Die narrative Theologie als Meta-Narratologie
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Die narrative Theologie als Meta-Narratologie
Narrative Theologie: Zum Potential eines interdisziplinarenDialogs
Beata Thomka
Published online: 28 May 2014
� Akademiai Kiado, Budapest, Hungary 2014
Zusammenfassung Der Begriff der narrativen Theologie taucht ab den 70er
Jahren im deutschen Diskurs auf, gepragt vor allem von J. B. Metz und H. Weinrich.
Er gewinnt gerade in jenem Jahrzehnt als narratologische Forschungsrichtung
Konturen, als die interdisziplinar ausgerichtete Narratologie ihre produktivste und
vielseitigste Phase erlebt. In meinem Vortrag befasse ich mich mit der Frage, in
welcher Art und Weise das gemeinsame Interesse der Theologen und Narratologen
zum Prozess der ,,narrativen Wende’’ beitrug. Narratopoetologische Kategorien
bekommen wiederum bei den Interpretationen von biblischen Texten, verschiede-
nen Gattungen und Diskursansatzen eine besondere Akzentuierung. Paul Ricoeur
behandelt den Fragekomplex der Erzahlforschung in gegenseitiger Wechselwirkung
der Philosophie, Hermeneutik und der theologischen Reflexion. Der Aspekt der
narrativen Theologie spielt auch in der rabbinischen Exegesetradition (J. Schulte)
eine wichtige Rolle. In der Kleinen Apologie des Erzahlens (1973) weisst J. B. Metz
die gemeinschaftsbildende, identitatsstiftende Funktion der narrativen Erinnerung in
der Geschichte des Christentums zu. Den Akzent legt er auf religiose Erfahrungen,
die weder durch den Ritus noch durch das Dogma vermittelt werden konnen. Die
Schopfung, die Auferstehung sowie die Leidens-, Erlosungs- und Heilsgeschichte
sind nur in narrativen Form artikulierbar: ,,sie alle sprengen das argumentative
Raisonnement und widersetzen sich einer perfekten Auflosung oder Umsetzung einer
Erzahlgestalt. Sie bringen den Logos der Theologie, sofern er sich sein erzahlendes
Wesen verbirgt, in jene Verlegenheit, von der die Vernunft steht, wenn sie sich etwa
den Fragen nach Anfang und Ende und nach der Bestimmung des Neuen, noch nicht
Gewesenen stellt.’’ (1973, S. 335). Nach dreieinhalb Jahrzehnten und nach der
Ablosung der klassischen Narratologie durch die Postnarratologien besteht die
Notwendigkeit, jene Ergebnisse und Implikationen der Narratologie zu reflektieren,
die von der Theologie bereichert wurden.
B. Thomka (&)
PTE BTK, Ifjusag utja 6, 7624 Pecs, Hungary
e-mail: [email protected]
123
Neohelicon (2014) 41:97–109
DOI 10.1007/s11059-013-0227-4
Schlusselbegriffe Memorative-narrative Theologie � Argumentative
Theologie � Narrative Erinnerung � Kulturelle Identitat � Erzahlgemeinschaft
»Gewiß, Augustinus erzahlt noch beichtend sein Leben, Descartes erzahlt die
Methode seines Denkens, Pascal verlangt nach dem Gott Abrahams, Isaaks
und Jakobs (dem erzahlten Gott also), Rousseau erzahlt die Widerspruche der
Menschennatur, und Nietzsche erzahlt die Weisheit Zarathustras. «1
Der Begriff » narrative Theologie « erscheint in den 1970er Jahren in der
deutschen Forschung. Die internationale theologische Zeitschrift Concilium
veroffentlichte 1973 zwei Aufsatze, auf die sich Forscher heute noch oft beziehen.
Der erste stammt vom Romanisten Harald Weinrich, der zweite vom Theologen
Johann Baptist Metz.2 Die Veroffentlichung ihrer Abhandlungen fallt in das erste,
sehr fruchtbare Jahrzehnt der strukturalistischen Narratologie. Es kann also bereits
in der ersten Phase der strukturalistischen Narratologie eine Verschrankung
theologischer und narratologischer Fragestellungen in der Forschung beobachtet
werden.3 Der Bereich der narrativen Theologie kann in diesem Sinn als virtuelles
Sammelbecken verschiedener erzahl- und textwissenschaftlicher Theorien und
Methoden verstanden werden: Die Kategorien der narrativen Rhetorik und Poetik
erscheinen auch in der Interpretation des biblischen Textkorpus, der biblischen
Gattungen und Sprechweisen, und die Methode kommt sogar mit der Tradition der
rabbinischen Exegese in Beruhrung.
Der vorliegende Beitrag nimmt den interdisziplinaren Dialog zwischen der
Theologie und der Narratologie in seiner historischen Dimension in den Blick. Was
motiviert das narratologische Interesse der Theologen bzw. die Hinwendung der
Erzahlforscher zur Bibel? Dabei soll von der Hypothese ausgegangen werden, dass
die judische und die christliche Bibel, das Alte und das Neue Testament, ein
archaisches Korpus darstellen, das von einem ereignisorientierten Verstandnis des
Seins gekennzeichnet ist. Im folgenden philosophischen Kommentar Paul Ricœurs
werden auch der Gottesbegriff und die JHWH-Verkundigung des Judentums als
narrative bzw. als ethisch-narrative Elemente erkannt: » la nomination predicative
de Jahve est a la fois prescriptive et narrative. En ce sens Dieu se laisse reconter: ce
qui est une des manieres de dire qu’il est revele, qu’il est ouvert (Offenbar)… «4.
