Die Homilien zum Ersten Buch Samuel () || II. Medicus animarum – das Selbstbild des Predigers...

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II. Medicus animarum – das Selbstbild des Predigers Origenes 1. Autobiographisches bei Origenes Es ist eine in der Origenesforschung gängige Beobachtung, dass Origenes in seinen Werken nur sehr selten über sich selbst redet. 57 Zu den wenigen Ausnahmen gehört der berühmte Passus zu Beginn des sechsten Buches des Johanneskommentars, in dem Origenes auf die Folgen seiner Vertreibung aus Alexandria 231/32 für seine Gefühlslage und Arbeitsfähigkeit zu spre- chen kommt: Nachdem er die ersten fünf Bücher in Alexandria vollendet hatte und auch schon „bis zu einem gewissen Stück des sechsten Bandes vorangekommen“ war, wurde er durch den „in Alexandria ausgebrochenen Sturm aus Ägyptenland fortgerissen“. Weil er die schon geschriebenen Seiten in Caesarea nicht mehr zur Hand hatte, begann er das sechste Buch noch einmal neu, „da sich unsere Seele an die neuen Verhältnisse gewöhnt hat und sich nun kraft des himmlischen Wortes anstrengt, die erlittenen Anfeindungen gelassen zu ertragen“, und „da wir gleichsam einen gewissen inneren Frieden empfangen haben“, und schilderte aus diesem Anlass die Ursachen für diese Entwicklung. 58 Die Anfeindungen und Turbulenzen die- ses Konflikts hatten Origenes seiner Seelenruhe beraubt und seine Konzen- trationsfähigkeit beeinträchtigt; erst nachdem er seine innere Ruhe wieder- gefunden und sich an die neuen Lebensumstände in Caesarea gewöhnt hatte, konnte er weiterarbeiten. 59 57 Als Belege für viele sei auf Völker, Vollkommenheitsideal 104, sowie Crouzel, Connaissance mystique 528; ders., Orige `ne 46, verwiesen. Perrone, Traces of a Self-Portrait 618, zeigt allerdings, dass sich in den Werken des Origenes, besonders in den Briefen, aus denen Eusebius von Caesarea zitiert, doch etliche Bemerkungen erhalten haben, die autobiographisch ausgewertet werden können. 58 Origenes, in Ioh. comm. VI 2,812 (GCS Orig. 4, 107f.). Vgl. auch ebd. VI 1,2 (4, 106) die Bemerkung über eine „innerlich vollkommen ruhige Seele, die sich des Friedens erfreut, der jedes Begreifen übersteigt, und der jede Unruhe und jegliche Turbulenzen fremd geworden sind“. Für die historischen Hintergründe dieser Stelle siehe Blanc, SC 157, 719; zur „sensibilite ´“ des Origenes: Crouzel, Personnalite ´ d’Orige `ne 16. 59 Siehe dazu Fürst, Bildungsmilieu 7679. Von Philon, spec. leg. III 16 (V p. 150f. Cohn/Wendland), gibt es einen ähnlich gefärbten Bericht, der nicht wie von Borgen, Autobiographical Ascent Reports, im Sinne eines mystischen Aufstiegs und Abstiegs mit Vision und Audition zu interpretieren ist, sondern als temporäre Stö- Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated Download Date | 10/6/14 2:41 PM

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II. Medicus animarum – das Selbstbild des PredigersOrigenes

1. Autobiographisches bei Origenes

Es ist eine in der Origenesforschung gängige Beobachtung, dass Origenes inseinen Werken nur sehr selten über sich selbst redet.57 Zu den wenigenAusnahmen gehört der berühmte Passus zu Beginn des sechsten Buches desJohanneskommentars, in dem Origenes auf die Folgen seiner Vertreibungaus Alexandria 231/32 für seine Gefühlslage und Arbeitsfähigkeit zu spre-chen kommt: Nachdem er die ersten fünf Bücher in Alexandria vollendethatte und auch schon „bis zu einem gewissen Stück des sechsten Bandesvorangekommen“ war, wurde er durch den „in Alexandria ausgebrochenenSturm … aus Ägyptenland fortgerissen“. Weil er die schon geschriebenenSeiten in Caesarea nicht mehr zur Hand hatte, begann er das sechste Buchnoch einmal neu, „da sich unsere Seele an die neuen Verhältnisse gewöhnthat und sich nun kraft des himmlischen Wortes anstrengt, die erlittenenAnfeindungen gelassen zu ertragen“, und „da wir gleichsam einen gewisseninneren Frieden empfangen haben“, und schilderte aus diesem Anlass dieUrsachen für diese Entwicklung.58 Die Anfeindungen und Turbulenzen die-ses Konflikts hatten Origenes seiner Seelenruhe beraubt und seine Konzen-trationsfähigkeit beeinträchtigt; erst nachdem er seine innere Ruhe wieder-gefunden und sich an die neuen Lebensumstände in Caesarea gewöhnt hatte,konnte er weiterarbeiten.59

57 Als Belege für viele sei auf Völker, Vollkommenheitsideal 104, sowie Crouzel,Connaissance mystique 528; ders., Origene 46, verwiesen. Perrone, Traces of aSelf-Portrait 6–18, zeigt allerdings, dass sich in den Werken des Origenes, besondersin den Briefen, aus denen Eusebius von Caesarea zitiert, doch etliche Bemerkungenerhalten haben, die autobiographisch ausgewertet werden können.

58 Origenes, in Ioh. comm. VI 2,8–12 (GCS Orig. 4, 107f.). Vgl. auch ebd. VI 1,2 (4,106) die Bemerkung über eine „innerlich vollkommen ruhige Seele, die sich desFriedens erfreut, der jedes Begreifen übersteigt, und der jede Unruhe und jeglicheTurbulenzen fremd geworden sind“. Für die historischen Hintergründe dieser Stellesiehe Blanc, SC 157, 7–19; zur „sensibilite“ des Origenes: Crouzel, Personnalited’Origene 16.

59 Siehe dazu Fürst, Bildungsmilieu 76–79. Von Philon, spec. leg. III 1–6 (V p. 150f.Cohn/Wendland), gibt es einen ähnlich gefärbten Bericht, der nicht wie vonBorgen, Autobiographical Ascent Reports, im Sinne eines mystischen Aufstiegs undAbstiegs mit Vision und Audition zu interpretieren ist, sondern als temporäre Stö-

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14 Einleitung

Wie unabdingbar innere Ruhe für seine exegetische Arbeit gewesen ist,erhellt aus einem anderen Selbstzeugnis. In der ersten Homilie zum Ho-henlied beschreibt Origenes seine (vielleicht mystisch gefärbte) Erfahrung alsErforscher der Bibel in dem Bild, dass die Braut (die Seele) den Bräutigam(Christus) sucht, dieser sich aber immer nur kurz zeigt und sich dann wiederentzieht: „Häufig, Gott ist mein Zeuge, sah ich den Bräutigam sich mirnahen und ganz nahe bei mir sein. Doch plötzlich zog er sich zurück, undich konnte ihn dann nicht finden, den ich suchte.“ Unbeirrt sucht Origenesweiter nach Christus (in der Schrift), macht aber immer wieder dieselbeErfahrung: „Daher sehne ich mich von neuem nach seiner Ankunft, undmanchmal kommt er wieder. Und wenn er erschienen ist und ich ihn mitmeinen Händen erfasst habe, dann entgleitet er wieder. Wenn er entglittenist, wird er von mir wieder gesucht. Und das tut er häufig“, doch trotzdieses Wechselbades gibt Origenes die Hoffnung auf eine beständige Verei-nigung nicht auf, sondern tut dies so oft, „bis ich ihn wirklich festhalte undhinaufsteige“.60 Ähnlich skeptisch, was den Erfolg der exegetischen Suchenach der Vereinigung mit dem göttlichen Wort angeht, äußert sich Origenesanlässlich der Auslegung von Ps. 38(39),4: „Und in meinem Nachsinnenwird sich ein Feuer entzünden.“ Über sich selbst, also autobiographisch,meint Origenes, ehe er mit der Auslegung beginnt: „Auch ich sinne überdie Worte Gottes nach und übe mich häufig darin, sie zu studieren, aber ichweiß nicht, ob ich so jemand bin, dass bei meinem Nachsinnen aus jedemeinzelnen Wort Gottes ein Feuer entspringt, mein Herz entzündet und mei-ne Seele entflammt, zu beachten, worüber ich nachsinne.“61

rung des stillen Gelehrtenlebens durch politische Ereignisse, nämlich das antijüdischePogrom 38 n.Chr. in Alexandria und die folgende jüdische Gesandtschaft nachRom 39/40 oder 40/41, der Philon angehörte.

