Die narrative Theologie als Meta-Narratologie

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Die narrative Theologie als Meta-Narratologie Narrative Theologie: Zum Potential eines interdisziplina ¨ren Dialogs Bea ´ta Thomka Published online: 28 May 2014 Ó Akade ´miai Kiado ´, Budapest, Hungary 2014 Zusammenfassung Der Begriff der narrativen Theologie taucht ab den 70er Jahren im deutschen Diskurs auf, gepra ¨gt vor allem von J. B. Metz und H. Weinrich. Er gewinnt gerade in jenem Jahrzehnt als narratologische Forschungsrichtung Konturen, als die interdisziplina ¨r ausgerichtete Narratologie ihre produktivste und vielseitigste Phase erlebt. In meinem Vortrag befasse ich mich mit der Frage, in welcher Art und Weise das gemeinsame Interesse der Theologen und Narratologen zum Prozess der ,,narrativen Wende’’ beitrug. Narratopoetologische Kategorien bekommen wiederum bei den Interpretationen von biblischen Texten, verschiede- nen Gattungen und Diskursansa ¨tzen eine besondere Akzentuierung. Paul Ricoeur behandelt den Fragekomplex der Erza ¨hlforschung in gegenseitiger Wechselwirkung der Philosophie, Hermeneutik und der theologischen Reflexion. Der Aspekt der narrativen Theologie spielt auch in der rabbinischen Exegesetradition (J. Schulte) eine wichtige Rolle. In der Kleinen Apologie des Erza ¨hlens (1973) weisst J. B. Metz die gemeinschaftsbildende, identita ¨tsstiftende Funktion der narrativen Erinnerung in der Geschichte des Christentums zu. Den Akzent legt er auf religio ¨se Erfahrungen, die weder durch den Ritus noch durch das Dogma vermittelt werden ko ¨nnen. Die Scho ¨pfung, die Auferstehung sowie die Leidens-, Erlo ¨sungs- und Heilsgeschichte sind nur in narrativen Form artikulierbar: ,,sie alle sprengen das argumentative Raisonnement und widersetzen sich einer perfekten Auflo ¨ sung oder Umsetzung einer Erza ¨hlgestalt. Sie bringen den Logos der Theologie, sofern er sich sein erza ¨hlendes Wesen verbirgt, in jene Verlegenheit, von der die Vernunft steht, wenn sie sich etwa den Fragen nach Anfang und Ende und nach der Bestimmung des Neuen, noch nicht Gewesenen stellt.’’ (1973, S. 335). Nach dreieinhalb Jahrzehnten und nach der Ablo ¨sung der klassischen Narratologie durch die Postnarratologien besteht die Notwendigkeit, jene Ergebnisse und Implikationen der Narratologie zu reflektieren, die von der Theologie bereichert wurden. B. Thomka (&) PTE BTK, Ifju ´sa ´g u ´tja 6, 7624 Pecs, Hungary e-mail: [email protected] 123 Neohelicon (2014) 41:97–109 DOI 10.1007/s11059-013-0227-4

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Die narrative Theologie als Meta-Narratologie

Narrative Theologie: Zum Potential eines interdisziplinarenDialogs

Beata Thomka

Published online: 28 May 2014

� Akademiai Kiado, Budapest, Hungary 2014

Zusammenfassung Der Begriff der narrativen Theologie taucht ab den 70er

Jahren im deutschen Diskurs auf, gepragt vor allem von J. B. Metz und H. Weinrich.

Er gewinnt gerade in jenem Jahrzehnt als narratologische Forschungsrichtung

Konturen, als die interdisziplinar ausgerichtete Narratologie ihre produktivste und

vielseitigste Phase erlebt. In meinem Vortrag befasse ich mich mit der Frage, in

welcher Art und Weise das gemeinsame Interesse der Theologen und Narratologen

zum Prozess der ,,narrativen Wende’’ beitrug. Narratopoetologische Kategorien

bekommen wiederum bei den Interpretationen von biblischen Texten, verschiede-

nen Gattungen und Diskursansatzen eine besondere Akzentuierung. Paul Ricoeur

behandelt den Fragekomplex der Erzahlforschung in gegenseitiger Wechselwirkung

der Philosophie, Hermeneutik und der theologischen Reflexion. Der Aspekt der

narrativen Theologie spielt auch in der rabbinischen Exegesetradition (J. Schulte)

eine wichtige Rolle. In der Kleinen Apologie des Erzahlens (1973) weisst J. B. Metz

die gemeinschaftsbildende, identitatsstiftende Funktion der narrativen Erinnerung in

der Geschichte des Christentums zu. Den Akzent legt er auf religiose Erfahrungen,

die weder durch den Ritus noch durch das Dogma vermittelt werden konnen. Die

Schopfung, die Auferstehung sowie die Leidens-, Erlosungs- und Heilsgeschichte

sind nur in narrativen Form artikulierbar: ,,sie alle sprengen das argumentative

Raisonnement und widersetzen sich einer perfekten Auflosung oder Umsetzung einer

Erzahlgestalt. Sie bringen den Logos der Theologie, sofern er sich sein erzahlendes

Wesen verbirgt, in jene Verlegenheit, von der die Vernunft steht, wenn sie sich etwa

den Fragen nach Anfang und Ende und nach der Bestimmung des Neuen, noch nicht

Gewesenen stellt.’’ (1973, S. 335). Nach dreieinhalb Jahrzehnten und nach der

Ablosung der klassischen Narratologie durch die Postnarratologien besteht die

Notwendigkeit, jene Ergebnisse und Implikationen der Narratologie zu reflektieren,

die von der Theologie bereichert wurden.

