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1 Die Verdrehung des gesunden Bildungsweges (Auszüge aus dem Buch ‚Das Bildungswegmodell zur Rehabilitation der sokratischen Mäeutik – Pädagogische und therapeutische Transformationsarbeit‘ von Lütjen, Jutta, 2013, S. 511-529) Die ‚Umkehrung des sokratischen Kreislaufes als Entfremdungsspirale‘ drückt aus, dass nicht die eigene Wahrnehmung und die Lebenswelt die Grundlagen für Erkenntnisse des Menschen bilden, sondern dass fremdes Wissen – welches nicht aus eigener Erkenntnis erwachsen ist –, die Lebenswirklichkeit dominiert. Fremdbestimmung durch Trennung von Leben und Wissen Abb. 11: Verdrehung des gesunden Bildungsweges

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Die Verdrehung des gesunden Bildungsweges

(Auszüge aus dem Buch ‚Das Bildungswegmodell zur Rehabilitation der sokratischen Mäeutik

– Pädagogische und therapeutische Transformationsarbeit‘ von Lütjen, Jutta,

2013, S. 511-529)

Die ‚Umkehrung des sokratischen Kreislaufes als Entfremdungsspirale‘ drückt aus, dass nicht die eigene Wahrnehmung und die Lebenswelt die Grundlagen für Erkenntnisse des Menschen bilden, sondern dass fremdes Wissen – welches nicht aus eigener Erkenntnis erwachsen ist –, die Lebenswirklichkeit dominiert.

Fremdbestimmung durch Trennung von Leben und Wissen

Abb. 11: Verdrehung des gesunden Bildungsweges

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Dieses Modell sollte vom Leser unbedingt mit Abb. 15 verglichen werden, um durch die Differenzen zwischen dem einen und dem anderen Modell und die Aussagen dieses Modells in aller Tiefe erfassen zu können.

Fettmarkierungen bei folgenden Erklärungen sind Ausdruck von Abb. 11, Unterstreichungen betonen das, was auf dem gesunden Bildungsweg (Abb. 15) vorzufinden ist.

Erklärungen zu Abb. 11 Zunächst fällt auf, dass sich die Bildungsspirale statt nach links hier in die

falsche Richtung, nämlich nach rechts dreht. Daran wird ersichtlich, dass Erkenntnisse in die Erfahrungswelt eingetrichtert werden sollen, statt dass der Erfahrene sich nach den Angeboten der Erkenntniswelt ausstrecken kann. Somit können weder Anschauungen, noch Erfahrungen für Bildungsprozesse genutzt werden, wie es auf dem gesunden Bildungsweg (Abb. 15) geschieht. Die Bezeichnungen auf der Spirale haben sich ebenfalls verändert. An die Stelle der Begriffe treten hier leere Begriffe an die Pfeilspitze der Spirale. Statt der Bewegung der Seele und des Bildungsprozesses sieht man hier Identitätsverlust und Sinnverlust. Statt dass der DIALOG alle Bereiche des Lebens durchzieht, wird der Mensch hier durch extrinsische Motivation angetrieben. Der subjektive Bereich ist hier zusammengedrückt, durch das Fressen fremden Wissens und Entfremdungsprozesse. Denn wie sich unschwer erkennen lässt, verlaufen die Pfeile zwischen dem objektiven Bereich und dem subjektiven Bereich von oben nach unten. Der Bereich, der in Abb. 15 als Entwicklungszone bzw. Wachstumszone gekennzeichnet wird und auf dem gesunden Bildungsweg dialogisch verläuft – die Pfeile zeigen dort in beide Richtungen – ist hier als eine Unterdrückungslinie zu sehen – die Pfeile zeigen nur von oben nach unten. Auch

hier gibt es die Zonen als auch . Wegen des Druckes von oben (Unterdrückung) kommen sie allerdings nicht zu ihrer eigentlichen Geltung.

Bereich bildet bei dem erweiterten Bildungsmodell Abb. 15 die Aktionszone, die hier ‚Entfremdungszone‘ ist. Durch Entfremdungsprozesse ist die eigene Aktivität des Menschen hier behindert. Aktion ist lediglich Aktionismus. Die Linie, die bei dem erweiterten Bildungsmodell Abb. 15 den Namen Reflexionszone mit

der Zahl trägt, ist hier durch das ‚Fressen fremden Wissens‘ still gelegt und anstelle von Reflexion steht hier Verbalismus. Der subjektive Bereich ist in diesem Modell besetzt. An der Stelle des subjektiven Bereiches steht zur Hälfte die Kultur des Schweigens, keine Sprache heißt: Persönlichkeitswachstum kann nicht stattfinden. Erklärens- und Verstehensprozesse entfallen hier vollkommen. An die Stelle von Sinnbildungsprozessen durch das Distanzierungsprinzip Bubers tritt gesellschaftlicher Sinn, an die Stelle von Aneignungsprozessen durch das Beziehungsprinzip tritt der gesellschaftliche Bereich mit Hilfe der Medien, Computer etc.

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Vorschau auf Abb. 15: Das erweiterte Bildungswegmodell – Erkenntnisgewinn und

Heilung

Hier wird im Miniaturformat vorausblickend schon das gesunde Bildungswegmodell gezeigt, um dem Leser den Vergleich mit Abb. 11 zu erleichtern. Es wird später wesentlich größer nochmals gezeigt und auch erklärt werden.

Wenn wir bei Freire vorfinden, dass Aktion und Reflexion Kennzeichen eines gelingenden Dialoges sind (vgl. Freire, 1985, S. 71f), muss es nicht weiter verwundern, wenn bei ausbleibendem Dialog – wie hier im Abb. 11 dargestellt wird ‒, Aktion und Reflexion des Menschen keine Chance haben und somit weder genügend Weltaneignung, Interiorisation noch Erkenntnisgewinn stattfinden kann. Die Verdrehung des gesunden und mäeutischen konzipierten Bildungsweges bedeutet: Diktatur, Infiltration, Fremdbestimmung, Entfremdung, Pseudowachstum statt echtes Wachstum, Geleertheit statt Gelehrtheit, Anhäufung leerer Begriffe statt Lebendigkeit, Kenntnisanreicherung und Dogmen statt Erkenntnisgewinn. Statt dass Erfahrungen als Grundlage für Erkenntnisse dienen, werden Erkenntnisse in die Erfahrungswelt hinein gedrückt. Dialogorientierung als Verbindung von Reflexion und Aktion zerfällt in leeren Verbalismus und Aktionismus. Statt Sinnbildungsprozesse zu ermöglichen, wird fremder Sinn infiltriert. Sprachliche Ausdrucksfähigkeit wird durch eine Kultur des Schweigens verhindert. Aneignung von Welt findet nur als Fremdbestimmung und insbesondere als Medienkonsum durch Ersatzwelten statt. Die Welt wird durch

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die Augen eines Fremden gesehen. Sinnverlust, Identitätsverlust und extrinsische Motivation erleichtern das ‚Fressen fremden Wissens‘.

