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Die Idee eines Geschlechtswechsels ist alt. Schon die griechische Mythologie kennt die Figur des blinden Sehers Teiresias, der zunächst als Mann, dann als Frau und letztlich wieder als Mann lebte. Doch sollte es bis zum 20. Jahrhundert dauern, bis der körperliche Wech- sel des Geschlechts mitsamt der Übernahme der dazu gehörenden sozialen Rolle Realität werden konnte, ganz ohne göttlichen Beistand wie noch bei Teiresias. Von Beginn an war die Medizin in diesem Prozess federführend, von der Definition einer behandlungs- bedürftigen Krankheit bis zur Bereitstellung geeig- neter hormoneller und chirurgischer Therapien. In Ber- lin werden Patient*innen 1 mit dem Drang nach einem Geschlechtswechsel von niedergelassenen Hausärzten, Gynäkologen, Urologen und Endokrinologen behandelt. Während die heute so genannte Transidentität langsam im Alltag der Gesellschaft ankommt, wird die Frage nach ihrem Krankheitswert neu gestellt. 12 Titelthema KV-Blatt 10.2015

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Die Idee eines Geschlechtswechsels ist alt. Schon die

griechische Mythologie kennt die Figur des blinden

Sehers Teiresias, der zunächst als Mann, dann als Frau

und letztlich wieder als Mann lebte. Doch sollte es bis

zum 20. Jahrhundert dauern, bis der körperliche Wech-

sel des Geschlechts mitsamt der Übernahme der dazu

gehörenden sozialen Rolle Realität werden konnte,

ganz ohne göttlichen Beistand wie noch bei Teiresias.

Von Beginn an war die Medizin in diesem Prozess

federführend, von der Definition einer behandlungs-

bedürftigen Krankheit bis zur Bereitstellung geeig-

neter hormoneller und chirurgischer Therapien. In Ber-

lin werden Patient*innen 1 mit dem Drang nach einem

Geschlechtswechsel von niedergelassenen Hausärzten,

Gynäkologen, Urologen und Endokrinologen behandelt.

Während die heute so genannte Transidentität langsam

im Alltag der Gesellschaft ankommt, wird die Frage

nach ihrem Krankheitswert neu gestellt.

12 Titelthema KV-Blatt 10.2015

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Therapie bei Transidentität

Geschlecht im Kopf

Die Antwort auf die Frage, ob man weib-lich oder männlich ist, sich als Frau oder Mann fühlt, ist für die allermeis-ten Menschen derartig selbstverständ-lich, dass sie sich die Frage gar nicht stellen – es ist einfach so. Bei ihnen

„passen“ das anatomisch-biologische Geschlecht, wie es bei der Geburt per Augenschein festgestellt wird, und das geschlechtliche Zugehörigkeitsempfin-den zusammen. Bei anderen Menschen hingegen fallen das sichtbare und das erlebte Geschlecht auseinander, ohne organische Ursachen, ausgedrückt in der populären Formel einer weiblichen Seele in einem männlichen Körper (und vice versa). Sie streben meist danach, den „fremden“ Körper der „vertrauten“ Seele anzugleichen. Sie sind transse-xuell. In Deutschland fällt die Behand-lung transidenter resp. transsexueller 2 Menschen in den Leistungsbereich der Gesetzlichen Krankenversicherung. Der Katalog der ICD-10 kodiert „Transse-xualismus“ unter der Nummer F64.0 als Störung der Geschlechtsidentität und erlaubt dergestalt die Abrechnung medizinischer Leistungen über die GKV. Nach § 116 b SGB V gilt „Transsexualis-mus“ als eine „seltene Erkrankung“ (i. e. bis zu fünf Patient*innen auf 10.000 Personen), die ambulant spezialfach-ärztlich versorgt wird.

