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Fachgebiet Städtebau 1 Fachlicher Nachwuchs entwirft Zukunft Die neo-europäische Stadt Skizze zur Winterschule im März 2017 Die Leipzig Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt wird im kommenden Jahr zehn Jahre alt. Das Papier wurde im Mai 2007 von den für Stadtentwicklung zuständigen Ministerinnen und Ministern aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union anlässlich eines informellen Treffens in Leipzig unterzeichnet. Im Fachdiskurs spielte die Leipzig Charta eine eher nachgeordnete Rolle. Dagegen stellte sie im politischen Raum eine wichtige Benchmark für die Etablierung integrierter Stadtentwicklung dar. Ein wesentlicher Punkt der Charta war die Selbstverpflichtung der Minister*innen in ihren Mitgliedsstaaten eine Initiative zu starten, „wie die Grundsätze und Strategien der Leipzig Charta (…) in nationale, regionale und lokale Entwicklungspolitiken integriert werden können“. In Deutschland ist daraus die Initiative der Nationalen Stadtentwicklungspolitik hervorgegangen. Das Jubiläum bietet einen guten Anlass sich aus der Perspektive des fachlichen Nachwuchses kritisch mit der Leipzig Charta auseinanderzusetzen, mit dem übergeordneten Ziel, die Ergebnisse der gemeinsamen Reflexion auf dem 11. Kongress der Nationalen Stadtentwick- lungspolitik zu präsentieren. Dieser wird voraussichtlich im Juni 2017 in Hamburg stattfinden. Space matters – Stadtentwicklung als zentrales politisches Handlungsfeld Die Leipzig Charta war der Versuch, das Primat der Nachhaltigkeit gesamteuropäisch vorzudenken, auf nationaler Ebene zu verankern und auf lokaler Ebene mit dem Instrument der integrierten Stadtentwicklung umzusetzen. Zusammen mit der zeitgleich verabschiedeten Territorial Agenda of the European Union zielte sie außerdem darauf ab, die Stadt als Territorium von besonderer Bedeutung für Wirtschaft und Wachstum im Bewusstsein anderer Fachpolitiken und Ministerien zu verankern. Stadtentwicklungspolitik sollte demnach als zentrales politisches Feld und als Schlüssel für eine positive Gestaltung gesellschaftlicher und ökonomischer Transformation etabliert werden. Mit der Charta wurde auch das Leitbild der nachhaltigen europäischen Stadt eingeführt, die in ihrem Subtext eine sozial und sektoral integrierte Stadt repräsentiert sowie eine proklamierte Stadt, die sich in Form von politischen Leitlinien selbst verpflichtet. Mit dem Begriff der europäischen Stadt wird in diesem Kontext Bezug auf das europäische Städtenetz und die gemeinsame Historie genommen, die auch das Erbe der Moderne einschließt. Im Gegensatz dazu stehen im spezifischen deutschen Diskurs hinter diesem Leitbild die kompakte, sozial- und nutzungsge-

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Fachlicher Nachwuchs entwirft Zukunft