60 Origenes, in Cant. hom. 1,7 (GCS Orig. 8, 39); Übersetzung: K. S. Frank, CeMe29, Einsiedeln 1987, 53. Heine, Origen 186 (vgl. ders., Reading the Bible 143f.),versteht den Text zu Recht als Beschreibung der Erfahrung, die Origenes beimLesen und Erforschen der Bibel macht. Völker, Vollkommenheitsideal 103f. (vgl.ebd. 126. 134. 180f. 194f. 225 und v.a. 134–144 zu den wenigen Stellen über ,Ek-stase‘, die sich [vielleicht] auf ekstatische Erfahrungen deuten lassen), und Crouzel,Connaissance mystique 529f., hingegen werten einen solchen Text als Beleg für einemystische Erfahrung des Origenes (vgl. auch Martens, Origen and Scripture 183f.),wobei freilich Crouzel, ebd. 530–535, in seinem Bemühen beizupflichten ist, denGegensatz von Rationalismus bzw. Intellektualismus und Spiritualität bzw. Mystikin der Denkform des Origenes zu überwinden; ähnlich schon Völker, ebd. 98, der„eine rationale Unterströmung, die durch mystische Strömungen überhöht wird“,als „die eigentümliche Geisteshaltung des Origenes“ ausgemacht hat. Lieske, Lo-gosmystik 8–13, kritisiert Völker „für die Annahme mystisch-ekstatischer Erfahrun-gen“ (ebd. 15 Anm. 43), verzeichnet aber den Ansatz seiner wegweisenden Studie,wenn er Völkers Darstellung der Theologie des Origenes von daher als „bloßeProjektion oder Systematisierung subjektiv-mystischer Erlebnisse“ (ebd. 14) kritisiert(vgl. ebd. 14–17).

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15II. Medicus animarum – das Selbstbild des Predigers Origenes

Selbstzeugnisse ganz anderer Art liefern nunmehr die in der BayerischenStaatsbibliothek in München im Jahre 2012 neu entdeckten Psalmenhomi-lien (Codex Monacensis graec. 314). In einer dieser Homilien kommt Ori-genes aus eigener Erfahrung auf das Verhältnis zwischen häretischen undrechtgläubigen kirchlichen Gruppen in seiner Jugend zu sprechen und erin-nert an sein eigenes Engagement gegen häretische Ansichten: Mangels einerausreichenden Anzahl von „tüchtigen Lehrern“ in der Kirche hätten sichviele Christen, „die sich nach den Wissenschaften Christi sehnten“, „vonder gesunden Lehre ab und irgendwelchen beliebigen Lehren zugewandt“,was dazu geführt habe, dass „die Häresien zu großer Blüte kamen“. „Alsjedoch die Gnade Gottes eine reichlichere Belehrung ausstrahlte“, womitOrigenes nicht zuletzt auf seine eigene Tätigkeit als christlicher Lehrer an-spielt, „lösten sich tagtäglich die Häresien auf. Ihre angeblichen Geheimnissewurden entlarvt und erwiesen sich als Gotteslästerung und als freche undgottlose Lehren.“62 Ebenfalls autobiographisch dürfte eine Notiz zu verste-hen sein, in der sein eigener beruflicher Werdegang steckt. Zu der Aussagein Ps. 74(75),10: „Ich aber will verkünden für die Ewigkeit und lobsingendem Gott Jakobs“ erklärt er nämlich: „Unser Lehrer und Herr verfügt überso viele Wissenschaften, dass er nicht etwa für zehn Jahre verkünden kannwie der Grammatiker, der dann nicht mehr weiß, was er lehren wird, oderauch wie der Philosoph, der seine Überlieferung verkündet und nichts Neu-es mehr zu sagen hat. Dagegen sind die Wissenschaften Christi so viele, dasser für die ganze Ewigkeit verkünden wird.“63 In seiner frühen Jugend warOrigenes als Grammatiklehrer tätig, um den Unterhalt der vaterlos gewor-denen Familie zu sichern, gab diesen Beruf dann aber auf. Bei dem ebensolegendären wie ominösen Ammonios Sakkas studierte er dann Philosophie,ohne jedoch je Philosoph im professionellen Sinn der römischen Kaiserzeitwerden zu wollen. Stattdessen widmete er sich sein Leben lang den „Wis-senschaften Christi“, womit seine exegetische Tätigkeit gemeint sein dürfte– denn das wollte er ausschließlich sein: Erklärer des Wortes Gottes –, die erhier als im Prinzip nie endendes Unterfangen darstellt, da Christus, das WortGottes, in den Worten der Bibel „für die ganze Ewigkeit verkünden wird“.Analog zum Verständnis der Philosophie in der Antike beschreibt OrigenesExegese als Lebensform, die sogar über das Dasein in dieser Welt hinaus-reicht. Das ist das zugleich intellektuelle und existentielle Selbstverständnisdes christlichen Theologen Origenes.

61 In Ps. 38 hom. 1,7 (SC 411, 348). Vgl. Martens, Origen and Scripture 223.62 In Ps. 77 hom. 2,4 (Codex Monacensis graec. 314 fol. 233r). Vgl. Perrone, Ri-

scoprire Origene oggi 48f.; Übersetzung: ders., Psalmenhomilien 212.63 Ebd. 74 hom. 1,6 (fol. 161v); Übersetzung: ebd. 214.

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16 Einleitung

2. Selbstkritische Töne: Origenes, der strenge Moralprediger

Die umfangreichste Ausnahme von der Zurückhaltung der Person des Ori-genes in seinen Texten bildet das ungewöhnlich lange Vorwort64 zur latei-nisch erhaltenen Homilie über das Erste Buch Samuel. Dieser Text ist zu-gleich ein Beispiel dafür, wie die Subjektivität des Predigers, die gerade inHomilien, in denen Origenes als Lehrer eine Beziehung zu seinen Zuhörernaufbaut, im Hintergrund immer präsent ist, direkt zum Vorschein kommtund von Origenes selbst thematisiert wird.65 Im Gedankengang ähnelt dieEinleitung der Samuelhomilie dem Vorwort zum sechsten Buch des Johan-neskommentars. In beiden setzt Origenes mit einer allgemeinen, unpersön-lichen Metapher ein, die auf vieles bezogen werden könnte: im Kommentarmit dem Bild vom Bau eines Hauses, der bei ruhiger Wetterlage erfolgenmuss, damit es so stabil wie möglich wird und später den Regenstürmenstandhalten kann,66 in der Homilie mit dem Vergleich Gottes mit einemHofherrn, der auf seinem Land verschiedene Sorten von Bäumen mit teilssüß, teils bitter schmeckenden Früchten anbaut.67 Zunächst ist nicht erkenn-bar, worauf der Autor bzw. der Prediger mit dem Bild jeweils hinauswill.Erst in einem zweiten Schritt wendet er die Metaphorik auf sich selbst anund macht dabei konkrete Aussagen über die eigene Person, und zwar be-zogen auf die aktuelle Situation. Im Johanneskommentar gibt er dem Adres-saten, Ambrosius, eine biographische Erklärung dafür, weshalb er mit demsechsten Buch in Caesarea noch einmal neu anfängt, in der Samuelhomiliespricht Origenes die speziellen Umstände an, unter denen er die Predigt hält.

Die lateinische Samuelhomilie hat Origenes nicht in Caesarea, wo ersonst predigte, sondern in Jerusalem gehalten.68 Origenes spricht deshalb den

64 Origenes, in Regn. hom. lat. 1 (GCS Orig. 8, 3 bzw. OWD 7, 122f.), selbst be-zeichnet die Einleitung als praefatio. In den meisten Predigten beginnt Origenesdirekt mit der Auslegung des ersten Verses des Lesungstextes, doch ist ein Vorwortnicht ungewöhnlich, und auch ein längeres findet sich zuweilen, etwa in Num.hom. 27,1 (GCS Orig. 7, 255–258), dort ebenfalls als praefatio bezeichnet (7, 257.258). Vgl. Nautin, SC 232, 123–125, für die griechisch erhaltenen Jeremiahomilien.Ders., SC 328, 70, erklärt die ungewöhnliche Länge dieses Vorworts mit seinerThese, dass es den Auftakt zu der ganzen Predigtreihe (zur Unsicherheit dieserAnnahme siehe oben S. 11) bilde, die Origenes in Jerusalem über die Samuelho-milien gehalten habe.

65 Siehe dazu Perrone, Traces of a Self-Portrait 9–13.66 Origenes, in Ioh. comm. VI 1,1 (GCS Orig. 4, 106). Im Blick auf das Standhalten in

einer Verfolgung zieht Origenes das Bild in exhort. mart. 48 (GCS Orig. 1, 43f.)und in Luc. hom. 26,1 (GCS Orig. 92, 156) heran.

67 In Regn. hom. lat. 1 (GCS Orig. 8, 1f. bzw. OWD 7, 118f.). Zur Metapher vonGott als „Landwirt“ oder „Bauer“ siehe unten S. 234 Anm. 63.