Dr. med. Christoph Schuler ist nie-dergelassener Facharzt für Allgemein-medizin und behandelt seit 1998 Patient*innen mit transidenter Symp-tomatik. Im Erstgespräch, das in der Regel eine halbe Stunde dauert, erstellt er eine komplette Anamnese, fragt nach biografischen Daten und Brü-chen, insbesondere nach dem erstma-ligen Auftreten des Wunsches nach einem Geschlechtswechsel (ob bereits in der Kindheit oder Jugend oder erst im Erwachsenenalter). Mögliche beste-hende Partnerschaften und die Job-situation werden in die Anamnese mit einbezogen, ebenso das Motiv, gerade jetzt den Weg in eine Arztpraxis zu neh-men. Wichtig ist die Frage nach bereits eigenmächtig eingenommenen Hormo-nen, bei Trans*männern auch die nach der Pille. Schließlich geht es um die Perspektive der Veränderung – wie weit soll sie gehen, was wird gegebenen-falls offen gelassen oder auch ausge-schlossen? Eine Psychotherapie sollte begonnen sein, sie muss nicht exakt ein Jahr laufen, wie Dr. Schuler hervor-hebt, lediglich ein Gespräch aber wäre zu wenig. Zentral sei für ihn dabei die Einschätzung der externen Psycholo-gin, dass es sich um eine „innere Stim-migkeit“ beim Wunsch nach einem Geschlechtswechsel handele, bei

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gleichzeitiger Klarheit der Patient*in über die Reichweite und Konsequenzen der angestrebten Transformation. Vor der Hormontherapie erfolgen dann eine körperliche Untersuchung inklu-sive einer Ultraschalluntersuchung des Bauchraums, eine Blutuntersuchung inklusive des Hormonstatus sowie eine humangenetische Untersuchung, um eine Intersexualität auszuschließen.

Gravierende Wirkungen der Hormone

Bei Trans*männern unter Testosteron setzt die Menstruation aus, der Haar-wuchs an Beinen, Armen und der Brust sowie im Gesicht wird stimuliert, das Hautbild wird gröber, eine Pubertäts-akne kann sich entwickeln, ein Mus-kelwachstum setzt ein, ein nachgehol-ter Stimmbruch lässt die Stimmlage absinken, auf Dauer ist möglicher-weise mit einer männlichen Glatzen-bildung zu rechnen. Bei Trans*frauen unter Östrogen setzen Erektion und Ejakulation aus, die Haut wird weicher, vorhandene Behaarung der Beine und der Brust geht merklich zurück, ein gewisses Busenwachstum kann erwar-tet werden, die Silhouette wird kurvi-ger, am Po und an den Oberschenkeln setzt sich Körperfett an. Bei beiden Geschlechtern ändert sich der Körper-geruch recht schnell; gerade der Beginn einer Hormontherapie führt zu einer psychischen Beruhigung und Entspan-nung, Phasen der Euphorie sowie der Depression können sich abwechseln. Je früher (vom Lebensalter) eine Hormon-therapie beginnt, desto bessere Ergeb-nisse im Sinne eines überzeugenden Erscheinungsbildes sind zu erwarten. Der Off-Label-Use der zu verabreichen-den Medikamente 3 macht Dr. Schuler keine Schwierigkeiten, da eine im ver-sicherungsrechtlichen Sinne „behand-lungsbedürftige Krankheit“ vorliege, es keine Alternativpräparate gebe und er zudem über eine Praxisbesonderheit verfüge; ihm wurde aber von Gynäkolo-gen berichtet, die Trans*männer in der Behandlung ablehnen würden, da sie keine Leistungen für Männer abrech-nen dürften.

Die Langzeitbehandlung transidenter Menschen ist sicher, wie Dr. Schuler hervorhebt; weder werden sie früher alt als die Normalbevölkerung noch ster-ben sie früher. Östrogen und Testoste-ron kommen in jedem menschlichen Körper vor (wenn auch in unterschied-licher Konzentration), beide sind Stero-idhormone, die sich in ihrer biochemi-schen Zusammensetzung nur minimal unterscheiden. Bei Trans*frauen ist das Risiko einer Thrombose erhöht, deshalb sei ein Rauchverzicht geboten und ein ideales bis normales Gewicht anzustre-ben und zu halten. Ab dem 50. Lebens-jahr würden sie überdies von ihrer Krankenkasse (bei erfolgter Personen-standsänderung) alle zwei Jahre zum Mammografie-Screening eingeladen. Bei Trans*männern hingegen könne es zu einer Erhöhung des Risikos kardio-vaskulärer Erkrankungen kommen. Bei ihnen könne gerade am Beginn einer Testosteronbehandlung eine Polyglobu-lie auftreten. Bei einer jahrelangen Gabe von Testosteron sollte im Rahmen einer Krebsvorsorge an den Uterus sowie die

