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41 21. NOVEMBER 2013 DIE ZEIT N o 48 D er Trend hat jetzt schon die Kindergärten erreicht. Neu- erdings erzählt die dreijährige Linnea von Spielkameraden in ihrer Hamburger Kita, die Nüsse, Joghurt oder Nudeln nicht mehr essen dürfen. Täglich holen sie etwas ganz Besonderes aus ihren Brotdosen. Etwas, das nur für sie bestimmt ist. Manchen kleinen Mädchen und Jungs wärmen die Erzieher mittags sogar spezielle Mahlzeiten auf. Und so verkündet eines Tages auch Linnea nicht ohne Stolz: »Wenn ich Nüsse esse, kitzelt es so ko- misch auf meiner Zunge. Ich glaube, ich bin aller- gisch.« Auch sie will etwas Besonderes sein. Als die Kindergärtnerinnen beim Elternabend anmahnen, Sonderbehandlungen beim Essen sei- en künftig nur mehr gegen Vorlage eines ärztlichen Attests möglich und nicht jeder Diätwunsch sei erfüllbar, geht ein hörbares Murren durch die Rei- hen der Mütter und Väter. Einer regt sich flüsternd über den »schulmedizinischen Chauvinismus« auf. Die »sensiblen Esser« haben sich in der Gesell- schaft durchgesetzt, auch die Erwachsenen unter ihnen tragen ihre kulinarischen Empfindlichkeiten vor sich her, als Ausweis von Individualität. Lädt man heute Gäste zum Essen ein, empfiehlt es sich, vor dem Einkauf des Menüs umfassende Gesprä- che zu führen. Längst will nicht nur berücksichtigt sein, dass einer vegetarisch lebt und die andere ve- gan: »Käse kann ich nicht essen. Laktoseintoleranz, das ist ganz offensichtlich, da brauch ich gar nicht erst den Arzt zu fragen.« – »Brot und Nudeln lass ich vorsichtshalber weg. Dieses Gluten verträgt ja kaum noch jemand.« – »Geräucherter Schinken? Leider nein. Du weißt doch – das Histamin!« Noch vor zehn Jahren waren Verdauungsvorgänge ein Tabuthema bei Tisch, heute breitet sich beim gemeinsamen Essen die neue Innerlichkeit aus. Jedes Grummeln im Magen, jedes Ziehen im Bauch wird diskutiert und mit ernster Miene kategorisiert. Wer alles klaglos hinunterschluckt und verdaut, sitzt da- zwischen wie ein Klotz: unsensibel, unreflektiert – kurz: von gestern. Munter wird bei den Selbst- diagnosen Halb- und Unwissen durcheinandergewür- felt und weiterverbreitet. Dabei können selbst Laktoseintolerante in Wahrheit die meisten Käse- sorten essen, weil die (im Gegensatz zu unverarbei- teter Milch) kaum Laktose enthalten. Glutenfreie Produkte haben für Menschen mit gesundem Stoff- wechsel nachweislich keinerlei Nutzen. Und ob es die gefürchtete Histaminintoleranz überhaupt gibt, ist unter Experten mehr als umstritten. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Allergien gegen Lebensmittel gibt es, und sie können lebensgefährlich sein: Manche Men- schen müssen nach dem Verzehr von Nüssen mit akuter Atemnot in die Klinik eingeliefert werden. Auch Nahrungsmittelintoleranzen sind keine Mo- dekrankheiten. Die Betroffenen suchen oft lange, bis die Ursache ihrer Beschwerden ermittelt ist. Für sie ist es ein Segen, dass im Supermarkt Regale mit laktose- und glutenfreien Produkten stehen. Die Lebensmittelskandale haben die Konsumenten nachhaltig verunsichert Doch die Zahl der Konsumenten solcher Spezial- nahrungsmittel steht in krassem Missverhältnis zur Zahl der tatsächlich Kranken. So ist der Markt für laktosefreie Produkte in den vergangenen Jahren enorm gewachsen. Kauften 2007 nur 6,5 Prozent der Haushalte derartige Milchprodukte, waren es 2012 schon knapp 18 Prozent. Das ergab die jähr- liche Befragung von 30 000 Haushalten durch die Gesellschaft für Konsumforschung. Viele, die an- gegeben hatten, laktosefreie Milchprodukte zu kaufen, verneinten gleichzeitig die Frage der Marktforscher nach einer Laktoseintoleranz. Wie viele Konsumenten glutenfreie Produkte kaufen, ist in Deutschland nicht bekannt. In den USA zeichnet sich jedoch ein deutlicher Trend ab: 28 Prozent der Erwachsenen gaben 2012 bei einer Befragung des Marktforschers NPD Group an, kaum oder gar kein Gluten mehr zu verzehren. Dabei leidet weniger als ein Prozent der Bevölke- rung tatsächlich an Glutenunverträglichkeit. Wie kommt es, dass gesunde, vernünftige Men- schen bereit sind, für Produkte, die gesundheitlich nichts bringen, mindestens das Doppelte zu zahlen? Das liegt an den schlauen Marketingstrategen der Industrie. Sie machen sich gleich mehrere ge- sellschaftliche Entwicklungen zunutze. Erstens: Gesundsein ist Bürgerpflicht. Und es gehört zum guten Ton, die Bewusstwerdung des eigenen Körpers öffentlich zu machen. Wer per Jogging-App seine wöchentliche Laufleistung über die Sozialen Netze jedem noch so entfernten Be- kannten triumphierend aufs Mobiltelefon schickt, entwickelt auch beim Wettlauf um die gesündeste Ernährung einigen Ehrgeiz – und spricht darüber. Zweitens: Unterstützt wird der Hang zur Selbstdarstellung durch einen wachsenden Boom der Innerlichkeit. Yoga ist zum Volkssport gewor- den. »Achtsamkeit« ist der neue Trend des Innehal- tens und