68 Siehe oben S. 5f.

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17II. Medicus animarum – das Selbstbild des Predigers Origenes

Umstand an, dass die Gemeinde dieses Mal nicht ihren gewohnten Predigervor sich hat, den Jerusalemer Bischof Alexander, sondern ihn, den Presbyteraus Caesarea und Freund ihres Bischofs. Das wäre an sich nicht weiter er-wähnenswert, gäbe es nicht einen Unterschied zwischen Alexander und Ori-genes, der offenbar so auffällig war, dass Origenes sich bemüßigt fühlte, ihnnicht nur anzusprechen, sondern ausführlich darauf einzugehen: Alexandergalt als Prediger von außerordentlich „sanftmütiger Güte“ (gratia lenitatis), als„überaus sanfter Vater“ (lenissimus pater),69 wohingegen Origenes offenbarder gegenteilige Ruf vorauseilte: „Sucht also nicht das an uns, was ihr anBischof Alexander habt.“70 Den Zuhörern den Wert beider Arten von Pre-digern deutlich zu machen war also der Zweck der einleitenden Metaphorikvon Gott als einem Bauern, der Bäume mit unterschiedlich schmeckendenFrüchten anpflanzt, die einen süß, die anderen bitter. Mit einem Hauch vonSelbstkritik gesteht Origenes ein, dass „das Bäumchen, das auf unserer Pflan-zung wächst, einen herben Beigeschmack hat“, wirbt zugleich aber dafür,den wahren Wert solcher Bitterkeit zu sehen: Wie bei einer Medizin wirktsie nur in dem Augenblick bitter, in dem sie verabreicht wird, doch wennsich die beabsichtigte heilende Wirkung einstellt, wird sie zu einem „Me-dikament des Heils“: „Ich gebe zu, dass der Geschmack meiner Früchteetwas Bitteres an sich hat, das vielleicht aber auch eher bitter erscheint als estatsächlich zu sein, denn eine kritische Mahnung scheint zwar bitter zu sein,während sie tadelnd vorgebracht wird, hat aber eine süße Wirkung, wenn siezur Besserung verhilft.“71 Als Vorbilder für eine solchermaßen bittere, aberheilsame Medizin in Worten beruft er sich auf „die Reden unseres Herrnund Erlösers selbst“, unter denen sich nicht nur Seligpreisungen, sondernauch Weherufe befinden, auf die Propheten, die Ernstes und Bitteres ebensoverkündigten wie Angenehmes und Fröhliches, sowie auf Paulus, bei dem„man in ein und demselben Brief sowohl herbe als auch süße Worte findet“(wofür er sich auf 1 Kor. 1,5–7 neben 5,1f. bezieht).72

Origenes hat demnach selbst wahrgenommen, im Ruf eines gestrengenMoralpredigers zu stehen.73 Das entsprach durchaus seinem Selbstverständnis

69 Nautin, SC 328, 71 (vgl. ebd. 61), und Lienhard, Origen as Homilist 42, wertendiese Aussage als das, was sie ist: ein Kompliment an den Bischof.

70 In Regn. hom. lat. 1 (GCS Orig. 8, 2. 3 bzw. OWD 7, 120f. 122f.).71 Ebd. (8, 2 bzw. 7, 120f.).72 Ebd. (8, 2f. bzw. 7, 120–123).73 Vgl. Monaci Castagno, Origene predicatore 70f., und die kurze Bemerkung bei

de Lubac, Geist aus der Geschichte 221f., zur Herbheit von Origenes’ Art zupredigen (mit Bezug auf die vorliegende Stelle), über die Origenes, in Hier. hom.20,6 (GCS Orig. 32, 186), bei der Auslegung der Aussage Jeremias, „über meinbitteres Wort werde ich lachen“ (Jer. 20,8), selbst bemerkt, „seine Hörer seien damitunzufrieden“. De Lubac notiert auch, dass diese „severite“ bereits Tillemont aufge-fallen ist; vgl. L. S. Lenain de Tillemont, Memoires pour servir a l’histoire ec-

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18 Einleitung

und seiner Erfahrung. Seiner Ansicht nach ist es, in Nachahmung der Pro-pheten, die Aufgabe des christlichen Predigers, „die Zuhörer an den vonihnen eingeschlagenen Lebensweg, an ihre Versprechungen und an die vonuns getroffene Entscheidung zu erinnern“,74 also an die Verpflichtungeneines christlichen Lebensstils, auf die sie sich mit der Taufe eingelassen ha-ben.75 „Und wenn einer dazu fähig ist, die Seele des Zuhörers – besondersdes Sünders – zu bewegen, wünscht er sich solche Worte zu sprechen, dieaufgrund ihrer Kraft, ihrer Stimmigkeit, ihrer Göttlichkeit und der heiligenGedanken, die in ihnen zum Ausdruck kommen, die Seele des Zuhörersaufrütteln und zu Trauer, zum Weinen und zu Tränen rühren, so dass sichder Redner freut, wenn er sieht, wie die Zuhörerschaft entzückt und vonden zu ihr gesprochenen Worten ganz erfüllt ist.“76 Mit derartigen An-sprüchen konfrontiert, „werden die Zuhörer“ freilich „einen Widerwillenempfinden“.77 Wie der Prophet Jeremia, der sich bei Gott darüber beklagt,dass er vom Volk geschmäht (Jer. 15,15f.) und verhöhnt (Jer. 20,7) wird,wird der Prediger „zum Feind der Zuhörer, weil er ihnen die Wahrheitsagte“,78 und so sei es nicht erstaunlich, „wenn einer, der durch Tadeln undRügen der Sünder der prophetischen Lebensweise nacheifern will, verleum-det, gehasst und hintergangen wird“.79 Diesbezügliche Nachrichten über dasSchicksal der Propheten bezieht Origenes generell auf jeden Christen, der„ganz eifrig lebt und die Sünder überführt und deswegen gehasst wird undNachstellungen erleidet“, denn „wer dem Leben der Propheten nacheifertund den Geist, der in ihnen war, in sich trägt, wird unvermeidlich in derWelt und bei den Sündern entehrt; denn die fühlen sich durch das Leben desGerechten belastet.“80

clesiastique des six premiers siecles, Paris 21701, Bd. 3, 536: „Dans les instructionsqu’il faisoit au peuple, il ne se bornoit pas a expliquer l’Ecriture, a louer les bons, & aexhorter a la vertu; mais il reprenoit aussi les vices avec force, comme on le voitassez souvent dans ses homelies, esperant que par les prieres des bons sa severiteseroit utile aux mechans.“ Erasmus von Rotterdam hingegen hat den Predigtstil desOrigenes ganz anders aufgefasst, nämlich als nie richtig hart und bitter, auch wo erstreng kritisiert, und wenn der Tadel einmal schärfer ausfiel, habe er sich selbst miteingeschlossen; so im Vorwort De vita, phrasi, docendi ratione, et operibus Origenis zurAusgabe Basel 1545, Bd. 1 (unpaginiert = LB 8, 438D): In reprehendendis moribusubique meminit Christianae moderationis, nusquam excandescens in tragicas exclamationes,memor se homilias profiteri, quod est familiaritatis uocabulum, non censoriae seueritatis. Habettamen interdum aculeorum et acrimoniae satis, amarulentiae nihil. Crebro cum durior estobiurgatio, suam personam annumerat his quos reprehendit.

74 Origenes, in Hier. hom. 14,14 (GCS Orig. 32, 119).75 Vgl. dazu Monaci Castagno, Origene predicatore 83–85.76 Origenes, in Hier. hom. 20,6 (GCS Orig. 32, 186).77 Ebd.78 Ebd. 14,13 (32, 118).79 Ebd. 14,14 (32, 120).80 In Matth. comm. X 18 (GCS Orig. 10, 25); Übersetzung: Vogt, BGrL 18, 85.

