-ne Güte, wie ele gant mrs ap ple ton doch aus sah! ihr Kleid war von ei nem so zar ten Perl mutt ro sa, dass es kaum mehr war als ein hauch.

mit ten in die se Über le gun gen und Be ob ach tun gen drang jetzt ein Sum men, und helen warf eulah, der ver ur sa che-rin, ei nen ta deln den Blick zu.

»ach, aber ich lie be die ses Lied, mut ter«, sag te eulah lä-chelnd. »Dum dah di dum dum du uuum.«

»Dum me Gans«, neck te mr emer son sie, wäh rend er sie wei ter in rich tung ih res ti sches lenk te. »Das Lied kannst du gar nicht ken nen. es ist brand neu. ich je den falls habe es erst kürz lich à Pa ris ge hört, und zwar in ei nem café, in das dei ne mut ter dich ganz be stimmt nicht las sen wür de.«

»und wie ich das ken ne!« eulah zog scherz haft ei nen Schmoll mund. »ich weiß so gar noch, wie der text geht.«

»ach, wirk lich?« mr emer son lä chel te.»Dum di dah dah, hmmm hmmmm silver lin ing ...«, ti ri-

lier te eulah und mal te dazu mit der be hand schuh ten hand ein paar Krin gel in die Luft, als wür de sie di ri gie ren.

» eulah!«, wies helen sie zu recht. Doch ihre er mah nun-gen wur den durch ihre an kunft an dem tisch un ter bro-chen, der für sie re ser viert war.

»nun, mei ne Da men«, sag te mr emer son und muss te sich für sei ne ver beu gung ein we nig an ei nem Stuhl rü cken fest hal ten. »Dann darf ich mich nun wohl von ih nen ver-ab schie den.«

»Sie sind zu lie bens wür dig, mr emer son«, er wi der te helen und be deu te te ihm mit ei nem nicht un freund li chen Blick, dass er ent las sen war.

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eulah schenk te ihm ihr char man tes tes Lä cheln, und nach dem er ih nen, so gut es ihm mög lich war, auf ihre Plät-ze ge hol fen hat te, zog er sich zu rück.

helen beug te sich nach vorn und woll te ge ra de eine mah nen de Be mer kung be züg lich der Ge sprächs the men ih rer toch ter ma chen, als sie durch das er schei nen von mrs wi dener, und, di rekt hin ter ihr, ei nem schnurr bär ti-gen Gen tle man un ter bro chen wur de, bei dem es sich nur um de ren Gat ten George han deln konn te. helen er gab sich mit ei nem un hör ba ren Seuf zer in ihr Schick sal und hoff te, eulah wür de so viel ver nunft be sit zen, mrs wi-dener mit ih ren ab sur den po li ti schen an sich ten zu ver-scho nen. Denn trotz des för der li chen ein fus ses, den eu-ro pa si cher auf ihre toch ter ge habt hat te, fürch te te helen, eu lahs an sich ten sei en noch im mer be denk lich fort schritt-lich. in der Gar de ro be der oper hat te helen so gar mit an ge hört, wie sie Lady ru ther ford ei nen vor trag über die dring li che not wen dig keit der ein füh rung des Frau en-wahl rechts ge hal ten hat te.

Si cher, auch helen heg te ge wis se in te res sen, die man durch aus als un or tho dox be zeich nen konn te, auch wenn es sich da bei na tür lich nicht um po li ti sche, son dern haupt-säch lich um spi ri tu el le an ge le gen hei ten han del te. mrs Dee sag te im mer, helen sei es sich selbst – und der welt – schul-dig, über die wun der vol len Din ge, die sie an ih ren mitt-woch aben den voll brach ten, Zeug nis ab zu le gen. viel leicht hat te eulah ja recht, und helen soll te ihr bes ser kei ne Pre-dig ten über das mis si o nie ren hal ten. Doch es war eine Sa-che, in ei nem näh zir kel ir gend wel chen Blöd sinn zu plap-pern, und et was ganz an de res, es beim ers ten fest li chen Din ner an Bord ei nes trans at lan tik damp fers zu tun.

»ele anor!« helen schenk te ih rer tisch nach ba rin ein strah len des Lä cheln und stup ste eulah un ter dem tisch mit

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ih rem abend schuh an, um sie zur Fas son zu ru fen. »mei ne Lie be, wie geht es ih nen? es ist so lan ge her. und dass mr wi dener mit ih nen reist. wie schön!«

»helen.« mrs wi dener nick te wohl wol lend und reich te ihr die hand. mrs wi dener rück te den her me lin um hang auf ih ren Schul tern zu recht und ließ ei nen langen ab schät-zen den Blick durch den Spei se saal schwei fen. Schließ lich seufz te sie und sank mit vor neh mer Lang sam keit ne ben helen alls ton auf den Stuhl, brach te ord nung in ihre rö-cke und lehn te sich schließ lich mit ge dul di ger un ter stüt-zung ih res man nes zurück, der dann selbst Platz nahm und be gann, mit sei nen fei schi gen Fin ger spit zen ei nen trom-mel wir bel auf der tisch plat te zu ver an stal ten. ein paar mo-men te lang herrsch te Schwei gen am tisch, wäh rend das or ches ter wei ter spiel te und die Gäs te sich in klei nen Grup-pen auf den weg zu ih ren ti schen mach ten. helen rang ver geb lich um wor te, um ein Ge spräch an zu re gen.

»nun«, mein te mrs wi dener schließ lich. »Da sind wir also.« ihr Ge mahl brumm te zu stim mend.

helen lä chel te, beug te sich ein we nig hi nü ber und hob an: »mei ne lie be ele anor, ge wiss er in nern Sie sich an mei-ne toch ter eulah. wir sind auf dem rück weg von un se rer eu ro pa rei se«, wäh rend eulah ein fach mit ei nem »wie geht es ih nen, mrs wi dener? und mr wi dener!« über die vor-stel lung ih rer mut ter hin weg ga lop pier te und die be hand-schuh te hand quer über den tisch und das klei ne Li li en-sträuß chen in der mit te hin weg streck te.

»na tür lich«, sag te mrs wi dener gnä dig und er griff kurz eu lahs hand. ihr Ge mahl tat es ihr nach.

Ge nau in die sem mo ment tauch te ein atem lo ser jun ger mann aus dem Ge tüm mel der Gäs te auf, beug te sich zu mrs widen ers ohr hi nab und füs ter te: »Da seid ihr ja, mut ter. ich hing ge ra de ge schla ge ne fünf mi nu ten an ei-

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nem tisch mit ed die cal der head fest, der mich mit ir gend-wel chen Ge schäfts plä nen voll ge quatscht hat. hab wohl die fal sche tisch num mer er wischt. muss te ihm bei na he zwan-zig tau send Dol lar ver spre chen, da mit er mich ge hen lässt.«

»aber doch nicht wirk lich, oder?«, brumm te mr wi-dener, aber der Sohn schenk te ihm kei ne Be ach tung.

Der jun ge mann ließ sich mit ei nem Grin sen auf den Stuhl ne ben sei ner mut ter fal len. »Bei na he, habe ich ge-sagt«, wie gel te er mit ei nem Lä cheln ab. mrs wi dener zeig-te das nach sich ti ge Lä cheln ei ner mut ter und wand te sich an helen.

