DIE SCHREIBWEISEN DER SOPHIE VON LA ROCHE

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German Life and Letters 67:4 October 2014 0016-8777 (print); 1468–0483 (online) DIE SCHREIBWEISEN DER SOPHIE VON LA ROCHE HELGA MEISE (University of Reims) ABSTRACT The article analyses the use of three different modes of writing (‘Schreibweisen’) by Sophie von La Roche (1730–1807). It is argued that at the beginning of her literary career La Roche wrote in a comic-parodistic style, while moral-didactic and hybrid writing are typical characteristics of her entire œuvre. La Roche’s use of moral-didactic and hybrid modes needs to be seen as one of the reasons for the growing marginalisation of the author at the end of the eighteenth century. Der Beitrag f¨ uhrt exemplarisch die Verwendung von drei unterschiedlichen Schreibweisen durch Sophie von La Roche (1730–1807) vor. ahrend das Komisch-Parodistische vor allem zu Beginn ihrer Karriere greifbar ist, ist das lebenslange Festhalten am Moralisch-Didaktischen und am Hybriden als typisches Kennzeichen ihres Schreibens, aber auch als eine Ursache f ¨ ur ihre immer st¨ arkere Marginalisierung im literarischen Betrieb des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu begreifen. Die in der Gattungstheorie gel¨ aufigen Begriffe prim¨ are und sekund¨ are Schreibweise sind geeignet, das Schreiben der Sophie von La Roche (1730–1807), der ersten Berufsschriftstellerin des deutschsprachigen Raums, und den Ort, der ihm in der Literaturgeschichte zugewiesen wird, n¨ aher zu bestimmen. Klaus W. Hempfer zufolge bezeichnet der ‘Terminus technicus Schreibweise’ ‘eine gruppenbildende Struktur, die das Gemeinsame an sonst unterschiedlichen historischen Gattungen meint’; der Begriff ist ‘als (relative oder absolute) transhistorische Invariante konstruiert’. 1 Hempfer f ¨ uhrt aus: Prim¨ are Schreibweisen wie das Narrative oder das Dramatische basieren dabei unmittelbar auf spezifischen Typen von Sprech- bzw. Kommunikations- Situationen [ . . . ]; sekund¨ are Schreibweisen wie das Komische, das Satirische [...], das Parodistische [ . . . ] sind hiervon unabh¨ angig und k¨ onnen prim¨ are ¨ uberlagern. 2 Wie schon der erste Blick auf La Roches Werke zeigt, greifen diese von Anfang an zum Narrativen. Dies gilt sowohl f¨ ur den 1771 von Christoph Martin Wieland herausgegebenen, anonymen Briefroman Geschichte des 1 Klaus W. Hempfer, ‘Schreibweise2’, in Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, 3 Bde., hg. von Klaus Weimar et al., Berlin und New York 2007, III, S. 391–3. 2 Hempfer, ‘Schreibweise2’, S. 391. C 2014 The Author German Life and Letters C 2014 John Wiley & Sons Ltd

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German Life and Letters 67:4 October 20140016-8777 (print); 1468–0483 (online)

DIE SCHREIBWEISEN DER SOPHIE VON LA ROCHE

HELGA MEISE(University of Reims)

ABSTRACT

The article analyses the use of three different modes of writing (‘Schreibweisen’)by Sophie von La Roche (1730–1807). It is argued that at the beginning of herliterary career La Roche wrote in a comic-parodistic style, while moral-didactic andhybrid writing are typical characteristics of her entire œuvre. La Roche’s use ofmoral-didactic and hybrid modes needs to be seen as one of the reasons for thegrowing marginalisation of the author at the end of the eighteenth century.

Der Beitrag fuhrt exemplarisch die Verwendung von drei unterschiedlichenSchreibweisen durch Sophie von La Roche (1730–1807) vor. Wahrend dasKomisch-Parodistische vor allem zu Beginn ihrer Karriere greifbar ist, ist daslebenslange Festhalten am Moralisch-Didaktischen und am Hybriden als typischesKennzeichen ihres Schreibens, aber auch als eine Ursache fur ihre immer starkereMarginalisierung im literarischen Betrieb des ausgehenden 18. Jahrhunderts zubegreifen.

Die in der Gattungstheorie gelaufigen Begriffe primare und sekundareSchreibweise sind geeignet, das Schreiben der Sophie von La Roche(1730–1807), der ersten Berufsschriftstellerin des deutschsprachigenRaums, und den Ort, der ihm in der Literaturgeschichte zugewiesenwird, naher zu bestimmen. Klaus W. Hempfer zufolge bezeichnet der‘Terminus technicus Schreibweise’ ‘eine gruppenbildende Struktur, die dasGemeinsame an sonst unterschiedlichen historischen Gattungen meint’;der Begriff ist ‘als (relative oder absolute) transhistorische Invariantekonstruiert’.1 Hempfer fuhrt aus:

Primare Schreibweisen wie das Narrative oder das Dramatische basieren dabeiunmittelbar auf spezifischen Typen von Sprech- bzw. Kommunikations-Situationen [ . . . ]; sekundare Schreibweisen wie das Komische, das Satirische[ . . . ], das Parodistische [ . . . ] sind hiervon unabhangig und konnen primareuberlagern.2

Wie schon der erste Blick auf La Roches Werke zeigt, greifen diese vonAnfang an zum Narrativen. Dies gilt sowohl fur den 1771 von ChristophMartin Wieland herausgegebenen, anonymen Briefroman Geschichte des

1 Klaus W. Hempfer, ‘Schreibweise2’, in Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitungdes Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, 3 Bde., hg. von Klaus Weimar et al., Berlin und NewYork 2007, III, S. 391–3.2 Hempfer, ‘Schreibweise2’, S. 391.

