Die Funktionen der lokalen Kasus im Tocharischen Volume 500 () || 3.0. Einleitung

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Kapitel 3 Die Verwendung der Lokalkasus bei Zeitan- gaben 3.0. Einleitung Die Kasus Instrumental (A), Perlativ, Lokativ, Obliquus und Ablativ werden auch bei temporalen Ausdrücken verwendet. Wie bei den lo- kalen Ausdrücken (s. 2.1.0. "Aufbau der Lokalkonstruktionen") wer- den die temporalen Konstruktionen meistens mit reinen Kasusformen (d.h. Verb und Kasusform) aufgebaut, und Temporalpartikel (Adverb oder Adposition) fehlen öfters. Es wird hier versucht, einen Vergleich der temporalen Verwendun- gen der Lokalkasus mit den lokalen Verwendungen durchzuführen. 3.0.1. Allgemeine Bemerkungen Es ist von verschiedenen Linguisten beobachtet worden, dass das Sys- tem der temporalen Ausdrucksweisen, sowohl im grossen und ganzen als in Einzelheiten, sich auf das System der lokalen Ausdrucksweisen gründet. Eine ausführliche Untersuchung zu diesem Thema, die ver- schiedene Sprachen der Welt einschliesst, ist von Haspelmath (1997) veröffentlicht worden. Die verschiedenen Meinungen der Wissen- schaftler zu diesem Fragenkomplex fasst er in drei Standpunkten zu- sammen (:18): a. Die temporalen Ausdrücke sind mit den lokalen Ausdrücken identisch. b. Temporale Ausdrücke beruhen auf lokalen Ausdrücken. c. Die Sprecher erfassen die Zeit durch lokale Ausdrücken. Brought to you by | University of Saskatchewan (University of Saskatchewan) Authenticated | 172.16.1.226 Download Date | 5/9/12 11:17 AM

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Kapitel 3

Die Verwendung der Lokalkasus bei Zeitan-gaben

3.0. Einleitung

Die Kasus Instrumental (A), Perlativ, Lokativ, Obliquus und Ablativ werden auch bei temporalen Ausdrücken verwendet. Wie bei den lo-kalen Ausdrücken (s. 2.1.0. "Aufbau der Lokalkonstruktionen") wer-den die temporalen Konstruktionen meistens mit reinen Kasusformen (d.h. Verb und Kasusform) aufgebaut, und Temporalpartikel (Adverb oder Adposition) fehlen öfters.

Es wird hier versucht, einen Vergleich der temporalen Verwendun-gen der Lokalkasus mit den lokalen Verwendungen durchzuführen.

3.0.1. Allgemeine Bemerkungen

Es ist von verschiedenen Linguisten beobachtet worden, dass das Sys-tem der temporalen Ausdrucksweisen, sowohl im grossen und ganzen als in Einzelheiten, sich auf das System der lokalen Ausdrucksweisen gründet. Eine ausführliche Untersuchung zu diesem Thema, die ver-schiedene Sprachen der Welt einschliesst, ist von Haspelmath (1997) veröffentlicht worden. Die verschiedenen Meinungen der Wissen-schaftler zu diesem Fragenkomplex fasst er in drei Standpunkten zu-sammen (:18):

a. Die temporalen Ausdrücke sind mit den lokalen Ausdrücken identisch.

b. Temporale Ausdrücke beruhen auf lokalen Ausdrücken. c. Die Sprecher erfassen die Zeit durch lokale Ausdrücken.

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3.0. Einleitung 267

Diese Übertragung ist hauptsächlich in den temporalen Verwendungen der Lokalpartikel (Präverbien, Adverbien und Adpositionen) zu be-merken. In einem Sprachsystem, wo das Kasussystem hauptsächlich benutzt wird, um lokale Relationen auszudrücken, wie das des Tocha-rischen, gehören auch viele Temporalbezeichnungen in das System der Lokalkasus.