Ovarien gedacht werden, sofern diese nicht entfernt worden seien. Um die generelle Belastung der Leber durch die Hormone zu minimieren, gebe es die Darreichungsform als Pflaster und als Gel; die über die Haut (oder über die Mundschleimhaut bei Tabletten) aufge-nommenen Hormone gingen direkt ins Blut und würden unter Umgehung des Magen/Darm-Traktes verstoffwechselt.

Die Pionierarbeit Magnus Hirschfelds

Die medikamentös-operative Therapie der Transidentität begann in ihrer Vor-form in den 1910er-Jahren in Wien. Hier experimentierte der Anatom Eugen Stei-nach mit Ratten, denen er gegenge-schlechtliche Keimdrüsen ihrer Artge-nossen transplantierte. Die während des I. Weltkriegs aufgekommene plastische Chirurgie zur Rekonstruktion verletzter Genitalien wurde zur Grundlage späte-rer Operationen an Transidenten. In den 1920er-Jahren gelang es der Bayer AG, menschliches Östrogen und Testoste-ron zu synthetisieren. Am 1919 gegrün-

Gedenksäule für Magnus Hirschfeld vor seinem ehemaligen Wohnhaus gegenüber dem Rathaus Charlottenburg

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deten, privaten Institut für Sexualwis-senschaft in Berlin setzte sich der Arzt Magnus Hirschfeld intensiv mit dem von ihm „Transsexualismus“ genannten Phänomen des Wunsches nach einem Geschlechtswechsel auseinander 4. An dieser weltweit einzigartigen Ambulanz behandelten Hirschfeld und seine Kolle-gen aus der Gynäkologie, der Psychia trie, der Chirurgie und der Endokrinologie erste Patient*innen mit einem intensi-ven Wunsch nach einer Angleichung des somatischen Geschlechtes an das see-lische. 1930/31 kam es zur ersten „voll-ständigen“ Geschlechtsanpassung; eine dänische Patientin mit Namen Lili Elbe wurde von Hirschfeld untersucht und in Dresden an der dortigen Frauen klinik vom Gynäkologen Kurt Warnekros geni-tal operiert. Sie erhielt von der däni-

schen Botschaft einen neuen weiblichen Namen und veröffentlichte im Jahr dar-auf die erste Autobiografie einer Tran-sidenten. 1933 wurde das Institut für Sexualwissenschaft von den National-sozialisten verwüstet und geschlossen; Hirschfeld, der bei der Machtübernahme der Nazis im Ausland war, starb 1935 in Nizza. Die Forschungen zum Thema Transidentität kamen über Jahrzehnte zum Erliegen, durch das Wüten der Nazis verlor Deutschland seine führende Rolle auf diesem Gebiet.

Auf der Suche nach einer lebbaren Lösung

Dr. Renate Försterling ist seit 2009 niedergelassene medizinische Ver-tragspsychotherapeutin in Berlin, sie

praktiziert zusätzlich privat als Inter-nistin, zuvor arbeitete sie in gleicher Funktion in Karlsruhe. Sie begleitet Patient*innen mit transidenter Sym-ptomatik und verfasst Bescheinigun-gen sowie Gutachten für die Kranken-kassen und das Amtsgericht. Ziel ihrer psychotherapeutischen Arbeit ist es, dass es ihren Patient*innen „auf Dauer besser geht“, dass eine nachhaltige, lebbare Lösung gefunden wird; wich-tig ist ihr die „informierte Entschei-dung“ der Klient*innen. Dazu gehört in ihren Augen auch das Akzeptieren der persönlichen Grenzen einer soma-tischen Behandlung; nicht jeder könne aussehen wie Balian Buschbaum 5, auch ein international gefeierter Ope-rateur habe schon miese Ergebnisse produziert. Dr. Försterling hat in ihren