»und Sie er in nern sich doch ge wiss an mei nen Sohn? har ry, darf ich dir die se bei den be zau bern den Da men vor-stel len, die ich aus Bos ton ken ne? mrs helen und miss eulah alls ton.«

»Freut mich«, er wi der te har ry mit ei nem kur zen ni-cken, an die bei den Da men ge rich tet.

helen ließ sich die se un er war te te ent wick lung durch den Kopf ge hen. Dann hat ten die widen ers also ih ren Sohn mit ge bracht. Ge wiss, er war äl ter als eulah, aber nicht viel. um die zwan zig, schätz te sie. Stu dent in har vard, ta del-los ge klei det. Das haar ein we nig un or dent lich, was ihm je doch das Äu ße re ei nes lie bens wer ten, et was schus se li gen Bü cher wurms ver lieh. wohl ge form tes Kinn. Schö ne ge-ra de rö mer na se. rö misch oder grie chisch? ach, den un-ter schied konn te sie sich nie mer ken. helen frag te sich, ob er wohl ge schäft lich in die Fuß stap fen sei nes va ters tre ten wür de. Bau te der nicht Stra ßen bah nen? Lan hät-te es ge wusst. aber na tür lich war sei ne mut ter eine ge bo-re ne elk ins, da spiel te das, was sein va ter mach te, kei ne gro ße rol le.

»ich sag te ge ra de zu ih rer mut ter«, nahm helen den Ge sprächs fa den wie der auf, »dass eulah und ich aus Pa ris

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zu rück kom men. es war ihre ers te rei se dort hin, wis sen Sie?«

har rys au gen ruh ten vol ler in te res se auf eulah. »na, das ist gro ße Klas se! Je der soll te min des tens ein mal in Pa ris ge-we sen sein. Dort gibt es ei ni ge aus ge zeich ne te Buch hand-lun gen. wie ha ben Sie es ge fun den?«

eulah ge stat te te sich ein rät sel haf tes Lä cheln, als kön ne sie neu er dings mit al ler hand un aus sprech li chen Ge heim-nis sen auf war ten, die har ry nur er ah nen kön ne.

»nun, ich fand es …« Sie hielt inne, als wür de sie nach dem rich ti gen wort su chen, und lenk te so erst recht sei ne auf merk sam keit auf sich. er beug te sich nä her zu ihr, um zu hö ren, was sie wohl sa gen wür de, und helens herz mach te vor auf re gung ei nen Satz.

»Zau ber haft«, be en de te eulah ih ren Satz. »al les war ein-fach zau ber haft. Die oper. Die Bäl le.«

»Die ate li ers«, mur mel te mr wi dener, an nie mand Be-son de ren ge rich tet.

»was ma chen Sie denn ge nau, har ry?«, sprang helen in die Bre sche und ret te te die ti schrun de vor eu lahs Schwär-me rei en.

»ich bin Bib li o phi ler«, sag te er be hä big, ohne auf mr widen ers hör ba res Schnau ben zu ach ten.

»ach, wirk lich?«, rief eulah, wäh rend helen ver ständ-nis los blin zel te.

»Ge nau. wir wa ren üb ri gens auch ge ra de in Pa ris. ich war auf der Jagd nach ei nem be stimm ten Buch, und mut ter und va ter hat ten be schlos sen, sie könn ten ein we nig ta pe-ten wech sel brau chen.«

»ach, Pa ris!«, ju bi lier te eulah. »Selt sam, dass wir uns nicht be geg net sind. ich kann es kaum er war ten zu er fah-ren, um wel ches Buch es sich han delt. ich lie be Bü cher, wis-sen Sie? ha ben Sie es denn ge fun den?«

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»es heißt Le Sang de Morph ée«, ant wor te te har ry und er hob sich. »und ich wer de ih nen al les da rü ber er zäh len, wenn Sie mit mir tan zen.«

mrs wi dener un ter drück te ein er schro cke nes hüs teln, wäh rend sich eulah mit leuch ten den au gen an helen wand te. »Darf ich?«, frag te sie, schon halb auf den Bei nen, wäh rend har ry ei nen mo ment zu spät die hand aus streck-te, um ih ren Stuhl zu rück zu zie hen.

»aber na tür lich, mein Lie bes!«, strahl te helen. »Küm-me re dich gar nicht um uns! viel leicht er wischst du so gar noch das Lied, das du so ger ne magst.«

Ki chernd leg te eulah die hand auf die von har ry und ließ sich von ihm vom tisch weg füh ren, wäh rend die mu-sik im ein klang mit ih rer wach sen den Be geis te rung an zu-schwel len schien. har ry stütz te sie mit fes ter hand und führ te sie mit ein paar ge üb ten wal zer schrit ten mit ten in die tan zen de men ge am ende der em po re.

helen seufz te zu frie den und dach te an den Ko til lon zu-rück, bei dem sie Lan zum ers ten mal er blickt hat te. Da mals hat te sie sich in dem stei fen abend kleid, das ihre mut ter für sie be stellt hat te, und der auf steck fri sur, die sie an je nem abend zum al ler ers ten mal trug, so er wach sen ge fühlt. he-len hat te ihn so fort be merkt, noch be vor ihre mut ter sie auf ihn hin ge wie sen und ihr mit är ger li cher Dring lich keit die vor zü ge auf ge lis tet hat te, die ihn zur gu ten Par tie mach ten. Doch helen hat te nichts von dem ge hört, was ihre mut ter sag te. viel leicht hat te ja auch die tat sa che, dass er so viel äl-ter war, dazu bei ge tra gen, dass sie so gleich be ein druckt war: Sein Ge sicht war braun ge brannt wie eine nuss, und sei ne au gen blick ten ein we nig kum mer voll und er fah ren in die welt. er hat te vie le Jah re auf See ver bracht, und es schien, als wäre ein teil von ihm im mer noch dort drau ßen auf dem meer, un er reich bar. helen zit ter te bei der er in ne rung.

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har ry wi dener war in eu lahs au gen viel leicht nicht ganz so ge heim nis voll, wie Lan es für sie ge we sen war, doch eulah be saß auch nicht helens Fai ble für das mys te ri ö se. Die sen hang zum au ßer ge wöhn li chen hat te mrs Dee so-gleich in helen ent deckt, doch er war wie ein Fun ke, der nur im Ge hei men leuch te te und den sie in der Öf fent lich-keit sehr gut zu ver ber gen wuss te.

eulah da ge gen war ein mäd chen, das nach au ßen ge-wandt war. ei gen wil lig, all zu schnell, wenn es da rum ging, ihre wün sche und mei nun gen zu äu ßern. helen hat te Sor-ge, sie hun ge re nach Le ben, als wäre es et was, das ihr zu-stand. Ge wiss wür de ein jun ger mann wie har ry – gut er-zo gen, wohl ha bend, be le sen und ver läss lich – ihr gut tun. viel leicht war er ja ein we nig lang wei lig, aber er wür de eulah auf den Bo den der tat sa chen zu rück ho len. helen press te ent schlos sen die Lip pen zu sam men. Dann wä ren auch die über vier tau send Dol lar für die Schiffs pas sa ge nicht um sonst ge we sen. Lan konn te sich noch so sehr über die aus ga ben be kla gen, aber das war es wert, wenn da mit we nigs tens ei nes ih rer Kin der un ter die hau be kam.