Das in der Graphik dargestellte Problem hat es auch zur Zeit Sokrates schon gegeben, denn er beschreibt die Einpflanzung des Wissens als das, was gewisse Leute vielversprechend als Bildung ausgeben:

„Sokrates. […] Die Bildung ist nicht das, wofür sie gewisse Leute verheißungsvoll ausgeben. Ihre Verheißung nämlich lautet etwa dahin, sie pflanzten der Seele, in der es ursprünglich kein Wissen gebe, dies Wissen ein, etwa wie wenn sie blinden Augen die Sehkraft einsetzten“ (Platon, Der Staat. Siebentes Buch, 1988 Bd. V (428-348 v. Chr.), S. 274, 518 St.).

Lebenswelt und Wissen zerfallen in zwei Teile, die scheinbar objektive Welt dominiert die subjektive Welt. Es findet somit kein Aneignungs-, sondern ein Fremdbestimmungsprozess statt. Deswegen ist nach Sokrates Bildung wie folgt anzusehen: „Sokrates: Unsere vorliegende Untersuchung dagegen zeigt, dass man diese, der Seele eines jeden innewohnende Wissenskraft und das Organ, durch welches ein jeder zu Kenntnissen kommt, ganz ähnlich wie wenn man das Auge nicht anders aus dem Dunklen nach dem Hellen umwenden könnte als mitsamt dem ganzen Leibe, so sie mitsamt der ganzen Seele aus dem Bereiche des Werdenden nach der anderen Seite umkehren muss, bis sie fähig geworden ist die Betrachtung des Seienden und des Hellsten unter dem Seienden auszuhalten; dies aber ist, wie wir behaupten, das Gute. Nicht wahr?

Glaukon. Ja. Es wäre demnach die Bildung eine Kunst der Umkehrung dieses Organs, die Art und Weise nämlich, wie es am leichtesten und wirkungsvollsten umgewendet wird, nicht aber eine Kunst, die darin bestände, ihm diese Sehkraft erst einzupflanzen; diese hat es vielmehr schon; es ist nur nicht nach der richtigen Seite hingewendet und blickt nicht dahin wohin es sollte, und dass dies geschehe, das ist eben, was unsere Kunst der Erziehung bewirken will“ (ebd., S. 274f.).1

Solange der Mensch behandelt wird wie ein Blinder, dem die Sehkraft eingepflanzt werden soll, obwohl er die Sehkraft schon hat, findet Entfremdung statt. Das bedeutet, dass der Einzelne sein Selbst aufgibt und zugunsten dessen, was die Schule/o.a. behauptet, eigene Erkenntnisse verleugnet, um dadurch Niederlagen zu vermeiden und zum Erfolg zu gelangen (vgl. Herndorn, 1972, S. 193). Ich möchte noch einen Schritt weiter gehen, Entfremdung bedeutet nicht nur eigene Erkenntnisse zu verleugnen, sondern auch an solchen gehindert zu werden.

„James Thurber saß einmal an seinem Fenster und beobachtete, wie Männer Ulmen fällten, um einen Bauplatz für eine Heilanstalt freizumachen, in der man Menschen einsperren wollte, die dadurch zum Wahnsinn getrieben worden waren, dass dauernd Ulmen gefällt wurden“ (Herndorn, 1972, S. 14). Das Fällen von Ulmen ist gleichzusetzen mit der Ignoranz von Lebensräumen und das Einsperren

1 Der zweite Teil dieses Zitates wurde bereits einige Seiten vorher besprochen, wurde

aber hier der besseren Klarheit wegen, nochmal aufgegriffen.

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von Menschen in Heilanstalten mit dem Versuch, Kinder, die ihrer Lebenswelt beraubt wurden, nun durch Fremdwelten zu sozialisieren. Die Konsternierung mancher Lehrer ist dann groß, wenn Kinder Ausnahmen bilden:

„Piston tat nichts, was Piston nicht tun wollte; und was Piston tun wollte, das tat Piston auch“ (Herndorn, 1972, S. 17). Es kann sein, dass auf eine solche Feststellung ein Hilferuf an die Eltern erfolgt:

„Sehr geehrte Eltern! Ihr Sohn Leonhard folgt leider nur dann aufmerksam dem Unterricht, wenn er interessant ist“ (Becker J., 1983, S. 39).

Solche Briefe können einhergehen mit vielen anderen Machtinstrumenten, wie Bloßstellung vor der Klasse, Selektion und schlechten Noten und wenn alles nichts hilft, dem Verweis von der Schule. Wenn so der Ort, in dem Kinder aufs Leben vorbereitet werden sollen, ein Lernort der Zurichtung wird, entartet er zu einem Überlebensort statt Lebensort. Dort werden Kinder mit dem Ziel abgegeben, einen Lebensbaum zu einem Bonsai zuzurichten, damit er gesellschaftsfähig wird. So finden wir auch in Kants Pädagogik, dass Wildheit die Unabhängigkeit von Gesetzen ist. Deswegen müsse die Disziplin den Menschen den Gesetzen der Menschheit unterwerfen und ihn den Zwang der Gesetze fühlen lassen (vgl. Kant I., 1803, S. 6). „Dieses muss aber frühe geschehen. So schickt man z.E. Kinder anfangs in die Schule, nicht schon in der Absicht, damit sie dort etwas lernen sollen, sondern damit sie sich daran gewöhnen mögen, still zu sitzen und pünktlich das zu beobachten, was ihnen vorgeschrieben wird, damit sie nicht in Zukunft jeden ihrer Einfälle wirklich auch und augenblicklich in Ausübung bringen mögen“ (ebd.). Es ist kaum zu glauben, dass derselbe Kant eine Rede der Aufklärung zur Mündigkeit geschrieben hat, in der er forderte, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Wenn Kinder ihre eigenen Gedanken haben dürfen, wie Gibran es beschreibt, müssen sie später als Erwachsene nicht erst wieder mühsam dahin gebracht werden, selbständig zu denken.