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Frauleins von Sternheim,3 der der Autorin den Durchbruch auf demliterarischen Markt beschert,4 als auch fur die ab 1779 – nunmehrunter ihrem Namen und begleitet von der wohlkalkulierten Inszenierungder Autorfunktion5 – erscheinenden Erzahlungen,6 Briefromane7 undRomane.8 Das Narrative pragt auch La Roches 1783 lancierte Zeitschriftfur Frauen, die Pomona fur Teutschlands Tochter,9 in der sie ihre MoralischenErzahlungen zuerst abdruckt, und die Berichte von ihren Reisen, die ab1787 veroffentlicht werden.10 Noch die unzahligen Korrespondenzen11 unddie verschiedenen autobiographisch markierten Texte, die im Anschlussan den Erstdruck in der Pomona von neuem aufgenommen und ausgebautwerden,12 bedienen sich des Narrativen – dramatische oder lyrische Textefinden sich nicht.

3 Sophie von La Roche, Geschichte des Frauleins von Sternheim. Von einer Freundin derselben ausOriginal=Papieren und andern zuverlaßigen Quellen gezogen. Herausgegeben von C. M. Wieland, 2 Theile,Leipzig 1771.4 Eine anonyme Besprechung der beiden 1783 erschienenen Poetiken des Ungarn Georg A.Szerdakely belegt, dass dieser La Roches Sternheim den 6. und letzten Platz in der Liste dernennenswerten deutschsprachigen zeitgenossischen ‘Romandichter’ zuweist, nach Haller [sic],Gellert, Nicolai, Wieland und Hermes (Neue Bibliothek der schonen Wissenschaften und der freyen Kunste,XXIX, 2 (1784), S. 291–95 (S. 295)): ‘Den Beschluß macht die mulier illustris, Sophie von La Roche,quae patriam suam Germaniam luculenta eruditione [kursiv i. Original, H. M.] et rebus gestis virginisa Sternheim, poemata venustissimo, exornavit. (Die Gelehrsamkeit ist unstreitig nicht die Seite, vonwelcher die Fr. Geheimr. La Roche geschatzt seyn will.)’ – Fur den Hinweis auf diese Einschatzungeines die deutschsprachige Literatur aus der Ferne verfolgenden Literaturtheoretikers danke ichTomas Hlobil, Prag.5 Ulrike Leuschner, ‘Der Ort als Anlass. Sophie von La Roches Briefe uber Mannheim’, in Sophie von LaRoche et le savoir de son temps, hg. von Helga Meise, Reims 2014, pp. 207–30. Vgl. auch Fotis Jannidis,Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko, ‘Autor und Interpretation. Einleitung’ in Textezur Theorie der Autorschaft, hg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko,Stuttgart 2000, S. 7–29 (S. 23–4).6 Vgl. etwa Sophie von La Roche, Moralische Erzahlungen der Frau Verfasserin der Pomona, Sammlung1–2, Speier 1783–4.7 Vgl. Sophie von La Roche, Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Von der Verfasserindes Frauleins von Sternheim, 3 Bde., Altenburg 1779–81; dies., Sophie von La Roche, Briefe an Lina.Ein Buch fur junge Frauenzimmer, die ihr Herz und ihren Verstand bilden wollen, Erster Band: Lina alsMadchen, Speier 1785.8 Sophie von La Roche, Erscheinungen am See Oneida, 3 Bde., Leipzig 1798.9 Sophie von La Roche, Pomona fur Teutschlands Tochter. Nachdruck der Original-Ausgabe Speyer1783–4, hg. mit einem Vorwort von Jurgen Vorderstemann, 4 Bde., Munchen et al. 1987.10 Vgl. Sophie von La Roche, Tagebuch einer Reise durch die Schweiz, von der Verfasserin von RosaliensBriefen, Altenburg 1787; dies., Journal einer Reise durch Frankreich, von der Verfasserin von Rosaliens Briefen,Altenburg 1787; dies., Tagebuch einer Reise durch Holland und England von der Verfasserin von RosaliensBriefen, Offenbach 1788.11 Vgl. Michael Maurer, ‘Ich bin mehr Herz als Kopf’. Sophie von La Roche. Ein Lebensbild inBriefen, Munchen 1983; Patricia Sensch, ‘“mich schmerzt dießer riß in der schonen Kette der 6verdienstvollen Bruder”’, in ‘Ach, wie wunschte ich mir Geld genug, um eine Professur zu stiften’. Sophie vonLa Roche im literarischen und kulturpolitischen Feld von Aufklarung und Empfindsamkeit, hg. von GudrunLoster-Schneider und Barbara Becker-Cantarino, Tubingen 2010, S. 287–301.12 Sophie von La Roche, Mein Schreibetisch. An Herrn G. R. P. in D., 2 Bde., Leipzig 1799; dies.,Melusinens Sommer-Abende, hg. von Christoph Martin Wieland. Mit einem Portrat der Verfasserin,Halle 1806. – Zitate aus den beiden Werken im folgenden unter der Sigle MST bzw. MSA im Text.