B. Thomka (&)

PTE BTK, Ifjusag utja 6, 7624 Pecs, Hungary

e-mail: [email protected]

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Neohelicon (2014) 41:97–109

DOI 10.1007/s11059-013-0227-4

Schlusselbegriffe Memorative-narrative Theologie � Argumentative

Theologie � Narrative Erinnerung � Kulturelle Identitat � Erzahlgemeinschaft

»Gewiß, Augustinus erzahlt noch beichtend sein Leben, Descartes erzahlt die

Methode seines Denkens, Pascal verlangt nach dem Gott Abrahams, Isaaks

und Jakobs (dem erzahlten Gott also), Rousseau erzahlt die Widerspruche der

Menschennatur, und Nietzsche erzahlt die Weisheit Zarathustras. «1

Der Begriff » narrative Theologie « erscheint in den 1970er Jahren in der

deutschen Forschung. Die internationale theologische Zeitschrift Concilium

veroffentlichte 1973 zwei Aufsatze, auf die sich Forscher heute noch oft beziehen.

Der erste stammt vom Romanisten Harald Weinrich, der zweite vom Theologen

Johann Baptist Metz.2 Die Veroffentlichung ihrer Abhandlungen fallt in das erste,

sehr fruchtbare Jahrzehnt der strukturalistischen Narratologie. Es kann also bereits

in der ersten Phase der strukturalistischen Narratologie eine Verschrankung

theologischer und narratologischer Fragestellungen in der Forschung beobachtet

werden.3 Der Bereich der narrativen Theologie kann in diesem Sinn als virtuelles

Sammelbecken verschiedener erzahl- und textwissenschaftlicher Theorien und

Methoden verstanden werden: Die Kategorien der narrativen Rhetorik und Poetik

erscheinen auch in der Interpretation des biblischen Textkorpus, der biblischen

Gattungen und Sprechweisen, und die Methode kommt sogar mit der Tradition der

rabbinischen Exegese in Beruhrung.

Der vorliegende Beitrag nimmt den interdisziplinaren Dialog zwischen der

Theologie und der Narratologie in seiner historischen Dimension in den Blick. Was

motiviert das narratologische Interesse der Theologen bzw. die Hinwendung der

Erzahlforscher zur Bibel? Dabei soll von der Hypothese ausgegangen werden, dass

die judische und die christliche Bibel, das Alte und das Neue Testament, ein

archaisches Korpus darstellen, das von einem ereignisorientierten Verstandnis des

Seins gekennzeichnet ist. Im folgenden philosophischen Kommentar Paul Ricœurs

werden auch der Gottesbegriff und die JHWH-Verkundigung des Judentums als

narrative bzw. als ethisch-narrative Elemente erkannt: » la nomination predicative

de Jahve est a la fois prescriptive et narrative. En ce sens Dieu se laisse reconter: ce

qui est une des manieres de dire qu’il est revele, qu’il est ouvert (Offenbar)… «4.

Die Bibel darf im reinterpretativen Diskurs der Narrative auch wegen ihrer

Wirkung und Bedeutung nicht fehlen. Die atiologischen Sagen, Entstehungsges-

chichten der Welt, die Schopfungsgeschichte, die Sintflut, die Sternbilder, die

Glaubenswelt, die naturlichen Umstande, die Vielfalt historischer, sakraler und

alltaglicher Phanomene stellen Themen dar, mit denen die menschliche Erfahrung

Ereignisketten, also fabulare Erklarungen, verbindet. Das Verstandnis und die

Interpretation des Seins haben ereignisartige nicht-literarische und literarische

Formen. Michail Bachtin gelangt zu einer ahnlichen Schlussfolgerung: Fiktionale

1 Weinrich (1973, S. 329–334, hier S. 331).2 Weinrich (1973) and Metz (1973).3 Zur Wissenschaftsgeschichte der Narratologie vgl. Nunning and Nunning (2002, S. 1–33, hier S. 4ff.).4 Ricœur (1994, S. 362f.).

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Werke haben keine erkenntnisbezogene und keine empirisch-praktische, sondern

eine narrative Realitat. Anders als Mythen ist die Bibel auch eine Sammlung oraler

Erzahlgattungen der Folklore (Sagen, Marchen, Fabeln) sowie von normativen

(praskriptiven) und historischen Gattungen. Durch die Vielfalt ihrer Quellen und

Formationen ist sie also vom umfassenden Kontext ihrer Geschichte und Kultur

nicht zu trennen.

Die narratologische Position zeitigte in der Theologie eine neue, von den

traditionellen exegetischen und theologischen Verfahren abweichende Methodik. Es

ist eine wichtige Erkenntnis, dass die Erzahlung nicht nur in den Buchern des Alten

Testaments und in den Evangelien, sondern auch in der theologischen Erlauterung

eine bestimmende Rolle spielt. Die neuen methodologischen Vorschlage fugen sich,

wie es scheint, gut in den Kontext der auf großen Traditionen beruhenden biblischen

Wissenschaften ein.

Nach Weinrich kann die Narrativitatstheorie der Theologie ein potenzielles

Forschungsprogramm anbieten, mit dem sie sich am modernen interdisziplinaren

Austausch zwischen Geistes-, Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften betei-

ligen kann. Die narratologische Interpretation bezieht die biblischen Texte direkter

in die Erforschung der gemeinsamen Zivilisationsquellen ein, als wenn sie nur

Gegenstand der Exegese und der Theologie blieben. Ziel und Sinn der Sache sind

nicht etwa unerwartete Erkenntnisse, sondern dass im sakularisierten und postnar-

rativen Zeitalter ein reiches, grundsatzlich fabulares und figuratives Korpus in den

Vordergrund gestellt wird. Von der auf lange Traditionen zuruckblickenden

Geschichte der Theologie und ihrer breit gefacherten historischen und philologis-

chen Hilfswissenschaften unabhangig ist die Einsicht, dass die theologische

Reflexion und die kritische, methodologische Selbstreflexion der Erneuerung

bedurfen. Die Offnung wurde und wird auch vom zeitgenossischen philosophischen

Denken, von der kulturellen Wende und den damit einhergehenden theoretischen

Transformationen, vom Anschauungswandel in den Geschichts- und Gesellschafts-

wissenschaften angeregt.