Khalin Gibran würde bezugnehmend auf Piston sagen:

„Denn sie haben ihre eigenen Gedanken. […] Denn ihre Seele wächst auf im Hause der Zukunft,

das ihr nicht einmal in euren Träumen besuchen könnt. Ihr dürft danach streben, so zu sein wie sie,

aber versucht nicht, sie euch gleich zu machen. Denn das Leben geht weder rückwärts noch verweilt es in der Vergangenheit“

(Gibran, 2005 (1923), S. 22).

Das Hauptproblem der Fremdbestimmung zeigt sich in dem Bestreben, Kinder gleich machen zu wollen. Der Versuch der Homogenisierung erfolgt an einem Maßstab, den Curricula bestimmen und der vom Lehrer als verbindlich ausgeführt wird, weil er meint, es seinem Berufsethos schuldig zu sein, dass Kinder Leistungsprodukte herstellen, denn Kinder sollen ja lebenstüchtig werden.

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Allerdings gibt es auch zum Glück viele Ausnahmen. Von Hentig schreibt in dem Vorwort des Buches von Herndorn dazu: ‚Die Schule überleben‘: „Es gibt Pädagogen, die die Schule als Mittel und Prinzip der sich selbst reproduzierenden Industriegesellschaft ablehnen – das verschulte, vom Lehren abhängig gewordene Lernen überhaupt – und die darum die Gesellschaft insgesamt ‚entschulen‘, die Schulen abschaffen wollen“ (von Hentig zit. in Herndorn, 1972, S. 5). Wenn in der Schule aus gesellschaftlichen Machtinteressen eine künstliche Spaltung zwischen Lebenswelt und Wissen gesetzt wird, bedeutet das, fremdes Wissen stellvertretend für das selbst zu erwerbende Wissen zu implantieren. Lehrer wundern sich dann darüber, dass Kinder demotiviert sind, kein Interesse zeigen, Lernblockaden oder schlimmstenfalls Aggressionen zeigen und wenden sich meist hilfesuchend an die Eltern, weil sie meinen, diese seien schuld an dem Dilemma. Viele Eltern fühlen sich aber ebenfalls überfordert, geraten in Ängste darüber, dass ihre Kinder nicht gesellschaftsfähig sind, keine Leistungen zeigen und wohl auf der Straße landen werden, machen deswegen den Kindern ihrerseits Druck und nicht selten geben sie den Lehrern ‚Narrenfreiheit‘ bzw. legen ihre eigentliche Verantwortung in die Hände der Lehrer, damit aus den Kindern doch noch etwas ‚Ordentliches‘ wird.

Wenn Lebenswelt und Wissen auseinanderfallen, stattdessen Wissen in die Köpfe infiltriert werden soll und damit das natürliche, als ein dem Menschen innewohnendes Prinzip der Entwicklung missachtet wird, wird der Mensch psychisch oder körperlich krank, entwickelt Lernblockaden statt Fähigkeiten und kann nur noch extrinsisch statt intrinsisch lernen. Er wird zu einem Roboter gesellschaftlichen Wissens degradiert und fühlt sich nicht nur wie ein Zombie, sondern kann auch als solcher zum Amokläufer werden, um damit seiner Zerrissenheit ein Ventil und Ausdruck zu verleihen.2 Denn wenn die eigene Lebenswirklichkeit abgespalten wird, weil der Mensch nur noch über den gesellschaftlichen Machtapparat funktionieren soll, liegt eine Lebenslogik von Gewalt nahe, der er selbst zum Opfer fiel. In dem Versuch, dieses System zu zerschlagen, könnte ein Amoklauf insofern wie ein letzter Aufschrei der gequälten Seele betrachtet werden. Manche Kinder allerdings lassen es zu, dass sie mit Wissen angefüllt werden, weil es ihrer natürlichen Sehnsucht entspringt, sich an das allgemeine Wissen anzuschließen, ohne welches der Mensch nicht überlebensfähig werden kann. Ein ‚Sich zurechtzufinden‘ und ‚Erfolg haben‘, muss der Mensch aber oft damit bezahlen, dass das angereicherte Wissen nicht in den Kontakt zu natürlichen Erkenntnissen, zur inneren Erlebniswelt oder zur umgebenden Welt gebracht werden kann. Die Weiterentwicklung des Menschen bleibt dann auf der Strecke, denn die Begriffe, die Gelehrsamkeit begründen sollten, sind leer. Freud sagte: „Wenn wir abstrakt denken, sind wir in Gefahr, die

2 Es ist zu vermuten, dass ein Amokläufer Mobbing-Opfer war. Demnach kann der

Amoklauf als erweiterter Selbstmord bezeichnet werden (vgl. Schäfer & Gabriela, 2012, S. 26).

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Beziehungen der Worte zu den unbewussten Sachvorstellungen zu vernachlässigen“ (Freud S., Das Unbewusste, 1913).

Goethe lässt Mephisto in seiner Kritik einer mechanistischen Weltsicht sagen:

„Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben, sucht erst den Geist herauszutreiben, dann hat er die Teile in der Hand, ‒ fehlt leider! Nur das geistige Band“

[Faust I, Anm. d. Verf.] (Goethe J. W., 1996 (1797), S. Vers 1896).