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Unverkennbar aber ist auch, dass das Narrative als primareSchreibweise von sekundaren Schreibweisen uberlagert ist. Ich mochtedrei dieser sekundaren Schreibweisen in den Blick rucken, dasMoralisch-Didaktische, das Komisch-Parodistische und das Hybride.Die Unterscheidung erlaubt, nicht nur das Schreiben der Autorin uberden gesamten Erscheinungszeitraum ihrer Werke hinweg exemplarischzu charakterisieren, sondern auch ihre Marginalisierung, ja Verdrangungaus dem zeitgenossischen Literaturbetrieb und dem daraus erwachsendenLiteraturkanon zu erklaren. Das lebenslange Festhalten La Roches amMoralisch-Didaktischen und die Experimente mit dem Hybriden erweisensich als charakteristische Merkmale ihrer Kunst. Beide Momente geratenaber zunehmend in Widerspruch zu der sich gleichzeitig vollziehendentiefgreifenden Wandlung der Literatur und des Literaturbetriebs imausgehenden 18. Jahrhundert. Wahrend die Empfindsamkeit zuEnde geht, Roman und Romantheorie sich ausdifferenzieren, derBildungsroman seinen Siegeszug antritt und die Weimarer Klassik neueParadigmen fur Literatur und Asthetik schafft, werden Sophie von LaRoche und ihr Schreiben an den Rand gedrangt. Reprasentativ fur dieWahrnehmung ihres Spatwerkes ist das Urteil Goethes, das sich in einemBrief an Schiller vom 24. Juli 1799 findet:

Frau von la Roche habe ich zweimal erst in Tiefurt dann in Osmannstadtgesehen und sie eben gerade wie vor zwanzig Jahren gefunden. Sie gehortzu den nivellierenden Naturen sie hebt das Gemeine herauf und zieht dasVorzugliche herunter und richtet das Ganze alsdenn mit ihrer Sauce, zubeliebigem Genuß an. Ubrigens mochte man sagen daß ihre Unterhaltunginteressante Stellen hat.13

1. Das Moralisch-Didaktische

Die Geschichte des Frauleins von Sternheim, La Roches erster anonymveroffentlichter Briefroman von 1771, prasentiert sich als narrativer Text,der durchgangig vom Moralisch-Didaktischen uberlagert ist. ChristophMartin Wieland, der Herausgeber, sieht darin seinen besonderen Vorzug,ja seine raison d’etre:

Doch der liebste Wunsch unsrer Heldin ist nicht der Wunsch der Eitelkeit;nutzlich zu sein, wunscht sie; Gutes will sie tun; und Gutes wird sie tun, unddadurch den Schritt rechtfertigen, den ich gewaget habe, sie ohne Vorwissenund Erlaubnis ihrer liebenswurdigen Urheberin in die Welt einzufuhren.14

13 Johann Wolfgang Goethe, Samtliche Werke, Briefe, Tagebucher und Gesprache, II. Abt.: Briefe,Tagebucher und Gesprache mit Schiller, Teil 1, vom 24.6.1794–31.12.1799, hg. von Volker C. Dorrund Norbert Oellers, Frankfurt a. M. 1998, S. 699.14 Sophie von La Roche, Geschichte des Frauleins von Sternheim, hg. von Barbara Becker-Cantarino,Stuttgart 1983, S. 17. Seitenzahlen im folgenden mit der Sigle GFS im Text.

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Tatsachlich ist der Wille, Gutes zu tun, sich der Gesellschaft nutzlichzu machen und diese zu verbessern, zentrales Motiv der Handlung. DasVorhaben pragt Kindheit und Jugend der Titelfigur auf dem gut situierten,den burgerlichen Werten Gluck, Wohlstand und Vollkommenheitverpflichteten Landsitz der Eltern. Seine Einrichtung ist Modell fur dieErziehung ‘junger Edelleute’ (GFS, S. 48) und erfasst durch die Grundungvon Schule und Armenhaus auch die Untertanen: ‘dieses vortrefflichePaar [die Eltern Sophies, H. M.] setzte in die Erfindung und Ausfuhrungvon gemeinnutzlichen und wohltatigen Veranstaltungen einen Teil seinerGluckseligkeit’ (GFS, S. 45). Als der fruhe Tod der Eltern Sophie vonSternheim aus dieser Idylle vertreibt und einer egoistischen Tante in derResidenz D. unterstellt, die sie dem Fursten als Geliebte zuspielen will,erweist sich der ‘Gedanke’, Gutes zu tun (GFS, S. 234), als einzig moglicheZuflucht fur die Titelfigur. Dabei gewinnt sowohl das Gute als solchesProfil als auch der Charakter der Protagonistin. Beides, das Gute und derCharakter der Protagonistin, wird durch den Gegensatz von Heimlichkeitund Offentlichkeit zusatzlich unterstrichen. In der Residenz kann Sophienur heimlich Gutes tun – so unterstutzt sie im Verborgenen eine armeFamilie (GFS, S. 115–16). Um sie fur sich zu gewinnen, tauscht Lord Derby,der libertare Englander, der sie dabei beobachtet, seinerseits Nachstenliebevor und wiegt sie damit im Glauben, in ihm einen Gleichgesinnten zutreffen, der sie vor der Verfuhrung durch den Fursten bewahren undihre Ehre durch ihre sofortige Eheschließung wiederherstellen kann. Washeimlich ausgefuhrt wird, bringt sie beinahe zu Fall. Erst die fernab vonder hofischen Offentlichkeit offen und geplant ausgefuhrte Forderungarmer Familien, insbesondere die armer Madchen, zeigt die von Sophieimmer schon anvisierte Wirkung. Gleichgultig, wohin die von Derby nachihrer gemeinsamen Flucht aus D. schmahlich Sitzengelassene verschlagenwird, in ein ‘einsames Dorf’ (GFS, S. 210-11) in der Nahe der Residenzoder in die Pfarrei ihrer Freundin Emilia in Vaels bei Aachen (GFS, S. 233–4), nach Summerhall in England oder in die ‘schottischen Bleygeburge’(GFS, S. 303) – auf jeder Station ihres von ihr selbst als Leidensgeschichtebegriffenen Lebensweges ubt sie von neuem Gutes, und zwar immerauf dieselbe Weise, durch Erziehungsmaßnahmen, die sie vor Ort insWerk setzt. Der Privatunterricht fur die zwei Nichten der Wirtin (GFS,S. 216) in ihrem ‘einsamen Dorf’ (GFS, S. 210) ist nur der Anfang.Nach uberstandener Krankheit unterrichtet sie in Vaels bereits ‘einigearme Madchen im Arbeiten’ (GFS, S. 234); fur die in der Nachbarschaftresidierende Madam Hills entwirft sie den ‘Plan der Hulfe fur dieFamilie G. und die Jungfer Lehne’ (GFS, S. 246) sowie ein ‘Gesindhaus’(GFS, S. 238) als Ausbildungsstatte fur Dienstmadchen. Als Sophie ihreVorstellungen auf Einladung der Besitzerin auch auf Summerhall inEngland umsetzt, lasst Derby, der mit Lady Summers verwandt ist undseine Entdeckung furchtet, Sophie entfuhren, eben in die ‘schottischen