In-sich-Hineinlauschens. Da wird so manches kaum vernehmliche Verdauungsgeräusch zum war- nenden Fingerzeig. Drittens: Die nicht abrei- ßende Kette von Lebensmittel- skandalen hat die Verbraucher tief verunsichert, was zu der fälschlichen Annahme führt, dass da weniger Gefahren lau- ern, wo weniger drin ist. War früher »cholesterinfrei« oder »fettfrei« ein Qualitätssiegel, so haben die Hersteller das Mar- keting des Weglassens inzwi- schen auf die Spitze getrieben: laktosefrei, glutenfrei, fruktose- frei. All das gibt es jetzt auch. Jenseits der tatsächlich Into- leranten hat die Lebensmittel- branche rasch auch die deutlich größere Gruppe der Sensibelchen als Zielgruppe ent- deckt. Die Verbraucherzentrale Hamburg kritisiert, in der Werbung werde der Eindruck erweckt, dass laktose- oder glutenfreie Produkte ganz allgemein Gesundheit und Wohlbefinden steigern könnten. »So sollen auch Personen zum Kauf dieser Produkte an- geregt werden, die keinen Bedarf haben«, sagt Silke Schwartau von der Verbraucherzentrale. Allein die Verpackungsaufschriften lassen Lak- tose und Gluten als schädliche Zusätze erscheinen, dabei sind sie bloß ein natürlicher und ursprüng- licher Bestandteil von Lebensmitteln. Die Super- marktkette Rewe hat sogar die Marke »frei von« eingeführt: Da heißt es, laktose- oder glutenfreie Produkte seien für »Ernährungssensible« geeignet. Selbst deren Platzierung im Supermarkt ist Teil der Marketingstrategie: Meist stehen sie in der Nähe der Bioprodukte – das suggeriert gesunde Quali- tät. Dass sie deutlich teurer sind als konventionelle Ware, fällt in solcher Nachbarschaft praktischer- weise auch nicht auf. So entsteht ein permanent wachsender Markt an Spezialnahrungsmitteln für wenige Erkrankte und viele Unsichere. Nicht als Folge von Nachfrage, son- dern durch künstliche Schaffung neuer Bedürfnisse: Dem neu ersonnenen Produkt folgt die Bedarfswe- ckung im Kunden. »Nach dem Verbot vieler Dia- betikerprodukte, die als ungesund entlarvt worden waren, entstand eine Lücke im Bereich der diäteti- schen Lebensmittel«, erklärt Silke Schwartau. »Die Lebensmittelkonzerne suchten nach neuen Produk- ten, die sie als gesund anpreisen und teurer verkaufen konnten – so verfielen sie auf die sogenannten ›frei von‹-Nahrungsmittel.« Die In- dustrie habe es geschafft, lakto- sefreies und glutenfreies Essen zu modernen Lifestyleprodukten aufzuwerten. Diese Beobachtung lässt sich im Alltag leicht belegen: Soy Caffè Latte aus einem der ubiqui- tären Coffeeshops ist Menschen mit normal ausgeprägtem Ge- schmackssinn eigentlich nicht zuzumuten. Sojamilch statt or- dinäre Kuhmilch zu bestellen klingt aber irgendwie modern. Das Label »laktosefrei« ist in- zwischen so positiv besetzt, dass Hersteller sogar Produkte wie Nudeln damit auszeichnen, bei denen die Abwesenheit des Milchzuckers selbstverständlich ist. Der Onlineshop glutenfrei-supermarkt.de bietet speziell Essig, Öl, Nüsse und Kaffee an, obwohl diese Lebensmittel von Natur aus kein Milligramm Gluten enthalten. Selbst Restaurants schmücken sich mit dem vermeintlichen Gesundheitsversprechen – der Spitzenkoch Tim Raue verwendet nach eigenen Angaben ausschließlich laktosefreie Milchprodukte. Die Hamburger Restaurantkette Season mit dem Slogan »Fit Fast Fresh Food« spricht gezielt Gesund- heitsbewusste, Nahrungsmittelintolerante und alle übrigen Ohne-Esser an. Ihr Konzept verhindert, dass die Gäste der Bedienung seitenlang Sonderwünsche in den Block diktieren: Am vegetarischen Buffet ist bei jedem Gericht vermerkt, was drin ist und – viel wichtiger – was nicht. Im Internet versuchen Hersteller, als Gesundheitsberater aufzutreten Dem sensiblen Käufer nähern sich manche Her- steller sogar im Gewand des Gesundheitsberaters: Die Internetseite laktoseintoleranz-hilfe.de infor- miert vermeintlich objektiv über diese Unverträg- lichkeit. Noch im April dieses Jahres führte ein Link von der Seite direkt zum Angebot von Mi- nusL, einer Marke für laktosefreie Produkte. Ur- heber der Seite war die HVG-Süd Handels- und Vermittlungs-GbR. Deren Adresse und Telefon- nummer stimmten allerdings mit jener der Molke- rei Omira überein, zu der die Marke MinusL ge- hört. Nachdem die Verbraucherzentrale Hamburg Gibt es in Deutschland bald einen Mindest- lohn, dürfen sich Friseure und Kellner freuen. Mitarbeiter von Hochschulen übrigens auch. Zumindest wenn sie in Brandenburg arbeiten. Mancher wissenschaftlicher Mitarbeiter muss sich dort mit weniger als 8,50 Euro Stunden- lohn zufriedengeben, wie eine Anfrage der Grünen im Landtag kürzlich publik machte. Lohndrücker des Landes ist die Technische Hochschule Wildau. Hier haben studentische Hilfskräfte Anspruch auf sechs Euro die Stun- de und – anders als Kellner und Friseure – keine Aussicht auf Trinkgeld. Das Beispiel zeigt wieder einmal: Hoch- schulen sind schlechte Arbeitgeber. Wer hier beschäftigt ist, muss für wenig Geld viel ar- beiten. Seine Jobsicherheit