Um diesen interdisziplinaren Dialog und diese Gegenseitigkeit nuancierter

darzustellen, soll zunachst auf einige fruhe Initiativen der Narratologen eingegan-

gen werden. In den franzosischen sowie russischen strukturalistischen und

semiotischen Forschungen der 70er Jahre tauchten auf der sehr mannigfaltigen

Palette der Forschungsobjekte auch biblische Erzahlungen, Ikonen, kirchliche

Rituale, rituelle Texte, Requisiten und Handlungen als Themen auf. Fur die

zeichentheoretische Bearbeitung der Letzteren zeigten die russischen Semiotiker

(Boris A. Uspenski, Vjaceslav V. Iwanow, Vladimir N. Toporow) besonderes

Interesse. Von der stark linguistisch fundierten Methodologie jener Zeit sind die

Aufsatze in der von franzosischen Semiotikern (Chabrol et al.) 1971 herausgeg-

ebenen Sondernummer La semiotique narrative: recit biblique der Zeitschrift

Langages gepragt.5 Mieke Bals Buch mit dem Titel Femmes imaginaire. L’ancient

testament au risque d’une narratologie critique stellt ebenfalls eine strukturalistisch

orientierte Analyse des Alten Testaments dar. Der dabei verfolgte Zugang kundigt

jedoch auch bereits die in Bals spaterer Kulturtheorie zur Geltung kommende

5 Chabrol et al. (1971).

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kritische Narratologie, den Feminismus sowie eine Erweiterung der

gesellschaftstheoretischen Betrachtungsweise an.6

Der Judaist und Narratologe Meir Sternberg erarbeitete unter den ersten eine

Synthese der interdisziplinaren Ansatze in The Poetics of Biblical Narrative und

in » Time and Space in Biblical (Hi)storytelling: The Grand Chronology «.7 Im

letzteren Werk behandelt er die Chronologie der historischen Erzahlungen im Alten

Testament bzw. den entchronologisierten Umgang mit der Zeit. Zum Phanomen der

Unterbrechung der Kontinuitat und des Mangels der chronologischen Ordnung

bemerkt er, dass das Alte Testament an bestimmen Stellen sogar die ziemlich

wagemutige Logik von Ulysses ubertrifft.

Die von Beruhrungen mit der Linguistik, der Folkloreforschung, der Literatur-

und der Zeichentheorie gepragte Periode der Erzahlforschung wird als klassische

Narratologie bezeichnet, wahrend die Epoche nach der sprachlichen und kulturellen

Wende, die zu einer Verstarkung der kontextuellen Untersuchungen beitrug, als

postklassische Narratologie charakterisiert wird.8 In dieser Periode wirkten sich

insbesondere die analytische Philosophie und dann die dekonstruktive Geschichts-

theorie auf die Neuorientierung in der Erzahltheorie aus.

Seit der Jahrtausendwende liegt eine Vielzahl von systematischen Handbuchern

und methodologisch fundierten Werken zur narrativen Theologie vor, so als wurde

die Behandlung der gemeinsamen Fragen der beiden Disziplinen keine besondere

Begrundung mehr erfordern. Als exemplarisch seien James L. Resseguies Narrative

Criticism of the New Testament. An Introduction und Klaus Seybolds Poetik der

erzahlenden Literatur im Alten Testament genannt.9 Auch eine aus Theologen

bestehende Forschergruppe mit internationaler Zusammensetzung hat sich fur den

poetischen Ansatz entschieden. Obwohl Michail Bachtin sich selbst nicht mit

Bibelauslegungen beschaftigt hat, versuchten Roland Boer und die Autoren des von

ihm herausgegebenen Sammelbandes auf Grundlage von Bachtins prosapoetischer

Kategorien eine biblische Gattungstheorie auszuarbeiten.10 Unter den Aufsatzen des

Bandes mutet vielleicht die Verwendung des Begriffs » Chronotopos « im Kom-

mentar zur Raumzeit der Apokalypse als besonders bemerkenswert an.

Joachim Vettes narrativ-poetisch angesetzter Kommentar zum Alten Testament, wie

er ihn in seinem Werk Samuel und Saul. Ein Beitrag zur narrativen Poetik des

Samuelbuches darlegt, nahrt sich von Meir Sternbergs oben erwahnter Monographie, die

eine große Wirkung erzielte. Vette geht bei der Verbindung der beiden heterogenen

akademischen Disziplinen vorsichtig vor. Er ist jedoch uberzeugt, dass sich sowohl die

formalistische und strukturalistische Tradition als auch die neuere anglo-amerikanische

biblische Narratologie befruchtend auf die Exegese des Alten Testaments auswirken

konnen. Angesichts der bescheidenen Rezeption der anglo-amerikanischen

6 Vgl. Bal (1986).7 Sternberg (1985, 1990), and Schwartz (1990).8 Vgl. dazu Nunning and Nunning: Von der strukturalistischen Narratologie zur ›postklassischen‹Erzahltheorie.9 Resseguie (2005) and Seybold (2006).10 Boer (2007).