»Le Sang de Morph ée, in der tat«, sag te mrs wi dener wie zu sich selbst, und ließ den Blick mit ei nem aus druck er ha-be ner Lan ge wei le über die glit zern de Sze ne rie schwei fen, die sich ih nen bot.

»war auch ein har tes Stück ar beit, die olle Schwar te auf-zu trei ben«, brumm te mr wi dener, setz te sich eine gol de ne Bril le auf die nase und wand te sei ne auf merk sam keit der Spei se kar te aus schwe rem Kar ton in sei ner hand zu. auch helen wur de aus ih ren tag träu men ge ris sen, um zu be-mer ken, dass man ih nen das menü ge bracht hat te. aus tern! nun, das war ver mut lich nur an ge mes sen. und viel leicht war auch das ein gu tes omen für eu lahs chan cen. helen hielt näm lich eben so gro ße Stü cke auf gute alte am men-

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mär chen und auf aber glau ben wie auf mo der ne re an sich-ten. aha. cons ommé olga, was auch im mer das war. Ge-dämpf ter Lachs mit Sau ce mousse line an Gur ken.

»wie heißt doch gleich die ses Lied, helen?«, un ter brach mrs wi dener helens Ge dan ken mit ei nem sanf ten Stup sen ih res be hand schuh ten Fin gers an helens un ter arm.

»nun, lei der weiß ich das nicht.« helen lä chel te und er-hasch te ei nen kur zen Blick auf eulah in mit ten der tan zen-den. Sie hat te den Kopf weit in den na cken ge legt und lach-te per lend über et was, das har ry ge ra de sag te. helen frag te sich, ob sie wohl durch das im mer lau ter wer den de Ge mur-mel der tisch ge sprä che, das Klir ren von Be steck und Glä-sern und das an schwel len der Blä ser des Sa lon or ches ters hin durch wie der die uhr schla gen hö ren konn te. Schlug sie denn über haupt wirk lich, oder bil de te sie sich das nur ein? Sie schob die Fra ge bei sei te und wand te sich er neut der Spei se kar te zu, um zu se hen, welch ku li na ri sche Ge-nüs se der abend noch für sie und ihre toch ter be reit hielt.

Ge bra te ne ente in ap fel so ße. Über ba cke nes ha schee mit neu en Kar tof feln. Kal te Spar gel vi naig ret te. Gän se le ber pas-te te und – oh, da rü ber wür de sich eulah be son ders freu en – ec lairs mit Scho ko la den- und va nil le fül lung! helen dreh te sich auf ih rem Stuhl um und such te in mit ten der tan zen-den nach dem fröh li chen Ge sicht ih rer toch ter, wo bei sie in ih rer hast ver se hent lich die Kar te auf den Bo den fal len ließ, wo sie ne ben dem ver gol de ten Stuhl bein lie gen blieb.

Ganz oben auf der me nü kar te, in vor neh mer Schrift, stand der name des herr li chen oze an damp fers, der sie nach hau se brin gen wür de: TI TA NIC.

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e i n S

Bea con Hill, Bos ton, Mas sa chu setts15. Ap ril 1915

mei ne Güte, war die Luft sti ckig. Sibyl alls ton spür-te, wie ein hus ten reiz in ih rer Keh le hoch stieg, und

press te rasch ein ta schen tuch an ih ren mund, um ihn zu un ter drü cken. Gut, dass sie dies mal vor her ei nen Sprit-zer 4711 da rauf ge ge ben hat te; der fri sche, zit ron ige Duft schärf te ih ren ver stand und dräng te die übel rie chen den Dämp fe in dem Zim mer in den hin ter grund. Sie rutsch te auf ih rem Sitz kis sen hin und her und spür te, wie das herz in ih rer Brust vol ler Be klom men heit, aber auch mit ei nem selt sa men Ge fühl der er re gung ei nen Satz mach te.

auf der an de ren Sei te des ti sches sah Sibyl ei nen ihr un-be kann ten mann mitt le ren al ters, der of fen bar eben so wie sie von der düs te ren atmo sphä re über wäl tigt wur de. Sei ne au gen wa ren wäss rig, und die haut hing in schlaf fen Fal ten über sei nem ab nehm ba ren Kra gen. Sei nen na men kann te Sibyl nicht, doch ver mu te te sie, er wäre in der Klatsch pres-se leicht he raus zu fin den ge we sen, wenn sie sich die mühe ge macht hät te. Sibyl sah ihn ge le gent lich, wenn er in ei nem alt mo di schen Broug ham die Bea con Street ent lang fuhr, ei-ner der letz ten Kut schen die ser art. Stets blick ten sei ne au-gen sor gen voll drein. Selt sam, dass sie ei nan der im mer hier be geg ne ten, sich am tisch stets ge gen übersa ßen und doch nie ein wort mit ei nan der wech sel ten.

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mrs Dee be stand da rauf. auf ab so lu ter Dis kre ti on und auf ab so lu tem Schwei gen. mrs Dee hat te eine art, Din ge ka te go risch zu be stim men, die Sibyl über aus be ru hi gend fand.

Der Sa lon, in dem sie all jähr lich zu sam men ka men, war vor ei ni gen Jah ren kom plett im mo der nen Stil ein ge rich tet wor den, um mrs Dees »ge fei er tem« Sta tus ge recht zu wer-den. Seit her war das mo bi li ar ge schnitz tes ro ko ko, schwer be la den mit al ler hand Schnör keln, wachs blei chen Früch ten und tier frat zen, die Sit ze wa ren in schar lach ro ter Sei de mit ro ten Quas ten ge pols tert. im Kont rast dazu hat te man die wän de mit magenta farb ener Sei de in ro sen knos pen mus ter ta pe ziert, de ren leuch ten de Far be durch dop pelt ge häng te ma ri ne blaue Samt por tie ren vor dem ver blas sen ge schützt wur de. nur an den fran si gen Kan ten, die so lang wa ren, dass sie auf dem Bo den schleif ten, kam et was Son ne durch und hell te sie auf. Der Ka min sims be stand aus schwar zem mar mor und war mit Da guer re o ty pi en und klei nen mi ne-ra li en ge schmückt, die dicht an dicht auf ei ner Spit zen de-cke la gen, ein ge rahmt von zwei mit wal tran be trie be nen Kris tall lam pen auf je der Sei te.

auf dem Ka min stand auch eine klei ne mes sing scha le, die wie ein Blatt ge formt war und ein glü hen des Stück chen weih rauch ent hielt, des sen rauch sich lang sam zur De-cke kräu sel te. Zwei ocker far be ne tür ki sche tep pi che buhl-ten auf dem Bo den um auf merk sam keit und wur den nur von der vit ri ne an der ge gen ü ber lie gen den wand über-trof fen, die mit Por zel lan nip pes, schä kern den Bron ze nym-phen und knopf äugi gen, aus ge stopf ten vö geln, er starrt im Flug, an ge füllt war. in der mit te die ses Sam mel su ri ums von ob jek ten, die al le samt mit ei ner an stän di gen Staub schicht be deckt wa ren, leuch te te eine glas ar ti ge Ku gel in ei nem Samt bett. Sibyl be äug te sie, ohne sich ihre neu gier an mer-

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ken zu las sen, ver mut lich an ge zo gen von ih rer ma kel lo sen Sau ber keit, denn al lein die ses ob jekt schien re gel mä ßig ab-ge staubt und po liert zu wer den.