Die Bibel darf im reinterpretativen Diskurs der Narrative auch wegen ihrer
Wirkung und Bedeutung nicht fehlen. Die atiologischen Sagen, Entstehungsges-
chichten der Welt, die Schopfungsgeschichte, die Sintflut, die Sternbilder, die
Glaubenswelt, die naturlichen Umstande, die Vielfalt historischer, sakraler und
alltaglicher Phanomene stellen Themen dar, mit denen die menschliche Erfahrung
Ereignisketten, also fabulare Erklarungen, verbindet. Das Verstandnis und die
Interpretation des Seins haben ereignisartige nicht-literarische und literarische
Formen. Michail Bachtin gelangt zu einer ahnlichen Schlussfolgerung: Fiktionale
1 Weinrich (1973, S. 329–334, hier S. 331).2 Weinrich (1973) and Metz (1973).3 Zur Wissenschaftsgeschichte der Narratologie vgl. Nunning and Nunning (2002, S. 1–33, hier S. 4ff.).4 Ricœur (1994, S. 362f.).
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Werke haben keine erkenntnisbezogene und keine empirisch-praktische, sondern
eine narrative Realitat. Anders als Mythen ist die Bibel auch eine Sammlung oraler
Erzahlgattungen der Folklore (Sagen, Marchen, Fabeln) sowie von normativen
(praskriptiven) und historischen Gattungen. Durch die Vielfalt ihrer Quellen und
Formationen ist sie also vom umfassenden Kontext ihrer Geschichte und Kultur
nicht zu trennen.
Die narratologische Position zeitigte in der Theologie eine neue, von den
traditionellen exegetischen und theologischen Verfahren abweichende Methodik. Es
ist eine wichtige Erkenntnis, dass die Erzahlung nicht nur in den Buchern des Alten
Testaments und in den Evangelien, sondern auch in der theologischen Erlauterung
eine bestimmende Rolle spielt. Die neuen methodologischen Vorschlage fugen sich,
wie es scheint, gut in den Kontext der auf großen Traditionen beruhenden biblischen
Wissenschaften ein.
Nach Weinrich kann die Narrativitatstheorie der Theologie ein potenzielles
Forschungsprogramm anbieten, mit dem sie sich am modernen interdisziplinaren
Austausch zwischen Geistes-, Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften betei-
ligen kann. Die narratologische Interpretation bezieht die biblischen Texte direkter
in die Erforschung der gemeinsamen Zivilisationsquellen ein, als wenn sie nur
Gegenstand der Exegese und der Theologie blieben. Ziel und Sinn der Sache sind
nicht etwa unerwartete Erkenntnisse, sondern dass im sakularisierten und postnar-
rativen Zeitalter ein reiches, grundsatzlich fabulares und figuratives Korpus in den
Vordergrund gestellt wird. Von der auf lange Traditionen zuruckblickenden
Geschichte der Theologie und ihrer breit gefacherten historischen und philologis-
chen Hilfswissenschaften unabhangig ist die Einsicht, dass die theologische
Reflexion und die kritische, methodologische Selbstreflexion der Erneuerung
bedurfen. Die Offnung wurde und wird auch vom zeitgenossischen philosophischen
Denken, von der kulturellen Wende und den damit einhergehenden theoretischen
Transformationen, vom Anschauungswandel in den Geschichts- und Gesellschafts-
wissenschaften angeregt.
Um diesen interdisziplinaren Dialog und diese Gegenseitigkeit nuancierter
darzustellen, soll zunachst auf einige fruhe Initiativen der Narratologen eingegan-
gen werden. In den franzosischen sowie russischen strukturalistischen und
semiotischen Forschungen der 70er Jahre tauchten auf der sehr mannigfaltigen
Palette der Forschungsobjekte auch biblische Erzahlungen, Ikonen, kirchliche
Rituale, rituelle Texte, Requisiten und Handlungen als Themen auf. Fur die
zeichentheoretische Bearbeitung der Letzteren zeigten die russischen Semiotiker
(Boris A. Uspenski, Vjaceslav V. Iwanow, Vladimir N. Toporow) besonderes
Interesse. Von der stark linguistisch fundierten Methodologie jener Zeit sind die
Aufsatze in der von franzosischen Semiotikern (Chabrol et al.) 1971 herausgeg-
ebenen Sondernummer La semiotique narrative: recit biblique der Zeitschrift
Langages gepragt.5 Mieke Bals Buch mit dem Titel Femmes imaginaire. L’ancient
testament au risque d’une narratologie critique stellt ebenfalls eine strukturalistisch
orientierte Analyse des Alten Testaments dar. Der dabei verfolgte Zugang kundigt
jedoch auch bereits die in Bals spaterer Kulturtheorie zur Geltung kommende
5 Chabrol et al. (1971).
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kritische Narratologie, den Feminismus sowie eine Erweiterung der
gesellschaftstheoretischen Betrachtungsweise an.6
Der Judaist und Narratologe Meir Sternberg erarbeitete unter den ersten eine
Synthese der interdisziplinaren Ansatze in The Poetics of Biblical Narrative und
in » Time and Space in Biblical (Hi)storytelling: The Grand Chronology «.7 Im
letzteren Werk behandelt er die Chronologie der historischen Erzahlungen im Alten
Testament bzw. den entchronologisierten Umgang mit der Zeit. Zum Phanomen der
Unterbrechung der Kontinuitat und des Mangels der chronologischen Ordnung
bemerkt er, dass das Alte Testament an bestimmen Stellen sogar die ziemlich
wagemutige Logik von Ulysses ubertrifft.