ist gering, die Aus- sicht auf eine Karriere ebenso. Außer er hat eine Professur. Doch auf einen Lehrstuhl schaffen es bekanntlich nur wenige. Schon immer war die Alma Mater eine Rabenmutter. Max Weber meinte vor 100 Jahren, man dür- fe keinem jungen Menschen guten Gewissens den Rat geben, in die Wissenschaft zu gehen. Mittlerweile freilich hat die Dumping- löhnerei an deutschen Universitäten Aus- maße angenommen, die kein Hinweis auf die »intrinsische Motivation« von Forschern mehr rechtfertigen kann. Dem aktuellen Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs zufolge hangeln sich 68 Prozent der wissen- schaftlichen Angestellten von einem befris- teten Arbeitsvertrag zum nächsten. In den meisten Fällen betragen die Laufzeiten we- niger als zwei Jahre. In Frankreich oder Großbritannien ist die Zahl der befristet be- schäftigten Universitätsmitarbeiter nicht einmal halb so groß. Für die Schieflage gibt es viele Gründe. Das traditionell feh- lende Verantwortungs- gefühl der Universitä- ten für ihr Personal gehört dazu. Der un- ter Professoren ver- breitete Sozialdarwi- nismus (»Da muss durch, wer in der Wissenschaft etwas werden will«) ebenso. Die Hauptursache für die brüchigen Arbeits- verhältnisse liegt jedoch in den maroden Fi- nanzen. Die für die Hochschulen zuständigen Länder sind pleite, der Bund darf keine Dauerarbeitsplätze finanzieren. Neue Stellen – ob in Lehre oder Forschung – entstehen des- halb nur noch über Drittmittel, die per se be- fristet genehmigt werden. Bislang hat die Beschäftigungsmisere an den Hochschulen niemanden sonderlich interessiert, die Bildungsgewerkschaft GEW ausgenommen. Das könnte sich ändern. Recht geräuschlos haben sich SPD und Uni- on darauf verständigt, dem Zustand arbeits- rechtlicher Verwahrlosung an den Hoch- schulen in einer möglichen Großen Koali- tion mit Geld und Gesetzen beizukommen. Für einige Zehntausend Mitarbeiter an den Universitäten ist das eine gute Nachricht – wenn dabei mehr herauskommt als die Ver- einbarung eines akademischen Mindest- lohns von 8,50 Euro. MARTIN SPIEWAK KinderZEIT Wie geht es den Näherinnen in Bangladesch ein halbes Jahr nach dem Einsturz der großen Fabrik? S. 51 WISSEN Viel Erkenntnis, wenig Verdienst Die Universitäten haben kein Geld für ihr Nachwuchspersonal Wie billig ist Humboldt zu haben? WISSEN HALB Fortsetzung auf S. 42 Gebündelte Kompetenz Ein Internetministerium für Deutschland – welche Aufgaben könnte es wahrnehmen, wer hätte die Kompetenz? S. 44 Lügenbarometer Brecht hatte nicht ganz recht: Auch nach dem Fressen ist es mit der Moral nicht weit her. Zumindest wenn es sich bei dem Mahl um das Mittagessen handelt. Während der Mensch von 8 bis 12 Uhr noch edel, hilfreich und gut ist, sinkt danach sein Moralinspiegel rapide, und er beginnt zu flunkern. Von 15 Uhr an ist ihm kaum noch über den Weg zu trauen, und gegen Abend ist er womöglich so weit, dass er alte Damen per Trickbetrug um die Rente er- leichtern würde. Schuld, sagen US-amerika- nische Forscher, die den Lügenpegel nachge- messen haben wollen, sei die im Verlauf des Tages kontinuierlich nachlassende Selbstkon- trolle. Demnach stehen wir morgens als ehr- liche Biedermänner auf und enden am Abend als schwindelnde Hallodris. Nur bei von vorn- herein ungefestigten Charakteren ist der Effekt nicht nachweisbar. Die lügen offenbar vor dem Frühstück schon so gedruckt wie abends beim Dinner. INK Zöliakie Hintergrund Nur sehr wenige Menschen, leiden an der Autoimmun- erkrankung Zöliakie: in Deutschland zwischen 0,1 und 1 Prozent der Be- völkerung. Sie vertragen das Klebereiweiß Gluten nicht, das in Weizen, Dinkel, Roggen, Gerste und anderen Getreidesorten enthalten ist. Patienten müssen deshalb viele Lebensmittel wie Brot, Müsli, Kuchen, Knödel, Malzkaffee und Bier meiden. Eine immunologische Reaktion auf das Gluten führt dazu, dass sich der Darm chronisch entzündet. Empfehlung Stellt der Arzt fest, dass ein Patient nicht an einer Zölia- kie leidet, diagnostiziert er oft eine zöliakieunabhängige Weizenempfindlichkeit, die als weitaus häufiger gilt. Manche Betroffene be- richten, dass es ihnen besser geht, wenn sie auf Getreide- produkte verzichten. Siehe auch »Was tun, wenn Essen weh tut?« auf Seite 43. Bauchgrimmen Die Sorge, sich falsch zu ernähren, greift um sich: Viele Deutsche glauben, Gluten, Laktose oder Fructose mache sie krank. Tatsächlich leiden nur wenige wirklich an einer Lebensmittelunverträglichkeit VON SUSANNE SCHÄFER Titel: Alles unverträglich? Die Angst ist groß: Selbst in Brot oder Milch scheinen Gefahren zu lauern. Die Nahrungsmittelindustrie macht daraus ein Geschäft. So gelingt es ihr, auch völlig gesunden Menschen glutenfreie oder laktosefreie Produkte zu verkaufen Manchem liegt Brot wie ein Stein im Magen. Das hat die Künstlerin Katrin Schacke für die ZEIT inszeniert Fotos: Katrin Schacke für DIE ZEIT/www.katrinschacke.de; Moschitz/Sport Moments (r.)