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Narratologie in der deutschen Forschung versucht Vette die Darstellung derselben mit

ihrer praktischen Anwendung zu verbinden.11

Die Akzeptanz des vielschichtigen narrativen Erbes des ereignisorientierten

Seinsverstandnisses stellt auch das biblische Textkorpus in ein neues Licht. Die in die

Narratologie integrierte theoretische Tradition weist in mehrfacher Hinsicht gemein-

same Ausgangspunkte mit der Theologie auf: solche sind die rhetorische Tradition

sowie die Hermeneutik. In den Fragen des Verstandnisses, der Interpretation und der

Uberzeugung divergieren jedoch die Standpunkte der narrativen und der argumen-

tativen Theologie. Der Rhetorik der Uberzeugung kommt in den theologischen

Erlauterungen besondere Bedeutung zu. Die internen Diskussionen der Theologie

resultieren zu einem großen Teil aus der Ubertreibung (oder Untertreibung) der

Bedeutung der Narrativitat, die insbesondere bei bestimmten amerikanischen Autoren

zu beobachten ist. Mit der Ausdehnung des Begriffs story ins Uferlose wird namlich

ein unverzichtbares Element des biblischen und exegetischen Sprachgebrauchs, die

argumentative Rhetorik, verdunkelt.

Zur fachspezifischen Fundierung und zur Ausweitung der Perspektive hat ein

Denker mit integrativer Anschauung, Paul Ricœur, beigetragen. In seinem

philosophischen Opus nehmen auch theologische und poetische, ethische und

narratologische Aspekte einen besonderen Platz ein. Ricœurs Abhandlungen zur

biblischen Hermeneutik stammen aus der gleichen Zeit – aus den 70er Jahren – wie

die von Metz und Weinrich. 1982 leistete er gemeinsam mit dem Theologen Hans

Frei einer Einladung des Haverford College Folge, wo beide im Zeichen des

interdisziplinaren Dialogs die hermeneutischen Probleme der narrativen Interpre-

tation und der Theologie erorterten. Diese fruchtbare Zusammenarbeit wiederholte

sich spater noch einmal in den 90er Jahren, als Ricœur eine gemeinsame Arbeit mit

dem Exegeten Andre LaCocque begann. Das Werk Penser la Bible gilt als

exemplarisches Beispiel fur diese Form der interdisziplinaren Dialogizitat.12 Die

Autoren unterziehen in ihrem Buch Textstellen aus dem Alten und dem Neuen

Testament einer parallelen und systematischen Untersuchung, so dass Theologie

und Philosophie im Lichte der gegenseitigen kritischen Reflexion auf dem Weg des

Verstandnisses und der Sinngebung an die biblischen Texte herangehen.

Metz und Weinrich regen deshalb zur notwendigen Erweiterung des Blickfeldes

an, da die Theologie der Erzahlung fruher keine systematischen Untersuchungen

gewidmet hat. Metz belegt dies mit einer einfachen Beobachtung: In den

Bibellexika fehlt das Stichwort » Erzahlung «. Interessanterweise kommen dagegen

in narratologischen Enzyklopadien Stichworter zur narrativen Theologie vor.13 Die

neueren theologischen Handbucher setzen sich bereits mit diversen Fragen der

Narrativitat auseinander, Vorgrimler etwa verweist in seinen Ausfuhrungen zum

Begriff etwa auch auf die erwahnten Autoren:

»Narrativitat (lat. = erzahlende Form) ist ein Merkmal der aus der Got-

tesoffenbarung hervorgegangenen Glaubensgemeinschaft: Israel u. Kirche als

11 Vgl. Vette (2005).12 Ricœur (1998).13 Vgl. etwa Cornils (2005, S. 599f.) and Richter (2005, S. 40f.).

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›Erinnerungs- u. Erzahlgemeinschaften‹, die sich nicht nur erzahlend die

Vergangenheit vergegenwartigen, sondern durch Erzahlung der Verheißungen

ihre Erwartungshaltung immer neu aktualisieren (? Befreiungstheologie).

Die Beachtung der Eigenart der ? Offenbarung Gottes fuhrt zu der Erkennt-

nis, daß diese ursprunglich in Gestalt des Erzahlens, nicht der Indoktrination u.

der theoretischen Lehre, uberliefert wurde. Die N. ist von Bedeutung fur

die ? Mystagogie (Glaubenserzahlung) wie fur die Aneignung von Weisheit

aufgrund von erzahlbaren Lebenserfahrungen. Die narrative Charakterisierung

der Theologie wurde bei K. Barth (� 1968) wiederentdeckt; seit Mitte der 70er

Jahre des 20. Jh. wandte sich P. Ricoeur einer Texthermeneutik zu, in deren

Zentrum die lebendigen ? Metaphern u. der Akt des Erzahlens stehen. «14

In einem Essay aus den 90er Jahren reflektiert Ricoeur in einer wichtigen kleinen

›Fußnote‹ auf den u.a. von Metz und Weinrich etablierten Ansatz, und zwar darauf,

was

»als ›narrative Theologien‹ bezeichnet wird (von Weinrich, Metz und

anderen). Ich habe lediglich folgende Bedenken: 1) Ich befurchte eine

Inflation der Erzahlung als literarischer Gattung zuungunsten anderer

Außerungsweisen: der praskriptiven, der prophetischen, der hymnischen und

der weisheitlichen; 2) ich bemangele den Verzicht auf die Dialektik der Liebe

als Vermittlung zwischen der metaphorischen und der erzahlenden Interpre-

tation der Formel ›Gott ist Liebe‹. Was mich allerdings nicht hindert, mit

Jungel zu behaupten: ›Das Denken, das Gott verstehen will, wird immer

wieder zur Erzahlung zuruckkehren. Ein Denken uber Gott ist ja nur denkbar

als das Erzahlen einer Geschichte, in der die Begriffe einer sorgfaltigen

Kontrolle unterliegen. Wenn das Denken Gott zum Denkobjekt machen will,

muss es anfangen, Geschichten zu erzahlen‹. Ferner: ›Gott bittet darum,

erzahlt zu werden‹. «15

Es fallt auf, dass der Philosoph Ricœur der Philosophie keine ubergeordnete Rolle

beimisst. Mit Hinweis auf Gadamer stellt er fest, dass die Philosophie keine eigenen

Worter besitzt, sondern nur von einer philosophischen Verwendung der Worter in

speziellen Kontexten gesprochen werden kann. Dieser Gedanke kann im vorlie-

genden Zusammenhang wie folgt modifiziert werden: Die Narratologie hat ebenfalls

keine eigenen Geschichten, aber die weit verzweigten Erzahltraditionen, die Fragen

nach ihrer Wirkung und ihrem Funktionieren in der Gegenwart werden trotzdem im

Rahmen der Narratologie zum fokussierten Forschungsgegenstand. In diesem

14 Vorgrimler (2000, S. 442).15 » Une note s’impose concernant ce qu’on apelle ›theologies narrative‹ (Weinrich, Metz, et d’autres).