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Im Katalog des ICD-10 ist „Transse-xualismus“ unter der Nummer F64.0 kodiert und wie folgt definiert: „Der Wunsch, als Angehöriger des anderen Geschlechtes zu leben und anerkannt zu werden. Dieser geht meist mit Unbe-hagen oder dem Gefühl der Nicht-zugehörigkeit zum eigenen anatomi-schen Geschlecht einher. Es besteht der Wunsch nach chirurgischer und hormo-neller Behandlung, um den eigenen Kör-per dem bevorzugten Geschlecht soweit wie möglich anzugleichen.“ Vor Erbrin-gung medizinischer Leistungen beauf-tragen die Gesetzlichen Krankenkassen nach § 275 SGB V den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) zu prüfen, ob nach Art, Schwere, Dauer und Häufigkeit der Erkrankung die medizinischen Voraussetzungen für die beantragte Leistung vorliegen. Es wird

Die medizinischen Prämissen

geprüft, ob die Diagnose Transsexua-lität gesichert ist und eine begleitende psychotherapeutische Behandlung nach den Regeln in vorgegebenem Umfang durchgeführt wurde. Darüber hinaus werden komorbide, insbesondere psy-chische Störungen ausgeschlossen. Im so genannten Alltagstest sollen Patient*innen zudem über mindestens ein Jahr erproben, inwieweit ihre Vor-stellungen vom Leben in der ersehnten Rolle realistisch sind. Ein entscheiden-des Kriterium für das Vorliegen einer Transsexualität ist ein relevanter krank-heitswertiger Leidensdruck. Er kann unter Berücksichtigung der weiteren Voraussetzungen begründen, warum transidente Patient*innen nicht aus-schließlich mit konservativen, sondern mit hormonellen und chirurgischen Mit-teln behandelt werden können.

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sechs Berliner Jahren mehrere Hundert Patient*innen behandelt und begutach-tet; sie wird dabei häufig mit einer aver-sen, nicht ausgereiften Beziehung zum eigenen Körper konfrontiert. Sie beob-achtet zwischenzeitlich eine Verände-rung der Klientel, queere 6 Lebensweisen seien auf dem Vormarsch, gleichzeitig werde die Gesellschaft insgesamt tole-ranter. Bei Kindern und Jugendlichen sei Transidentität geradezu im Kommen; Zwischenlösungen würden erprobt, nicht immer müsse eine solche medi-kalisierbar sein. Zudem sieht sie eine Verschiebung von der Homosexualität zur Transidentität; Thailand etwa habe die höchste Trans*rate weltweit, mög-licherweise aufgrund einer extremen Homophobie, sodass Trans* nolens volens als gangbare Alternative gewählt werde (siehe auch Iran, wo Schwule mit der Todesstrafe bedroht werden, Trans*OPs hingegen akzeptiert sind). In Deutschland stünden die Zeichen eher auf Diversity und Queer. Bei den Kran-kenkassen allerdings sieht sie Angst am Werk sowie schlicht fehlende Informati-onen bei deren Mitarbeitern. Sie schätzt, dass überdies etwa 10 % der Aufträge an den Medizinischen Dienst der Kran-kenversicherung (MDK) zur Prüfung der Voraussetzungen auf Leistungsgewäh-rung dort einfach „verschwinden“.