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19II. Medicus animarum – das Selbstbild des Predigers Origenes

An solchen Stellen kommt eine gewisse Animosität zwischen Origenesund seinen Zuhörern zum Ausdruck,81 die dieser aber dahingehend recht-fertigt, dass er sich in die Tradition der Propheten (besonders Jeremias undseiner Klage über fruchtloses Predigen) stellt, die tadelten und kritisierten,wo sie es für nötig hielten,82 und dass er seine kritischen Mahnungen wieeine bittere, doch heilsame Arznei als unerlässliche Etappe auf dem Weg derSeele zur Besserung versteht. Das ist die Sinnspitze der Metapher vom Guts-hof Gottes, auf dem Bäume mit süßen und Bäume mit bitteren Früchtenwachsen: Beides dient dem Lebensziel des Menschen. Vielleicht war Ori-genes von seinen Zuhörern auch ein wenig enttäuscht, was man darausschließen kann, wenn er mit Jeremia sagt: „Sie aber wandten sich von mei-nen Worten ab und waren nicht aufnahmebereit.“83 Die zehnte Genesis-homilie eröffnet er in diesem Sinne mit einer langen Klage über die Ver-nachlässigung des Gottesdienstbesuches sowie die Unaufmerksamkeit derGottesdienstbesucher während der Liturgie und besonders während der Pre-digt, wie sie sich bei ihm vielfach findet,84 und führt auch da seine Strengeals mögliche Erklärung ins Feld: „Vielleicht erscheine ich euch als zu streng…“, um diese freilich sogleich wie in der Samuelhomilie mit dem Verweisauf das Tun der Propheten (Jesaja) und Apostel (Paulus) zu rechtfertigen: „…doch ich kann keine einstürzende Wand weißen,85 denn ich fürchte das, wasgeschrieben steht: ,Mein Volk! Die, die euch seligpreisen, verführen euch,und die Pfade eurer Füße verwirren sie‘ (Jes. 3,12). ,Ich ermahne euch alsmeine geliebten Kinder‘ (1 Kor. 4,14).“86

81 Schadel, BGrL 10, 299.82 Vgl. Origenes, in Hier. hom. 15,2 (GCS Orig. 32, 126): „Es war nämlich die pro-

phetische Aufgabe dieses Propheten (sc. Jeremia), aber auch des Jesaja und der üb-rigen, zu belehren, zu tadeln und zur Umkehr zu rufen.“ Siehe dazu auch Nautin,SC 232, 153–155.

83 Origenes, ebd. 14,4 (32, 109).84 Redepenning, Origenes II, 229–232; von Harnack, Ertrag I, 68f. 71. 83; Gögler,

Theologie des biblischen Wortes 207f.; Schütz, Gottesdienst 46–48; Monaci Cas-tagno, Origene predicatore 88f.; Nautin, SC 232, 111f.; Lienhard, Origen asHomilist 43f.; Heine, Origen 182f. Neben der langen Klage in Gen. hom. 10,1(GCS Orig. 6, 93f.) vgl. in Ex. hom. 12,2 (GCS Orig. 6, 264); 13,3 (6, 272); in Lev.hom. 9,7 (GCS Orig. 6, 431); in Ios. hom. 1,7 (GCS Orig. 7, 295); in Is. hom. 5,2(GCS Orig. 8, 265).

85 Vgl. Ez. 13,10–12. Zu dieser sprichwörtlichen Wendung siehe Häussler, Nachträge255.

86 Origenes, in Gen. hom. 10,1 (GCS Orig. 6, 94); Übersetzung: Habermehl, OWD1/2, 197.

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20 Einleitung

3. Vtilis correptio – Pädagogik der heilsamen Kritik

Diese Selbstreflexion des Predigers Origenes bildet einen wesentlichen Teilseines Selbstverständnisses als Erklärer und Verkünder der Bibel. Im An-schluss an die antike Tradition der Philosophie als Anleitung zu einemglücklichen Leben versteht Origenes Bibelauslegung als Seelenführung. DieAufgabe des Exegeten besteht darin, die Bibel als pädagogisches Hilfsmittelfür die Reise der Seele zu Gott zu erschließen.87 Dieser Weg beginnt mit derAbkehr von falschen Vorstellungen und Handlungen und der Reinigungvon Affekten und führt über die stufenweise Erkenntnis des Logos Gottes,also Christi, hinein in die Vollkommenheit des beständigen Verlangens nachder Schau Gottes. In diesem Sinne erklärt Origenes die 42 Lagerplätze derIsraeliten auf dem Zug durch die Wüste (vgl. Num. 33,1–49): Die erstenzwölf stehen für die Überwindung der Laster und Leidenschaften, dienächsten 29 (nach dem Sinai) für ein beständiges Fortschreiten in der Er-kenntnis des Göttlichen und die letzte für die Stufe unmittelbar vor demEintauchen in die Erkenntnis Gottes.88 Unumgehbarer Ausgangspunkt die-ses Aufstiegs der Seele ist die Abkehr von Sünde und Laster, die freilich allesandere als einfach ist: „Tugend aber erwirbt man nicht anders denn durchÜbung und Anstrengung, und sie erweist sich nicht so sehr in komfortablenals vielmehr in widrigen Umständen“, und zwar im „Kampf gegen denTeufel und die feindlichen Mächte“.89 „Es ist nicht möglich, in das Land der

87 Siehe dazu de Lubac, Geist aus der Geschichte 214–232; Torjesen, Origen’s Ex-egesis 70–107; Schockenhoff, Fest der Freiheit 23–37. 188–197; Heine, Origen184–187; Fürst, Wissenschaft und Kultur 103–108; Martens, Origen and Scripture212–216.

88 Origenes, in Num. hom. 27,9–12 (GCS Orig. 7, 268–279). Vgl. in Cant. comm.prol. 3,22 (GCS Orig. 8, 79 bzw. SC 375, 142): „Wer durch die Läuterung seinesCharakters und das Halten der Gebote … die erste Stufe erreicht hat, danach aberdadurch, dass er die Nichtigkeit der Welt begreift und die Hinfälligkeit der vergäng-lichen Dinge erkennt, an den Punkt kommt, dass er der Welt und allen Dingen inihr entsagt, der gelangt schließlich auch dahin, das, ,was nicht gesehen werden kannund ewig ist‘ (1 Kor. 4,18), zu betrachten und zu ersehnen.“ In Num. hom. 24,3(GCS Orig. 7, 231) beschreibt er diese drei Stufen des Christseins als Entwicklungzur Freiheit: Die paruula anima, die noch „am Anfang der göttlichen Unterweisun-gen“ steht, untersteht gleichsam einem Vater (sub patre). Sobald sie erwachsener(adultior) geworden ist, so dass sie „den Samen des Wortes Gottes und die Geheim-nisse der geistlichen Lehre aufzunehmen vermag“, untersteht sie gewissermaßeneinem Mann (sub uiro). Diejenigen aber, die vollkommener geworden sind und überdie ersten beiden Stufen hinausragen, „haben die freie Verfügungsmacht über ihreWünsche“ (potestatem suorum libertatemque uotorum).

89 Ebd. 27,9 (7, 269). Vgl. ebd. 27,10 (7, 269): … tempus profectuum tempus esse pericu-lorum. Völker, Vollkommenheitsideal 25–62, beschreibt den „Kampf gegen dieSünde“, gegen die Leidenschaften und „gegen die Welt“ als erste Etappe dieses

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21II. Medicus animarum – das Selbstbild des Predigers Origenes

Verheißung zu gelangen, wenn wir nicht durch Bitterkeiten (vgl. in Num.33,8 die Ortsangabe ad amaritudines) hindurchschreiten.“90 Entgegen der ver-breiteten Qualifizierung des Origenes als eines heilsgeschichtlichen ,Opti-misten‘ – wegen der erhofften Apokatastasis, der Hinwendung aller ver-nünftigen Wirklichkeit zu ihrem Ursprung, Gott – ist Origenes eigentlichgar nicht so optimistisch, was das alltägliche Verhalten der meisten Men-schen bzw. Christen angeht. Die Zahl derer, „die in vernünftiger Einsichtleben und imstande sind, nicht allein sich selbst zu leiten, sondern auchandere zu unterweisen“, hält Origenes für „sehr gering“ (ualde pauci).91 Sosieht er auf diesem (sehr langen) Weg auch nur einige, die „vorauseilen undrascher zur Höhe streben“, „andere in kurzem Abstand folgen“, während„wieder andere weit hinten“ sind.92 Aus diesem Grund bedarf es der unab-lässigen Mahnung und Warnung der vielen „weit hinten“ durch die weni-gen, die „vorauseilen“.

Mahnen und Warnen gehört demnach zu den unumgänglichen Auf-gaben des Predigers, der seinen Zuhörern die Bibel als Anleitung zu einemguten Leben erschließen will. Da die Abkehr von einem falschen, schlech-ten Leben der Ausgangspunkt des Weges ist, ist diese Aufgabe grundlegend.Die Bibel selbst ist ihrerseits voller Mahnungen, die Sünde zu meiden undnach dem Guten zu streben. Es ist die Aufgabe des Exegeten, diese göttlichePädagogik, die in den biblischen Erzählungen ihren schriftlichen Nieder-schlag gefunden hat, durch Auslegung dieser Texte zu den Zuhörern zubringen. Neben der Belehrung ist deshalb die Ermahnung eine der beidenHauptaufgaben des Predigers.93 Dieser hat darauf zu achten, dass beides in

Weges; ebd. 62–75 dann zum „langsamen Prozess des Aufstiegs zur Vollkommen-heit“ (ebd. 62), hauptsächlich gestützt auf diese Numerihomilie.

90 Origenes, ebd. 27,10 (7, 270).91 In Gen. hom. 2,3 (GCS Orig. 6, 31); Übersetzung: Habermehl, OWD 1/2, 75. Vgl.

in Num. hom. 21,2 (GCS Orig. 7, 201f.): Die Mehrheit der Christen sind ,An-fänger‘ im Glauben, die ,Fortgeschrittenen‘ sind deutlich weniger, und noch we-niger, ja nur ganz wenige sind ,Vollkommene‘. Vgl. dazu auch Monaci Castagno,Origene predicatore 90–93.