Die von Beruhrungen mit der Linguistik, der Folkloreforschung, der Literatur-
und der Zeichentheorie gepragte Periode der Erzahlforschung wird als klassische
Narratologie bezeichnet, wahrend die Epoche nach der sprachlichen und kulturellen
Wende, die zu einer Verstarkung der kontextuellen Untersuchungen beitrug, als
postklassische Narratologie charakterisiert wird.8 In dieser Periode wirkten sich
insbesondere die analytische Philosophie und dann die dekonstruktive Geschichts-
theorie auf die Neuorientierung in der Erzahltheorie aus.
Seit der Jahrtausendwende liegt eine Vielzahl von systematischen Handbuchern
und methodologisch fundierten Werken zur narrativen Theologie vor, so als wurde
die Behandlung der gemeinsamen Fragen der beiden Disziplinen keine besondere
Begrundung mehr erfordern. Als exemplarisch seien James L. Resseguies Narrative
Criticism of the New Testament. An Introduction und Klaus Seybolds Poetik der
erzahlenden Literatur im Alten Testament genannt.9 Auch eine aus Theologen
bestehende Forschergruppe mit internationaler Zusammensetzung hat sich fur den
poetischen Ansatz entschieden. Obwohl Michail Bachtin sich selbst nicht mit
Bibelauslegungen beschaftigt hat, versuchten Roland Boer und die Autoren des von
ihm herausgegebenen Sammelbandes auf Grundlage von Bachtins prosapoetischer
Kategorien eine biblische Gattungstheorie auszuarbeiten.10 Unter den Aufsatzen des
Bandes mutet vielleicht die Verwendung des Begriffs » Chronotopos « im Kom-
mentar zur Raumzeit der Apokalypse als besonders bemerkenswert an.
Joachim Vettes narrativ-poetisch angesetzter Kommentar zum Alten Testament, wie
er ihn in seinem Werk Samuel und Saul. Ein Beitrag zur narrativen Poetik des
Samuelbuches darlegt, nahrt sich von Meir Sternbergs oben erwahnter Monographie, die
eine große Wirkung erzielte. Vette geht bei der Verbindung der beiden heterogenen
akademischen Disziplinen vorsichtig vor. Er ist jedoch uberzeugt, dass sich sowohl die
formalistische und strukturalistische Tradition als auch die neuere anglo-amerikanische
biblische Narratologie befruchtend auf die Exegese des Alten Testaments auswirken
konnen. Angesichts der bescheidenen Rezeption der anglo-amerikanischen
6 Vgl. Bal (1986).7 Sternberg (1985, 1990), and Schwartz (1990).8 Vgl. dazu Nunning and Nunning: Von der strukturalistischen Narratologie zur ›postklassischen‹Erzahltheorie.9 Resseguie (2005) and Seybold (2006).10 Boer (2007).
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Narratologie in der deutschen Forschung versucht Vette die Darstellung derselben mit
ihrer praktischen Anwendung zu verbinden.11
Die Akzeptanz des vielschichtigen narrativen Erbes des ereignisorientierten
Seinsverstandnisses stellt auch das biblische Textkorpus in ein neues Licht. Die in die
Narratologie integrierte theoretische Tradition weist in mehrfacher Hinsicht gemein-
same Ausgangspunkte mit der Theologie auf: solche sind die rhetorische Tradition
sowie die Hermeneutik. In den Fragen des Verstandnisses, der Interpretation und der
Uberzeugung divergieren jedoch die Standpunkte der narrativen und der argumen-
tativen Theologie. Der Rhetorik der Uberzeugung kommt in den theologischen
Erlauterungen besondere Bedeutung zu. Die internen Diskussionen der Theologie
resultieren zu einem großen Teil aus der Ubertreibung (oder Untertreibung) der
Bedeutung der Narrativitat, die insbesondere bei bestimmten amerikanischen Autoren
zu beobachten ist. Mit der Ausdehnung des Begriffs story ins Uferlose wird namlich
ein unverzichtbares Element des biblischen und exegetischen Sprachgebrauchs, die
argumentative Rhetorik, verdunkelt.
Zur fachspezifischen Fundierung und zur Ausweitung der Perspektive hat ein
Denker mit integrativer Anschauung, Paul Ricœur, beigetragen. In seinem
philosophischen Opus nehmen auch theologische und poetische, ethische und
narratologische Aspekte einen besonderen Platz ein. Ricœurs Abhandlungen zur
biblischen Hermeneutik stammen aus der gleichen Zeit – aus den 70er Jahren – wie
die von Metz und Weinrich. 1982 leistete er gemeinsam mit dem Theologen Hans
Frei einer Einladung des Haverford College Folge, wo beide im Zeichen des
interdisziplinaren Dialogs die hermeneutischen Probleme der narrativen Interpre-
tation und der Theologie erorterten. Diese fruchtbare Zusammenarbeit wiederholte
sich spater noch einmal in den 90er Jahren, als Ricœur eine gemeinsame Arbeit mit
dem Exegeten Andre LaCocque begann. Das Werk Penser la Bible gilt als
exemplarisches Beispiel fur diese Form der interdisziplinaren Dialogizitat.12 Die
Autoren unterziehen in ihrem Buch Textstellen aus dem Alten und dem Neuen
Testament einer parallelen und systematischen Untersuchung, so dass Theologie
und Philosophie im Lichte der gegenseitigen kritischen Reflexion auf dem Weg des
Verstandnisses und der Sinngebung an die biblischen Texte herangehen.