Mes seules reserves sont les suivantes: (1) je crains une inflation de recit en tant que genre litteraire aux

depens d’autres modes de discours: presriptifs, hymniques, sapientiels; (2) je deplore l’omission de la

dialectique de l’amour en tant que mediations entre l’interpretation metaphorique et l’interpretation

narrative de la formule ›Dieu est amour‹. Cela ne m’empeche pas de dire avec Jungel: ›La pensee qui veut

comprendre Dieu sera toujours ramenee au recit. La pensee de Dieu ne peut etre pensee que comme le

raconte d’une histoire par ou les concepst sont soumis a un controle soigneux. Si la pensee veut penser

Dieu, alors elle doit entreprendre de raconter des histoire.‹ Et encore: ›Dieu demande a etre

raconte. « Ricœur, Paul: D’un Testament a l’autre S. 363.

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Kontext bietet sich die Moglichkeit zur (Re-)Interpretation sakraler und profaner,

religioser und literarischer sowie anderer narrativer Diskurse in den miteinander

verschrankten geistigen und imaginaren Symbolsystemen der Kultur an.

Neben der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung des Interesses fur das Alte und

das Neue Testament weist die narrative Theologie auch auf die dahinschwindende

Wertordnung, die in der Vergangenheit aus der Zugehorigkeit zu einer Gemein-

schaft resultierte, hin. Das Wesen der Erzahlgemeinschaft besteht nicht nur aus den

Geschichten, die die Mitglieder der Gemeinschaft kennen, sondern auch aus den

moralischen Werten, denen sie Formen verleihen. Die Erzahlungen und das mit

analoger Logik entstehende biblische Tropen- und Figurensystem sind auch

gemeinsame Bestandteile eines großen ethischen Wertsystems.

Dies kann durch ein nur scheinbar sehr einfaches Beispiel belegt werden. Die

Relation zweier Aussagen untersuchend beschreitet Paul Ricœur (» Ich werde sein,

der ich sein werde [Ego sum qui sum.] « ; » Gott ist die Liebe «) den Weg vom

Alten zum Neuen Testament.16 Die ratselhafte Offenbarung in 2 Mose 3,14 sowie

die synthesenartige Metapher in 1 Johannes 4,8 werden in diesem Verfahren einer

Deutung unterzogen, die vom philosophischen Ausgangspunkt der Theologie uber

eine narrative Interpretation zu einer narrativen ethischen Perspektive fuhrt.

»Es ist eine Eigenart der Erzahlungen in den Evangelien, die Einheit von

Leben und Tod auf erzahlende Weise zugunsten des Lebens zu veranschau-

lichen. In dieser Hinsicht wird die literarische Gattung des Evangeliums von

der erzahlenden Ausbreitung eines erzahlerisch zu entfaltenden kurzen

Kerygmas konstituiert: ›Gestorben. Zugedeckt. Begraben. Auferstanden.

Gesichtet.‹ In diesem Sinne konnen wir die evangelischen Erzahlungen als

›interpretative Erzahlungen‹ auffassen, in Anbetracht der dialektischen

Struktur der Liebe, von der das Kerygma metaphorisch aussagt, sie sei Gott.

(…) Auf diese Weise gewahrleistet die Erzahlung durch die metaphorische

und dialektische Interpretation eine vollstandige Entfaltung der Formel ›Gott

ist Liebe‹. Die Sorgfalt, mit der die Erzahlung in den Evangelien gehandhabt

wird, hat eine spezifische Form angenommen, die von Weinrich betont wird:

Der Gleichnisse erzahlende Jesus wird zum erzahlten Erzahler des Evange-

liums; auf diese Weise wird er also selber zum erzahlten Gleichnis Gottes.

Diese abgekurzte Formulierung ware jedoch irrefuhrend, insofern die

erzahlende Interpretation der Formel ›Gott ist Liebe‹ die dialektische

Interpretation, die innerhalb der Liebe das Leben mit dem Tod verbindet,

und die metaphorische Interpretation, die die Liebe auf eine ungewohnliche

Weise Gott zuerkennt, verdrangen wurde. «17

16 Vgl. ebd., S. 355–366.17 » Le propre des recits evangeliques est d’exemplifier narrativement de la dialectique de la vie et de la

most au benefice de la vie. A cet egard, le genres litteraire de l’Evangile est constitue par ce

developpement narratif d’une bref kerygme en attente d’un developpement narratif: ›Il est morte, Il a ete

enseveli, Il est ressuscite, Il a ete vu par plusieurs.‹ En ce sens, les recits evangeliques peuvent etre tenus

pour des recits ›interpretatifs‹ a l’egard de la structure dialectique de l’amour, dont le kerygme dit

metaphoriquement qu’il est Dieu. (…) C’est ainsi que la narration assure le plein developpement de la

formule ›Dieu est l’amour‹, a travers l’interpretation metaphorique et l’interpretation dialectique. Dans les

Evangiles, ce souci de raconter a pris de la forme specifique que souligne Weinrich: a savoir que Jesus le