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21. NOVEMBER 2013 DIE ZEIT No 48

Der Trend hat jetzt schon die Kindergärten erreicht. Neu­erdings erzählt die dreijährige Linnea von Spielkameraden in ihrer Hamburger Kita, die Nüsse, Joghurt oder Nudeln nicht mehr essen dürfen.

Täglich holen sie etwas ganz Besonderes aus ihren Brotdosen. Etwas, das nur für sie bestimmt ist. Manchen kleinen Mädchen und Jungs wärmen die Erzieher mittags sogar spezielle Mahlzeiten auf. Und so verkündet eines Tages auch Linnea nicht ohne Stolz: »Wenn ich Nüsse esse, kitzelt es so ko­misch auf meiner Zunge. Ich glaube, ich bin aller­gisch.« Auch sie will etwas Besonderes sein.

Als die Kindergärtnerinnen beim Elternabend anmahnen, Sonderbehandlungen beim Essen sei­en künftig nur mehr gegen Vorlage eines ärztlichen Attests möglich und nicht jeder Diätwunsch sei erfüllbar, geht ein hörbares Murren durch die Rei­hen der Mütter und Väter. Einer regt sich flüsternd über den »schulmedizinischen Chauvinismus« auf.

Die »sensiblen Esser« haben sich in der Gesell­schaft durchgesetzt, auch die Erwachsenen unter ihnen tragen ihre kulinarischen Empfindlichkeiten vor sich her, als Ausweis von Individualität. Lädt man heute Gäste zum Essen ein, empfiehlt es sich, vor dem Einkauf des Menüs umfassende Gesprä­che zu führen. Längst will nicht nur berücksichtigt sein, dass einer vegetarisch lebt und die andere ve­gan: »Käse kann ich nicht essen. Laktoseintoleranz, das ist ganz offensichtlich, da brauch ich gar nicht erst den Arzt zu fragen.« – »Brot und Nudeln lass ich vorsichtshalber weg. Dieses Gluten verträgt ja kaum noch jemand.« – »Geräucherter Schinken? Leider nein. Du weißt doch – das Histamin!«