Zwar geht das durchaus ernst zu nehmende, berechtigte und auch sinnvolle

Anliegen der Schule dahin, Kinder gesellschaftsfähig werden zu lassen und auf das Leben vorzubereiten. Wenn dieses Bestreben allerdings den Verlust menschlicher Lebenswirklichkeit bedeutet, wird der Mensch eben nicht zur Entfaltung seiner Fähigkeiten geführt, sondern zum funktionierenden Wissensspeicher getrimmt. Dieses Abfüllen des Menschen mit Wissen führt zu Entfremdungsprozessen des Menschen, da er seine Lebenswirklichkeit nicht in Übereinstimmung bringen kann mit seinem aufgesetzten und deswegen fremden Wissen. Der Mensch hat nur noch Teile in der Hand, wie Goethe schreibt, die verbindungslos zersplittern, wenn der Bezug durch das ‚geistige Band‘ des Menschen fehlt. Von Hentig betrachtet die Trennung von Wissen und Sein als den zweiten Sündenfall des Menschen. Das geschah nicht erst heute, sondern schon durch die Sophisten, welche die Suche nach Wahrheit aufgegeben haben und sich im Wissen einrichteten. Wissen war zu einer Macht geworden und ist es bis heute in unserer Zivilisation geblieben, als Weg sich der Wirklichkeit zu bemächtigen. Unsere Schule ist eine Sophistenschule, weil sie Wissen vermittelt (vgl. Von Hentig, 1966, S. 140). Eine willkürliche Verschiebung oder Nichtbeachtung des sokratischen Gradmessers, der im Sonnengleichnis aufgezeigt wurde, lässt Chaos, Stillstand oder Ungleichgewichte entstehen, die sich in der Schule durch Lernblockaden, Unmotiviertheit, Gewalt, Mobbing, möglicherweise auch ADS/ADHS, psychosomatischen Leiden etc. ausdrücken können.

In einer Zeit, in welcher also ADHS- Phänomene wie Pilze aus dem Boden schießen, Kinder immer mehr psychisch krank werden, die Gewalttätigkeit zu- und Mobbing3 überhandnimmt, liebende Eltern und auch Lehrer nicht mehr wissen,

3 Karl Gebauer hat die Thematik des Mobbings auf verschiedenen Ebenen durchdrungen.

Er nennt als Ursache von Mobbing einen entwicklungspsychologischen Aspekt, der sich bei dem Täter als eine innere Leere, die mit Unsicherheit einhergeht, ausdrückt. Dieser innere Leere will der Täter dann laut Gebauer durch Mobbing in Allmachtsgefühle verwandeln (vgl. Gebauer K., 2009, S. 32). Durch mangelnden Bezug der Schule auf die Lebenswelt der Schüler entsteht Langeweile, die wiederum Aggressionen auslösen kann. Jannan erklärt diese Zusammenhänge als eine der Ursachen von Mobbing (vgl. Jannan, 2010, S. 29).

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wie sie den Kindern aus dem Dilemma heraus helfen können, muss deswegen mehr denn je danach gefragt werden, wie die ‚Umkehrung des sokratischen Kreislaufes als Entfremdungsspirale‘ verhindert werden kann. Schon Galileo Galilei, der Physiker, Astronom und Philosoph erkannte: „Man kann einen Menschen nichts lehren, sondern ihm helfen, es in sich selbst zu entdecken“ (Galileo Galilei 1564-1642). Wirkliche Bildungsprozesse vollziehen sich im Kind in seiner gesamten Persönlichkeit und beruhen auf der Entdeckungsfreude des Lebens. Erweiternd lässt sich sagen, dass solche Bildungsprozesse auch am jeweiligen Entwicklungsstand – der auch Krankheiten mit einbezieht –, orientiert sind. Die falsche Richtung der nach Sokrates begründeten Bildungsspirale ist dagegen krankmachend und benötigt eine Umkehrung wie durch Abb. 15 ‚Das Bildungswegmodell - Erkenntnisgewinn und Heilung‘ in dieser Arbeit noch aufgezeigt werden wird. Von Hentig beschreibt sehr treffend, was das für das Kind bedeutet: „Bildung ist ein individueller, sich an und in der Person, am Ende durch sie vollziehender Vorgang. ‚Ich bilde mich‘, lautet die richtige Beschreibung. Eine Form, die mir ein anderer aufprägt, macht mich nicht zu einem Gebildeten, sondern zu einem Gebilde. Und die Ertüchtigung für eine gesellschaftliche Tätigkeit ist etwas ganz anderes und heißt Ausbildung“ (Hentig, 2003, S. 13). Kinder sind darauf angewiesen zu lernen, um in der Gesellschaft ihren Platz zu finden, weil der Mensch nur so – auf dem Weg der kulturellen Einbindung ‒ überlebensfähig ist und sich selbst bestimmen kann (s.a. Plessner passim).

Wie aber wird es möglich, die Freiheit, auf die doch alles ankommt, mit dem Zwang zu vereinbaren, der sich aus der lebensnotwendigen Bewegung in der Gesellschaft ergibt? Wir finden nicht nur bei Winnicott in Becker sondern auch bei Thomas von Aquin: „In jedem Schritt; mit dem wir uns lernend die Möglichkeit aneignen in dieser Welt unserem Wesen gerecht leben zu können, begegnen sich […] ein Moment der Aneignung und der Anerkenntnis“ (Pauli im Vorwort in Aquin, 2006 (1225-1275), S. XX). Die Anerkenntnis ist demnach als ein Freiheitsakt zu sehen, der nur durch eine einzige Instanz zu nötigen ist, nämlich durch die Vernunft selbst, die das Objektive als das, was angeeignet werden kann, als Objektives bewusst erkennt. In dem Sinne führt auch Krawitz aus, dass Erziehung und dialogischer Unterricht dem Aufbau eines Vernunftwillens dienen müssen, der den Prinzipien der Wahrheit verpflichtet bleibt, um sich so von jeder Form der Fremdbestimmung zu lösen. Er versteht „Emanzipation in einem idealistischen Verständnis des Begriffs: emancipatio, Entlassung aus der (väterlichen) Gewalt, Befreiung aus der Abhängigkeit und der Fremdbestimmung fremden Denkens und Geführtwerdens zur Freiheit als Autonomie des Vernunftwillens“ (Krawitz, 1980, S. 280).

Sokrates hat in seinem Sonnengleichnis sowie in seinem Höhlengleichnis einen Weg aufgezeigt, wie es gelingen kann, Kinder nicht am Lernen und Leben zu hindern, sondern der bewegten Seele zu folgen. Diese Bewegung der Seele wird durch das Bildungswegmodell als dialogorientierter Prozess aufgezeigt, der dem gesunden Weg von Entwicklung entspricht. Eine Umkehrung des Kreislaufes kann

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zur Regression führen, dem Gefühl auf der Stelle zu treten oder immer wieder an die gleiche Stelle zu geraten. Langeweile, Süchte und Konsumorientierung treten häufig entsprechend der vorgegebenen Logik als Heilungsversuch auf. Doch statt dadurch auf der Entwicklungsspirale weiter zu kommen, führt die Fahrt auf der Abwärts-, die auch Teufelsspirale genannt werden kann, erst recht bergab. Den sokratischen Kreislauf umzukehren, d.h. die Entwicklungsspirale in die falsche Richtung zu drehen, bedeutet symbolisch ausgedrückt, die Swastika als Glücksbringer in ein Hakenkreuz zu verwandeln, als Zeichen von Diktatur und Entfremdung. Es gilt, sich aus den Strukturen der Diktatur und von dem falschen Kreuz zu befreien, was auf vielen Schultern lastet und den Kindern ungefragt aufgebürdet wird. Wenn die Bildungsspirale in die falsche Richtung läuft, entsteht ein Missverhältnis zwischen Erfahrung und Erkenntnis, das Abstraktionsvermögen wird durch leere Begriffe ersetzt, wie auf Abb. 11 zu erkennen ist.