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Die christliche Wortverkundung ist eine Erzahlung uber die Taten und Worte von

Jesus von Nazareth. Eine Erzahlung, die aus der beabsichtigten Synthese des

bekennenden und des erzahlenden Zeugnisses entsteht.18 Das Prinzip der Narrat-

ivitat steht also mit der Ethik im Zusammenhang: » La narrativite sert de

propedeutique a l’ethique. «19

Unser postnarratives Zeitalter scheint mit der Tatsache, dass » [d]as Christentum

[…] eine Erzahlgemeinschaft «20 ist oder dass der Glaube der Juden ein erzahlendes

Glaubensbekenntnis darstellt21, im Widerspruch zu stehen. Metz nimmt die

Erzahltradition aus theologischer Einsicht in Schutz. In seinem Aufsatz » Kleine

Apologie des Erzahlens « misst er der erzahlenden Erinnerung in der Geschichte

des Christentums eine gemeinschafts- und identitatsformende Bedeutung bei.22

Seine Argumentation beruht jedoch nicht auf der allgemein bekannten Tatsache,

dass unter den Gattungen des Alten und des Neuen Testaments die verschiedensten

Erzahlformen vorkommen, oder – wie Erich Auerbach argumentiert – dass das Alte

Testament beim Erzahlen menschlicher Ereignisse die Sage, den geschichtlichen

Bericht und die interpretative Geschichtserzahlung einsetzt23. Metz legt den Akzent

auf die glaubens- und bekenntnisbezogenen Erfahrungen, fur deren Mitteilung

weder der Ritus noch das Dogma geeignete Außerungsformen darstellen konnten.

Die geschichtenartige Erzahlung ist nach Metz die einzige Außerungsform, mit der

die Schopfung der Welt, die Auferstehung, die Leidens-, Erlosungs- und

Heilsgeschichte mitgeteilt werden konnen:

»[…] sie alle sprengen das argumentative Raisonnement und widersetzen sich

einer perfekten Auflosung oder Umsetzung einer Erzahlgestalt. Sie bringen

den Logos der Theologie, sofern er sein erzahlendes Wesen verbirgt, in jene

Verlegenheit, vor der die Vernunft steht, wenn sie sich etwa den Fragen nach

Anfang und Ende und nach der Bestimmung des Neuen, noch nicht

Gewesenen stellt. «24

Footnote 17 continued

narrateur des paraboles devient le raconteur raconte de l’Evangile: c’est ainsi qu’il devient lui-meme la

parabole racontee de Dieu. Mais cette formule raccourcie deviendrait trompeuse si l’interpretation nar-

rative de la formule ›Dieu est l’amour‹ faisait l’economie de l’interpretation dialectique qui joint la vie a

la mort au sein de l’amour, et de l’interpretation metaphorique qui attribue bizarrement l’amour a

Dieu. « Ebd., S. 363.18 » Le temoin est temoin des choses arrivees. On peut penser que le souci d’inscrire la predication

chretienne dans les cathegories du recit, comme narration des choses dites et des choses faites par Jesus

de Nazareth, procede de cette intention de suturer le temoignage-confession au temoignage-narration.

Cette conjoction est operee de facon diverses par les quatres Evangelistes, et l’on pourrait constituer une

typologie sur cette base. A une extemite de l’eventail on aurait Luc, a l’autre Jean. « Ricœur, Paul:

L’hermeneutique du temoignage, in: Ders. (1994, S. 119).19 Mongin (1994, S. 177).20 Weinrich (1973, S. 330).21 Vgl. Ricœur.22 Vgl. Weinrich (1973, S. 339–340).23 Vgl. dazu Auerbach (1946).24 Metz (1973, S.335).

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Die Sprache der Heilsgeschichte ist nicht argumentativ, sondern narrativ, und die

Leidensgeschichte kann ebenfalls nicht nur argumentativ sein, sondern sie muss auf

narrative Weise erklart werden: » [S]ie ist in fundamentaler Weise memorativ-

narrative Theologie. «25 Die Erinnerungserzahlung relativiert also die argumenta-

tive Theologie, was zum Neudenken der Beziehung von Geschichte und Erklarung

anregt. Simplifiziert und ungenau erscheint der Standpunkt, wonach das Evange-

lium die Narration und die Theologie die Argumentation als Aufgabe wahrzuneh-

men hat.

Bezuglich dieser Gegenuberstellung soll auch der Wandel des mythischen

Denkens berucksichtigt werden. Olga Frejdenberg, die in ihrer Forschung den

Ursprungen der Narration nachgeht, vertritt die Ansicht, dass die Narration ihre

Eigenschaft als Logos und als ›Bild‹ verliert, wenn sich ihr fruheres heuristisches

Wesen verandert. Sie wird erst dann selbststandig, und wahrend sie ihre

Bildhaftigkeit beibehalt, nimmt sie gleichzeitig begrifflichen Charakter an. Der

Charakter des Christentums hat sich wahrend der Beruhrungen mit dem Hellenis-

mus nicht verandert: Nicht der Logos hat sich narrativiert, vielmehr wurden die

biblischen Erzahlungen von einem logisch-begrifflichen Sprachgebrauch durchdr-

ungen Platon ordnet den Mythos der argumentativen Philosophie unter, wahrend

sich in der biblischen Erzahltradition ein entgegengesetzter Prozess abspielt: Die

Theologie verwandelt den Logos in Geschichte.