Die neo-europäische Stadt Skizze zur Winterschule im März 2017 Die Leipzig Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt wird im kommenden Jahr zehn Jahre alt. Das Papier wurde im Mai 2007 von den für Stadtentwicklung zuständigen Ministerinnen und Ministern aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union anlässlich eines informellen Treffens in Leipzig unterzeichnet. Im Fachdiskurs spielte die Leipzig Charta eine eher nachgeordnete Rolle. Dagegen stellte sie im politischen Raum eine wichtige Benchmark für die Etablierung integrierter Stadtentwicklung dar. Ein wesentlicher Punkt der Charta war die Selbstverpflichtung der Minister*innen in ihren Mitgliedsstaaten eine Initiative zu starten, „wie die Grundsätze und Strategien der Leipzig Charta (…) in nationale, regionale und lokale Entwicklungspolitiken integriert werden können“. In Deutschland ist daraus die Initiative der Nationalen Stadtentwicklungspolitik hervorgegangen. Das Jubiläum bietet einen guten Anlass sich aus der Perspektive des fachlichen Nachwuchses kritisch mit der Leipzig Charta auseinanderzusetzen, mit dem übergeordneten Ziel, die Ergebnisse der gemeinsamen Reflexion auf dem 11. Kongress der Nationalen Stadtentwick-lungspolitik zu präsentieren. Dieser wird voraussichtlich im Juni 2017 in Hamburg stattfinden. Space matters – Stadtentwicklung als zentrales politisches Handlungsfeld Die Leipzig Charta war der Versuch, das Primat der Nachhaltigkeit gesamteuropäisch vorzudenken, auf nationaler Ebene zu verankern und auf lokaler Ebene mit dem Instrument der integrierten Stadtentwicklung umzusetzen. Zusammen mit der zeitgleich verabschiedeten Territorial Agenda of the European Union zielte sie außerdem darauf ab, die Stadt als Territorium von besonderer Bedeutung für Wirtschaft und Wachstum im Bewusstsein anderer Fachpolitiken und Ministerien zu verankern. Stadtentwicklungspolitik sollte demnach als zentrales politisches Feld und als Schlüssel für eine positive Gestaltung gesellschaftlicher und ökonomischer Transformation etabliert werden. Mit der Charta wurde auch das Leitbild der nachhaltigen europäischen Stadt eingeführt, die in ihrem Subtext eine sozial und sektoral integrierte Stadt repräsentiert sowie eine proklamierte Stadt, die sich in Form von politischen Leitlinien selbst verpflichtet. Mit dem Begriff der europäischen Stadt wird in diesem Kontext Bezug auf das europäische Städtenetz und die gemeinsame Historie genommen, die auch das Erbe der Moderne einschließt. Im Gegensatz dazu stehen im spezifischen deutschen Diskurs hinter diesem Leitbild die kompakte, sozial- und nutzungsge-

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mischte Stadt der kurzen Wege, gekoppelt mit dem städtebaulichen Paradigma traditioneller Stadtstrukturen (Straße, Platz, Park, Block und Hof). Ausgehend von der IBA Berlin (1987), in der die behutsame Stadterneuerung sowie die kritische Rekonstruktion als Instrumente eingeführt wurden, hat diese Linie im weiteren Diskurs historisierende Züge der „Stadtbaukunst“ und der architektonisch-städtebaulichen Rekonstruktion angenommen. Rückblickend stellen sich zwei Fragen: Erstens, ist es gelungen, die planenden Disziplinen aus ihrem Nischendasein herauszulösen und Stadtentwicklung als zentrales Politikfeld zu etablieren? Zweitens, trägt das formulierte Leitbild auch heute noch und wie lässt sich der Konflikt mit dem davon abweichenden deutschen Diskurs klären oder haben Leitbilder in unserer zunehmend komplexen, unwägbaren Zeit generell ausgedient? Leipzig Charta revisited – Fachlicher Nachwuchs entwirft Zukunft Die Frage, wie eine Charta der integrierten Stadtentwicklung heute und für die Zukunft aussehen sollte, welchen Themen und Inhalte darin enthalten, welche Schwerpunkte gesetzt werden sollten, nimmt das Projekt Fachlicher Nachwuchs entwirft Zukunft zum Ausgangspunkt und entwirft mit den Studierenden ein Update – oder je nach Ergebnis – eine komplette Neufassung der Leipzig Charta. An die Studierenden gerichtet könnte man als Aufgabe formulieren: „Stell Dir vor Du bist Minister*in und darfst eine Charta für Stadtentwicklung in Europa (mit)gestalten.“ – In Bezug auf die Generation, die gerade an den Hochschulen ausgebildet wird, könnte das Ergebnis eine Charta Y (Arbeitstitel) sein. Die beteiligten Hochschulen wählen die Themenfelder für ihre Lehrveranstaltungen selbst. Idealerweise befasst sich jede Hochschule mit einem anderen Schwerpunkt, um insgesamt ein möglichst breites Themenspektrum abzudecken. Das Leitbild der nachhaltigen europäischen Stadt bildet den Hintergrund für die kritische Auseinandersetzung mit den Metathemen, die in der Charta behandelt werden, um diese auf Aktualität und Zukunftspotential hin zu befragen: * Eine ausgeglichene räumliche Entwicklung auf Grundlage des polyzentrischen