Das sokratisch begründete und von mir weiterentwickelte Modell zeigt dagegen auf, wie Erkenntnisse als schulische Lerninhalte an die Lebenswirklichkeit gekoppelt werden müssen, um Menschen so zu befähigen, selbst über Anschauung und Erfahrung, Erkenntnisse zu gewinnen. „Wissenschaft muss mehr sein als Beschaffung von Daten und die Feststellung von Beziehungen; Daten und Beziehungen, die kein Denken auslösen, sind nicht wert, gewusst zu werden“ (Hentig, 2003). Thomas von Aquin betont, dass Wissen eine bestimmte Art ist, sich im Geiste auf Sachverhalte zu beziehen. Deswegen ist es dem Lehrer unmöglich, sein Wissen als seine derartige Beziehung zu Sachverhalten einfach in den Schüler zu verpflanzen, sondern er hat vielmehr die Aufgabe dem Schüler ebenfalls eine solche Sachverhaltsbeziehung zu ermöglichen. Somit muss Wissensvermittlung als Wissenstransfusion scheitern und hinterlässt in derartigem Bemühen lediglich Leere (vgl. Aquin, 2006 (1225-1275), S. 9). Freire zeigt ebenfalls in seinem Buch (Freire, Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit, 1985, passim) Wege auf, wie Menschen sich aus Fremdbestimmung durch Bewusstseinsbildungsprozesse (Conscientizacáo) lösen können.4

Und nochmal „Denn nur die mit ihrer Lebenssubstanz Verwirklichenden werden neue lebensfähige Wirklichkeit stiften“ (Buber, 1962 Bd. 1, S. 814 f.).

4 Verweis auf das Kapitel 5.6 ‚Exteriorisation, Conscientizacáo und sokratischer Prozess

zur Bewusstseinsbildung‘.

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„Vom Lehren

Dann sagte ein Lehrer: Sprich zu uns vom Lehren. Und er sagte: Niemand kann euch etwas offenbaren,

was nicht bereits in der Dämmerung eures Wissens angelegt ist. Der Lehrer, der im Schatten des Tempels inmitten seiner Schüler wandelt,

gibt nicht sein Wissen, sondern vielmehr seinen Glauben und seine Barmherzigkeit weiter.

Ist er tatsächlich weise, so lädt er euch nicht ein, das Haus seiner Weisheit zu betreten,

sondern führt euch an die Schwelle eures eigenen Geistes. Der Astronom kann euch sein Verständnis des Weltalls darlegen,

aber geben kann er euch sein Verständnis nicht. Der Musiker kann euch vom Rhythmus erzählen, der das Weltall erfüllt, aber geben kann er euch weder das Ohr, das den Rhythmus einfängt,

noch die Stimme, die ihn widerhallen lässt. Und wer in der Wissenschaft der Zahlen bewandert ist,

kann vom Reich der Gewichte und Maße erzählen, aber er kann euch nicht dorthin führen.

Denn die Vorstellungskraft eines Menschen leiht keinem anderen ihre Schwingen“

(Gibran, 2005 (1923), S. 63 f.). Lernen ist als Sonderform von Erkennen die synthetische Leistung des

subjektiven Bewusstseins und Handeln eine verbindliche Tätigkeit autonomer Willensaktivität und muss deswegen immer selbstgewählten und eigenverantworteten Maximen folgen (vgl. Krawitz, 1980, S. 294).

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Konsumorientierung durch Störung des Bildungsprozesses

Abb. 12: Konsumorientierung durch Störung des Bildungsprozesses Fettmarkierungen sind Ausdruck von Abb. 12, Unterstreichungen betonen das,

was im gesunden und erweiterten Bildungswegmodell Abb. 15 vorzufinden ist. Auf der Abb. 12 sieht man den Zerfall des Menschen in verschiedene

Bereiche/Welten. Die reine Konsumierung sowohl im Bereich des Wissens als auch im Bereich der Bilder ist gekennzeichnet durch einen fehlenden Dialog zwischen der Lebenswelt und der Wissenswelt. Der dadurch entstehende Hunger nach Realität und Bildern des Lebens wird insbesondere bei Kindern dadurch ausgedrückt, dass sie – nachdem sie sich durch den schulischen Wissenstrichter quälen mussten, zu Hause wie paralysiert in den Sog des Fernsehens oder des Computers als Ersatz für wirkliches Leben gezogen werden. Die im Außen realisierte und exzentrisch motivierte Verschiebung des denkbaren Bereiches in den sichtbaren Bereich, kann zwar als Versuch der Selbstheilung durch Belebung

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des ‚sichtbaren Bereiches‘ angesehen werden, führt aber statt zur Heilung in die Zerrissenheit zwischen Rationalität und Emotionalität.