Management eines Geschlechts-wechsels

Das routinierte Management eines Geschlechtswechsels unter der Regie der Medizin begann in den 1950er-Jahren 7. 1953 sorgte der Fall Christine Jorgensen für Aufsehen; die Patientin wurde in New York von Harry Benja-min, einem Schüler Magnus Hirschfelds,

hormonell behandelt und zur Weiter-versorgung nach Kopenhagen überwie-sen. Hier wurde ihr im ersten Schritt das Skrotum amputiert, in einem zwei-ten Schritt eine Neovagina angelegt; diese Transformation vom männlichen zum weiblichen Genitale geschah eher aus Ratlosigkeit der Ärzte heraus, wie ihrer Patientin am besten zu helfen sei, und war weniger geplant und strate-gisch vollzogen. Ab 1956 operierte der französische Gynäkologe Georges Burou in Casablanca „nebenbei“ Trans*frauen auf privatärztlicher Basis 8. Bis zu Beginn der 1970-er Jahre war die Klinik Burous für tausende Trans*frauen weltweit die einzige Anlaufstelle, das Prinzip seiner Operationstechnik zur Formung einer Neovagina gilt bis heute als Goldstan-dard 9. Ende der 1960-er Jahre wurde im

US-amerikanischen Baltimore ein Pro-gramm etabliert, das Trans*frauen und -männer unter strengen Auflagen ins gewünschte Geschlecht führte. 1972 ver-abschiedete Schweden als erstes Land weltweit ein Gesetz zur Änderung der Vornamen und des Personenstandes nach erfolgter Geschlechtsanpassung.

Mari Günther ist systemische Thera-peutin bei QUEER LEBEN, einer Ber-liner Beratungsstelle für Inter*- und Trans*personen, sie ist Mitglied im von der Ärztekammer anerkannten Qualitätszirkel Transidentität. Ihre Kolleg*innen und sie führen etwa 500 Gespräche im Jahr; es kommen Betrof-fene auf der Suche nach Informationen, Menschen nach einer Operation mit dem Wunsch einer Bilanzierung. Weiter

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erscheinen Paare, die zu Beziehungen resp. Trennungen Rat suchen; nicht zuletzt kommen Eltern, Großmütter, Hebammen, Sozial-Pädagogen und Psy-chotherapeutinnen. Günther moniert, dass es im Psychologie- und Medizin-studium keine Auseinandersetzung mit dem Thema Trans* gebe. In ihrer Bera-tungspraxis erlebt sie das klassische Coming-out der Erwachsenen, parallel dazu gebe es eine neue Generation von Trans*-Kindern und Jugendlichen, die nie anders als „so“ gelebt hätten und keinen „Wechsel“ mehr vollziehen müssten. Gerade ihnen hülfen puber-tätsverzögernde Medikamente, wie sie etwa am Klinikum Hamburg-Eppendorf verabreicht würden. Gelegentlich mel-deten sich auch Ärzte, die vor allem Rat-losigkeit äußerten. Das Dilemma, das Günther sieht, ist das Bild einer Stö-rungsorientierung bei Transidentität. Der seit 150 Jahren gefestigte Anspruch der Medizin der Normierung des einen, richtigen Geschlechtes wirke so weiter. Sie hofft auf die für 2017 angekündigte Neuauflage der ICD, dann in der elften Version, die dem Vernehmen nach ein eigenes Kapitel für Trans* haben und den Begriff der „Geschlechtsinkongru-enz“ einführen soll – und damit sprach-lich anerkennt, dass Trans*menschen nicht zwingend gestört sind, sondern ein klares Bewusstsein ihrer – abwei-chenden – Identität haben.

Ein Recht auf Behandlung

Die Debatte um die Entpathologi-sierung von Trans*, die in Teilen der Trans*bewegung seit 20 Jahren läuft, sieht sie entspannt. Sie glaubt, dass sich die Gesellschaft eine medizinische Nichtversorgung partout nicht leisten könne, auch nach einem möglichen Streichen von Trans* als Krankheit; zu sehr seien dabei Menschenrechtsfragen sowie ein Recht auf Behandlung und Intimsphäre berührt. Günther sieht eine Parallele zur Schwangerschaft, die keine Krankheit sei, aber ohne jeden Zweifel behandlungswürdig. Das Entwickeln einer Geschlechtsidentität sei ein syste-mischer Prozess, so Günther, der ohne