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Bleygeburge’ (GFS, S. 303). Erneut zu Boden geschlagen, entdeckt sieumgehend in Lidy, Derbys hier versteckter unehelicher Tochter, und Maria,der Tochter ihrer Wirtsleute, die ihr fehlenden Erziehungsobjekte. Siemalt dabei auch eine glucklichere Zukunft aus, verspricht sie doch denWirtsleuten, ihr Kind ‘in die Dienste’ der Herrschaft (GFS, S. 312) zubringen.

Gleichzeitig findet die Verlassene durch Elend, Einsamkeit und guteWerke zu sich selbst. Sophie von Sternheim gibt sich einen neuen Namenund denkt nun, als Madam Leidens, uber Vergangenheit und Zukunftnach:

Ich kannte den Wert alles dessen, was ich verloren hatte; aber meineKrankheit und meine Betrachtungen zeigten mir, daß ich noch in demwahren Besitz der wahren Guter unseres Lebens geblieben sei. Mein Herz istunschuldig und rein; die Kenntnisse meines Geistes sind unvermindert; dieKrafte meiner Seele und meine guten Neigungen haben ihr Maß behalten;und ich habe noch das Vermogen, Gutes zu tun. Meine Erziehung hat michgelehrt, daß Tugend und Geschicklichkeiten das einzige wahre Gluck, undGutes tun, die einzige wahre Freude eines edlen Herzens sei [ . . . ]. (GFS, S.236–7)

Die unermudliche Umsetzung ihrer Tugenden, Fahigkeiten undUberzeugungen eroffnet der Sternheim tatsachlich die Ruckkehr indas Leben, aus dem sie herauskatapultiert worden war. In den‘schottischen Bleygeburgen’ (GFS, S. 303) gesteht sie diesen Aspekt ihresErziehungswerks erstmals offen ein: ‘Das Madchen [Maria, H. M.] ist sogeschickt zum Fassen und Urteilen, daß ich oft daruber erstaune. Diesesoll mir den Weg zur Freiheit bahnen; denn durch sie hoffe ich der LadyDouglas gekannt zu werden. O Schicksal, laß mir diese Hoffnung’ (GFS, S.312).Die unter ihrer Anleitung erworbenen Kenntnisse und angefertigtenArbeiten werden zum ‘Ausweis’, zum Identifizierungsmittel – dieHerrschaft erkennt deren Qualitat, forscht nach der Lehrerin und bringtdieser im Gegenzug alle Unterstutzung entgegen. Lady Douglas sendetder auf den Tod Erkrankten den Pfarrer und damit ihren Lebensretter.Wahrend die Titelfigur wie auf allen Stationen ihres Wirkens zuvor erkanntwird, enthullt sie ihrerseits die Identitat, die sich hinter der namenlosEingekerkerten verbarg:

[ . . . ] ich sagte ihm [dem Geistlichen, H.M.] kurz, daß ich aus einer edlenFamilie stammte, und durch den schandlichen Betrug einer falschen Heurataus meinem Vaterlande gerissen worden sei; Mylady Summers, unter derenSchutz ich gestanden, konnte ihnen Zeugnisse von mir geben. (GFS, S. 319)

Noch einmal gelingt es der Sternheim, mittels ihres musterhaftenErziehungswerkes selbst aus dem ‘alten Turm’ (GFS, S. 317) auszubrechen,C© 2014 The AuthorGerman Life and Letters C© 2014 John Wiley & Sons Ltd

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in dem Derby sie hatte fur immer einkerkern wollen. Gleichzeitig fuhrt dievereinte Suche nach der Vermissten auch Lord Seymour, einen Bekanntenaus der Residenz D., und Lord Rich, einen Nachbarn aus Summerhall,nach Schottland. Als die beiden verwandten, wiewohl unterschiedlichenLiebhaber die Totgeglaubte endlich aufspuren, hat sich diese bereits selbstbefreit. Nichts steht ihrer Rehabilitation nun mehr im Wege: Sophie gehtdie Ehe mit Seymour ein und lasst sich mit ihm auf seinem Landsitzin England nieder; Rich siedelt sich in unmittelbarer Nachbarschaftan, wo ihm das Ehepaar seinen zweitgeborenen Sohn zur Erziehunguberantwortet. Dass man seine Herrschaften so einrichtet, wie es bereitsdie Eltern der Sternheim in Deutschland getan hatten, versteht sichvon selbst; die englische Herkunft von Sophies Mutter und die daherruhrende Vorliebe der Titelfigur fur England unterstreicht nur derenModellhaftigkeit.