92 Princ. III 6,6 (GCS Orig. 5, 287f.); Übersetzung nach p. 659 Görgemanns/Karpp.93 Siehe Monaci Castagno, Origene predicatore 65–71, die ihren Fokus allerdings

auf die Belehrung (und im ganzen Buch auf die Lehrinhalte) legt. Ausgewogener istHeine, Origen 184, der beide Aspekte gleichwertig anspricht. Nur von „Auferbau-ung“ sprechen Redepenning, Origenes II, 248–250 (mit dem Akzent auf Lehre undBelehrung), Junod, Homilien 65–81, und Markschies, Predigten 41–43. 54f. 60.61f. (allerdings ebd. 53f. auch zur „Predigt zur Umkehr“), was als übergeordnetesZiel der Predigten des Origenes natürlich richtig ist. Auch Schütz, Gottesdienst82–93, reduziert die Aufgabe der Predigt darauf, Trost zu spenden und „aufzubau-en“, wofür er mit in Iud. hom. 8,3 (GCS Orig. 7, 510) argumentiert, wo Origenesdie Homilie vom Kommentar dadurch abgrenzt, dass es nicht darum geht, denBibeltext Wort für Wort ausführlich zu erklären, sondern darum, durch Aufgreifen

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22 Einleitung

einem ausgewogenen Verhältnis zueinander steht und gewissermaßen dasganze Spektrum des Weges vom Tadel der Nachlässigen bis hin zur Einsichtin tiefe Geheimnisse abgedeckt wird. Durch die Lesungen im Gottesdienstund deren Erklärung fordern die christlichen Lehrer „einerseits zur Fröm-migkeit gegenüber dem Gott des Universums und zu den Tugenden“ aufund bringen ihre Zuhörer „andererseits von der Verachtung des Göttlichenund allem, was zur rechten Vernunft im Widerspruch steht“, ab.94 Wie dasFeuer eine doppelte Wirkung hat, nämlich zu entzünden und zu brennenwie auch zu erleuchten,95 soll – so erklärt Origenes die Wendung coccumduplicatum, „doppelter Scharlach“ in Ex. 35,6, in der er „Scharlach“ als Syn-onym für „Feuer“ auffasst – der kirchliche Lehrer, mithin also auch derPrediger, beides anstreben: „Wenn du also lehrst und die Kirche Gottesaufbaust und dabei nur schimpfst und tadelst und das Volk wegen seinerSünden anklagst, wenn du dagegen keinerlei Trost spendest aus der HeiligenSchrift, nichts Dunkles und Unverständliches erklärst, kein tiefergehendesWissen berührst und vom Heiligen nichts deutlich machst, dann hast duzwar ein Scharlachgewand dargebracht, aber kein doppeltes. Denn deinFeuer setzt nur in Brand, erleuchtet aber nicht. Wenn du andererseits alsLehrer die Geheimnisse des Gesetzes darlegst, die verborgenen Geheimnissedurchdenkst und erläuterst, einen Sünder aber nicht anklagst, einen Nach-lässigen nicht tadelst, die strenge Ordnung nicht einhältst, hast du zwar einScharlachgewand dargebracht, aber kein doppeltes. Denn dein Feuer er-leuchtet nur, es zündet nicht an. Wer also recht opfert und richtig aufteilt,der opfert ein doppeltes Scharlachgewand, so dass er den Feuerfunken derStrenge mit dem Licht der Einsicht mischt.“96 Deshalb kritisiert Origenes

einzelner Aussagen aus der Lesung das Volk zu trösten, sowie mit in Hiez. hom. 3,6(GCS Orig. 8, 353), wo Origenes zu Ez. 13,22: „Doch ich, ich wandte mich nichtab, um die Hände der Ungerechten zu stärken“ sagt: „Ich wandte mich nicht ab,sondern kümmerte mich um alles, was der Erbauung diente.“ Auch die „Mahnung“,welche die Predigt auch sei, soll „bedrängten Seelen Erleichterung verschaffen“(Schütz, ebd. 88), womit das kritische Element ebenfalls auf Erbaulichkeit be-schränkt wird (so explizit ebd. 91). Ebd. 108 beschränkt Schütz die correctio auf dieKatechumenen, weil sie in Iud. hom. 5,6 (GCS Orig. 7, 496) auf diese bezogen wird– doch bedeutet das nicht, dass morum correctio und emendatio disciplinae nur einThema für Taufbewerber wäre; Origenes spricht vielmehr alle Christen an, nichtzuletzt die vielen Mitglieder seiner Gemeinde, die er auf dem Niveau von Anfän-gern im Glauben sieht: Junod, ebd. 172; Heine, ebd. 179.

94 Cels. III 50 (GCS Orig. 1, 246); Übersetzung nach Barthold, FC 50, 603–605.95 In Cant. comm. II 2,16–18 (GCS Orig. 8, 128f. bzw. SC 375, 306–308) schreibt

Origenes diese doppelte Wirkung der Sonne zu.96 In Ex. hom. 13,4 (GCS Orig. 6, 276); Übersetzung: p. 259 Heither. Mit dem

uerbum commonitionis neben der doctrinae gratia in Gen. hom. 2,4 (GCS Orig. 6, 32)dürfte ebenfalls das Nebeneinander von „Ermahnung“ und „Belehrung“ gemeintsein, nicht, wie Habermehl, OWD 1/2, 77, commonitio übersetzt, die „Erquickung“.

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23II. Medicus animarum – das Selbstbild des Predigers Origenes

heftig „diejenigen Lehrer, die mit ihrem leerem Geschwätz und allen mög-lichen Glücksverheißungen die Masse ihrer Zuhörer der Leidenschaft, denLastern und der Lust überantworten. Denn das Wort Gottes, der Gott-Mensch, muss verkünden, was dem Hörer zum Heil dient, was ihn zuEnthaltsamkeit ermahnt, zu einem Leben voller gesunder Taten, zu allenDingen, denen sich der Mensch, der nach Arbeit und nicht nach Vergnügenstrebt, widmen muss, um das erlangen zu können, was Gott verheißen hat.“Es bringt den Zuhörern nichts, „wenn jemand das lehrt, was den Ohren desVolkes schmeichelt und eher den Beifall der Claqueure als Seufzen hervor-ruft, wenn ein Feind schmeichlerisch die Wunden eher tätschelt als ope-riert“, und in denjenigen Lehrern, „die ständig Wohlklingendes, ständigHarmonisches formen“ und „nach der Gunst und dem Willen der Zuhörerpredigen“, ist „nichts Männliches, nichts Kräftiges, nichts Gottes Würdi-ges“.97 Energisch übt Origenes daher Kritik daran, „wenn die Bischöfe, dieVorsteher des Volkes, gegen die, die sich verfehlen, freundlich erscheinenwollen: Aus Furcht vor den Reden der Sünder, dass sie vielleicht schlechtvon ihnen sprechen, vergessen sie die bischöfliche Strenge und wollen nichterfüllen, was geschrieben steht: ,Den Sünder rüge vor aller Augen, damit dieübrigen Angst bekommen‘ (1 Tim. 5,20).“98 Es ist nach Origenes nicht dieAufgabe des Predigers, den Zuhörern nur angenehme und erbauliche Dingezu sagen, die sie gerne hören – im Gegenteil: Damit verrät er seine Aufgabe.

Der Prediger, der die Bibel erklärt, steht damit im selben Verhältnis zuseinen Zuhörern wie im Text der Prophet zu seinem Publikum. Beide ak-tivieren sie mit ihrem Tun die Pädagogik des Wortes Gottes, das sich inseiner inkarnierten Existenz in Jesus ebenso verhalten hat. Der Exeget hatTeil an der universalen Pädagogik Gottes. In einem großen heilsgeschicht-lichen Kontext sieht Origenes sich selbst und überhaupt alle Bibelausleger,wie er eingangs der Samuelhomilie darlegt, in der Tradition der Prophetenund Apostel und in der Nachfolge Jesu, die alle mit ihren Mahnungen dieSeelen der Zuhörer auf den rechten Weg bringen wollen.99 Im Anschluss anPaulus betet Origenes darum, „bei den Menschen als ,Gesandter an ChristiStelle‘ (2 Kor. 5,20) wirken zu können, da der Logos Gottes zur Freund-schaft mit ihm einlädt“.100 Wie der Schöpfer Heilmittel für körperliche Ge-

97 In Hiez. hom. 3,3 (GCS Orig. 8, 350–352). Vgl. dazu Schütz, Gottesdienst 85.98 In Ios. hom. 7,6 (GCS Orig. 7, 332), wo mit den sacerdotes, qui populo praesunt, in

erster Linie Bischöfe gemeint sein dürften, aber auch die Priester (Presbyter) mit-gemeint sein können. Vgl. dazu Heine, Origen 181.