Metz und Weinrich regen deshalb zur notwendigen Erweiterung des Blickfeldes
an, da die Theologie der Erzahlung fruher keine systematischen Untersuchungen
gewidmet hat. Metz belegt dies mit einer einfachen Beobachtung: In den
Bibellexika fehlt das Stichwort » Erzahlung «. Interessanterweise kommen dagegen
in narratologischen Enzyklopadien Stichworter zur narrativen Theologie vor.13 Die
neueren theologischen Handbucher setzen sich bereits mit diversen Fragen der
Narrativitat auseinander, Vorgrimler etwa verweist in seinen Ausfuhrungen zum
Begriff etwa auch auf die erwahnten Autoren:
»Narrativitat (lat. = erzahlende Form) ist ein Merkmal der aus der Got-
tesoffenbarung hervorgegangenen Glaubensgemeinschaft: Israel u. Kirche als
11 Vgl. Vette (2005).12 Ricœur (1998).13 Vgl. etwa Cornils (2005, S. 599f.) and Richter (2005, S. 40f.).
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›Erinnerungs- u. Erzahlgemeinschaften‹, die sich nicht nur erzahlend die
Vergangenheit vergegenwartigen, sondern durch Erzahlung der Verheißungen
ihre Erwartungshaltung immer neu aktualisieren (? Befreiungstheologie).
Die Beachtung der Eigenart der ? Offenbarung Gottes fuhrt zu der Erkennt-
nis, daß diese ursprunglich in Gestalt des Erzahlens, nicht der Indoktrination u.
der theoretischen Lehre, uberliefert wurde. Die N. ist von Bedeutung fur
die ? Mystagogie (Glaubenserzahlung) wie fur die Aneignung von Weisheit
aufgrund von erzahlbaren Lebenserfahrungen. Die narrative Charakterisierung
der Theologie wurde bei K. Barth (� 1968) wiederentdeckt; seit Mitte der 70er
Jahre des 20. Jh. wandte sich P. Ricoeur einer Texthermeneutik zu, in deren
Zentrum die lebendigen ? Metaphern u. der Akt des Erzahlens stehen. «14
In einem Essay aus den 90er Jahren reflektiert Ricoeur in einer wichtigen kleinen
›Fußnote‹ auf den u.a. von Metz und Weinrich etablierten Ansatz, und zwar darauf,
was
»als ›narrative Theologien‹ bezeichnet wird (von Weinrich, Metz und
anderen). Ich habe lediglich folgende Bedenken: 1) Ich befurchte eine
Inflation der Erzahlung als literarischer Gattung zuungunsten anderer
Außerungsweisen: der praskriptiven, der prophetischen, der hymnischen und
der weisheitlichen; 2) ich bemangele den Verzicht auf die Dialektik der Liebe
als Vermittlung zwischen der metaphorischen und der erzahlenden Interpre-
tation der Formel ›Gott ist Liebe‹. Was mich allerdings nicht hindert, mit
Jungel zu behaupten: ›Das Denken, das Gott verstehen will, wird immer
wieder zur Erzahlung zuruckkehren. Ein Denken uber Gott ist ja nur denkbar
als das Erzahlen einer Geschichte, in der die Begriffe einer sorgfaltigen
Kontrolle unterliegen. Wenn das Denken Gott zum Denkobjekt machen will,
muss es anfangen, Geschichten zu erzahlen‹. Ferner: ›Gott bittet darum,
erzahlt zu werden‹. «15
Es fallt auf, dass der Philosoph Ricœur der Philosophie keine ubergeordnete Rolle
beimisst. Mit Hinweis auf Gadamer stellt er fest, dass die Philosophie keine eigenen
Worter besitzt, sondern nur von einer philosophischen Verwendung der Worter in
speziellen Kontexten gesprochen werden kann. Dieser Gedanke kann im vorlie-
genden Zusammenhang wie folgt modifiziert werden: Die Narratologie hat ebenfalls
keine eigenen Geschichten, aber die weit verzweigten Erzahltraditionen, die Fragen
nach ihrer Wirkung und ihrem Funktionieren in der Gegenwart werden trotzdem im
Rahmen der Narratologie zum fokussierten Forschungsgegenstand. In diesem
14 Vorgrimler (2000, S. 442).15 » Une note s’impose concernant ce qu’on apelle ›theologies narrative‹ (Weinrich, Metz, et d’autres).
Mes seules reserves sont les suivantes: (1) je crains une inflation de recit en tant que genre litteraire aux
depens d’autres modes de discours: presriptifs, hymniques, sapientiels; (2) je deplore l’omission de la
dialectique de l’amour en tant que mediations entre l’interpretation metaphorique et l’interpretation
narrative de la formule ›Dieu est amour‹. Cela ne m’empeche pas de dire avec Jungel: ›La pensee qui veut
comprendre Dieu sera toujours ramenee au recit. La pensee de Dieu ne peut etre pensee que comme le
raconte d’une histoire par ou les concepst sont soumis a un controle soigneux. Si la pensee veut penser
Dieu, alors elle doit entreprendre de raconter des histoire.‹ Et encore: ›Dieu demande a etre
raconte. « Ricœur, Paul: D’un Testament a l’autre S. 363.