Noch vor zehn Jahren waren Verdauungs vorgänge ein Tabuthema bei Tisch, heute breitet sich beim gemeinsamen Essen die neue Innerlichkeit aus. Jedes Grummeln im Magen, jedes Ziehen im Bauch wird diskutiert und mit ernster Miene kategorisiert. Wer alles klaglos hinunterschluckt und verdaut, sitzt da­zwischen wie ein Klotz: unsensibel, unreflektiert – kurz: von gestern. Munter wird bei den Selbst­diagnosen Halb­ und Unwissen durcheinandergewür­felt und weiterverbreitet. Dabei können selbst Laktose intolerante in Wahrheit die meisten Käse­sorten essen, weil die (im Gegensatz zu unverarbei­teter Milch) kaum Laktose enthalten. Glutenfreie Produkte haben für Menschen mit gesundem Stoff­wechsel nachweislich keinerlei Nutzen. Und ob es die gefürchtete Histaminintoleranz überhaupt gibt, ist unter Experten mehr als umstritten.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Allergien gegen Lebensmittel gibt es, und sie können lebensgefährlich sein: Manche Men­schen müssen nach dem Verzehr von Nüssen mit akuter Atemnot in die Klinik eingeliefert werden. Auch Nahrungsmittelintoleranzen sind keine Mo­dekrankheiten. Die Betroffenen suchen oft lange, bis die Ursache ihrer Beschwerden ermittelt ist. Für sie ist es ein Segen, dass im Supermarkt Regale mit laktose­ und glutenfreien Produkten stehen.

Die Lebensmittelskandale haben die Konsumenten nachhaltig verunsichert

Doch die Zahl der Konsumenten solcher Spe zial­nah rungs mit tel steht in krassem Missverhältnis zur Zahl der tatsächlich Kranken. So ist der Markt für laktosefreie Produkte in den vergangenen Jahren enorm gewachsen. Kauften 2007 nur 6,5 Prozent der Haushalte derartige Milchprodukte, waren es 2012 schon knapp 18 Prozent. Das ergab die jähr­liche Befragung von 30 000 Haushalten durch die Gesellschaft für Konsumforschung. Viele, die an­gegeben hatten, laktosefreie Milchprodukte zu kaufen, verneinten gleichzeitig die Frage der Marktforscher nach einer Laktoseintoleranz. Wie viele Konsumenten glutenfreie Produkte kaufen, ist in Deutschland nicht bekannt. In den USA zeichnet sich jedoch ein deutlicher Trend ab: 28 Prozent der Erwachsenen gaben 2012 bei einer Befragung des Marktforschers NPD Group an, kaum oder gar kein Gluten mehr zu verzehren. Dabei leidet weniger als ein Prozent der Bevölke­rung tatsächlich an Glutenunverträglichkeit.

Wie kommt es, dass gesunde, vernünftige Men­schen bereit sind, für Produkte, die gesundheitlich nichts bringen, mindestens das Doppelte zu zahlen?

Das liegt an den schlauen Marketingstrategen der Industrie. Sie machen sich gleich mehrere ge­sellschaftliche Entwicklungen zunutze.

Erstens: Gesundsein ist Bürgerpflicht. Und es gehört zum guten Ton, die Bewusstwerdung des eigenen Körpers öffentlich zu machen. Wer per Jogging­App seine wöchentliche Laufleistung über die Sozialen Netze jedem noch so entfernten Be­kannten triumphierend aufs Mobiltelefon schickt, entwickelt auch beim Wettlauf um die gesündeste Ernährung einigen Ehrgeiz – und spricht darüber.

Zweitens: Unterstützt wird der Hang zur Selbstdarstellung durch einen wachsenden Boom der Innerlichkeit. Yoga ist zum Volkssport gewor­den. »Achtsamkeit« ist der neue Trend des Innehal­tens und In­sich­Hineinlauschens. Da wird so

manches kaum vernehmliche Verdauungsgeräusch zum war­nenden Fingerzeig.

Drittens: Die nicht abrei­ßende Kette von Lebensmittel­skandalen hat die Verbraucher tief verunsichert, was zu der fälschlichen Annahme führt, dass da weniger Gefahren lau­ern, wo weniger drin ist. War früher »cholesterinfrei« oder »fettfrei« ein Qualitätssiegel, so haben die Hersteller das Mar­keting des Weglassens inzwi­schen auf die Spitze getrieben: laktosefrei, glutenfrei, fruktose­frei. All das gibt es jetzt auch.

Jenseits der tatsächlich Into­leranten hat die Lebensmittel­branche rasch auch die deutlich größere Gruppe der Sensibelchen als Zielgruppe ent­deckt. Die Verbraucherzentrale Hamburg kritisiert, in der Werbung werde der Eindruck erweckt, dass laktose­ oder glutenfreie Produkte ganz allgemein Gesundheit und Wohlbefinden steigern könnten. »So sollen auch Personen zum Kauf dieser Produkte an­geregt werden, die keinen Bedarf haben«, sagt Silke Schwartau von der Verbraucherzentrale.