Erklärungen zur Abb. 12: In diesem Modell ‒ Abb. 12 ‒ finden wir zwischen dem sichtbaren und denkbaren Bereich inaktive und ausgebremste Zwischenbereiche vor, die bei dem Modell Abb. 15 (erweitertes Bildungsmodell) als Entwicklungszonen fungieren. Die Pfeile zwischen den Bereichen dringen nur einseitig vom denkbaren in den sichtbaren Bereich vor und unterstreichen damit den antidialogischen Charakter des Modells. Durch das massive Eindringen dieser Fremd-Ideen – aus dem denkbaren Bereich durch konsumierte Begriffe in den sichtbaren Bereich des Menschen, der für die inneren Bilder verantwortlich ist – vollzieht sich Störung, entsteht eine Kultur des Schweigens. Jeder mögliche echte Dialog wird durch ein konsumorientiertes System, in welcher der Mensch

funktionalisiert wird, ausgeschaltet. Die Linie , die im Modell Abb. 15 eine Interiorisation echter eigener Sinneseindrücke in die Erfahrungswelt ermöglicht, führt hier lediglich zu einer einseitigen Übernahme künstlicher Scheinerfahrung in den Bereich der Sinne und Anschauungen, denn es gibt keine Widerspiegelungen, die eine Chance hätten, sich zu etwas – dem Menschen ganz Eigenen im Subjektiven Bereich aufzubauen, denn anstelle von Aneignungsprozessen herrscht hier Reizüberflutung, welche die Abbildung des wirklichen Seins und der Wirklichkeit verhindert. Der subjektive Raum ist massiv besetzt durch Überlagerung des von außen Kommenden. Die Medienwelt hat das Sagen. Eine

zusätzliche Behinderung findet im Bereich der Linie statt, die in dem erweiterten Bildungswegmodell Abb. 15 eine Austauschzone zwischen Denkbarem und Sichtbarem bildet. In diesem Modell Abb. 12 dagegen werden Begriffe und Ideen einfach als Fremdwissen konsumiert, haben keinerlei Bezug zum Menschen und seiner Lebens- und Anschauungswelt, sind leer – und wie Adorno sagt ‚verdunstete Realität‘ (vgl. Adorno, 1956, S. 25). Der sichtbare Bereich bleibt deswegen genau wie der denkbare Bereich abgespalten, bedeutungslos und deswegen leblos. Er ist lediglich nur noch Behälter für konsumierte Bilder, die von außen eindringen. Der Mensch zerfällt quasi in zwei Teile – in den rationalen Teil (denkbarer Bereich) und den emotionalen Teil (sichtbarer Bereich).5 Statt eines

5 Alexithymie – Gefühlsblindheit (Thymos kommt von Gefühl, lexis von Wort) An der

Krankheit sieht man, wie die Leistungsideologie und Konsumorientierung unserer Gesellschaft zur Entwicklung von Störungen beitragen kann. Alexithymie gilt als ein neuropsychologisches Defizit der Gemütsregulierung und geht mit Symbolisierungsstörung der sprachlichen Sozialisierung einher. Dieses Defizit ist von der Unfähigkeit gekennzeichnet, im sozialen Umfeld bei anderen Menschen Gemütszustände erkennen bzw. eigene Gemütszustände in Worte packen zu können. Die Phantasie- und Traumtätigkeit sind eingeschränkt, das Denken ist operational, zweckgebunden und hat mechanischen und instrumentellen Charakter. Eine Verarmung des Wortschatzes zeichnet diese technokratischen Persönlichkeiten aus. Objektbeziehungen gelten als mechanisiert. Man könnte diese Menschen auch als ‚Mensch-Rechner‘ bezeichnen. Sie sind an die technische Umwelt angepasst und spiegeln eine aktuelle allgemeine Entwicklung des modernen

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fruchtbaren dialogischen Austauschs der Bereiche miteinander, kann der funktionalisierte Mensch diese Bereiche nicht mehr miteinander in Kontakt bringen und fühlt sich zerrissen und nekrophil.6 Anstelle von Persönlichkeitswachstum sieht man hier in Abb. 12 eine tote Zone. Der Mensch ist seiner eigenen Lebendigkeit beraubt. Der gesellschaftliche Sinn tritt zunehmend mehr an die Stelle des persönlichen Sinns.

Wenn Möglichkeiten der Identitätsfindung durch mitmenschliche Interaktion in der Schule oder auch zu Hause fehlen, ergeben sich solche in der Warenwelt. Dass die kommunikative Befriedigung ersatzweise in die orale verschoben wird, führt zu starker Frustration und zu einem ungestillten Verlangen, welches auf Wiederholung drängt, nur um wieder ersatzbefriedigt zu werden. Denker hat darüber nachgedacht, warum es „Waren-Identität statt wahrer Identität“ gibt (vgl. Denker, 1985, S. 29) und sieht darin die Wurzel eines Frustrations-Sucht-Kreislaufes. Die Folge ist eine ‚Null-Bock-Mentalität‘, bei der soziale Konflikte und Benachteiligungen ohne Anteilnahme aus der Zuschauerperspektive zur Kenntnis genommen werden und Aggressionen verstärkt auftreten. Der Mensch versucht seine mit der Unbefriedigung latent empfundene Angst einzudämmen, leidet aber an Ichschwäche und Antriebslosigkeit, weil das scheinbar ‚Objektive‘, was durch Medien oder auch ersatzweise durch Gruppen unbewusst vermittelt wird, die Selbstreflexion erschwert, die zur Persönlichkeitsbildung relevant wäre (vgl. ebd.).

Doch wie entwickelt sich die ‚Waren-Identität‘ die durch Denker besprochen wird? Menschen werden von klein auf in ein Bewertungsschema gepresst, aus dem sie nur schlecht wieder herausfinden. Schnell ist ein Urteil gefällt, ein Mensch selektiert, abgeschoben und ausqualifiziert. Unsere Schulen als Bewertungs- und Selektionsinstitutionen bereiten auf die gesellschaftlichen Perspektiven vor, die für viele allerdings nur noch als ‚Untiefen‘ bezeichnet werden können. „Bevor man die Frage entscheidet, ob Menschen aus schlechten Gewohnheiten zu entwurzeln sind und, falls ja, auf welche Weise, sollte man rekapitulieren, wie es dazu kommen konnte, dass sie jemals in ihnen Fuß fassten“ (Sloterdijk P., 2009).

Menschen zerfallen heute in verschiedene Bereiche/Welten. Eine Hauptwelt ist die Welt des Wissens als Arbeitsleben – meistens allerdings ohne Selbstverwirklichung. Schule dient als konsequente Vorbereitung auf das, was im Anschluss daran im Arbeitsleben kommt. Insbesondere sind Kinder als Ausgelieferte an eine Kultur, in die sie hineinwachsen müssen, schon von Sinnentleerung und fehlender Selbstwirksamkeit betroffen, wenn sie einem

Menschen wider, sind also hervorragend vergesellschaftbar in einem technokratischen System. Die Störung liegt darin, dass entweder a) die Wege der psychischen Verarbeitung zum Bewusstsein blockiert sind oder b) die Weiterleitung von der somatischen Komponente des Affekts zur psychischen Verarbeitung nicht funktioniert (vgl. Sami-Ali zit. in Menk, 1997, S. 29).