Dieser Zusammenhang ist aber innerhalb eines synchronen Systems nicht immer deutlich erkennbar, weil die temporalen Ausdrücke oft metaphorischer Natur sind. Die Schaffung temporaler Ausdrücke aus lokalen Relationen als ein diachroner Prozess wird von Traugott (1978:373) folgenderweise beschrieben:

"One possibility is to argue that the use of spatial terms to express temporal relations is purely a diachronic phenomenon - the "overextension" of spatial to temporal terms in some kind of metaphoric process - but at no synchro-nic point in a language is the relation sufficient to justify the claim that there is underlying identity."

Im Gegensatz zu den vielen verschiedenen Relationen, die in einem lokalen System ausgedrückt werden können, ist zu bemerken, dass ein temporales System eigentlich nur eine Dimension und eine Richtung ausdrücken kann."3 Das bedeutet, dass von den verschiedenen Ach-sen, die in Lokalrelationen vorkommen; Frontalachse (vorne - hinten), Vertikalachse (auf - nieder) und Lateralachse (rechts - links), so gut wie ausschliesslich die Frontalachse in Temporalausdrücken auftritt.524

Zeit wird demnach in der Sprachen der Welt als Bewegung eines Objekts an einer Frontalachse entlang betrachtet. Das, was ausserhalb dieses Objekts ist, ist entweder früher oder später (s. Abbildung 4).525

523 Vgl. Fillmore (1997:45), Haspelmath (1997:21). 524 Haspelmath (1997:21). 525 Vgl. Haspelmath (1997:23).

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268 3. Die Verwendung der Kasus bei Zeitangaben

ζ = Zeit

Abbildung 4. Darstellung einer Zeitachse

Diese Bewegung wird oft (aber nicht immer) einzelsprachlich als vorwärts gerichtet betrachtet, und Lokaladverbien für 'vor, voran' bzw. 'hinter' werden für 'später' bzw. 'früher' benutzt.526

Ein Geschehen hat eine Relation zur Zeitachse. Ein Geschehen kann im Verhältnis zu einem anderen Geschehen oder anderen Ge-schehen gesehen werden, und in Relation zu diesen als früher, später oder gleichzeitig betrachtet werden.527

Die Dauer des Geschehens ist auch von grossem Gewicht. Ein Ge-schehen kann zwischen einem Augenblick und einer Unendlichkeit variieren; man unterscheidet hier zwischen Ereignis528 und Prozess. Geschehen können miteinander verglichen werden, und Anfang bzw. Ende können angegeben werden oder nicht. D.h., ein Geschehen kann als abgegrenzt oder nicht abgegrenzt gekennzeichnet werden. Es kann auch vorkommen, dass der Anfang bezeichnet ist, aber nicht das Ende, und umgekehrt.

Dies gilt auch für die Einheiten, nach denen die Zeitachse eingeteilt wird. Diese Einheiten sollte man als Zeitabschnitte definieren.529

Ebenso wie das System der Lokalrelationen auf verschiedenen Konzepte oder Gegenstände der physischen Umwelt basiert, gründet sich das System der Temporalrelationen auf die Begriffe, die Zeitab-schnitte bezeichnen.

Die Nomina, die Zeitabschnitte bezeichnen, entsprechen den Räu-men/Referenzobjekten in den vorhergehenden Kapiteln. Haspelmath teilt die Zeitabschnitte {canonical time periods) in drei Haupttypen ein (1997:26):

526 S. Traugott (1978:378), Fillmore (1997:46). 527 Traugott (1978:379f.) sequencing. 528 Fillmore (1997:46) event. 529 Haspelmath (1997:25f.) canonical time periods.

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3.0. Einleitung 269

a. Zeiteinheiten (time units): Stunde, Tag, Monat, Jahr. b. Kalendarische Zeiteinheiten (calendar unit names): Januar, Sonn-

tag. c. Qualitative Zeitabschnitte (qualitative periods): Frühling, Mor-

gen. Obwohl die Zeit öfters als eine Achse aufgefasst wird, werden Zeit-angaben sehr oft in Zyklen eingeteilt, die wiederholt werden können. Zeitangaben werden deshalb in kalendarische bzw. nicht-kalendarische eingeteilt.530 Kalendarische Zeitangaben, wie'Tag', 'Woche', 'Abend' etc. (zu denen die meisten Zeitangaben hören), haben eine natürliche Neigung zur Wiederholung, weil sie in Zyklen involviert sind,"1 sie werden aber ebenso oft als nicht wiederholt verwendet.