Sibyl selbst hock te auf ei nem Fuß kis sen, durch das sie im ver hält nis zum tisch in der mit te des rau mes zu tief saß. Sie hat te die Knie an ge zo gen und auf ei ner Sei te ab-ge legt, hat te eine hand über dem an de ren hand ge lenk ver schränkt. Sie war schlank, be saß e ben holz schwar ze au-gen und dunk le Brau en, eine lan ge nase und milch wei ße haut – eine jun ge Frau, die sich ger ne zweck mä ßig klei-de te, heu te eine knap pe wes te und ei nen schmalen tau-ben grau en rock trug und das haar in ei nem Kno ten hoch oben auf dem Kopf zu sam men ge fasst hat te. Der ein zi ge Schmuck, den sie sich zu ge stand, war eine klei ne Bro sche am Kra gen. er be stand aus ei nem waf fel dün nen el fen bein-plätt chen mit zwei Lor beer blät tern, das in schwarz gol de ne email le ein ge fasst war. Die Lor beer blät ter wa ren so raf fi-niert ge ar bei tet, dass man fast nicht er kann te, dass sie aus hel lem, mensch li chem haar be stan den: dem von helens mut ter. helen selbst hat te die Bro sche jah re lang ge tra gen; es war ein wun der, dass die Bro sche nicht mit auf die rei se ge gan gen war. Sibyl hob ei nen Fin ger und strich kurz da-rü ber, was sie im mer be ru hig te.

Die na del war ein alt mo di sches Schmuck stück, doch auch Sibyl selbst ge hör te ein Stück weit der ver gan gen-heit an. mit sie ben und zwan zig hat te sie sich end lich da mit ab ge fun den, dass sie für den rest ih res Le bens ver mut lich ih rem va ter den haus halt füh ren wür de. Sie ver schränk te die hän de in ih rem Schoß und bohr te ei nen Dau men na gel tief in das Fleisch ih res hand bal lens, um sich von dem un-an ge neh men Drü cken des Kor setts ab zu len ken, das auf ih-rer haut wun de Stel len ver ur sach te. viel leicht hat te eulah ja doch recht ge habt, was funk ti o na le Klei dung an ging. Sie

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ver än der te ihre Sitz hal tung, weil ihr beim Ge dan ken an ihre Schwes ter ganz mul mig im ma gen wur de. Das war ten war das al ler schlimms te. Bald wür den sie an fan gen.

»wenn Sie nun bit te alle ihre Plät ze ein neh men wür-den«, tön te mrs Dee von der Sa lon tür, wo sie ohne vor-war nung auf ge taucht war.

Das ge fei er te me di um ge noss es sehr, sei nen auf tritt zu ze leb rie ren, auch wenn das we gen mrs Dees klei ner Sta tur nicht ganz ein fach war. Sibyl ver stand des halb sehr gut, wa-rum mrs Dee im mer als Letz te den raum be trat und den mo ment der vor freu de und der Über ra schung bei ih ren Be su chern aus nutz te, um das aus zu glei chen, was ihr an an-ge bo re ner ma jes tä ti scher wür de fehl te. Dick lich stol per te sie in ei nem hum pel rock der ver gan ge nen Sai son he rein und rief ihre an hän ger mit ei ner aus la den den arm be we-gung an den ma ha go ni ess tisch, wie ein Schä fer sei ne her-de. ein schweig sa mer But ler zog für sie den am reichs ten ver zier ten Stuhl zu rück, eine be son ders auf fal len de neo -goti sche Scheuß lich keit auf ho hen rol len, in dem mrs Dee deut lich grö ßer wirk te. Sie ließ sich auf ih ren thron he rab, wäh rend sich das Dut zend Bos to ner in ih rem Sa lon zu den Stüh len be gab, die ih nen von Be ginn an zu ge wie sen wor-den wa ren.

Sibyl kann te ein paar von ih nen; ei ni ge schon von vor-her, weil man sich in der über schau ba ren Bos to ner Ge-sell schaft mit ih rem dicht ge wo be nen netz aus ehen und ver wandt schafts be zie hun gen ir gend wann ein mal über den weg ge lau fen war. mr Brown stamm te, wie Sibyl wuss te, aus Bel mont; sie war mit sei ner nich te in der tanz schu-le ge we sen. mrs Futr el le kam aus Scitu ate; der Kum mer grub mit je dem Jahr tie fe re Fur chen in ihr Ge sicht und ließ es im mer äthe ri scher wir ken. mrs hilli ard war im sel-ben Don ners tag abend-Le se zir kel ge we sen wie helen. von

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den bei den miss ne wells, die die schreck li che Ka tast ro phe bei de über lebt hat ten, war die äl te re, ma de leine, in Sibyls näh kränz chen ge we sen. ihr va ter hat te sie in je ner grau-en haf ten nacht in ein ret tungs boot ge setzt, doch ihn hat-ten sie nie wie der ge se hen.

Je den falls nicht in die sem Le ben. Sibyl zit ter te, er fasst von ei ner Käl te, die von in nen kam

und ihr eine Gän se haut ver ur sach te.Die an de ren Gäs te, wie der blei che mann, der ihr ge gen-

über am tisch saß, blie ben Sibyl ein rät sel. Sie wuss te, dass man sich hie und da über den weg lief, sich in ei ner Kir-chen bank oder bei ei ner ver an stal tung der colo nial Soci-ety in der Fer ne er blick te; mög li cher wei se ent deck te man auch ein Foto von dem ein oder an de ren in der Even ing Tran script. Doch dann tat man stets so, als wür de man sich nicht ken nen. was an je dem 15. ap ril in mrs Dees Sa lon ge schah, das wuss ten nur sie al lein.

»Das Licht, bit te«, be fahl mrs Dee dem But ler, der ge-fis sent lich das Gas in dem Kron leuch ter über ih nen he run-ter dreh te und sich dann zu rück zog. als er die Schie be tü ren des Sa lons zu zog, ver sank der raum in ei nem un heim li chen Zwie licht. Sibyl er kann te ge ra de noch die ver schwom me-nen um ris se der men schen, die am tisch sa ßen, eben so wie die Schat ten der aus ge stopf ten vö gel in der vit ri ne. Der rest des Zim mers war fins ter und schwarz, der Ge-ruch des weih rauchs schier über wäl ti gend. ihr herz schlug schnel ler.

»Lasst uns die hän de zu sam men le gen«, kam mrs Dees Stim me aus der Dun kel heit.

Sibyl streck te bei de hän de auf der küh len tisch plat te aus, die hand fä chen nach oben, und spür te, wie an de re hän de sie er grif fen, warm und be ru hi gend. Sie fand das ver schrän ken der hän de im mer selt sam ver stö rend, als

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wäre sie an der erde fest ge bun den und schweb te zu gleich mut ter see len al lein in der Lee re. es war ein fast un an stän-di ges Ge fühl, die ses Drü cken des Flei sches, so in tim und doch ano nym. wäh rend ihr all die se un an ge neh men Ge-dan ken durch den Kopf gin gen, merk te sie, wie eine der hän de die ihre un auf ge for dert drück te.