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Kontext bietet sich die Moglichkeit zur (Re-)Interpretation sakraler und profaner,
religioser und literarischer sowie anderer narrativer Diskurse in den miteinander
verschrankten geistigen und imaginaren Symbolsystemen der Kultur an.
Neben der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung des Interesses fur das Alte und
das Neue Testament weist die narrative Theologie auch auf die dahinschwindende
Wertordnung, die in der Vergangenheit aus der Zugehorigkeit zu einer Gemein-
schaft resultierte, hin. Das Wesen der Erzahlgemeinschaft besteht nicht nur aus den
Geschichten, die die Mitglieder der Gemeinschaft kennen, sondern auch aus den
moralischen Werten, denen sie Formen verleihen. Die Erzahlungen und das mit
analoger Logik entstehende biblische Tropen- und Figurensystem sind auch
gemeinsame Bestandteile eines großen ethischen Wertsystems.
Dies kann durch ein nur scheinbar sehr einfaches Beispiel belegt werden. Die
Relation zweier Aussagen untersuchend beschreitet Paul Ricœur (» Ich werde sein,
der ich sein werde [Ego sum qui sum.] « ; » Gott ist die Liebe «) den Weg vom
Alten zum Neuen Testament.16 Die ratselhafte Offenbarung in 2 Mose 3,14 sowie
die synthesenartige Metapher in 1 Johannes 4,8 werden in diesem Verfahren einer
Deutung unterzogen, die vom philosophischen Ausgangspunkt der Theologie uber
eine narrative Interpretation zu einer narrativen ethischen Perspektive fuhrt.
»Es ist eine Eigenart der Erzahlungen in den Evangelien, die Einheit von
Leben und Tod auf erzahlende Weise zugunsten des Lebens zu veranschau-
lichen. In dieser Hinsicht wird die literarische Gattung des Evangeliums von
der erzahlenden Ausbreitung eines erzahlerisch zu entfaltenden kurzen
Kerygmas konstituiert: ›Gestorben. Zugedeckt. Begraben. Auferstanden.
Gesichtet.‹ In diesem Sinne konnen wir die evangelischen Erzahlungen als
›interpretative Erzahlungen‹ auffassen, in Anbetracht der dialektischen
Struktur der Liebe, von der das Kerygma metaphorisch aussagt, sie sei Gott.
(…) Auf diese Weise gewahrleistet die Erzahlung durch die metaphorische
und dialektische Interpretation eine vollstandige Entfaltung der Formel ›Gott
ist Liebe‹. Die Sorgfalt, mit der die Erzahlung in den Evangelien gehandhabt
wird, hat eine spezifische Form angenommen, die von Weinrich betont wird:
Der Gleichnisse erzahlende Jesus wird zum erzahlten Erzahler des Evange-
liums; auf diese Weise wird er also selber zum erzahlten Gleichnis Gottes.
Diese abgekurzte Formulierung ware jedoch irrefuhrend, insofern die
erzahlende Interpretation der Formel ›Gott ist Liebe‹ die dialektische
Interpretation, die innerhalb der Liebe das Leben mit dem Tod verbindet,
und die metaphorische Interpretation, die die Liebe auf eine ungewohnliche
Weise Gott zuerkennt, verdrangen wurde. «17
16 Vgl. ebd., S. 355–366.17 » Le propre des recits evangeliques est d’exemplifier narrativement de la dialectique de la vie et de la
most au benefice de la vie. A cet egard, le genres litteraire de l’Evangile est constitue par ce
developpement narratif d’une bref kerygme en attente d’un developpement narratif: ›Il est morte, Il a ete
enseveli, Il est ressuscite, Il a ete vu par plusieurs.‹ En ce sens, les recits evangeliques peuvent etre tenus
pour des recits ›interpretatifs‹ a l’egard de la structure dialectique de l’amour, dont le kerygme dit
metaphoriquement qu’il est Dieu. (…) C’est ainsi que la narration assure le plein developpement de la
formule ›Dieu est l’amour‹, a travers l’interpretation metaphorique et l’interpretation dialectique. Dans les
Evangiles, ce souci de raconter a pris de la forme specifique que souligne Weinrich: a savoir que Jesus le
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Die christliche Wortverkundung ist eine Erzahlung uber die Taten und Worte von
Jesus von Nazareth. Eine Erzahlung, die aus der beabsichtigten Synthese des
bekennenden und des erzahlenden Zeugnisses entsteht.18 Das Prinzip der Narrat-
ivitat steht also mit der Ethik im Zusammenhang: » La narrativite sert de
propedeutique a l’ethique. «19
Unser postnarratives Zeitalter scheint mit der Tatsache, dass » [d]as Christentum
[…] eine Erzahlgemeinschaft «20 ist oder dass der Glaube der Juden ein erzahlendes
Glaubensbekenntnis darstellt21, im Widerspruch zu stehen. Metz nimmt die
Erzahltradition aus theologischer Einsicht in Schutz. In seinem Aufsatz » Kleine
Apologie des Erzahlens « misst er der erzahlenden Erinnerung in der Geschichte
des Christentums eine gemeinschafts- und identitatsformende Bedeutung bei.22
Seine Argumentation beruht jedoch nicht auf der allgemein bekannten Tatsache,
dass unter den Gattungen des Alten und des Neuen Testaments die verschiedensten
Erzahlformen vorkommen, oder – wie Erich Auerbach argumentiert – dass das Alte
Testament beim Erzahlen menschlicher Ereignisse die Sage, den geschichtlichen
Bericht und die interpretative Geschichtserzahlung einsetzt23. Metz legt den Akzent
auf die glaubens- und bekenntnisbezogenen Erfahrungen, fur deren Mitteilung
weder der Ritus noch das Dogma geeignete Außerungsformen darstellen konnten.