Städtesystems in Europa * Integrierte Stadtentwicklung als gesamtstädtische Strategie mit Aufhebung des sektoralen

Denkens und Planens * Der qualitätsvolle öffentliche Raum als Grundbedingung eines guten Lebens * Die Wohnungsfrage * Die Forderung nach mehr Partizipation und nach Governancemodellen zur aktiven

Einbindung privater – und zivilgesellschaftlicher Akteure * Baukultur, als deutsche Erfindung, die das Planen und Bauen als Prozess von allen

Beteiligten versteht

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* Die gerechte Stadt, die soziale Balance herstellt, Teilhabe garantiert und die Aufwertung benachteiligter Quartier forciert

* Aktive Innovations- und Bildungspolitik als bedeutender Teil der Stadtentwicklung, mit

einem Fokus auf Bildungsangebote für benachteiligte Kinder und Jugendliche Ebenso können Themen in den Fokus rücken, die in der Charta nicht oder nur am Rande behandelt wurden, aber aus heutiger Sicht zu einem bedeutenden Thema der integrierten Stadtentwicklung geworden sind. Folgende Themen bieten sich an, um die europäischen Städte unter einem neuen, frischen Blick zu betrachten: * Smart Cities und Big Data, also die Auswirkungen der IT-Technologien auf die Städte * Jüngere ökonomische Aspekte wie Share-Economy, Industrie 4.0, E-Commerce oder

Kreativwirtschaft * Resilienz und Subsistenz als kleinere Schwestern der Nachhaltigkeit, die im Diskurs an

Bedeutung gewinnen sowie die Zunahme von Klimaereignissen * Unerwartete Herausforderungen wie die Auswirkungen von Weltfinanzmarktkrise,

Niedrigzinspolitik der EZB, Zuwanderung und Migration, aber auch Terrorismusgefahr und deren Auswirkung auf die Nutzung und Gestaltung des öffentlichen Raums

* Die Potentiale, die sich aus einer Veränderung des Mobilitätsverhaltens und durch neue

Mobilitätstechnologien ergeben * Städtewachstum und Schrumpfungsprozesse im ländlichen Raum als Indiz für eine

zunehmende regionale Polarisierung (Trotz „Cohesion Strategy“ der „Territorial Agenda“) * Sanftere Formen der Stadtentwicklung wie die selbstgemachte Stadt, Zwischennutzung

und alternative Wohn-, Eigentums- und Finanzierungsmodelle, die von der Generation Y hervorgebracht und getestet oder gelebt werden

Einige dieser Themen sind bereits in der Urban Agenda for the EU – Pact of Amsterdam enthalten, die im Mai dieses Jahres auf einem informellen Treffen der EU Minister beschlossen wurde, die für urbane Fragen zuständig sind. Diese Agenda kann als Nachfolgerin der Leipzig Charta gesehen werden. Die Vielfalt der Themen kann sich in breitgefächerten Lehrformaten und –produkten ausdrücken. Städtebauliche Entwürfe zu einzelnen Themen sind ebenso möglich wie theoretische Seminare, Foto- oder Videoarbeiten, die den Alltag eines Themenfeldes dokumentieren. Insofern ist eine sehr große Bandbreite unterschiedlichster Zugänge und Arbeitsweisen denkbar. Es sollten aber alle Ansätze das Ziel verfolgen, aus jeder Arbeit Leitsätze und Thesen abzuleiten, die als Grundlage und Input für die Winterschule dienen.