»nun«, fuhr mrs Dees Stim me fort, fern und ent rückt, »möch te ich, dass Sie alle tief Luft ho len.« Sie hielt inne. »und dann wie der aus at men. in dem mo ment, wo Sie spü-ren, wie die Luft ih ren Kör per ver lässt, möch te ich, dass Sie sich ent span nen.«

Sibyl tat, wie ihr die Stim me ge hei ßen hat te, in dem sie die sti cki ge Luft so tief in ihre Lun gen zog, wie es nur ging, und sie dann durch die nase wie der aus stieß. wäh rend sie das tat, be gann ihre Kopf haut zu pri ckeln und lo cker te sich dann, ge nau das sel be Ge fühl, das sie hat te, wenn sie nach ei nem lan gen tag die na deln aus ih rem hoch ge steck ten haar zog. Sie hol te aber mals Luft, be hut sa mer, und als sie dies mal aus at me te, wich die be eng te atmo sphä re des rau-mes zu rück, und das Pri ckeln ver stärk te sich. ihr Kopf fiel leicht nach vor ne.

»Sehr gut«, sag te die Stim me sal bungs voll, die weit weg klang. »Jetzt möch te ich, dass Sie alle ih ren Kopf voll kom-men frei ma chen. wi schen Sie ihn so sau ber wie eine Schie-fer ta fel am ende ei nes lan gen, an stren gen den Schul ta ges.«

Sibyl schloss die au gen und stell te sich das in ne re ih res Kop fes vor. Sie wisch te ein mal, zwei mal, drei mal. Dann war die ta fel leer, und Sibyl stieß er leich tert den atem aus.

»nun«, ord ne te die Stim me an, die sich im mer wei ter an den rand von Sibyls Be wusst sein schob, »möch te ich, dass Sie ihre auf merk sam keit ganz auf das Ge sicht des men-schen rich ten, mit dem Sie in Kon takt tre ten möch ten.«

Sibyl kon zent rier te sich und ver such te, sich helens Ge-

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sicht ins Ge dächt nis zu ru fen. ihre mut ter, die jün ger aus-sah, als sie war, und doch ein we nig zu hän ge bäck chen neig te. Doch Sibyl fiel es schwer, die ein zel hei ten zu er-ken nen. Zum Bei spiel das haar ih rer mut ter: wie hat te sie es bloß ge tra gen? Sibyl konn te sich nur an die hoch ge-steck ten Löck chen er in nern, die ihre mut ter ge tra gen hat-te, als Sibyl klein war, doch seit her muss te sie ihre Fri sur be stimmt ein hal bes Dut zend mal ge än dert ha ben. war helen be reits grau ge wor den, oder war ihr haar im mer noch schwarz? wel che Far be hat ten ihre au gen ge habt? ha sel nuss braun? Sibyl wuss te, dass sie nicht schwarz wie ihre ei ge nen ge we sen wa ren. Dann also blau wie die von eulah? Sibyl run zel te die Stirn und ver zog be tre ten den mund. als halb wüch si ge hat te Sibyl im mer we ni ger Lust ver spürt, helen ins Ge sicht zu schau en. was ihr von ih rer mut ter wirk lich in er in ne rung ge blie ben war, das war eine miss bil li gen de Stim me aus der Zimme re cke, die sie je doch nicht mehr mit ei nem le ben di gen, aus drucks vol len Ge sicht in Zu sam men hang brach te.

aus ir gend ei nem Grund hat te eulah ei nen deut li che ren ein druck bei Sibyl hin ter las sen. Sie war helen sehr ähn lich ge we sen, so wohl in ih ren un kon ven ti o nel len an sich ten als auch in ih rer Lie be zu schö nen Din gen, wo durch sich die Bil der der bei den Frau en in Sibyls er in ne rung über la ger-ten. Doch der jun gen, le bens fro hen eulah hat te nie mals helens miss bil li gung und Sor ge ge gol ten. Sibyl fiel es nicht schwer, sich an die leuch tend blau en au gen ih rer Schwes-ter zu er in nern, an die Grüb chen, die sich in ih ren wan gen bil de ten, wenn sie ei nen ih rer toll küh nen Ge dan ken for mu-lier te, selbst eu lahs wil de Lo cken, die nur in ei nem ele gan-ten Kno ten an ih rem hin ter kopf ge zähmt wer den konn ten, stan den ihr deut lich vor au gen. noch im mer hör te sie die wei che Fär bung von eu lahs Stim me, die ge dämpf ter und

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erns ter war, als ihr wil des aus se hen es ver mu ten ließ. ver-such te Sibyl, sich hin ge gen helen vor zu stel len, schob sich un wei ger lich eulah vor das Bild. Doch so war es auch ge-we sen, als sie bei de noch am Le ben wa ren: eulah hat te sich im mer vor ge drängt. Sibyl war ge ra de erst in ih rer vier ten Ball sai son, als ihre mut ter sie als hoff nungs lo sen Fall auf ge-ge ben und statt des sen mit vol ler Kraft eu lahs ein füh rung in die Ge sell schaft ge plant hat te. eulah, die ihre mög lich-kei ten nicht so ver geu den wür de, wie Sibyl es ge tan hat te.

»ver su chen Sie, die Ge sichts kon tu ren des men schen zu er-ken nen«, war jetzt wie der die Stim me zu ver neh men. »Die au gen. Die nase. Die Be schaf fen heit der haut. Das haar. ver su chen Sie, das Ge sicht des ge lieb ten men schen so zu se hen, als wür de er vor ih nen sit zen, hier in die sem raum.«

Sibyl hör te, wie von ver schie de nen Stel len des ti sches lei se rufe der trau er und des wie der er ken nens ka men, und sie kniff die au gen fest zu sam men, um das zu er rei chen, was man ihr ge sagt hat te. Dann konn te sie sich dies mal eben nicht helen vor stel len; auch egal. Statt des sen wür de sie ver su chen, eulah zu er rei chen. Sie lieb te ihre Schwes ter, so wie je der ihre Schwes ter ge liebt hat te, und es gab eben so viel an lass, sie zu er rei chen wie je den sonst. Ja, und da war eu lahs um riss, die gro be Kon tur ih res Ge sichts. ihre au-gen. ihre nase – mo ment. nein. ihre nase war klei ner ge-we sen. Da wa ren ihre Grüb chen. und ihr Kinn. Sibyl press-te die Lip pen zu sam men und kon zent rier te sich noch mehr.

»ah!«, hauch te die Stim me. »ich spü re, dass wir gleich Be such aus dem Jen seits be kom men! Blei ben Sie alle ru hig und kon zent riert. Sie ha ben nichts zu be fürch ten. Das al les sind un se re ge lieb ten an ge hö ri gen, die kom men, um ihre weis heit mit uns zu tei len.«

Sibyl ver spann te sich, weil sie Sor ge hat te, nicht die rich-ti gen Züge von eu lahs Ge sicht he rauf be schwo ren zu ha-

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ben. noch im mer schweb te das Bild vor ihr, trat kurz in den hin ter grund und bau te sich wie der auf, blieb je doch im mer ver schwom men und un ge nau.