Bei der Auswertung temporaler Ausdrücke müssen besonders fol-gende Faktoren betrachtet werden:532

1. Das Geschehen: die Dauer und eventuelle Anfangs- bzw. End-markierung des Geschehens.

2. Der Zeitabschnitt: die Dauer und eventuelle Anfangs- bzw. End-markierung des Zeitabschnittes.

3. Die Position des Beobachters533 im Verhältnis zum Gesche-hen/zum Zeitabschnitt.

Die Position des Beobachters im Verhältnis zum Geschehen involviert die Faktoren Tempus, Aspekt und Sequenzierung (d.h. die Ordnung der Ereignisse im Verhältnis zu einander).534 Das Geschehen an sich involviert den Faktor Aktionsart. Tempus, Aspekt und Aktionsart werden einzelsprachlich oft im Verbsystem markiert, Sequenzierung in manchen Sprachen mit Temporaladverbien, 'erst', 'später', 'am näch-sten' usw. Der Faktor Aspekt ist mit der Anfangs- bzw. Endmarkie-rung des Geschehens eng verbunden, und involviert die Position des Beobachters im Verhältnis zu der Anfangs- bzw. Endmarkierung.

""Fillmore (1997:49) calendric bzw. non-calendric. "' Fillmore (1997:50) positional terms. 532 Vgl. Haspelmath (1997:28f.). 533 Mit Beobachter meint man hier (wie in 2.0.2.) den Sprecher oder die Person, von

deren Ausgangspunkt das Ereignis beschrieben wird. 534 Traugott (1978:374f.) tense, aspect und sequencing.

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270 3. Die Verwendung der Kasus bei Zeitangaben

3.0.2. Die Mitspieler temporaler Konstruktionen

Die hauptsächlichen Mitspieler temporaler Konstruktionen sind dem-nach das Agens, das Verb und die Temporalangabe/die Temporaler-gänzung.

Wie bei Lokalkonstruktionen, können in Konstruktionen, in denen Temporalbestimmungen auftreten, die Temporalbestimmungen in hö-herem oder niedrigerem Grad vom Verb abhängig sein.

Nur sehr wenige Verben können aber als 'Temporalverben', d.h. Verben, die eine Temporalbestimmung mit sich führen müssen oder sollen, angesehen werden; zu erwähnen sind hier 'dauern' oder 'ver-leben'.535

3.1. Zeitausdrücke im Tocharischen

3.1.0. 'Früher/später' und 'vorne/hinten' im Tocharischen

Im Tocharischen kommt prinzipiell keine Kreuzverwendung von lo-kalen bzw. temporalen Adverbien für vorne/hinten bzw. früher/später vor. Hier seien erwähnt: die Lokaladverbien Α anapär Β enepre (Postp.+Genitiv) 'davor, vor', A pre 'heraus aus, weg von'536, A yosmos Β yausmaus (Adv.) 'voran, (nach) vorn' und Α skärä Β askär (Adv.) 'zurück' bzw. die Temporaladverbien A nes Β naus (Adv.) 'früher, zuvor', Β yparwe (Präp., Adv.) 'zuerst, zuvor', Β parwe (Adv.) 'zuerst', Α särki(Adv.) 'später, danach' und Β postäm (Adv., Präv. und Postp.) 'später, nachher, danach'537.

Temporale Verwendungen lokaler Adpositionen kommen aber vor, wie z.B. Β epinkte (Postp.) 'zwischen, innerhalb' (4.1.4.).

535 Vgl. MLS:633. 536 Hackstein (1997:42f.) 537 Hackstein (1997:45f.).

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