Allein die Verpackungsaufschriften lassen Lak­tose und Gluten als schädliche Zusätze erscheinen, dabei sind sie bloß ein natürlicher und ursprüng­licher Bestandteil von Lebensmitteln. Die Super­marktkette Rewe hat sogar die Marke »frei von« eingeführt: Da heißt es, laktose­ oder glutenfreie Produkte seien für »Ernährungssensible« geeignet. Selbst deren Platzierung im Supermarkt ist Teil der Marketingstrategie: Meist stehen sie in der Nähe der Bioprodukte – das suggeriert gesunde Quali­tät. Dass sie deutlich teurer sind als konventionelle Ware, fällt in solcher Nachbarschaft praktischer­weise auch nicht auf.

So entsteht ein permanent wachsender Markt an Spezialnahrungsmitteln für wenige Erkrankte und viele Unsichere. Nicht als Folge von Nachfrage, son­dern durch künstliche Schaffung neuer Bedürfnisse: Dem neu ersonnenen Produkt folgt die Bedarfswe­ckung im Kunden. »Nach dem Verbot vieler Dia­betikerprodukte, die als ungesund entlarvt worden waren, entstand eine Lücke im Bereich der diäteti­schen Lebensmittel«, erklärt Silke Schwartau. »Die Lebensmittelkonzerne suchten nach neuen Produk­ten, die sie als gesund anpreisen und teurer verkaufen konnten – so verfielen sie auf die sogenannten ›frei

von‹­Nahrungsmittel.« Die In­dustrie habe es geschafft, lakto­sefreies und glutenfreies Essen zu modernen Life styleprodukten aufzuwerten.

Diese Beobachtung lässt sich im Alltag leicht belegen: Soy Caffè Latte aus einem der ubiqui­tären Coffeeshops ist Menschen mit normal ausgeprägtem Ge­schmackssinn eigentlich nicht zuzumuten. Sojamilch statt or­dinäre Kuhmilch zu bestellen klingt aber irgendwie modern. Das Label »laktosefrei« ist in­zwischen so positiv besetzt, dass Hersteller sogar Produkte wie Nudeln damit auszeichnen, bei denen die Abwesenheit des Milchzuckers selbstverständlich

ist. Der Onlineshop glutenfrei­supermarkt.de bietet speziell Essig, Öl, Nüsse und Kaffee an, obwohl diese Lebensmittel von Natur aus kein Milligramm Gluten enthalten. Selbst Restaurants schmücken sich mit dem vermeintlichen Gesundheitsversprechen – der Spitzenkoch Tim Raue verwendet nach eigenen Angaben ausschließlich laktosefreie Milchprodukte. Die Hamburger Restaurantkette Season mit dem Slogan »Fit Fast Fresh Food« spricht gezielt Gesund­heitsbewusste, Nahrungsmittelintolerante und alle übrigen Ohne­Esser an. Ihr Konzept verhindert, dass die Gäste der Bedienung seitenlang Sonderwünsche in den Block diktieren: Am vegetarischen Buffet ist bei jedem Gericht vermerkt, was drin ist und – viel wichtiger – was nicht.

Im Internet versuchen Hersteller, als Gesundheitsberater aufzutreten

Dem sensiblen Käufer nähern sich manche Her­steller sogar im Gewand des Gesundheitsberaters: Die Internetseite laktoseintoleranz­hilfe.de infor­miert vermeintlich objektiv über diese Unverträg­lichkeit. Noch im April dieses Jahres führte ein Link von der Seite direkt zum Angebot von Mi­nusL, einer Marke für laktosefreie Produkte. Ur­heber der Seite war die HVG­Süd Handels­ und Vermittlungs­GbR. Deren Adresse und Telefon­nummer stimmten allerdings mit jener der Molke­rei Omira überein, zu der die Marke MinusL ge­hört. Nachdem die Verbraucherzentrale Hamburg

Gibt es in Deutschland bald einen Mindest­lohn, dürfen sich Friseure und Kellner freuen. Mitarbeiter von Hochschulen übrigens auch. Zumindest wenn sie in Brandenburg arbeiten. Mancher wissenschaftlicher Mitarbeiter muss sich dort mit weniger als 8,50 Euro Stunden­lohn zufriedengeben, wie eine Anfrage der Grünen im Landtag kürzlich publik machte. Lohndrücker des Landes ist die Technische Hochschule Wildau. Hier haben studentische Hilfskräfte Anspruch auf sechs Euro die Stun­de und – anders als Kellner und Friseure – keine Aussicht auf Trinkgeld.

Das Beispiel zeigt wieder einmal: Hoch­schulen sind schlechte Arbeitgeber. Wer hier beschäftigt ist, muss für wenig Geld viel ar­beiten. Seine Jobsicherheit ist gering, die Aus­sicht auf eine Karriere ebenso. Außer er hat eine Professur. Doch auf einen Lehrstuhl schaffen es bekanntlich nur wenige. Schon immer war die Alma Mater eine Rabenmutter. Max Weber meinte vor 100 Jahren, man dür­fe keinem jungen Menschen guten Gewissens den Rat geben, in die Wissenschaft zu gehen.