Ricœur hebt aus der Hegelschen Religionsauffassung das Gegensatzpaar » Vor-

stellung – Denken « hervor: Es handelt sich dabei um die Dualitat von » figurat-

ivem « versus » begrifflichem oder spekulativem « Denken. Fur Hegel ist die

Religion und mithin die » vollendete Religion « grundsatzlich figurativ, selbst in

ihren dogmatischen, trinitarischen Thesen. Es ist eine Aufgabe der Philosophie, das

ins Begriffliche zu verwandeln, was in der Theologie selbst auf figurative Weise

formuliert wird. Nach Ricœur werde das Spekulative, das Begriffliche den

figurativen Aussagen der Bibel nicht gleichsam von Außen aufgezwungen: die

Dimension der Weisheit sei ein organischer Bestandteil derselben.26

Wenn also das Judentum und die ersten christlichen Gemeinden Beispiele fur die

Erzahlgemeinschaft sind, kann auch die Erforschung gesellschaftlicher Narrative

diese Erfahrung nutzen. Die postklassische Narratologie hat eine gesellschaftstheor-

etische und -kritische Haltung entwickelt, die bestimmten theologischen Intentionen

begegnet. Die kollektiven identitatsbildenden Narrative haben fur die verschiedenen

Minoritaten, Exilanten, Migranten, Immigranten, Expatrioten usw. eine besondere

Bedeutung. Die zunehmende Zahl von Mikrogemeinschaften und marginalisierten

Gruppen ist ein auffallendes Phanomen in den heutigen Gesellschaften. Der

Problemkreis reicht also von der Entstehung der fruhen Gemeinden in der

biblischen Zeit bis hin zur Gegenwart, in der Fragen nach der Konstitution und

Aufrechterhaltung kollektiver, kultureller und regionaler Identitaten als Fragen der

Erinnerung artikuliert werden.

Die narrative Erinnerung des Christentums ist eine Achse der kulturellen Erinnerung

des westlichen Zivilisationskreises. Betrachtet man sie als unvergleichlich reiche

25 Ebd., S. 339.26 Vgl. Ricœur: D’un Testament a l’autre, S. 363–364.

Die narrative Theologie als Meta-Narratologie 105

123

geistige Tradition, kann man feststellen, dass sie Aufgaben fur mehrere angewandte

Narratologien bereithalt. Auch die Kunstgeschichte hat die Bedeutung der Bilderzah-

lung schon seit geraumer Zeit erkannt. So werden, was z.B. die Gattungen der

kirchlichen Kunst betrifft, die Glasfenster der gotischen Kathedralen oder die

Wandgemalde-Reihen in wertvollen Aufsatzen analysiert. Die Erfahrungen der

Folklore- und Mythosforschung wurden bereits von den formalen Narratologien in

den Diskurs eingebracht. Das poetische System einfacher und literarischer Formen

stellte auch schon in der Zeit der fruhen sowie der klassischen und postklassischen

Narratologie eine unerschopfliche Basis von Modellen dar. Uber die bekannten Bucher

von Nothrop Frye hinaus zeugt z.B. auch die Monographie des Kunsthistorikers und

Judaisten Jorg Schultes vom Potential einer gemeinsamen Untersuchung biblischer und

weltlicher narrativer Traditionen. Seinen Ausgangspunkt bildet die judische narrative

und kulturelle Erinnerung. Der von ihm verfolgte komparative Ansatz erscheint

zunachst als ungewohnlich und provokativ. Sein Buch Eine Poetik der Offenbarung.

Isaak Babel’, Bruno Schulz, Danilo Kis behandelt hinsichtlich ihrer Darstellung der

Seinserfahrung verwandte Erzahlwerke des 20. Jahrhunderts.27 Dabei uberrascht die

von Schulte aufgezeigte Offenbarung auf dem Berg Sinai als Grundgedanke bei

Autoren, die gegenuber der judischen religiosen Tradition im Grunde genommen

gleichgultig sind. Schulte ist jedoch neben der rabbinischen Exegese auch im Bereich

der zeitgenossischen Philosophie und Poetik bestens bewandert. Eines der großten

Verdienste seiner Monographie liegt gerade in der uberzeugenden Zusammenfuhrung

diverser Blickpunkte.

Die rabbinische Exegese als Verstandnismodell von Texten und Zeichen, weist

nach Schulte Beruhrungsstellen mit der westlichen Philosophie und Literatur auf.

Bevor die Poetik kunstlerischer Texte aus dieser Tradition lernen kann, muss ein

Vokabular erstellt werden, das die Phanomene der Exegese mit den Begriffen der

Philosophie und der Poetik identifiziert. Diesem Zweck ist Emmanuel Levinas’ Werk

gewidmet. Seine Phanomenologie ist die theoretische Stutze fur Schulte, davon

ausgehend wendet Schulte die Verfahren der rabbinischen Exegese auf die Interpre-

tation kunstlerischer Texte an. Wie Schulte so beruft sich auch Levinas auf die

osteuropaische judische Tradition: Gemeinsam mit einer langen Reihe von Kunstlern

und Schriftstellern vermittelt er diese geistige Quelle an den abendlandischen

Kulturkreis. Genau genommen ist er, wie Schulte betont, kein Schuler der judischen

Philosophie, sondern der Thora, des Talmuds und der griechischen Philosophie.