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Winterschule im März 2017 – Studierende entwerfen eine Charta Y (Arbeitstitel) Die Winterschule mit dem Titel Die neo-europäische Stadt baut auf den breitengefächerten Themen und Ergebnisse der Lehrveranstaltungen auf. Die Teilnehmer*innen bilden kleine, interfakultative Teams, die die dort formulierten Thesen und Leitsätze hinterfragen, fortspinnen und verdichten. Dabei soll nicht nur Textarbeit entstehen, sondern auch Grafiken, Skizzen, abstrakte Modelle, die gewählte Themenfelder illustrieren, Fotomontagen mit Vorher-Nachher-Effekt, die die Wirkung einer These oder eines Leitsatzes verbildlichen, etc. Ziel ist es die Erkenntnisse der Lehrveranstaltungen weiter zu verdichten, diese in einer neuen, frischen und generationspezifischen Charta Y zusammenzuführen, die neben Leitsätzen durchaus einen installativen Charakter entwickeln soll, sich also aus Modellen, Skizzen, Grafiken, Visualisierungen und Artefakten zusammensetzen kann. Der Workshop beginnt mit einer gemeinsamen Reflexion und kritischen Diskussion der Ergebnisse aus den Lehrveranstaltungen. Am Abend ist eine Keynote mit einem Protagonisten der Leipzig Charta geplant, der über Hintergrund, Entstehung und den komplexen Verhandlungen in den verschiedenen Ländern berichten soll, sozusagen das „Making Of“ reflektiert. Danach folgen drei Arbeitstage, die jeweils mit einer Breakfast-Lecture von Experten aus Lehre und Praxis eingeleitet werden. Der letzte Tag dient der Zusammenführung und Präsentation der Ergebnisse. Wie in den Jahren zuvor werden die Resultate des Workshops auf dem Hochschultag präsentiert, der 2017 in Cottbus stattfinden wird. Eine ausgewählte Gruppe von Studierenden, die an der Winterschule teilgenommen haben, wird diese dort präsentieren. Geplant ist zudem, die Ergeb-nisse des Workshops in Form einer Installation auf dem 11. Kongress der Nationalen Stadtentwicklungspolitik in Hamburg auszustellen, als begehbare, von den Studierenden erarbeitete Charta Y. Prof. Stefan Rettich, Cristina Antonelli Fachgebiet Städtebau am Institut für urbane Entwicklungen der Universität Kassel Kontakt: [email protected] , Tel. 0561 804 7561

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Literatur Hintergrundstudien zur Leipzig Charta - Integrierte Stadtentwicklung als Erfolgsbedingung einer nachhaltigen Stadt - Städtebauliche Aufwertungsstrategien in benachteiligten Stadtquartieren - Stärkung der lokalen Ökonomie und der lokalen Arbeitsmarktpolitik in benachteiligten Stadtquartieren - Aktive Bildungs- und Ausbildungspolitik für Kinder und Jugendliche in benachteiligten Stadtquartieren - Nachhaltiger Stadtverkehr und benachteiligte Stadtquartiere Vorausgegangene europäische Initiativen - Arbeitsprogramm von Lille - Urban Acquis von Rotterdam - Bristol Accord - Regionen für den wirtschaftlichen Wandel EU Policies - Lissabon-Strategie - Territorialen Agenda der Europäischen Union Bedeutende Memoranden - Aalborg Commitments - Netzwerk VITAL CITIES - Baukultur für eine nachhaltige Stadtentwicklung – Schlussfolgerungen des Europäischen Forums für Architekturpolitik (EFAP) - 2008 Marseille-Statement - 2010 Toledo-Deklaration - 2015 Riga-Deklaration Struktur Fonds - EU-Initiative JESSICA - EU-Initiative JEREMIE - Strukturfond EFRE Über die Leipzig Charta BMVBS/ Difu: 5 years after the Leipzig-Charta, 2012 Markus Eltges, Eva Mareile Nickel: Europäische Stadtpolitik: Von Brüssel über Lille nach Leipzig und wieder zurück, in: BBSR, Informationen zur Raumentwicklung, Heft 7/8, 2007 Nach der Leipzig Charta - BMVBS: Memorandum Städtische Energien – Zukunftsaufgaben der Städte, 2012 - Urban Agenda for the EU – Pact of Amsterdam (30. Mai 2016) - EUROPA 2020