Mittlerweile freilich hat die Dum ping­löh ne rei an deutschen Universitäten Aus­maße angenommen, die kein Hinweis auf die »intrinsische Motivation« von Forschern mehr rechtfertigen kann. Dem aktuellen Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs zufolge hangeln sich 68 Prozent der wissen­schaftlichen Angestellten von einem befris­teten Arbeitsvertrag zum nächsten. In den meisten Fällen betragen die Laufzeiten we­niger als zwei Jahre. In Frankreich oder Großbritannien ist die Zahl der befristet be­schäftigten Universitätsmitarbeiter nicht einmal halb so groß.

Für die Schieflage gibt es viele Gründe. Das traditionell feh­lende Verantwortungs­gefühl der Universitä­ten für ihr Personal gehört dazu. Der un­ter Professoren ver­breitete Sozialdarwi­nismus (»Da muss durch, wer in der Wissenschaft etwas werden will«) ebenso. Die Hauptursache für die brüchigen Arbeits­verhältnisse liegt jedoch in den maroden Fi­nanzen. Die für die Hochschulen zuständigen Länder sind pleite, der Bund darf keine Dauerarbeitsplätze finanzieren. Neue Stellen – ob in Lehre oder Forschung – entstehen des­halb nur noch über Drittmittel, die per se be­fristet genehmigt werden.

Bislang hat die Beschäftigungsmisere an den Hochschulen niemanden sonderlich interessiert, die Bildungsgewerkschaft GEW ausgenommen. Das könnte sich ändern. Recht geräuschlos haben sich SPD und Uni­on darauf verständigt, dem Zustand arbeits­rechtlicher Verwahrlosung an den Hoch­schulen in einer möglichen Großen Koali­tion mit Geld und Gesetzen beizukommen. Für einige Zehntausend Mitarbeiter an den Universitäten ist das eine gute Nachricht – wenn dabei mehr herauskommt als die Ver­einbarung eines akademischen Mindest­lohns von 8,50 Euro. MARTIN SPIEWAK

KinderZEIT Wie geht es den Näherinnen in Bangladesch ein halbes Jahr nach dem Einsturz der großen Fabrik? S. 51WISSEN

Viel Erkenntnis, wenig VerdienstDie Universitäten haben kein Geld für ihr Nachwuchspersonal

Wie billig ist Humboldt zu haben?

WISSENHALB

Fortsetzung auf S. 42

Gebündelte Kompetenz Ein Internetministerium für Deutschland – welche Aufgaben könnte es wahrnehmen, wer hätte die Kompetenz? S. 44

LügenbarometerBrecht hatte nicht ganz recht: Auch nach dem Fressen ist es mit der Moral nicht weit her. Zumindest wenn es sich bei dem Mahl um das Mittagessen handelt. Während der Mensch von 8 bis 12 Uhr noch edel, hilfreich und gut ist, sinkt danach sein Moralinspiegel rapide, und er beginnt zu flunkern. Von 15 Uhr an ist ihm kaum noch über den Weg zu trauen, und gegen Abend ist er womöglich so weit, dass er alte Damen per Trickbetrug um die Rente er­leichtern würde. Schuld, sagen US­amerika­nische Forscher, die den Lügenpegel nachge­messen haben wollen, sei die im Verlauf des Tages kontinuierlich nachlassende Selbstkon­trolle. Demnach stehen wir morgens als ehr­liche Biedermänner auf und enden am Abend als schwindelnde Hallodris. Nur bei von vorn­herein ungefestigten Charakteren ist der Effekt nicht nachweisbar. Die lügen offenbar vor dem Frühstück schon so gedruckt wie abends beim Dinner. INK

Zöliakie

HintergrundNur sehr wenige Menschen, leiden an der Autoimmun­erkrankung Zöliakie: in Deutschland zwischen 0,1 und 1 Prozent der Be­völkerung. Sie vertragen das Klebereiweiß Gluten nicht, das in Weizen, Dinkel, Roggen, Gerste und anderen Getreidesorten enthalten ist. Patienten müssen deshalb viele Lebensmittel wie Brot, Müsli, Kuchen, Knödel, Malzkaffee und Bier meiden. Eine immunologische Reaktion auf das Gluten führt dazu, dass sich der Darm chronisch entzündet.

EmpfehlungStellt der Arzt fest, dass ein Patient nicht an einer Zölia­kie leidet, diagnostiziert er oft eine zöliakieunabhängige Weizenempfindlichkeit, die als weitaus häufiger gilt. Manche Betroffene be­richten, dass es ihnen besser geht, wenn sie auf Getreide­produkte verzichten. Siehe auch »Was tun, wenn Essen weh tut?« auf Seite 43.