6 „Diese vollständige emotionale Abhängigkeit kann die Unterdrückten zu dem führen, was Fromm das nekrophile Verhalten nennt: zur Zerstörung des Lebens – ihres eigenen oder ihrer unterdrückten Freunde“ (Freire, 1985, S. 51).

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pathologischen Weg zur Bewältigung eines pathologischen Gesellschaftssystems folgen müssen, durch welches Wissen als Scheinwissen verpackt in die Köpfe hineingepresst werden soll, das den Menschen am wirklichen ‒ als mit der Wirklichkeit verbundenen Leben ‒ hindert und behindert. Der fehlende Dialog zwischen der Lebenswelt und der Wissenswelt drückt sich als Hunger nach Realität und Bildern des Lebens aus. Wenn Kinder sich durch den schulischen Wissenstrichter gequält haben, werden sie deswegen zu Hause meistens wie paralysiert in den Sog des Fernsehens oder des Computers als Ersatz für wirkliches Leben gezogen. Wie gebannte, erstarrte und gefesselte Marionetten starren sie nun wie die Gefesselten in der Höhle nur in eine Richtung auf die Schattenbilder, die sie für die Wirklichkeit halten und nach der sie hungern, ohne andere auch im Raum anwesende Lebewesen dabei wahrnehmen oder anschauen zu können. Zum Dialog nicht mehr fähig, die Wahrnehmung eingeschränkt, bleibt dann selbst, wenn die Mutter zum Mittagessen ruft, deren Ansprache ungehört. Erstaunlicherweise hat schon Sokrates, obwohl es zu seiner Zeit ja noch gar kein Fernsehen gab, bereits sehr treffend beschrieben, wie solch ein Medienkonsum sich gestaltet.7 Hinter allen ‚Abwegigkeiten‘ der Menschen aber scheint nicht nur die Bemühung des Vergessens zu liegen als Ausschaltung des ‚denkbaren Bereiches‘, sondern auch der Versuch der Selbstheilung durch Belebung des ‚sichtbaren Bereiches‘, was dann aber statt zur Heilung in die Zerrissenheit und die Abwärtsspirale führt. Dem Menschen erschließt sich die objektive Welt durch sinnliche Erlebnisse wie Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken, aber nicht am Bildschirm. Denn abgesehen davon, dass die Tiefendimension fehlt – dem kann ja durch 3D nachgeholfen werden –, kann nichts angefasst und schon gar nicht gerochen und geschmeckt werden. Deswegen zeigt Spitzer auf: „Bildschirme liefern dem kleinen Kind weniger Struktur als wirkliche Realität. Man kann daher annehmen, dass ein substantieller Konsum von Bildschirm-Medien (d.h. ein Konsum von Bildschirm-Medien über einen substantiellen Zeitraum im Vergleich zur Gesamtzeit der kindlichen Erfahrung) eine geringere bzw. unklarere Strukturierung des kindlichen Gehirns und damit wiederum der kindlichen Erfahrungswelt nach sich zieht“ (vgl. Spitzer, 2007, S. 90 ff.). Spitzer zeigt auf, was es bedeutet, dass Bildschirme unsere Wahrnehmungswelt verändern. Die Konsequenzen beziehen sich auf formale Aspekte ‒ denn ein Auto am Bildschirm ist etwas anderes als ein wirkliches Auto ‒ und auf die Inhalte – die insbesondere Kinder häufig überfordern ‒, aber auch auf die Lebensgewohnheiten, denn immer weniger Kinder haben noch Zeit und Lust, sich an der frischen Luft zu bewegen. Spitzer zeigt einen empirisch nachgewiesenen Zusammenhang von

7 „Von Kind auf sind sie in dieser Höhle festgebannt mit Fesseln an Schenkeln und Hals, sie

bleiben also immer an der nämlichen Stelle und sehen nur geradeaus vor sich hin, durch die Fesseln gehindert ihren Kopf herumzubewegen. […] Wenn sie nun miteinander reden könnten, glaubst du nicht, dass sie der Meinung wären, die Benennungen, die sie dabei verwenden, kämen den Dingen zu, die sie unmittelbar vor sich sehen?“ (Platon, Der Staat. Siebentes Buch, 1988 Bd. V (428-348 v. Chr.), S. 268, 514 St.).

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Fernsehkonsum im Kleinkindalter und Aufmerksamkeitsstörungen im Schulalter auf (ebd.).

Mir geht es nicht darum, ein Plädoyer dafür zu geben, dass neue Medien unbedingt aus den Kinderzimmern verschwinden müssen, noch will ich hier sonstige mediendidaktische Ratschläge geben. Die Dramatik wurde insbesondere von Spitzer ausreichend mit Lösungsvorschlägen versehen, die aber – wie ich finde – zu kurz greifen. Somit geht es nicht um kulturpessimistisch-apokalyptische Thesen gegen neue Medien. Es ist ja durchaus möglich, dass Alltagswirklichkeit und mediale Welt sich miteinander vernetzen. Dennoch ist es nicht hinweg zu diskutieren, dass die sanfte Gewalt des Bildschirmmediums auf einen weitgehend konsumierenden Wirklichkeitsbezug reduziert, viele Kinder und Jugendliche die Welt nicht mehr als Handelnde erleben und die Bedürfnisse schwinden, in eigener Wirklichkeit Regie zu führen (vgl. Wöll, 1998, S. 5).