Das Moralisch-Didaktische bestimmt auch alle weiteren Werke LaRoches. Dies deuten bereits Titel und Untertitel an: Pomona fur TeutschlandsTochter, Moralische Erzahlungen,15 Neuere Moralische Erzahlungen,16 Ein Buchfur junge Frauenzimmer die ihr Herz und ihren Verstand bilden wollen.17

Das Moralisch-Didaktische generiert konkrete Handlungsanleitungenund soziale Projekte; es ist gleichzeitig immer ruckgekoppelt an dieAusbildung oder Ruckgewinnung der Identitat der jeweiligen Titelfigur.Dass die Schreibweise unverzichtbar fur die Autorin ist, erhebt sie imautobiographischen Ruckblick, der Melusinens Sommer-Abende vorangestelltist, selbst noch einmal zum Programm:

Denn bei dem Gedanken, daß meine Erfahrungen und Beobachtungennutzlich seyn konnten, achtete ich mich verbunden, die beste Art derEinkleidung zu wahlen, damit die Eigenliebe nicht verscheucht, sondernangezogen wurde; und stellte daher Alles als Thatsache vor, (so wie der Stoffdes meisten Thatsache war) wobei denen, die es lesen, die Freiheit bleibt,auch so zu handeln, wenn sie die vorgestellten Charakter liebenswurdigfinden. Vorschriften und Ausspruche uber diesen und jenen Gegenstand,zeigen Uebermacht an, und man straubt sich so gern von dem, was siewill, und von dem Cirkel, wo sie herrscht. Der Geschichtserzahler hingegenscheint nur unterhalten und angenehme Stunden geben zu wollen; deswegenist man ihm gut, und nimmt gern aus seiner Hand eine Blume schonerKenntniß, oder eine Frucht nutzlicher Vorstellungen an. (MSA, S. XXXV–XXXVI)

2. Das Komisch-Parodistische

Maria E. Muller hat als erste darauf aufmerksam gemacht, dass LaRoche uber eine weitere sekundare Schreibweise verfugt, das Komisch-

15 Sophie von La Roche, Moralische Erzahlungen (Anm. 6).16 Sophie von La Roche, Neuere Moralische Erzahlungen, Altenburg 1786.17 Sophie von La Roche, Briefe an Lina (Anm. 7).

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Parodistische. Diese kennzeichnet den vermutlich schon vor derSternheim verfassten, aber erst 1772 wiederum von Wieland anonymherausgegebenen Text Der Eigensinn der Liebe und Freundschaft. Eineenglandische Erzahlung.18 Wieder ist die Titelfigur eine sitzengelassene Frau.Aber diesmal geht es um eine Braut, der der Brautigam abhanden kommt,weil er sich auf dem Weg zu ihr mit einer anderen verheiratet. DassKilmar im Gegensatz zu dem Libertin Derby bei seiner Entscheidungokonomische und das heißt auch standische Grunde antreiben, wirdnicht ausgesprochen, liegt aber nahe. Wieder heißt die Titelfigur Sophie,und wieder hat sie zwei Liebhaber, einen ersten, eben Mylord Kilmar,der sie verschmaht, und einen zweiten, weit alteren, Mylord Allen, derdie Verlassene zum Schein heiratet, aber schon bald wieder verstirbtund so von neuem Platz fur den ersten macht. Wieder spielt dieGeschichte in England, nun aber nicht mit Blick auf die deutsch-,sondern die franzosisch-englischen Fremdwahrnehmungen. Die Parallelenzur Sternheim sind offenkundig.

Wahrend die Geschichte des Frauleins von Sternheim die der Titelfigurdrohende Verfuhrung durch den Fursten und Derby zum Anlass fur ihreerfolgreiche und tatkraftige Selbstverteidigung und -behauptung macht,werden hier ‘Hirngespinste’ (ELF, S. 17) verhandelt. Sophie von Tyr**verliebt sich in einen ausgedachten, phantasierten Brautigam: ‘Ihre Seeleversenkte sich ganz in die Vorstellung ihres Glukes, und weihete ihremkunftigem Gatten die lebhafteste, wahrhafteste und unveranderlichsteZartlichkeit’ (ELF, S. 9). Zu diesem Zeitpunkt weiß sie noch nichts vonseiner Existenz, geschweige denn von seinen Machinationen. Denn MylordKilmar hatte, nachdem er sie einmal belauscht hatte, als sie sich den Mannihrer Traume vorstellt, nicht nur das Arrangement einer Ehe mit ihr inAuftrag gegeben, sondern ihr auch sein Bild exakt nach dem von ihrGetraumten vorgaukeln lassen. Wie Sophie von Tyr** ‘jagt’ auch der alteAllen, so Muller, ‘Hirngespinsten nach’.19 Er mochte Sophie mit seinemNeffen verheiraten. Dieser aber hat sich, wiederum ohne Wissen seinesOnkels, dessen Alleinerbe er werden soll, bereits gebunden und erwartetmit seiner Frau ein Kind. Als Kilmar von der Verbindung Sophies mit Allenerfahrt, versinkt er in seinem eigenen Liebesgram und wunscht sich nichtsanderes als den Tod seiner von ihm ungeliebten Gemahlin.