»ich spü re, dass ein mann im raum an we send ist!«, ver-kün de te miss Dee, und Sibyl war ins ge heim er leich tert. nun hat te sie mehr Zeit, ihre er in ne run gen zu sam men zu-fü gen. Sie fürch te te, helen oder eulah weh zu tun, als könn-ten sie ir gend wie in die hohl räu me ih res Den kens schlüp-fen und spü ren, wie un voll kom men Sibyls er in ne rung an sie war. Sie fürch te te, die bei den könn ten ihre Lie be un ge-nü gend fin den, und schlot ter te vor angst bei dem Ge dan-ken, dass sie da mit recht ha ben könn ten.

»Sir, sind Sie hier? Kön nen Sie uns hö ren?«ein drei ma li ges schar fes Klop fen brach te das holz des

ti sches zum Be ben, und Sibyls hand rü cken schlu gen un-sanft ge gen die tisch plat te. eine Frau schrie lei se auf, und Sibyl poch te das herz bis zum hals.

»John!«, rief die Frau aus der Dun kel heit. »John, das musst du sein!«

»o Geist aus ei ner an de ren welt«, lock te mrs Dees Stim me. »Kannst du uns ver ra ten, wer du bist? Bist du ge-kom men, um dei ne er leb nis se aus dem gro ßen Jen seits mit uns zu tei len?«

»John?«, wur de sie von der Stim me der Frau un ter bro-chen, die of fen bar zu un ge dul dig war, um zu war ten. »Sag mir, dass du es bist! oh, wie sehr habe ich dich ver misst, mein Lieb ling!«

wie der wur de der tisch von drei ma li gem lau tem Klop-fen er schüt tert, und die Grup pe stieß im chor ein stau nen-des »oh!« her vor.

»ach, ich wuss te, dass du es bist!«, rief die Frau, und ihr stock te die Stim me. »es gibt so vieles, was ich dir sa gen woll te!«

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Stille senk te sich über den tisch, und Sibyl nahm die Span nung in den bei den hän den wahr, wel che die ih ren im Dun kel rechts und links von ihr hiel ten. Sie pack te fes ter zu. Ganz gleich, wie oft sie an die sen Sit zun gen teil nahm – die ers te ma ni fes ta ti on scho ckier te sie je des mal.

»Sprrrrr rich«, dröhn te eine an de re Stim me, nicht die von mrs Dee, son dern eine raue, tie fe Stim me, als wäre der Kör per des me di ums viel grö ßer ge wor den. es war ein kör per lo ser Klang, der von ir gend wo über ih ren Köp fen zu kom men schien.

»nun«, hob die Frau an und muss te hef ti ges Schluch zen un ter drü cken. »ich … ich woll te, dass du weißt … dass ich dich schreck lich ver misst habe.« Sie hielt inne, such te nach wor ten. al les war te te und lausch te ge bannt.

»und Jos iah – du wärst so stolz auf ihn! er macht sich gut in der Schu le. und was für ein ge sun der, stram mer Jun ge er ge wor den ist! er ist mir und sei nen Schwes tern eine so gro ße hil fe. im un ter richt ist er ei ner der Bes ten und …« Die Frau un ter brach sich, als wäre ihr erst jetzt be wusst ge-wor den, dass der raum vol ler Frem der war, die ih rer un-ter re dung mit dem ver bli che nen ehe mann lausch ten. Sie schluck te hör bar.

»Gu uuuuut!«, tön te die Geis ter stim me, und alle Zu hö-rer seufz ten, be wegt von die sem Se gen aus dem Jen seits.

»aber John«, warf die Frau nun ein, weil ihr klar wur-de, dass sich die ihr be mes se ne Zeit dem ende zu neig te. »ich … ich muss …« Sie schnapp te nach Luft, kämpf te schnie fend ge gen die trä nen an und hielt dann noch ein-mal kurz inne, um sich zu sam meln. Sie at me te tief ein und fuhr dann fort: »es gibt da et was sehr wich ti ges, was ich dich fra gen muss.«

Sibyl be merk te, dass das in te res se un ter den wahr heits-su chern stieg und wie eine wel le um den tisch wog te.

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Gleich wür de ein Ge heim nis ge lüf tet. Sie war froh, dass mrs Dee so sehr auf Dis kre ti on und ano ny mi tät be stand.

»Frrrr rag«, groll te die kör per lo se Stim me, und die run-de hielt ge spannt den atem an.

»nun, seit du uns ver las sen hast, ste cken wir in ziem li-chen …« Sie ge riet ins Sto cken, weil die Scham ihre Stim-me zu er sti cken droh te. »Schwie rig kei ten«, be en de te sie den Satz.

Sibyls herz zog sich zu sam men. Die meis ten der Pas-sa gie re, die an Bord des oze an damp fers er trun ken wa ren, wa ren na tür lich män ner ge we sen, da man Frau en und Kin-der stets zu erst in die ret tungs boo te ließ. es hieß so gar, das or ches ter habe noch Kir chen lie der ge spielt, als das Deck des Schif fes lang sam kipp te, um den ver blie be nen män nern mut zu ma chen. von ih rer auf op fe rung hat te Bos ton vol-ler Stolz er fah ren und sie als ein Zei chen der männ li chen Kühn heit und wür de ge wer tet, die den Söh nen ih rer Stadt in ne wohn te. we ni ger oft ka men je doch die aus wir kun gen auf die Fa mi li en zur Spra che, die die se män ner zu rück ge-las sen hat ten und von de nen jetzt vie le ohne ei nen er näh rer da stan den. So man che Fa mi lie stand nach all dem schwe ren see li schen Kum mer, den sie er lit ten hat te, nun auch noch vor dem wirt schaft li chen ruin.

»Du brauchst dir kei ne Sor gen zu ma chen, John. wir kom men zu recht. und carl ton hat sich be son de re mühe ge ge ben, sich um uns zu küm mern. er ist gleich in die Bre-sche ge sprun gen, um da für zu sor gen, dass kei ner lei Schul-den un be zahlt blei ben, und hat mir al les aus der hand ge-nom men. er ist so sehr wie du, und ich war dank bar da für, sei ne hil fe zu er fah ren und mich ganz auf die Kin der kon-zent rie ren zu kön nen. Jos iah hat es so schwer ge nom men, weißt du, und ich hat te schreck li che angst, er wür de ein see li sches Lei den da von tra gen. in der gan zen Zeit hat sich

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carl ton un er setz lich ge macht, und mitt ler wei le ver traue ich ihm voll und ganz. ich weiß nicht, wa rum mir das nie auf ge fal len war, aber er ist mir sehr er ge ben, weißt du. und die Kin der mö gen ihn auch sehr.« Die wor te pur zel ten nur so aus ihr he raus, als könn te sie durch ih ren wort schwall jeg li che ein wän de im Keim er sti cken.

»nicht dass er je mals dei nen Platz in un se ren her zen ein neh men könn te«, be eil te sie sich hin zu zu fü gen. »wir müs sen nur an die Zu kunft den ken, wir alle. und carl-ton ist ganz an ders als der Bru der, den du noch kann test. wenn du ihn nur mit Jos iah se hen könn test, dann wür dest du mich be stimmt ver ste hen …« Die Stim me der Frau er-starb, un si cher, be bend.