Rollenvorbilder schwer zu bewältigen sei, gerade wenn die Zahl der Betreffen-den sehr gering sei 10. Darüber hinaus kritisiert Günther die Zunft der Ärzte und Therapeuten, die – möglicher-weise aus einem verborgenen Impuls zur Angstabwehr – durchaus unbewusst Genuss an einer Machtposition emp-fänden und diese nicht immer achtsam reflektierten. Sowie Trans*menschen sich aus dem geschützten Raum einer Praxis, die an derlei Klientel gewöhnt sei, in ärztliche Behandlung begäben, müssten sie mit Übergriffen seitens des medizinischen Personals rechnen: Ärzte lehnten Trans*patienten schon

mal rundweg ab, es käme zu Namens-problemen beim Aufruf im Wartezim-mer, abfällige Bemerkungen und ver-weigerte Behandlungen seien nicht selten. Als Folge schlechter Erfahrungen mit dem medizinischen Versorgungs-system komme es zu verschleppten, chronifizierten Erkrankungen bei Trans*menschen, die sich nach Diskri-minierungen zurückzögen. Nicht zuletzt deswegen bietet QUEER LEBEN Fortbil-dungen für Ärzte, Psychologen und The-rapeuten zum Thema an.

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Patienten oder fordernde Konsumen-ten medizinischer Leistungen? Ärzte als Herren des therapeutischen Verfahrens oder als achtsame Begleiter? In jedem Fall ein weites Feld, das ausreichend Platz bietet für das Hinterfragen lieb-gewonnener Selbstverständlichkeiten. Dr. Schuler sieht bei manchen Kollegen eine Verunsicherung in der möglichen Therapie transidenter Patient*innen. Das liege zum einen an einer fehlenden verbindlichen S3-Leitlinie für behan-delnde Ärzte, die etwa zu Angst vor möglichen Behandlungsfehlern führe; zum anderen an der Komplexität des Themas, das psychologische, sexual-medizinische, internistische, rechtliche und endokrinologische Dimensionen habe. Zusätzlich gehe es oft um Über-weisungen an Psychotherapeuten, Hilfe bei der Suche nach einem geeigneten Operateur und um Stellungnahmen vor Gericht. Da müsse jeder Mediziner seine Ressourcen nüchtern einschätzen und sich bewusst auf die Dynamik einer Behandlung transidenter Patient*innen einlassen.

Andrea Bronstering

Seit 1980 gibt es in Deutschland das „Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonde-ren Fällen“ (aka Transsexuellengesetz (TSG)). Die sogenannte kleine Lösung erlaubt das Ändern des Vornamens und damit die Umschreibung zivil-rechtlich bedeutsamer Papiere (Führer-schein, Mietvertrag, Bankverbindung); die sogenannte große Lösung die Änderung des Personenstandes, inklu-sive der Neuausstellung der Geburtsur-kunde. Die Entscheidung darüber trifft das zuständige Amtsgericht auf Antrag. Es stützt sich bei seiner Entschei-dung auf zwei Gutachten einschlägi-ger Sachverständiger, deren Kosten vom Antragsteller zu tragen sind. Die Sachverständigen müssen zum Ergeb-nis kommen, dass (a) beim Antragstel-

Der rechtliche Rahmen

ler „eine transsexuelle Prägung“ vor-liegt, also eine Identifizierung mit dem

„anderen“ als dem Geburtsgeschlecht, und dass (b) dieses Zugehörigkeits-empfinden seit mindestens drei Jah-ren besteht und höchstwahrscheinlich persistent ist. Das Verfahren vor dem Amtsgericht kann von der Antragstel-lung bis zur Rechtskraft des Urteils gut ein Jahr dauern. Das TSG ist in zen-tralen Punkten durch diverse Urteile des Bundesverfassungsgerichtes als arg reformbedürftig skizziert worden; so hat das oberste deutsche Gericht sowohl das im Gesetz festgeschrie-bene Kriterium der (durch Hysterek-tomie resp. Hodenamputation herbei-geführten) Fortpflanzungsunfähigkeit als auch jenes der Ehelosigkeit für eine Personenstandsänderung bereits vor Jahren für unwirksam erklärt.

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