Das Netz aus Tauschung und Betrug, Schein und Sein lost sich erst durchweitere Vorspiegelungen auf. Nach dem Tod Allens wird Kilmar Sophie

18 Sophie von La Roche, ‘Der Eigensinn der Liebe und Freundschaft. Eine englandische Erzahlung’,in Jenseits der “Sternheim”. Die unbekannteren Werke der Sophie von La Roche, hg. von Heike Menges,Neudruck der Ausgabe von 1772, Karben 1996, S. 1–91. Zitate mit der Sigle ELF und Seitenzahl imText; Maria E. Muller, ‘“Da bin ich einfach paff”. Sophie von La Roche und Jakob Michael ReinhardLenz’, in Ich will keinem Mann nachtreten. Sophie von La Roche und Bettine von Arnim, hg. von MiriamSeidler und Mara Stuhlfauth, Frankfurt a. M. 2013, S. 77–95.19 Ebd., S. 86.

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unter einer neuen Identitat vorgestellt, als Deutscher namens Feret. Nunbekommt sie ihr ‘Hirngespinst’20 doch noch:

Den leibhaftigen Kilmar hatte sie, solange sie ihn fur Feret hielt, nie undnimmer genommen, denn sie konne nicht aufhoren, ‘das meinem Herzenunschatzbare Hirngespenst’ – in der franzosischen Fassung: ‘le phantomeestimable’ – zu lieben, welches man mir unter dem Namen Kilmar so reizendvorgemahlt.21

Muller sieht die ‘Entsagungswollust der Figuren’ ‘durch die konstruiertenKonstellationen ins Lacherliche gezogen’.22 Am Beispiel der Unterhaltungzwischen Allen und Sophie (ELF, S. 12–22) weist sie den dramatischen,komodienhaften Modus der Figurenrede nach und attestiert der Erzahlungdamit nicht nur komische, sondern auch parodistische Zuge.23

Es fallt auf, dass in den folgenden Werken La Roches das Komisch-Parodistische an Bedeutung verliert. Muller sieht in der Abkehr von dieserSchreibweise eine bewusste Entscheidung der Autorin, die nach demErfolg der Sternheim auf eine neue Autorkonstruktion setze.24 Gleichwohlist festzuhalten, dass die Schreibweise nicht vollstandig verschwindet. DasKomisch-Parodistische findet sich bereits in den ahnlich strukturiertenFigurenkonstellationen der Sternheim – etwa in der Verdoppelung des gutenenglischen Liebhabers Seymour/Rich, kehrt aber auch in den MoralischenErzahlungen der Pomona, etwa in ‘Die zwei Schwestern. Eine Erzahlung’,25

sowie in La Roches spateren Werken Liebe-Hutten26 und Melusinens Sommer-Abende27 wieder.

Das Komisch-Parodistische der fruhen Texte ruckt diese uberdies in dieNahe der Romane Maria Anna Sagers (1719–1805). Die verwechselten Tochterund Karolinens Tagebuch ohne ausserordentliche Handlungen oder gerade so vielals gar keine erscheinen 1771 und 1774 in Prag28 und setzen ihrerseitsbewusst das Ironische ein. Weitere Ahnlichkeiten frappieren. Nebenden Komodienelementen Verwechslung und Verdoppelung, die SagersRomane gleichzeitig bestimmen und unterhohlen, fallen die tragischenElemente ins Auge, die Einkerkerung der Titelfiguren in Turmen und

20 Ebd.21 Ebd., S. 87.22 Ebd.23 Ebd.24 Ebd.25 ‘Die zwei Schwestern. Eine Erzahlung’, in Pomona (Anm. 9), II, 9 (1783), S. 852–923.26 Vgl. Sophie von La Roche, Liebe-Hutten. Mit Kupfern von Penzel. 2 Th. Leipzig 1803–4.27 Sophie von La Roche, Melusinens Sommer-Abende (Anm. 12).28 Vgl. Helga Meise, ‘Nachwort’, in Maria Anna Sager, Karolinens Tagebuch, ohne ausserordentlicheHandlungen oder gerade so viel als gar keine, Hildesheim 2013, S. 305–44; dies., ‘Nachwort’, inMaria Anna Sager, Die verwechselten Tochter, eine wahrhafte Geschichte, in Briefen entworfen von einemFrauenzimmer, Hildesheim 2014, pp. 215*–89*.

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Festungen, der Tod, der ihnen droht. Die Verwandtschaft der beidenAutorinnen ware unter diesen Aspekten allererst zu untersuchen.

3. Das Hybride

Die hybride Schreibweise besteht, wie sich in Anlehnung an Bachtin sagenlasst, in der Aufnahme weiterer Stimmen in einen Text:

Wir nennen diejenige Außerung eine hybride Konstruktion, die ihrengrammatischen (syntaktischen) und kompositorischen Merkmalen nach zueinem einzigen Sprecher gehort, in der sich in Wirklichkeit aber zweiAußerungen, zwei Redeweisen, zwei Stile, zwei ‘Sprachen’, zwei Horizontevon Sinn und Wertung vermischen. Zwischen diesen Außerungen, Stilen,Sprachen und Horizonten gibt es, wie wir wiederholen, keine formale –kompositorische und syntaktische – Grenze; die Unterteilung der Stimmenund Sprachen verlauft innerhalb eines syntaktischen Ganzen, oft innerhalbeines einfachen Satzes, oft gehort sogar ein und dasselbe Wort gleichzeitigzwei Sprachen und zwei Horizonten an, die sich in einer hybridenKonstruktion kreuzen, und sie hat folglich einen doppelten in der Rededifferenzierten Sinn und zwei Akzente [ . . . ].29