Schultes Untersuchung wird nicht von einem den drei Prosawerken von Außen

auferlegten methodischen System gestaltet. Er sucht nach Parallelen, er liest den

ostmitteleuropaischen imaginaren Nachlass des 20. Jahrhunderts als ein Netzwerk

kunstlerischer, religioser und philosophischer Zeichen. Er aktiviert die aus der

rabbinischen Exegese gewonnene Erfahrung im Verstandnis des Zeichen- und

Symbolsystems sowie in dem der poetischen Grundrisse und Plane. Die folgende

theologische Reflexion kann als metanarratologischer Gedankengang gelesen werden:

»Die Schrift als ein ›Schriftwerk‹ (Arnold Goldberg), d.h. eine von Gott

geschaffene Zeichenverbindung, ist zunachst unverstandlich. Wenn aus der

27 Vgl. Schulte (2004).

106 B. Thomka

123

Kombination der unverstandlichen Zeichen eine vom Menschen wahrnehm-

bare Stimme gewonnen wird […], so ist dies deshalb moglich, weil sie die

Sprache des Menschen spricht, ›ein Text in menschlicher und naturlicher

Sprache‹ […] ist. Dieses Sprechen ist nicht an die lineare Folge der Zeichen

gebunden, denn die Schrift kann auf unterschiedliche Weise in die menschli-

che Sprache ubertragen werden. «28

Nachmanides fasst das so zusammen, dass es in jedem Text einen » gottli-

chen « und einen » menschlichen « Anteil gibt. Im Pentateuch verbinden sich

traditio und traditum, Mundliches und Schriftliches miteinander: Die Struktur der

schriftlichen Lehre vereint Text und Kommentar. Nach Marc-Alain Ouaknin hat der

Kommentar dabei nicht die Aufgabe, den Text zu erlautern, sondern ihn zu

konstruieren (und dieser Gedanke ist auch der dekonstruktiven Literaturphilosophie

nicht fremd). Schultes Werk mit seiner Synthese von Interpretation und Theorie ist

auf jeden Fall ein beispielhaftes Modell fur die metatheoretische (und literarische)

Anwendung der exegetischen Tradition.

Die Vorstellung von Narration als Interpretation erscheint auch bei Ricœur.

Weder die literarische noch die historische Erzahlung konnen der Anforderung der

dispositio (Anordnung)29 entzogen werden. Auch eine » ereignislose Geschichte

berichtet vom zeitlichen Wandel der menschlichen Tatigkeit «.30 Die Narration hat

einen erklarenden Wert und einen Platz in der Logik der Argumentation: Das ist die

Erganzung der dispositio der rhetorischen Tradition. Wie das literarische und das

historische Narrativ konstituiert sich auch die biblische Erzahlung nach dem

rhetorischen System: Sie hangt von der interpretatio ab, die der narratio und der

dispositio folgt. Das Ergebnis des Lesens ist eine neue Anordnung, durch die ein

neuer Sinn/eine neue Bedeutung entsteht. Lesen bedeutet Neuschreiben, das heißt,

ein und dieselbe inventio ergibt eine neue dispositio.31 Das Verstandnis und die

Interpretation von biblischen und literarischen Erzahlungen haben eine gemeinsame

Rhetorik und Hermeneutik. Beide narrativen Modi der Kultur sind auf die

Sinngebung angewiesen.

Bei der Interpretation des Buches des Propheten Jesaja setzt sich Ricœur mit der

Integrierung von Erzahlung und Glaubensbekenntnis auseinander. Diese Abhand-

lung belegt sehr deutlich, wie lange die Problematik des Zeugnisses (temoignage)

und der Zeugenaussage Ricœur beschaftigte. Wahrend er das Thema am Anfang im

Kontext des Alten Testaments untersuchte, behandelte er es spater – im spaten

Hauptwerk32 – im Kontext der Geschichtstheorie. Im Zusammenhang mit dem

Glauben Israels hebt er hervor, dass dessen Glaubensbekenntnis einen » erzahlen-

den Kern « besitzt. Diese Religion zeugt von JHWH, indem die Geschichte der

28 Ebd., S. 182.29 Zur » Lehre von der Verarbeitung « bzw. zur » Dispositio « vgl. Lausberg (1979, S. 24–26, S.

27–41).30 Ricœur (1994, S. 9–26).31 » La lecture se fait reecriture: la meme inventio donnant lieu a une nouvelle dispositio. « Kremer,

Nathalie: » La lecture comme tableau: la microlecture entre revelation et reecriture « , in: Fabula LHT:

Complications de texte: les microlectures (2007), Nr. 3. www.fabula.org (30.05.2011).32 Ricœur (2000). Vgl. Ricœur (1998).

Die narrative Theologie als Meta-Narratologie 107

123

Befreiung erzahlt wird, oder wie Gerhard von Raad formuliert: » Israels Credo ist

ein narratives Glaubensbekenntnis. «33

Mit der Geschichtsvision des Alten Testaments spricht Ricœur einen komplexen

Problembereich an, der sich im Kontext unserer Zeit in Fragen zur gemeinschaft-

lichen historischen Erfahrung, zur Lebenserfahrung, zur Selbstidentitat bzw. zur

narrativen Identitat ausdruckt. Abschließend sei jenes Merkmal in Ricœurs

Herangehensweise hervorgehoben, das den Prozess der ununterbrochenen Neus-

chaffung individueller und gemeinschaftlicher Identitatskonstruktionen als eine nie

abschließbare Tatigkeit darstellt. Alles, was dieses Interpretations- und Appli-

kationsverhaltnis als eine um Glaubenserfahrung erganzte Lebenspraxis untersucht,

gehort nicht zu den Aufgaben der narrativen Theologie, sondern zu dem sich zurzeit

lediglich in Umrissen abzeichnenden neuen Programm einer narrativen Ethik.

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33 » Une theologie du temoignage, qui ne soit pas simplement un autre nom pour la theologie de la

confession de foi, n’est possible que si un certain noyau narratif et preserve en etroite union avec la

confession de foi. C’est le cas par excellence de la foi d’Israel, qui, d’abord, a confesse Jahve en racontant

les faits de delivrance qui ponctuent l’histoire de sa liberation. Toute la ›theologie des traditions‹ de Von

Rad est contruite sur cette postulation de base que le Credo d’Israel est une confession narrative sur le

modele du Credo nucleaire de Deuteronome 26, 5–9. La ou une ›histoire‹ de liberation peut etre racontee,

un ›sens‹ prophetique peut etre non seulement confesse, mais atteste. « Ricœur, Paul: L’hermeneutique

du temoignage, S. 118.

108 B. Thomka

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