Schwei gen senk te sich über den tisch, als müss te sich die kör per lo se Stim me über le gen, was sie da ge hört hat te. Schließ lich war ein Seuf zer zu hö ren.

»ich … vers teeeee ehe.«»ach!« Die Frau schnapp te mit spür ba rer er leich te rung

nach Luft. »ach, mein Lieb ling, ich dan ke dir! ich wuss te, dass du nichts da ge gen ha ben wür dest, wenn du es nur ver-stehst.« Sie brach in trä nen aus, und Sibyl hör te, wie sich je mand ganz lei se die nase putz te.

»Dan ke«, mur mel te die un be kann te Frau un ter trä nen. und dann, lei ser, noch ein mal: »Dan ke.«

eine der hän de, die Sibyl hielt, drück te fest zu, als wäre ihr tisch nach bar von der Fa mi li en sze ne, die sich da ge ra de vor ih nen ab ge spielt hat te, tief be rührt. Sibyl zö ger te, er wi-der te dann den Druck.

»und nun«, dröhn te mrs Dee, de ren Stim me wie der den nor ma len, wenn gleich im mer noch et was äthe ri schen Klang an ge nom men hat te. »ich spü re, dass sich eine an de-re Prä senz zeigt. wer ist da? wer kann das sein? wir müs-sen uns alle ganz ge nau kon zent rie ren. Be hal ten Sie das

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Bild des ge lieb ten men schen, den Sie ver lo ren ha ben, vor au gen.«

Sibyl tat, wie ihr ge hei ßen, und wur de in ner lich ganz weich. Das Schnie fen der Frau, die den Bru der ih res man-nes hei ra ten wür de, trat lang sam in den hin ter grund, und sie spür te, wie sie ganz be quem und an ge nehm zu schwe ben be gann, nur noch mit mrs Dees Stim me im ohr. Sie ver-stärk te ihr Be mü hen, sich die Züge von helens und eu lahs Ge sich tern vor au gen zu füh ren, als wür de sie sie mit dem Pin sel ma len. Sie dach te an die tage kurz vor ih rem auf-bruch zu rück. an die fröh li che Stim mung bei den rei se-vor be rei tun gen. Da ran, wie nei disch sie ge we sen war. Sibyl zog die Stirn in Fal ten. es war ihre Pficht, sich an all das zu er in nern.

»Die Prä senz macht sich mir jetzt be merk bar«, mur mel-te mrs Dee. »Doch die Per son bit tet da rum, dass wir alle die au gen ge schlos sen hal ten. Sie ist schüch tern. Geist, wir wer den dei nem wunsch nach kom men. wir wol len ein-zig und al lein, dass du uns er reichst. Ganz gleich, was ge-schieht, ge lo ben wir, dich zu eh ren.«

ein tie fes Grol len er füll te den raum, doch es war nicht nä her zu be stim men. Sibyls herz schlug schnel ler.

»was ver suchst du uns zu sa gen, Geist?«, frag te mrs Dee. »Bist du trau rig? oder könn te es sein, dass du wü tend bist?«

Sibyl schnapp te nach Luft und rich te te sich in ih rem Stuhl auf. Sie hat te das Ge fühl, der tisch wür de sich un ter ih ren hän den be we gen.

»o Geist!«, sag te mrs Dee und hob die Stim me. »wir spü ren dei ne wut! Dein Le ben war zu früh zu ende. wir hö ren dei ne Qual!«

Sibyls herz klopf te laut in ih rer Brust, vor Stau nen öff-ne te sich ihr mund, und sie muss te sich dazu zwin gen, die au gen nicht zu öff nen. Denn jetzt drück te der tisch ge gen

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ihre hand rü cken. Plötz lich zuck te er, und dann hob sich ohne wei te re vor war nung eine Sei te des ti sches nach oben und fiel mit ei nem lau ten Kla cken wie der zu rück. Sibyl schrie auf, auch an de re Schreie hall ten durch den raum. Jetzt hob sich die an de re Sei te des ti sches, ließ die hän de der Sé an ce-teil neh mer nach oben hüp fen, sank dann wie-der nach un ten. Zu erst die eine Sei te, dann die an de re, bis der tisch schließ lich der art wa ckel te, als wä ren sie auf ei-nem Schiff auf ho her See. im mer hef ti ger zuck te der tisch, und die fest ver schränk ten hän de der an we sen den fo gen wild auf und ab. Dann, ur plötz lich, hör te es auf.

Sibyl spür te, wie ihre hän de vor Schweiß klamm wur den. rund um den tisch wa ren lei se Seuf zer zu hö ren, wäh rend ihre tisch nach barn den an ge hal te nen atem aus stie ßen. Die hän de, die Sibyls hän de ge packt hat ten, lie ßen los. ei nen mo ment lang herrsch te Schwei gen.

»viel leicht wer den wir nie wis sen, wes sen Zorn wir ge-ra de zu spü ren be kom men ha ben«, sag te mrs Dee mit ste-ter und be ru hi gen der Stim me. »Denn die Per son ist ohne ein wort wie der von uns ge gan gen. Doch wir kön nen si-cher sein, dass wir al lein da durch, dass wir ihm er laubt ha-ben, sei nen un mut mit uns zu tei len, ei ner lei den den See le trost ge spen det ha ben.«

Zu frie de nes Ge mur mel er hob sich am tisch, und Sibyl zit ter te von dem köst li chen Ge nuss, den es ei nem men-schen be rei tet, wenn er weiß, dass er der angst die Stirn ge-bo ten hat. Das wa ckeln des ti sches war die hef tigs te ma-ni fes ta ti on ge we sen, die sie in all den Jah ren, in de nen sie an mrs Dees Sé an cen teil nahm, er lebt hat te. Sie frag te sich, wes sen Geist sie da wohl auf ge sucht hat te. Doch es war ein mann ge we sen. helen konn te es nicht ge we sen sein, und eulah auch nicht. nie mals wä ren sie so zor nig ge we sen. Je-den falls nicht in der Öf fent lich keit.

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»wir ha ben in die sem raum so viel Zeit und ener gie auf ge bracht, dass ich das deut li che Ge fühl habe, es gibt ei-nen wei te ren Geist, der mit uns in Kon takt tre ten möch-te. rich ten Sie jetzt bit te alle ih ren Blick auf die mit te des ti sches.«

Sibyl ge horch te vol ler er re gung und lenk te ih ren Blick voll und ganz in die schwar ze Fins ter nis vor ihr. Die hän-de, die die ih ren hiel ten, pack ten wie der fes ter zu.

es dau er te eine wei le, doch dann schien sich die Be schaf-fen heit der Dun kel heit vor ihr zu ver än dern. Sie run zel te die Stirn. auf ein mal glaub te sie, ein win zi ges Licht zu se-hen, das sich sam mel te und di rekt über dem tisch schweb-te. es war nicht stark ge nug, um bis an die Ge sich ter der teil neh mer zu rei chen, doch es war da. Ganz all mäh lich ver dich tete sich das schwa che Licht zu ei ner un deut li chen Form.