Das Verfahren, das bisher vor allem fur La Roches Pomona und spate Textewie Mein Schreibetisch und Melusinens Sommer-Abende untersucht wurde,30

zeigt sich bereits in der Sternheim. Schon der Umstand, dass sich immerwieder entweder der Herausgeber oder die Freundin, die die Geschichteder Titelfigur aus ‘Original-Papieren’ zusammentragt, zu Wort meldet,ist in dem von Bachtin definierten Sinne als ‘hybride’ zu verstehen.Aufschlussreich ist weiter die von Freundin und Titelfigur als ‘Tagbuch’(GFS, S. 302) bezeichnete Aufnahme einer Gruppe von Texten, die dieTitelfigur nach ihrer zweiten Entfuhrung durch Derby im ‘alten Turm’(GFS, S. 317) verfasst. Es handelt sich nicht mehr wie bisher um Briefe,insbesondere an ihre Freundin Emilia, sondern um Dialoge mit sich selbst,das Erheben der Stimme vor und fur sich selbst. Explizit beklagt dieEntfuhrte gleich im ersten Text, dass sie ‘ihre klagende Stimme’ (GFS,S. 303) nicht mehr wie zuvor vor der Freundin horen lassen konne:‘Arme Gedanken, wo irret ihr umher? Niemand horet euch, niemandwird euch lesen, diese Blatter werden mit mir sterben und verwesen

29 Michail Bachtin, Die Asthetik des Wortes, hg. und eingeleitet von Rainer Grubel, Frankfurt a. M.1979, S. 195.30 Helga Meise, ‘“Hirnkinder”. Gattungsvorgabe und hybride Schreibweise in Sophie von La RochesPomona fur Teutschlands Tochter, in ‘bald zierliche Blumen – bald Nahrung des Verstands’. Lekturen zu Sophievon La Roche, hg. von Monika Lippke, Matthias Luserke-Jaqui und Nikola Roßbach, Hannover 2008,S. 123–41; dies., ‘“[ . . . ] wie sehr ich die Geschichte liebe”: Hybridisierung und Pfropfung in Sophievon La Roches Pomona fur Teutschlands Tochter am Beispiel ihres Bezuges auf die Geschichte’, in Ichwill keinem Mann nachtreten. Sophie von La Roche und Bettine von Arnim, hg. von Miriam Seidler undMara Stuhlfauth, Frankfurt a. M. 2013, S. 111–29.

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[ . . . ]’ (GFS, S. 303). Dennoch halt sie am Schreiben fest. Zunachst alsMedium, in dem sich ihre Anrufe an Gott fixieren lassen: ‘O Gott, wiehart strafest Du den einzigen Schritt meiner Abweichung von dem Pfadburgerlicher Gesetze?’ (ebd.).31 Es fallt auf, dass diesen Anrufen keineGebete folgen. Fortan alternieren vielmehr autobiographische Gesten.Zunachst das immer prazisere Zahlen der Zeit: ‘Dritter Monat meinesElends’ (GFS, S. 304), ‘Im April’ (GFS, S. 314), ‘Zu Ende des Brachmonats’(GFS, S. 315) und, als sie den Tod nahen fuhlt, ‘Nachts um neun Uhr’ (GFS,S. 315). Einmal tritt die Zeit sogar an die Stelle Gottes: ‘O Zeit wohltatigstesaller Wesen, wie viel Gutes habe ich dir zu danken [ . . . ] Die Erfahrung,welche du an der Hand fuhrest, lehrte mich die ubende Weisheit undGeduld kennen’ (GFS, S. 314). Daneben finden sich Reflektionen aufdie eigene Lage – zu nennen sind der bereits erwahnte Befreiungsplansowie philosophische und melancholische Betrachtungen. Dass diese als‘Erquickstunden’ (GFS, S. 308) bezeichnet werden, verweist auf die ausdem siebzehnten Jahrhundert uberkommene Erbauungsliteratur zuruck.32

Gleichzeitig bildet der Wille, das Erlebte zu beschreiben, zu ‘erzahlen’(GFS, S. 312), eine weitere Stimme aus. Es frappiert, dass der knapp zwanzigSeiten umfassende Teil uber ihre Einkerkerung in Schottland zwolfmaldas Schreiben als solches thematisiert. Zum einen unter materiellemAspekt. Der Umstand, eine ganze Rolle Papier ‘mit mir gebracht zuhaben’, erscheint als ‘Wohlthat’ (GFS, S. 307), deren beschrankter Umfanggleichzeitig Sorge erregt:

Mein Papier, ach Emilia, mein Papier geht zu Ende; ich darf nun nicht mehrviel schreiben; der Winter ist lange, ich will den Uberrest auf Erzahlungmeiner noch dunklen Hoffnungen erhalten. O mein Kind! einige BogenPapier waren mein Gluck, und ich darf es nicht mehr genießen! Ich willCannevas sparen und Buchstaben hinein nahen. (GFS, S. 313–4)

Zum anderen unter funktionalem Aspekt. Wie die weiblichenHandarbeiten, das Nahen, Sticken und die ‘Tapetenarbeit’ (GFS, S. 311),die sie uberall von neuem lehrt, vermittelt das Schreiben zwischen denguten Taten der Sternheim und deren Anerkennung, wie diese ermoglichtes ihre Identifizierung. Es scheint daher kein Zufall, dass die Thematisierungdes Schreibens in einem Atemzug mit der der Handarbeiten geschiehtund dass beides, das Schreiben und das Handarbeiten, immer sowohl deneigenen Korper als den ihrer Schulerinnen erfasst:

Ich will meiner Emilia noch ein Nebenstuck meines qualenden Schicksalserzahlen. Sie wissen, wie reinlich ich immer in Wasche war, und hierzog ich mich, ich weiß nicht wie lang, gar nicht aus; endlich kam mitmeiner Uberlegung das Mißvergnugen uber den Kleidermangel, und beim

31 Vgl. auch La Roche, Sternheim (Anm. 14), S. 304.32 Vgl. etwa Heinrich Muller, Geistliche Erquickstunden, 3 Teile, Rostock 1664–6.