Die geschichtenartige Erzahlung ist nach Metz die einzige Außerungsform, mit der
die Schopfung der Welt, die Auferstehung, die Leidens-, Erlosungs- und
Heilsgeschichte mitgeteilt werden konnen:
»[…] sie alle sprengen das argumentative Raisonnement und widersetzen sich
einer perfekten Auflosung oder Umsetzung einer Erzahlgestalt. Sie bringen
den Logos der Theologie, sofern er sein erzahlendes Wesen verbirgt, in jene
Verlegenheit, vor der die Vernunft steht, wenn sie sich etwa den Fragen nach
Anfang und Ende und nach der Bestimmung des Neuen, noch nicht
Gewesenen stellt. «24
Footnote 17 continued
narrateur des paraboles devient le raconteur raconte de l’Evangile: c’est ainsi qu’il devient lui-meme la
parabole racontee de Dieu. Mais cette formule raccourcie deviendrait trompeuse si l’interpretation nar-
rative de la formule ›Dieu est l’amour‹ faisait l’economie de l’interpretation dialectique qui joint la vie a
la mort au sein de l’amour, et de l’interpretation metaphorique qui attribue bizarrement l’amour a
Dieu. « Ebd., S. 363.18 » Le temoin est temoin des choses arrivees. On peut penser que le souci d’inscrire la predication
chretienne dans les cathegories du recit, comme narration des choses dites et des choses faites par Jesus
de Nazareth, procede de cette intention de suturer le temoignage-confession au temoignage-narration.
Cette conjoction est operee de facon diverses par les quatres Evangelistes, et l’on pourrait constituer une
typologie sur cette base. A une extemite de l’eventail on aurait Luc, a l’autre Jean. « Ricœur, Paul:
L’hermeneutique du temoignage, in: Ders. (1994, S. 119).19 Mongin (1994, S. 177).20 Weinrich (1973, S. 330).21 Vgl. Ricœur.22 Vgl. Weinrich (1973, S. 339–340).23 Vgl. dazu Auerbach (1946).24 Metz (1973, S.335).
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Die Sprache der Heilsgeschichte ist nicht argumentativ, sondern narrativ, und die
Leidensgeschichte kann ebenfalls nicht nur argumentativ sein, sondern sie muss auf
narrative Weise erklart werden: » [S]ie ist in fundamentaler Weise memorativ-
narrative Theologie. «25 Die Erinnerungserzahlung relativiert also die argumenta-
tive Theologie, was zum Neudenken der Beziehung von Geschichte und Erklarung
anregt. Simplifiziert und ungenau erscheint der Standpunkt, wonach das Evange-
lium die Narration und die Theologie die Argumentation als Aufgabe wahrzuneh-
men hat.
Bezuglich dieser Gegenuberstellung soll auch der Wandel des mythischen
Denkens berucksichtigt werden. Olga Frejdenberg, die in ihrer Forschung den
Ursprungen der Narration nachgeht, vertritt die Ansicht, dass die Narration ihre
Eigenschaft als Logos und als ›Bild‹ verliert, wenn sich ihr fruheres heuristisches
Wesen verandert. Sie wird erst dann selbststandig, und wahrend sie ihre
Bildhaftigkeit beibehalt, nimmt sie gleichzeitig begrifflichen Charakter an. Der
Charakter des Christentums hat sich wahrend der Beruhrungen mit dem Hellenis-
mus nicht verandert: Nicht der Logos hat sich narrativiert, vielmehr wurden die
biblischen Erzahlungen von einem logisch-begrifflichen Sprachgebrauch durchdr-
ungen Platon ordnet den Mythos der argumentativen Philosophie unter, wahrend
sich in der biblischen Erzahltradition ein entgegengesetzter Prozess abspielt: Die
Theologie verwandelt den Logos in Geschichte.
Ricœur hebt aus der Hegelschen Religionsauffassung das Gegensatzpaar » Vor-
stellung – Denken « hervor: Es handelt sich dabei um die Dualitat von » figurat-
ivem « versus » begrifflichem oder spekulativem « Denken. Fur Hegel ist die
Religion und mithin die » vollendete Religion « grundsatzlich figurativ, selbst in
ihren dogmatischen, trinitarischen Thesen. Es ist eine Aufgabe der Philosophie, das
ins Begriffliche zu verwandeln, was in der Theologie selbst auf figurative Weise
formuliert wird. Nach Ricœur werde das Spekulative, das Begriffliche den
figurativen Aussagen der Bibel nicht gleichsam von Außen aufgezwungen: die
Dimension der Weisheit sei ein organischer Bestandteil derselben.26
Wenn also das Judentum und die ersten christlichen Gemeinden Beispiele fur die
Erzahlgemeinschaft sind, kann auch die Erforschung gesellschaftlicher Narrative
diese Erfahrung nutzen. Die postklassische Narratologie hat eine gesellschaftstheor-
etische und -kritische Haltung entwickelt, die bestimmten theologischen Intentionen
begegnet. Die kollektiven identitatsbildenden Narrative haben fur die verschiedenen
Minoritaten, Exilanten, Migranten, Immigranten, Expatrioten usw. eine besondere
Bedeutung. Die zunehmende Zahl von Mikrogemeinschaften und marginalisierten
Gruppen ist ein auffallendes Phanomen in den heutigen Gesellschaften. Der
Problemkreis reicht also von der Entstehung der fruhen Gemeinden in der
biblischen Zeit bis hin zur Gegenwart, in der Fragen nach der Konstitution und
Aufrechterhaltung kollektiver, kultureller und regionaler Identitaten als Fragen der
Erinnerung artikuliert werden.