Je der am tisch schien es zu se hen, das spür te Sibyl, denn sie hör te die an de ren schwe rer at men. Sie schluck te, be-müh te sich, den um riss zu er ken nen. Konn te es ein Ge-sicht sein?

ein mal, vor Jah ren, war helen ei nes abends voll kom-men atem los vor Stau nen von ei ner der Sé an cen von mrs Dee nach hau se ge kom men und hat te be geis tert er zählt, sie hät ten dort in dem Sa lon der voll stän di gen ma ni fes ta-ti on ei nes klei nen mäd chens bei ge wohnt, das, in Bett la ken ge hüllt, eine wei le vor ih ren au gen in der Luft ge schwebt habe und dann ver schwun den sei. Sibyls va ter hat te hin ter sei ner Zei tung her vor nur ein Schnau ben von sich ge ge ben, doch Sibyl, die da mals ge ra de sieb zehn Jah re alt ge we sen war und zum ers ten mal mit der Fra ge des to des kon fron-tiert wur de, war von den Schil de run gen ih rer mut ter sehr be wegt ge we sen. und erst eulah! Da mals noch ein klei nes mäd chen, hat te sie helen wie der und wie der ge be ten, ihr

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doch von dem win zi gen Ding im Bett la ken zu er zäh len. wie groß war es denn ge we sen? und wa ren die La ken sehr schmut zig? hat te ein un sicht ba rer wind um das Kind ge-weht? man stel le sich das nur vor – eine voll stän di ge ma-ni fes ta ti on aus dem Jen seits, die ihre mut ter mit ei ge nen au gen ge se hen hat te! Sibyls atem wur de knap per, und sie späh te for schend in die Dun kel heit.

Stau nend er kann te Sibyl jetzt eine Frau en hand. Sie war gänz lich aus ge formt und hing ein zeln in der Luft. ein auf-schrei der ehr furcht ging durch die ti schrun de, wäh rend die geis ter haft wei ße hand vor ih nen schweb te, von in-nen von ei nem un heim li chen Licht er leuch tet. Sibyls herz mach te vor hoff nung ei nen Satz, ein klei ner hü pfer, von dem ihr doch ganz schwin de lig wur de.

»ein Geist, der bei uns trost sucht!«, rief mrs Dee. »wir hei ßen dich will kom men, o Be su cher aus un er mess li chen Ge fil den!«

ein zu stim men des Ge mur mel schloss sich dem will kom-mens gruß an, und Sibyl be trach te te die ma ni fes ta ti on mit sehn süch ti gen au gen. Konn te es sein? Sie war sich nicht si cher. Die hand – das muss te sie doch wis sen –, die sie als Baby ge hal ten hat te, die ihr als Kind die wan ge ge strei-chelt hat te, um sie zu trös ten. was für eine toch ter wäre sie denn, wenn sie nicht die hand ih rer mut ter ge kannt hät te?

»o Geist, wie seh nen wir uns da nach, dei ne hand zu er-grei fen! Doch wir wis sen, wenn wir den Kreis durch bre-chen, könn test du ver schwin den! wie sehr uns dei ne nähe quält!« und dann fuhr mrs Dee fort: »Für wen bist du hier-her ge kom men? wie kön nen wir dich er rei chen?«

Die wei ße hand fuhr mit den Fin gern über eine un sicht-ba re ober fä che und wa ckel te da bei hin und her, als strei che sie über wel len. Die teil neh mer schrien lei se auf, weil je der sich wohl ins ge heim aus mal te, wie es war, in ei si gem was-

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ser un ter zu ge hen. Ganz lang sam ver form te sich die hand und streck te den Zei ge fin ger aus, der nun in der ti sch runde kreis te und auf je den ein zel nen teil neh mer zeig te.

Sosehr sie sich auch be müh te, Sibyl konn te nicht er ken-nen, ob die hand zu helen ge hör te. Für eulah, de ren Fin-ger schmal, spitz zu lau fend und gut ma ni kürt ge we sen wa-ren, war sie zu alt. Die hand dreh te sich, als wür de sie auf der Schei be ei nes Gram mo phons lie gen, wo bei sie bei je-dem teil neh mer kurz ver weil te, be vor sie weit er wan der te. Doch, es muss te helen sein. helen war seit Sibyls Kind-heit Spi ri tis tin ge we sen. und ge ra de ihr wür de es doch be-stimmt ge lin gen, durch die ne bel und ek to plas men des Jen seits hin durch zu fin den, um hier her zu rück zu keh ren, in mrs Dees Sa lon, in dem sie zu Leb zei ten so vie le aben de da mit ver bracht hat te, mit der Geis ter welt zu kom mu ni-zie ren. helen muss te wis sen, dass Sibyl bei mrs Dee nach ihr su chen wür de. was muss te das Jen seits doch für ein ge-wal ti ger raum sein, wenn helen so lan ge ge braucht hat te, um von dort zu rück zu keh ren! Sibyl sehn te sich schreck lich da nach, ih rer mut ter zu zei gen, was sie al les hat te tun müs-sen, nach dem sie sie ver las sen hat te, und ihre Sehn sucht, von ihr ge trös tet zu wer den, war schier über mäch tig. Sibyls ein sam keit lag auf ihr wie ein Ge wicht, das sie nie mals ab-le gen konn te, nicht ein mal für ei nen mo ment. es muss te helens hand sein. Sie muss te es sein.

Die hand dreh te wei ter ihre run den. von mann zu Frau. von Frau zu Frau. von Frau zu mann. und dann blieb sie ste hen.

Sie zeig te di rekt auf Sibyl.Das herz wum mer te in ih rer Brust, sie ver schluck te sich,

und trä nen ström ten ihr über die na sen fü gel, die wan-gen. Die hän de, die sie auf der tisch plat te hiel ten, pack ten fes ter zu und drück ten sie in ih ren Stuhl zu rück, wäh rend

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Katherine Howe

Die Frauen von der Beacon StreetRoman

DEUTSCHE ERSTAUSGABE

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 608 Seiten, 13,5 x 21,5 cmISBN: 978-3-442-20358-1

Page & Turner

Erscheinungstermin: September 2013

Von den eleganten Salons der Bostoner High Society zu den Opiumhöhlen Chinatowns. Vonden quirligen Straßen des kolonialen Shanghai zu den Decks der Titanic. Boston 1915: Die 27-jährige Sibyl Allston lebt mit ihrem schweigsamen Vater Lan,einem ehemaligen Kapitän, und ihrem Bruder Harlan, einem vergnügungssüchtigenHarvard-Studenten, in einer Villa des noblen Viertels Back Bay. Trotz der elegantenUmgebung ist Sibyls Leben von Melancholie gekennzeichnet, seit ihre Mutter Helen undihre temperamentvolle Schwester Eulah auf tragische Weise ums Leben gekommen sind.Den einzigen Trost findet Sibyl im Zirkel der verschrobenen Mrs Dee, wo sie regelmäßig anSéancen teilnimmt. Eine Fügung will es, dass Sibyl eines Tages ihre alte Jugendliebe, denPsychologieprofessor Benton Derby, wiedertrifft. Und es sieht so aus, als würde sich SibylsLeben endlich zum Guten wenden, denn schon bald können der jung verwitwete Benton undSibyl ihre Gefühle füreinander nicht mehr verbergen. Gemeinsam mit Benton kommt Sibyljedoch einem alten Geheimnis ihrer Familie auf die Spur – und entdeckt plötzlich, dass sie eineganz besondere Gabe besitzt, die sie die Welt mit völlig neuen Augen sehen lässt ...