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Nachdenken war ich sehr froh, daß ich bei meiner Entfuhrung ein ganzweißes Leinenkleid anhatte, welches ich gleich auszog, und der modischenUppigkeit fur die vielen Falten dankte, die sie darin gemacht hatte, denn ichkonnte fuglich drei Hemden daraus schneiden, und ein kurz Kleid danebenbehalten [ . . . ] Die kleine Lidy habe ich auch nahen gelernt, und sie machtrecht artige Stiche in meinem Tapetengrund. (GFS, S. 312)

Wie das Schneidern trostet das Schreiben. Es hilft die Gegenwart bestehen,erlaubt aber auch den Blick in Vergangenheit und Zukunft – die Regelungdes eigenen Nachlasses und die Fixierung der Grabinschrift belegen (GFS,S. 321) den Anspruch der Titelfigur auf ein Nachleben, auf eine Stimmeauch uber den Tod hinaus.

Festzuhalten ist, dass das Exzerptemachen, die Florilegien, die dieAutorin La Roche im Zuge ihrer Lekture zeitlebens erstellt,33 diehybride Schreibweise von Kindesbeinen an einubt. So nimmt nochMein Schreibetisch, das autobiographische Werk aus der Spatphase ihresSchreibens,34 Stimmen aus den verschiedensten Wissensgebieten auf.Exemplarisch verdeutlicht der Anfang des zweibandigen Werks dasVerfahren. Wieder geht es um eine ‘Beschreibung’, diesmal aber umdie ihres Schreibtisches, der sich in dem ‘kleinen Stubchen’ (MST,S. 1) befindet, das ihr als Arbeitszimmer dient. Dieses ist nicht nur Ortpadagogischer Reflektion im Kontext der ihr zur Erziehung anvertrautenBrentano-Enkel, sondern auch Ort der eigenen schriftstellerischenTatigkeit. Angekundigt wird eine ‘ganz getreue Beschreibung’ (MST,S. 3), die gleichzeitig schon die kunftige Abwesenheit des Freundeskompensieren soll: ‘Freymuthig und mit vollem Vertrauen auf Weisheitund Gute, wurde ich in dem Moment alles vorgelegt, und alle Fragendaruber beantwortet haben, wenn es die Kurtze Ihres Aufenthaltes [desFreundes, H. M.] erlaubt hatte’ (MST, S. 3). Legitimiert wird der Text zumeinen von verschiedenen Stimmen – zu Wort melden sich die Eigenliebe,die Freundschaft, Lavater und eine ‘innere Stimme’ (MST, S. 5–6) –,zum anderen von der ‘Zerstreuung’ (MST, S. 8), die dieser dem Freundgewahren wird. Auf die Beschreibung des ‘wirklich plumpen Tisches’(MST, S. 9) – der einfache Holztisch begleitet die Autorin seit ihrerEheschließung – folgt das Aufblattern alles dessen, was darauf liegt, furdie Autorin mithin Bedeutung hat. Bucher und Papierbundel, Zitate undTextauszuge passieren Revue. Das Hybride uberwuchert das Narrative –dass allein die ordnenden Eingriffe der Autorin dieses Gewirr von Stimmenzuganglich machen, installiert diese immer wieder als unabkommlicheInstanz. Gleichzeitig scheint sie selbst die Kritik an ihrem Verfahrenvorwegzunehmen: ‘Aber vielleicht sind Sie, mein Freund, bange, wie ich

33 Barbara Becker-Cantarino, ‘Meine Liebe zu Buchern’. Sophie von La Roche als professionnelleSchriftstellerin, Heidelberg 2008.34 La Roche, Mein Schreibetisch (Anm. 12).

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unter diesen Bruchstucken meinen Schreibtisch wieder finden moge? MeinAuge erinnert mich daran’ (MST, S. 51).

Das Hybride ist fester Bestandteil der spaten Texte der Autorin.Dass diese nicht darauf zielen, eine Handlung oder die ‘innereGeschichte’ eines Menschen zu erzahlen, wie es die Romantheoriefur den Bildungsroman fordert,35 geht aus den wenigen angefuhrtenTextbeispielen hervor. Diese verdeutlichen gleichzeitig die unweigerlichmit dem Hybriden verknupfte Unberechenbarkeit der Texte La Roches –indem diese am eigenen Schreibprogramm, an den erprobten eigenenSchreibweisen festhalten, nehmen sie ihre Marginalisierung in Kauf.

35 Zu Christian Friedrich von Blanckenburgs Versuch uber den Roman von 1774 und seine Forderung,dieser musse die ‘innere Geschichte eines Menschen’ darstellen, vgl. Angelika Schlimmer,Romanpoetik und Weiblichkeitsdiskurs. Zur Bedeutung der Kategorie gender im Romanverstandnis von ThereseHuber und Johanna Schopenhauer, Konigstein/Ts. 2001, S. 47–75.

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