99 Siehe Torjesen, Origen’s Exegesis 147; Monaci Castagno, Origene predicatore71–75; Schockenhoff, Fest der Freiheit 36; Martens, Origen and Scripture194–200, der herausarbeitet, dass die Schrift ein spezieller Ausdruck des umfassendenWirkens der göttlichen Vorsehung zum Heil der Menschen und des Kosmos ist.

100 Origenes, Cels. VIII 1 (GCS Orig. 2, 221). Ebd. VIII 6 (2, 225) weitet Origenes die

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24 Einleitung

brechen zur Verfügung stellt, „so auch Heilmittel für die Seele in den Wor-ten, die er überall in den göttlichen Schriften ausgesät hat“.101 Der Erlöserist, im selben Bild, der „Chefarzt“ (archiater),102 „der jedes Gebrechen undjede Krankheit zu heilen vermag“, „seine Jünger Petrus oder Paulus (also dieApostel), aber auch die Propheten sind die Ärzte“, und „alle, denen nachden Aposteln in der Kirche die Kunst der Heilung von Wunden anvertrautist“, sind „in der Kirche die Ärzte der Seelen, denn unser Gott will nichtden Tod des Sünders, sondern wartet auf seine Reue und sein Flehen“.103

Als überaus wichtiges Heilmittel versteht Origenes die „nützliche Kritik“(utilis correptio), die eben um der Heilung, nicht um der Kritik willen vor-gebracht wird und für die er deshalb, eine antike Maxime aufgreifend,104

entschlossen wirbt: „Glückselige Weise werden von der Schrift selbst alsodie genannt (nämlich in Spr. 9,8), die, wenn sie gesündigt haben und kri-tisiert werden, die Kritiker nicht hassen“, sondern sie vielmehr lieben, ob-wohl es in der Regel schwer fällt, Kritik zu akzeptieren.105 Im Kontextheilsamer Kritik gleiche das Wort Gottes Pfeilen: Wie ein Pfeil durchbohrenTadel und Kritik das Herz des Zuhörers.106 Und wie der Erlöser selbst ein„Pfeil Gottes“ ist, der „auserwählte Pfeil“, von dem in Jes. 49,2 die Redeist,107 so sind „auch Mose und die übrigen Propheten sowie die ApostelChristi, in denen Christus selbst gesprochen hat, Pfeile Gottes“, und imselben Sinn „kann auch jeder Gerechte und jeder Prediger, der das WortGottes spricht, um das Heil der Menschen zu bewirken, ein Pfeil Gottes

Vorstellung von „Gesandten an Christi Stelle“ aus 2 Kor. 5,20 auf alle Christen undihre Stellung in der Welt aus.

101 In Ps. 37 hom. 1,1 (SC 411, 258). Zur medizinischen Wirkung der Bibel vgl. in Ios.hom. 20,2 (GCS Orig. 7, 418–420), dazu das Fragment in philoc. 12,2 (SC 302,388–392): Allein das Hören der Worte der Schrift vertreibt wie ein Heiltrank dasGift schädlicher Kräfte. In Hier. hom. 2,2 (GCS Orig. 32, 18) weist Origenes daraufhin, dass „das Wort“, worunter sowohl der Logos Christus als auch das „Wort“ derSchrift gemeint ist, „über alle Kraft verfügt. Und wie es über die Kraft der ganzenSchrift verfügt, so verfügt das Wort über die Kraft eines jeden Heilmittels und ist dieKraft all dessen, was reinigt, ja, es reinigt am besten: ,Denn lebendig ist das WortGottes und voll Kraft und schärfer als jedes zweischneidige Schwert‘ (Hebr. 4,12).“Ferner ebd. 14,1 (32, 106); 20,3 (32, 180): „Die ganze göttliche Schrift ist vollerderartiger Heilmittel“; in Hiez. hom. 2,1 (GCS Orig. 8, 341); 3,7 (8, 354): „DasWort Gottes durchdringt alles und … strebt danach, alle zu heilen.“

102 Zu dieser Bezeichnung Christi siehe unten S. 221 Anm. 36.103 Origenes, in Ps. 37 hom. 1,1 (SC 411, 258–260). Zum Warten Gottes, des Erlösers,

der Apostel und aller Heiligen auf die Umkehr der Sünder vgl. in Lev. hom. 7,2(GCS Orig. 6, 374–380), ausgiebig paraphrasiert unten S. 49 Anm. 208.

104 Siehe Fürst, Kynische Maxime, zum Wert der von einem Feind vorgebrachtenKritik.

105 Origenes, in Ps. 37 hom. 1,1 (SC 411, 260–272, das Zitat ebd. 264).106 Ebd. 1,2 (411, 272).107 Zu dieser Epinoia Christi vgl. in Ioh. comm. I 32,228f. (GCS Orig. 4, 40f.).

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25II. Medicus animarum – das Selbstbild des Predigers Origenes

genannt werden“.108 Gerade also wenn der Prediger mit seiner Kritik dasHerz des Sünders durchbohrt, setzt er das Wirken des Erlösers fort: Diechristlichen Lehrer sind die „Werkzeuge“ (organa), durch die Christus lehrtund von denen Origenes eines zu sein hofft,109 ja die Stimme des Lehrers istnicht seine eigene Stimme, sondern die Stimme Christi.110 Im Bild vomLehrer als eines Sämanns, der das Wort Gottes in die Seelen sät,111 bringtOrigenes den Prediger indirekt mit Gott in Verbindung, den er in der dieSamuelhomilie einleitenden Metapher als Bauern vorstellt, der auf seinemLandgut viele Sorten von Bäumen mit verschiedenen Früchten anbaut.112 Ineiner Jeremiahomilie bezeichnet er es als erste Aufgabe des Lehrenden, denBoden in den Seelen der Zuhörer zu bereiten, damit sie das Wort Gottesaufnehmen können, und als Aufgabe der Zuhörer, Landwirte ihrer selbst zuwerden und den Boden des Feldes, das Gott ihnen anvertraut hat (nämlichihre Seele), zu bereiten, um den Samen von den Lehrenden, vom Gesetz,von den Propheten, von den Evangelien und von den Aposteln aufzuneh-men, ihn durch Pflege und Übung in ihre Seele zu säen und zum Wachsenund Blühen zu bringen.113 Gregor der Wundertäter schildert in seiner Dank-

108 In Ps. 36 hom. 3,3 (SC 411, 134). In der nunmehr bekannten griechischen Fassungdieser Homilie steht dasselbe, nur stilistisch etwas kürzer als in Rufins Übersetzung:Codex Monacensis graec. 314 fol. 54v. Zur autobiographischen Valenz dieser Stellesiehe Perrone, Traces of a Self-Portrait 24.

109 In Luc. hom. 32,2 (GCS Orig. 92, 182): „Auf dem ganzen Erdkreis lehrt Jesus undsucht Werkzeuge, durch die er seine Lehre verkündet. Betet darum, dass er auchmich für geeignet und fähig hält, seinen Ruhm zu besingen. So wie nämlich zu derZeit, als die Menschen der Prophetie bedurften, der allmächtige Gott Prophetensuchte und sie fand, zum Beispiel Jesaja, Ezechiel, Daniel, so sucht Jesus heuteWerkzeuge, durch die er sein Wort lehrt und die Volksscharen in den Synagogenunterrichtet“; Übersetzung: Sieben, FC 4/2, 325. Zur Bezeichnung der christlichenGemeindeversammlung als synagoga siehe unten S. 202 Anm. 1.

110 In Ios. hom. 5,2 (GCS Orig. 7, 316): Non mea uox ista, sed Christi est. Vgl. in Hier.hom. 19,14 (GCS Orig. 32, 172) über die Fortsetzung der Prophetie durch denExegeten: „Wenn einer die prophetischen Worte auslegt und dabei die Wahrheitsagt, prophezeit er selbst und prophezeit er Wahres.“ Zum Wirken der göttlichenGnade im Prediger siehe Schütz, Gottesdienst 85–89.

111 In Ps. 36 hom. 4,3 (SC 411, 210): … uobis quoque ministrare uerbum dei et serere illud inanimabus uestris …; griechisch jetzt in Codex Monacensis graec. 314 fol. 80r, wogerade diese Wendung allerdings fehlt: Sie stammt von Rufinus, passt aber zumInhalt der Stelle. Vgl. in Num. hom. 11,3 (GCS Orig. 7, 82): „Jeder einzelne Lehrer,meine ich, scheint deswegen, weil er lehrt und verkündet und seine Zuhörer un-terweist, den Acker jener Gemeinde, die er lehrt, das heißt die Herzen der Gläu-bigen, zu bestellen.“ In Ex. hom. 1,1 (GCS Orig. 6, 145f.) vergleicht Origenes jedeseinzelne Wort der Schrift mit einem Samenkorn, das eines erfahrenen und sorgfäl-tigen Landmannes bedarf, damit es zu einem fruchtbringenden Baum heranwächst;vgl. dazu Schütz, ebd. 85f.