Ich verstehe die Verstümmelung und Entwertung unmittelbarer Erfahrungen ebenso wie die Verkümmerung von Eigentätigkeit und des handelnden Umgangs mit Wirklichkeit, die sich im Zusammenhang mit Medienkonsum darstellt, als Folge davon, dass die Welt schon vor der Konsumierung, die sich in Abb. 12 zeigt, in Lebenswirklichkeit und Wissenswelt aufgeteilt wurde. Anhand der Graphik Abb. 11 ‚Verdrehung des gesunden Bildungsweges‘ wurde die Trennung von Lebenswelt und Wissen in der Schule verdeutlicht, die sich später bei Erwachsenen zwischen Arbeitswelt und Sinn implantiert. Diese Trennung ist als grundlegend dafür anzusehen, dass Menschen hungrig nach entbehrten Erlebnissen und Erfahrungen, nach dem greifen, was ohne große Anstrengung nach dem ermüdenden Schul- oder Arbeitsalltag, nicht nur Abschaltung sondern auch Erlebnis-Befriedigung verspricht. Diese Bestandsaufnahme wird dann durch die Graphik Abb. 12 dargestellt. Wenn das Leben nicht mehr als Ganzes begriffen werden kann, zerfällt es in ökonomische Gebrauchs- und Verwertungskategorien, die meistens von Funktionalismus geprägt sind, der auch vor der Freizeit als Ausgleichsfunktion nicht Halt macht. Damit erfährt sich der Mensch gespalten und in verschiedene Funktionalismen zerteilt. Er kann die Welt innerlich nicht mehr abbilden, sondern fühlt sich durch sie zusammengepresst und isoliert von ihr, wie die Graphiken zeigen.

Äußerst kritisch ist somit zu sehen, was Opp behauptet. Nach ihm lässt sich ein Leben, welches man als gelingend bilanzieren kann, nicht mehr als Ganzes begreifen. Er schlägt deswegen Konzepte für eine ‚neue‘ Erziehung zur Transformation vor, in der das Leben als ein Bündel von Teilkarrieren gesehen werden soll, ohne als hierarchisches Dependenzverhältnis aufgefasst zu werden. Demnach sollen die distinktiven Teilkarrieren unter dem Aspekt von Zugewinn und Verlust rekonstruiert werden (vgl. Opp, 2008, S. 272). So weit sind wir schon in der Resignationsschleife und Anpassungsfähigkeit an ungesunde Zustände gekommen. Diese Art Selbstheilungsversuche erweisen sich aber als Sackgasse und Ausgangspunkt neuer Probleme, die hier im Einzelnen nicht aufgezählt werden sollen. Vielmehr bedarf es eines dialogischen Bildungsweges, den Lehrer so

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beschreiten müssen, dass sie Kindern über die Bewegung ihrer Seelen die Welt erschließend, aneignungsfähig machen. Platon betrachtet Leben als Selbstbewegung und bezeichnet beides zusammen als Seele. Leben als Selbstbewegung, die zugleich Seele ist (vgl. Jantzen, 1994, S. 35), sucht deswegen Bewegung durch Bildungsprozesse gleich einer Bildungs- und Entwicklungsspirale im Lebensprozess. Wenn dieser Weg verlassen wird, ist mit Entwicklungsstörungen oder Lernblockaden zu rechnen.

Traumalinien als Lern- und Entwicklungsblockaden

Abb. 13: Traumalinien als Lern- und Entwicklungsblockaden

Trauma

„Die Welt zerfällt in tausend Scherben.

In tausend Scherben fall auch ich. Es ist, als ob ich tausend Scherben wäre, weil nichts mehr mich zusammen hält,

da hinter Gittern keine Welt“ (Jutta Lütjen, 2012 - In Anlehnung an den ‚Panther‘ Rilkes)

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Die Graphik zeigt, wie Traumen Entwicklungsstörungen und Lernblockaden nach sich ziehen und alle Lebensgebiete des Menschen betreffen können.

Wenn Armut, Vernachlässigung, Traumatisierung etc. den Erkenntnisgewinn behindern, ist Wachstum ohne Hilfe nur sehr begrenzt möglich. Der Mensch bewegt sich im Kreis, fühlt sich ver- und behindert. Benedetti nennt solche ‚Traumalinien‘ im Leben eines Menschen Todeslandschaften, weil Anteile und Fähigkeiten eines Menschen ungelebt, unbelebt und wie tot erscheinen (vgl. Benedetti, 2003, passim).8 Weil alle Bereiche, also sowohl die Anschauungswelt, die Erfahrungswelt, die Erkenntniswelt als auch die Welt des Seins als Lebenswelt immer zusammenspielen, sind sowohl Körper, Seele als auch Verstand und soziale Fähigkeiten betroffen. Das heißt aber nicht, dass alle Bereiche des Menschen immer gleichermaßen ‚tot‘ erscheinen müssen, sondern es können gerade durch Traumen auch Fähigkeiten im Menschen besonders entwickelt werden, wie z.B. außergewöhnliche Intuition, Intelligenz, Durchhaltevermögen, Resilienz etc. Der Mensch ist in seinem Verhalten letztendlich weder voraussagbar noch programmierbar, weil er unbestimmt ist, das wird an dieser Stelle nochmal mehr als deutlich. Wie ein Mensch mit seinen Traumata umgeht oder diese integrieren kann, hängt nicht zuletzt von seinem Umfeld und seinem sozialen Netzwerk ab, sondern auch davon, ob diese Traumen schon sehr früh in seinem Leben oder erst zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden, wie viel Zeit zwischen verschiedenen Traumen verläuft und wie die Bewältigung der verschiedenen Traumen jeweils verlaufen ist, welche Copingstrukturen ein Mensch in sich trägt, bzw. welches Copingverhalten er entwickelt etc. Das Thema zu vertiefen, ist an dieser Stelle nicht möglich. Deswegen sei auf Hans Keilson verwiesen, der eindrucksvolle Untersuchungen zum Schicksal jüdischer Kriegswaisen durchgeführt hat (vgl. Keilson, 2005, passim).9

‚Schattenbereiche‘ können jedenfalls der Loslösung und Entfesselung der Schatten bedürfen. Das wird in dem Kapitel 17.5 ‚Ein Entwurf mäeutischer Transformationsarbeit‘ beschrieben, bei welchem mögliche Hilfen der Begegnung der ‚Gefesselten‘ mit einem ‚inneren Schatten‘ im Sinne Sokrates aufgezeigt werden.

8 Auch in Kapitel 17.1.1 ‚Die Höhle – Wohnstätte der Gefesselten‘ wird schon auf dieses

Thema Bezug genommen. 9 „Hans Keilson analysiert die massiv-kumulative Traumatisierung bei Kindern am Beispiel

der jüdischen Kriegswaisen in den Niederlanden in je einem deskriptiv-klinischen und einem quantifizierend-statistischen Untersuchungsgang. Zugleich überprüft er damit die Hypothesen der altersspezifischen Traumatisierung sowie einen Teil der psychoanalytischen Theorie der Traumatisierungsintensität“ (Keilson, 2005, Rückseite des Covers).