Die narrative Erinnerung des Christentums ist eine Achse der kulturellen Erinnerung
des westlichen Zivilisationskreises. Betrachtet man sie als unvergleichlich reiche
25 Ebd., S. 339.26 Vgl. Ricœur: D’un Testament a l’autre, S. 363–364.
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geistige Tradition, kann man feststellen, dass sie Aufgaben fur mehrere angewandte
Narratologien bereithalt. Auch die Kunstgeschichte hat die Bedeutung der Bilderzah-
lung schon seit geraumer Zeit erkannt. So werden, was z.B. die Gattungen der
kirchlichen Kunst betrifft, die Glasfenster der gotischen Kathedralen oder die
Wandgemalde-Reihen in wertvollen Aufsatzen analysiert. Die Erfahrungen der
Folklore- und Mythosforschung wurden bereits von den formalen Narratologien in
den Diskurs eingebracht. Das poetische System einfacher und literarischer Formen
stellte auch schon in der Zeit der fruhen sowie der klassischen und postklassischen
Narratologie eine unerschopfliche Basis von Modellen dar. Uber die bekannten Bucher
von Nothrop Frye hinaus zeugt z.B. auch die Monographie des Kunsthistorikers und
Judaisten Jorg Schultes vom Potential einer gemeinsamen Untersuchung biblischer und
weltlicher narrativer Traditionen. Seinen Ausgangspunkt bildet die judische narrative
und kulturelle Erinnerung. Der von ihm verfolgte komparative Ansatz erscheint
zunachst als ungewohnlich und provokativ. Sein Buch Eine Poetik der Offenbarung.
Isaak Babel’, Bruno Schulz, Danilo Kis behandelt hinsichtlich ihrer Darstellung der
Seinserfahrung verwandte Erzahlwerke des 20. Jahrhunderts.27 Dabei uberrascht die
von Schulte aufgezeigte Offenbarung auf dem Berg Sinai als Grundgedanke bei
Autoren, die gegenuber der judischen religiosen Tradition im Grunde genommen
gleichgultig sind. Schulte ist jedoch neben der rabbinischen Exegese auch im Bereich
der zeitgenossischen Philosophie und Poetik bestens bewandert. Eines der großten
Verdienste seiner Monographie liegt gerade in der uberzeugenden Zusammenfuhrung
diverser Blickpunkte.
Die rabbinische Exegese als Verstandnismodell von Texten und Zeichen, weist
nach Schulte Beruhrungsstellen mit der westlichen Philosophie und Literatur auf.
Bevor die Poetik kunstlerischer Texte aus dieser Tradition lernen kann, muss ein
Vokabular erstellt werden, das die Phanomene der Exegese mit den Begriffen der
Philosophie und der Poetik identifiziert. Diesem Zweck ist Emmanuel Levinas’ Werk
gewidmet. Seine Phanomenologie ist die theoretische Stutze fur Schulte, davon
ausgehend wendet Schulte die Verfahren der rabbinischen Exegese auf die Interpre-
tation kunstlerischer Texte an. Wie Schulte so beruft sich auch Levinas auf die
osteuropaische judische Tradition: Gemeinsam mit einer langen Reihe von Kunstlern
und Schriftstellern vermittelt er diese geistige Quelle an den abendlandischen
Kulturkreis. Genau genommen ist er, wie Schulte betont, kein Schuler der judischen
Philosophie, sondern der Thora, des Talmuds und der griechischen Philosophie.
Schultes Untersuchung wird nicht von einem den drei Prosawerken von Außen
auferlegten methodischen System gestaltet. Er sucht nach Parallelen, er liest den
ostmitteleuropaischen imaginaren Nachlass des 20. Jahrhunderts als ein Netzwerk
kunstlerischer, religioser und philosophischer Zeichen. Er aktiviert die aus der
rabbinischen Exegese gewonnene Erfahrung im Verstandnis des Zeichen- und
Symbolsystems sowie in dem der poetischen Grundrisse und Plane. Die folgende
theologische Reflexion kann als metanarratologischer Gedankengang gelesen werden:
»Die Schrift als ein ›Schriftwerk‹ (Arnold Goldberg), d.h. eine von Gott
geschaffene Zeichenverbindung, ist zunachst unverstandlich. Wenn aus der
27 Vgl. Schulte (2004).
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Kombination der unverstandlichen Zeichen eine vom Menschen wahrnehm-
bare Stimme gewonnen wird […], so ist dies deshalb moglich, weil sie die
Sprache des Menschen spricht, ›ein Text in menschlicher und naturlicher
Sprache‹ […] ist. Dieses Sprechen ist nicht an die lineare Folge der Zeichen
gebunden, denn die Schrift kann auf unterschiedliche Weise in die menschli-
che Sprache ubertragen werden. «28
Nachmanides fasst das so zusammen, dass es in jedem Text einen » gottli-
chen « und einen » menschlichen « Anteil gibt. Im Pentateuch verbinden sich
traditio und traditum, Mundliches und Schriftliches miteinander: Die Struktur der
schriftlichen Lehre vereint Text und Kommentar. Nach Marc-Alain Ouaknin hat der
Kommentar dabei nicht die Aufgabe, den Text zu erlautern, sondern ihn zu
konstruieren (und dieser Gedanke ist auch der dekonstruktiven Literaturphilosophie
nicht fremd). Schultes Werk mit seiner Synthese von Interpretation und Theorie ist
auf jeden Fall ein beispielhaftes Modell fur die metatheoretische (und literarische)
Anwendung der exegetischen Tradition.
Die Vorstellung von Narration als Interpretation erscheint auch bei Ricœur.
Weder die literarische noch die historische Erzahlung konnen der Anforderung der
dispositio (Anordnung)29 entzogen werden. Auch eine » ereignislose Geschichte
berichtet vom zeitlichen Wandel der menschlichen Tatigkeit «.30 Die Narration hat
einen erklarenden Wert und einen Platz in der Logik der Argumentation: Das ist die
Erganzung der dispositio der rhetorischen Tradition. Wie das literarische und das
historische Narrativ konstituiert sich auch die biblische Erzahlung nach dem
rhetorischen System: Sie hangt von der interpretatio ab, die der narratio und der
dispositio folgt. Das Ergebnis des Lesens ist eine neue Anordnung, durch die ein
neuer Sinn/eine neue Bedeutung entsteht. Lesen bedeutet Neuschreiben, das heißt,
ein und dieselbe inventio ergibt eine neue dispositio.31 Das Verstandnis und die
Interpretation von biblischen und literarischen Erzahlungen haben eine gemeinsame
Rhetorik und Hermeneutik. Beide narrativen Modi der Kultur sind auf die
Sinngebung angewiesen.
Bei der Interpretation des Buches des Propheten Jesaja setzt sich Ricœur mit der
Integrierung von Erzahlung und Glaubensbekenntnis auseinander. Diese Abhand-
lung belegt sehr deutlich, wie lange die Problematik des Zeugnisses (temoignage)
und der Zeugenaussage Ricœur beschaftigte. Wahrend er das Thema am Anfang im
Kontext des Alten Testaments untersuchte, behandelte er es spater – im spaten
Hauptwerk32 – im Kontext der Geschichtstheorie. Im Zusammenhang mit dem
Glauben Israels hebt er hervor, dass dessen Glaubensbekenntnis einen » erzahlen-
den Kern « besitzt. Diese Religion zeugt von JHWH, indem die Geschichte der
28 Ebd., S. 182.29 Zur » Lehre von der Verarbeitung « bzw. zur » Dispositio « vgl. Lausberg (1979, S. 24–26, S.
27–41).30 Ricœur (1994, S. 9–26).31 » La lecture se fait reecriture: la meme inventio donnant lieu a une nouvelle dispositio. « Kremer,
Nathalie: » La lecture comme tableau: la microlecture entre revelation et reecriture « , in: Fabula LHT:
Complications de texte: les microlectures (2007), Nr. 3. www.fabula.org (30.05.2011).32 Ricœur (2000). Vgl. Ricœur (1998).
Die narrative Theologie als Meta-Narratologie 107
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Befreiung erzahlt wird, oder wie Gerhard von Raad formuliert: » Israels Credo ist
ein narratives Glaubensbekenntnis. «33
Mit der Geschichtsvision des Alten Testaments spricht Ricœur einen komplexen
Problembereich an, der sich im Kontext unserer Zeit in Fragen zur gemeinschaft-
lichen historischen Erfahrung, zur Lebenserfahrung, zur Selbstidentitat bzw. zur
narrativen Identitat ausdruckt. Abschließend sei jenes Merkmal in Ricœurs
Herangehensweise hervorgehoben, das den Prozess der ununterbrochenen Neus-
chaffung individueller und gemeinschaftlicher Identitatskonstruktionen als eine nie
abschließbare Tatigkeit darstellt. Alles, was dieses Interpretations- und Appli-
kationsverhaltnis als eine um Glaubenserfahrung erganzte Lebenspraxis untersucht,
gehort nicht zu den Aufgaben der narrativen Theologie, sondern zu dem sich zurzeit
lediglich in Umrissen abzeichnenden neuen Programm einer narrativen Ethik.
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33 » Une theologie du temoignage, qui ne soit pas simplement un autre nom pour la theologie de la
confession de foi, n’est possible que si un certain noyau narratif et preserve en etroite union avec la
confession de foi. C’est le cas par excellence de la foi d’Israel, qui, d’abord, a confesse Jahve en racontant
les faits de delivrance qui ponctuent l’histoire de sa liberation. Toute la ›theologie des traditions‹ de Von
Rad est contruite sur cette postulation de base que le Credo d’Israel est une confession narrative sur le
modele du Credo nucleaire de Deuteronome 26, 5–9. La ou une ›histoire‹ de liberation peut etre racontee,
un ›sens‹ prophetique peut etre non seulement confesse, mais atteste. « Ricœur, Paul: L’hermeneutique
du temoignage, S. 118.
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