112 Siehe oben S. 16.113 Origenes, in Hier. hom. 5,13 (GCS Orig. 32, 42). Vgl. dazu Nautin, SC 232, 153.

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26 Einleitung

rede die Pädagogik und Didaktik des Lehrers Origenes in eben diesem Sin-ne: Origenes behandelte demnach seine Schüler, „wie ein tüchtiger Bauer esmit einem noch unbebauten Stück Land tut“, das unfruchtbar oder verwil-dert ist, oder „wie ein Gärtner mit einer Pflanze, die wild ist und keineedlen Früchte hervorbringt“; nachdem er die wilden Triebe ausgerissen undden Boden bearbeitet und bewässert hatte, und zwar indem „er uns mitharten Worten anfuhr“,114 säte er reichlich die Samen der Worte der Wahr-heit in die Seelen aus.115 Origenes kann die Tätigkeit des Landwirts aberauch der Schärfe kritischen Tadelns entgegensetzen, wenn dieser „den Bo-den der Seele umpflügt, ihn durch sanfte Ermahnung (clementi commonitione)wiederholt auflockert und ihn so für die Saat aufnahmebereit macht“.116 Mitvielerlei Bildern versucht Origenes also seinen Zuhörern die Rolle des Ex-egeten und Predigers zu erläutern, gerade wenn sie von diesem getadelt undhart angegangen werden, und noch die Frustration des Predigers, die er ganzoffen anspricht, vermag er auf diese Weise als Mittel der Pädagogik undProtreptik zu nutzen.

4. Frust und Distanz: Der Prediger und seine Gemeinde

Aus diesen Beobachtungen ergibt sich eine für die soziale Spannbreite desfrühen Christentums erhellende Einsicht. Origenes ist mit seiner Genialitäteine einzigartige Gestalt im Frühchristentum. In Bemerkungen wie den imvorigen Abschnitt aus verschiedenen Predigten zitierten sehen wir dieseAusnahmeerscheinung in lebendiger Interaktion mit einer durchschnittli-chen christlichen Stadtgemeinde des 3. Jahrhunderts, zu der in Caesarea(und gewiss auch in Jerusalem) wohl viele ,einfache‘ Leute gehörten,117 aber,wie aus manchen Passagen in den Predigten des Origenes hervorgeht, dochauch etliche Christen aus der sozial und kulturell gehobenen, wirtschaftlichpotenten, wohlhabenden und gebildeten Schicht.118 Der Haupteindruck,

114 Zur „Art des Sokrates“, auf die Gregor hier ebenfalls hinweist, und zum OrigenesSocraticus generell siehe Fürst, Origenes und seine Bedeutung 11–16.

115 Gregor Thaumaturgos, pan. Orig. 93–100 (SC 148, 134–138); Übersetzung: Guyot,FC 24, 161–163. Vgl. auch Schütz, Gottesdienst 110.

116 Origenes, in Iud. hom. 4,2 (GCS Orig. 7, 498). Vgl. Schütz, ebd. 113.117 Aus der Beobachtung, dass die Märtyrer in Caesarea in der diokletianischen Chris-

tenverfolgung, von denen Eusebius, mart. Pal. 3,3 (GCS Eus. 2/2, 910), berichtet,„fast sämtlich nicht Bürger der Stadt“ sind, schließt von Harnack, Mission undAusbreitung II, 644 mit Anm. 2, „dass die Christen auch in den hellenischen StädtenPalästinas … nicht sehr zahlreich gewesen sein können“ und das Christentum„wahrscheinlich seine Anhänger weniger in der stabilen und besitzenden als in derfluktuierenden und armen Bevölkerung“ hatte (ebd. 653).

118 Vgl. etwa in Ios. hom. 10,3 (GCS Orig. 7, 361) die Anrede an einen paterfamilias und

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27II. Medicus animarum – das Selbstbild des Predigers Origenes

den die Selbstzeugnisse des Origenes dazu vermitteln, ist der einer nichtgeringen Distanz zwischen dem Gelehrten mit Weltruhm, den die Gemein-de da in ihren Reihen hat, und den Gemeindemitgliedern. In diese Rich-tung lässt sich wohl seine Warnung vor einer Abneigung, ja Feindseligkeit(odisse atque aduersari) mancher Gemeindemitglieder gegen die christlichenPhilosophen, „die sich dem Studium der Weisheit (studium sapientiae) hin-geben“, auswerten: „Die Ungebildeten (imperiti) leiden nämlich unter an-derem auch an dem schrecklichsten aller Laster (pessimum uitium), dass siediejenigen, die sich dem Wort und der Lehre widmen, für nutzlos undüberflüssig halten; sie schätzen ihre Unbildung höher als deren Gelehrsam-keit und Fleiß, indem sie unter Verdrehung der Worte deren Arbeit Ge-schwätzigkeit nennen, ihre Unbelehrbarkeit und Unbildung aber Einfach-heit.“119 Im Römerbriefkommentar – also nicht direkt an eine Gemeinde-versammlung gerichtet – beklagt er ganz ähnlich einmal, dass „in Verdre-hung der Ordnung die Ungebildeten die Gebildeten und die Faulen dieFleißigen aburteilen“, registriert aber selbstkritisch gegenüber der Gruppe,der er selbst zugehört (bzw. in seinen Anfängen als christlicher Lehrer zu-gehörte, denn über dieses Stadium war er da ja weit hinaus), auch dasGegenteil: „Manchmal werden aber auch diejenigen, die einen Anfang vonErkenntnis gewonnen haben, aufgeblasen und überheblich gegen die offen-bar weniger Aufnahmefähigen … Für gewöhnlich nämlich verachten undgeringschätzen diejenigen, die ein bisschen in der Erkenntnis vorange-schritten sind, die anderen, die zu tieferer Einsicht weniger fähig sind. Auf

uir nobilis, oder folgenden Passus in Hier. hom. 12,8 (GCS Orig. 32, 94): „Es gibtLeute, die sich rühmen, dass sie Söhne von Herrschern sind und dass sie von hohenweltlichen Würdenträgern abstammen … Es gibt Leute, die sich rühmen, Macht zuhaben, Menschen umzubringen, und die sich rühmen, die bei ihnen so genannteBeförderung dazu erlangt zu haben, Menschen die Köpfe abschlagen lassen zu dür-fen … Andere rühmen sich für Reichtum, nicht für den wahren, sondern für denhier unten; und andere rühmen sich zum Beispiel dafür, ein schönes Haus zu habenoder viele Äcker.“ Es kann sein, dass Origenes solche Fälle nur allgemein als Bei-spiele für seine Paränese heranzieht, aber wirkungsvoller wäre der Text, wenn sichsolche Leute unter den Zuhörern in seiner Gemeinde befanden. In dieselbe Rich-tung deutet es, wenn Origenes, ebd. 15,6 (32, 131), Angehörige seiner Gemeindekritisiert, „die ihre Hoffnung auf Ansehen und Macht setzen“, indem sie sich sagen:„Ein Freund von mir ist Hauptmann, ist Statthalter! Ein Freund von mir ist reichund unterstützt mich!“ Freilich: Auch das muss nicht heißen, dass der hier gemeinteHauptmann, Statthalter oder Reiche Mitglied der Gemeinde ist. Weitere Belegedafür bei Schütz, Gottesdienst 49f.; Monaci Castagno, Origene predicatore86–88; Heine, Origen 181.

119 Origenes, in Ps. 36 hom. 5,1 (SC 411, 226). Monaci Castagno, ebd. 93, nenntdiese Ansicht des Origenes über wohl gar nicht so wenige seiner Zuhörer „unatteggiamento volutamente pessimistico da parte del predicatore“, die gewiss nichtauf einhelligen Beifall gestoßen sei.

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28 Einleitung

der anderen Seite verurteilen, das heißt klagen an und verdammen die Un-gebildeten und Unbelehrbaren diejenigen, die Tiefgründigeres suchen, alssie selbst aufnehmen und erreichen können.“120

Die Erfahrung, von den Patienten abgelehnt und gehasst zu werden, istgleichsam die Kehrseite der Metapher von den Propheten und Lehrern alsÄrzten der Seelen, die Origenes in einer Jeremiahomilie ausführlich be-schreibt und die man gewiss als Niederschlag seiner eigenen Erfahrungenlesen darf: „Die Propheten sind gleichsam Ärzte der Seelen (iÆatroiÁ cyxvÄn)und verweilen immer dort, wo die der Heilung Bedürftigen sind; denn,nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die, denen es schlechtgeht‘ (Lk. 5,31). Was aber Ärzte von den zügellosen Kranken erleiden, daserleiden auch die Propheten und die Lehrer von denen, die sich nicht heilenlassen wollen. Deshalb werden sie ja gehasst, weil sie Vorschriften machen,die dem von Lust bestimmten Willen der Kranken zuwiderlaufen, weil siediejenigen am Schlemmen und Genießen hindern, die nicht einmal beiKrankheit das zu sich nehmen wollen, was der Krankheit entspricht. DieZügellosen unter den Kranken fliehen daher vor den Ärzten, oft beschimp-fen und verleumden sie sie und tun alles Mögliche, was wohl ein Feind demanderen antun würde. Ihnen entgeht nämlich, dass die Ärzte wie Freunde zuihnen kommen, weil sie nur auf die Mühsal der Diät schauen, auf die Müh-sal, die der Schnitt mit dem Skalpell bereitet, nicht auf das angezielte Er-gebnis nach dem Schmerz, und sie hassen die Ärzte, als wären sie die Ur-heber einzig von Schmerzen, nicht aber von Schmerzen, die zur Genesungderer führen, die behandelt werden.“121 „Offensichtlich hat Origenes untersolchen Erfahrungen gelitten.“122 Verglichen mit seinen hehren Idealen und

120 In Rom. comm. IX 36. 40 (p. 765. 771 Hammond Bammel); Übersetzung nachHeither, FC 2/5, 123. 133 (teilweise stark verändert). Man mag auch an seinescharfe und abfällige Bemerkung in Cels. VI 16 (GCS Orig. 2, 87) darüber erinnern,dass von den armen Leuten „die Mehrzahl einen sehr schlechten Charakter besitzt“;Übersetzung: Barthold, FC 50, 1039. Daraus spricht der Dünkel des gebildetenGriechen, von dem Origenes bei aller Bescheidenheit nicht frei war.

121 In Hier. hom. 14,1 (GCS Orig. 32, 106f.). – Vgl. in Num. hom. 27,10 (GCS Orig. 7,270): „Wie nämlich die Ärzte ihren Heilmitteln mit Blick auf die Heilung undGesundung der Kranken manche Bitterkeiten hinzufügen, so wollte der Arzt un-serer Seelen (medicus animarum nostrarum) ebenfalls mit Blick auf das Heil, dass wirdie Bitterkeiten dieses Lebens in mannigfachen Versuchungen erleiden, wohl wis-send, dass am Ende dieser Bitterkeit unsere Seele die Süße des Heils erlangen wird.“

122 So Schütz, Gottesdienst 48, in Bezug auf die von ihm beklagte Unaufmerksamkeitder Gottesdienstbesucher gegenüber der Predigt (siehe dazu oben S. 19 Anm. 84);ebenso Nautin, SC 232, 155. – Es sollte freilich nicht übersehen werden, dassOrigenes neben Ablehnung auch Zuneigung erfahren hat, was er jedoch beides alsübermäßig kritisierte, in Luc. hom. 25,6 (GCS Orig. 92, 151): „Wir machen auchselber diese Erfahrung in der Kirche. Weil viele uns mehr lieben, als wir es verdie-nen, spenden sie überall laut herumposaunend unseren Predigten und unserer Lehre

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29II. Medicus animarum – das Selbstbild des Predigers Origenes

Zielen bei der Auslegung der Bibel, wie sie aus den eingangs dieses Kapitelszitierten Selbstzeugnissen hervorgehen, muss er vom gewöhnlichen Lebens-stil der Gemeindechristen und ihrem Desinteresse an der Lesung und Aus-legung der Bibel in einem nicht geringen Maße frustriert gewesen sein.123

Der empfindsame Intellektuelle aus den Gelehrtenzirkeln Alexandrias124

fremdelte wohl in seiner Kirchengemeinde, was ihn gleichwohl nicht davonabhielt, das Predigen in den alltäglichen Gottesdiensten zu übernehmen undseine Zuhörer mit seinen hochfliegenden Gedanken und ethischen An-sprüchen zu konfrontieren – auch auf die Gefahr hin, über ihre Köpfehinwegzupredigen.

Auf recht direkte Weise kommen diese Zusammenhänge dadurch zumAusdruck, dass Origenes seinen Zuhörern ungeachtet ihrer Unaufmerksam-keit und Antipathie „trotzdem“, wie er in der zehnten Genesishomilie ex-plizit sagt, den Lesungstext erklärt.125 In dieser Homilie geht es um dieBrunnen, ein Lieblingsbild des Origenes, in dem er den göttlichen Lebens-quell versinnbildlicht sieht, der sowohl in der Bibel als auch in jedem Men-schen, der sich ihr mit Hingabe widmet, sprudelt und aus dem jeder schöp-fen soll.126 Es geht also gerade um den fundamentalen Zusammenhang zwi-schen dem göttlichen Grund des Menschen und dem Menschen selbst, deraller Geschichte und allem Heil zugrundeliegt und den zu erläutern Ori-genes nie müde wird. „Je tiefer ich“, fasste Henri de Lubac diesen Gedan-ken des Origenes zusammen, „in den Sinn der Schrift eindringe, desto mehrverstehe ich den verborgenen Sinn meines Daseins.“127 Um dahin zu kom-men, gilt es erst einmal, die mannigfachen Hindernisse aus dem Weg zuräumen, die in den vielfältigen Verstrickungen des alltäglichen Lebens demSprudeln der göttlichen Quelle in der Seele im Wege stehen. Nicht zufällig

ein solches Lob, wie es unser Gewissen nicht annimmt. Andere wiederum beklagensich zu Unrecht über unsere Predigten und werfen uns Ansichten vor, von denenwir wissen, dass wir sie niemals vertreten haben. Aber weder die, die über das Maßlieben, noch die, die hassen, halten sich an den Maßstab der Wahrheit. Die einensagen die Unwahrheit aus Liebe, die anderen aus Hass“; Übersetzung: Sieben, FC4/1, 273. Markschies, Predigten 57, geht dazu nur auf die inhaltlichen Aspekte ein.

123 Heine, Origen 183: „I think we cannot conclude that Origen was completely happywith his experience of preaching in Caesarea. The lifestyle of much of his con-gregation was frustrating to the ideals he had for them.“ Ebd. 186: „… it is easy tosee how he became so frustrated with their lack of interest in listening to the readingand exposition of the Biblical text in the regular assemblies of the Church.“

124 Zu dieser Beschreibung und Einordnung der Herkunft des Origenes siehe Fürst,Intellektuellen-Religion 50–68, und ausführlicher ders., Bildungsmilieu.

125 In Gen. hom. 10,2 (GCS Orig. 6, 94).126 Ebd. 13,3f. (6, 116–121); in Num. hom. 12,1–3 (GCS Orig. 7, 93–103). Zur Ana-

logie zwischen Bibel und Seele siehe de Lubac, Geist aus der Geschichte 405–409;Fürst, Wissenschaft und Kultur 105f.

127 De Lubac, ebd. 406.

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30 Einleitung

also leitet Origenes eine Predigt, in der es um diese fundamentale Thematikim Leben eines Christen geht, damit ein, ausführlich auf diese Widerständeeinzugehen, die in der konkreten Redesituation zunächst einmal eine Bar-riere zwischen dem Prediger und seinem Auditorium bilden. Es ist rheto-risch geschickt, dies gezielt zur Sprache zu bringen und von da aus, in derHoffnung, die Aufmerksamkeit der Zuhörer vielleicht gesteigert zu haben,zum eigentlichen Thema zu kommen.

Nicht minder rhetorisch geschickt ist die lange Einleitung in die latei-nische Samuelhomilie. Da Origenes nicht vor seiner Heimatgemeinde inCaesarea, sondern in Jerusalem predigt, ist es angebracht, den Zuhörernetwas länger zu erklären, welche Vorteile es haben könnte, dass sie diesesMal auf ihren gewohnten Prediger verzichten müssen, zumal wenn dieser(der Jerusalemer Bischof Alexander) bei dem Gottesdienst selbst nicht zuge-gen war (was aus dem Text nicht sicher hervorgeht).128 Nimmt man zudeman, dass Origenes sein Ruf als anspruchsvoller Moralprediger vorauseilt under sich dessen bewusst ist, wäre verständlich, weshalb er sich zu einer soausführlichen captatio beneuolentiae genötigt sieht. Gleichsam als Ausgleich fürdie „bitteren Früchte“, die Origenes seinen Zuhörern mit voller Absichtverabreicht, scheint er sich sehr bemüht zu haben, der Gemeinde in Jeru-salem eine gute und im Ganzen dann doch eher erbauliche als kritischmahnende Predigt zu halten. Jedenfalls ist diese Homilie nicht nur eineseiner längsten, sondern auch eine seiner inhaltsreichsten, in der er denzentralen Gedanken seiner platonischen Metaphysik, das Eine bzw. die Ein-heit, im Blick auf seine ethische Bedeutung für das christliche Leben reflek-tiert.

128 Siehe dazu oben S. 6.

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