BauchgrimmenDie Sorge, sich falsch zu ernähren, greift um sich: Viele Deutsche glauben, Gluten, Laktose oder Fructose mache sie krank. Tatsächlich leiden nur wenige wirklich an einer Lebensmittelunverträglichkeit VON SUSANNE SCHÄFER

Titel: Alles unverträglich?Die Angst ist groß: Selbst in Brot oder Milch scheinen Gefahren zu lauern. Die Nahrungsmittelindustrie macht daraus ein Geschäft. So gelingt es ihr, auch völlig gesunden Menschen glutenfreie oder laktosefreie Produkte zu verkaufen

Manchem liegt Brot wie ein Stein im Magen. Das hat

die Künstlerin Katrin Schacke für die ZEIT inszeniert

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diese Täuschung öffentlich gemacht hatte, wurde die Internetseite abgeschaltet.

Derartige Marketingstrategien folgen einem Zeitgeist, der den Alltag der Menschen tief greifend verändert. Das prestigeträchtigste Statusobjekt von heute ist nicht mehr das teure Auto, sondern der dynamische Körper. Men-schen von hohem sozioökonomischem Status achten deutlich mehr auf ihre Ernährung als solche mit niedrigerem. Wer etwas isst, erzählt immer auch eine Geschichte über sich selbst. Wer im Restaurant die Schlachtplatte mit Pommes bestellt, signalisiert eine andere Lebenshaltung als jemand, der gebratenen Tofu mit Gemüse wählt. Letzterer teilt ohne Worte mit, dass er morgen fit sein muss und dass es auf ihn auch die nächsten 30 Jahre noch ankommen wird.

Auch wer sich zu sensibel fühlt, um normales Brot zu essen, verbreitet eine Botschaft. Es ist die Botschaft der Prinzessin auf der Erbse, der die winzige Hülsenfrucht durch einen ganzen Stapel Matratzen den Schlaf zu rauben vermochte. Die Botschaft geht so: »Ihr anderen mögt ja wahllos zugreifen, mein Körper bekommt nur ausgewählte Speisen. Denn er ist empfindlicher als eurer – weil edler.« War es früher verpönt, sich die Rosinen aus dem Kuchen zu picken, ist der picky eater heute ein Ideal, denn er hält größtmögliche Distanz zum gedan-kenlosen Fast-Food-Vertilger. Und die Industrie überlegt, wie man diese hochgezüchteten Individualisten zum Kauf von Massenprodukten verführen könnte.

Manche Verbraucher betrachten schon das Essen an sich als potienziell schädlich

Sie nutzt den Präventionsgedanken für ihre Zwecke: Meide alles, was dich krank machen kann. Viele Kon-sumenten haben diese Sorge derart verinnerlicht, dass sie sogar schon das Essen an sich als potenziell schädlich betrachten. Noch nie war es so einfach, sich zu jeder Jahreszeit gesund und ausgewogen zu ernähren. Und doch treibt viele Kunden die Angst vor versteckten Gif-ten um – angeheizt durch die echten Skandale und Ver-tuschungen der Industrie. Die neue Ernährungsstrategie lautet: Je mehr ich weglasse, desto weniger macht mich krank. Deshalb ist der »frei von«-Hype ein Selbstläufer. Immer neue Internetportale, prominente Kronzeugen und die wachsende Gemeinde der Sensiblen selbst laden den Mythos vom neuen Gesundheitsessen weiter auf.

Wer ein Unwohlsein fühlt oder unter Blähungen leidet, findet in zahllosen Medien die ersehnte Erklä-rung. Einige, deren Beschwerden früher von Ärzten pauschal als »psychosomatisch« abgetan worden wa-ren, bekommen heute eine differenzierte Diagnose, halten Diät und leben beschwerdefrei. »Oft kommt es aber auch vor, dass ein Patient seinem Hausarzt einen Zeitungsartikel auf den Tisch legt und fragt: ›Hab ich das nicht auch?‹«, erzählt Johann Ockenga, Professor für Innere Medizin und Gastroenterologie am Klini-kum Bremen-Mitte. Häufig sei es schwer, den Patien-ten von dieser Vorstellung zurückzuholen. »Wir Medi-ziner sprechen in solchen Fällen vom Morbus Google.«

Ockenga gehört zu den Ärzten, die neue Phänomene wie die Glutensensitivität (eine leichte Variante einer Glutenunverträglichkeit) mit Skepsis betrachten. »Wer lange genug sucht, findet Symptome, die passen.« Vor allem die medial heftig ventilierte Histaminintoleranz ist in der Fachwelt alles andere als geklärt. Histamine bilden sich vor allem in bakteriell fermentierten Nah-rungsmitteln wie Käse und Salami, in Bier und Wein, aber auch in Meeresfrüchten. Die Symptome der angeb-lichen Intoleranz sind unspezifisch: Erschöpfungszustän-de, Hautreizungen, Blähungen, Atembeschwerden. »Manche Wissenschaftler sagen, His ta min into le ranz gibt es gar nicht, die anderen denken: doch. Ich gehöre zu Gruppe eins«, sagt Ockenga.

Der Verdauungsspezialist stemmt sich gegen die Mode der Intoleranzdiagnosen. Manche seiner nieder-gelassenen Kollegen haben aber nichts dagegen, Patien-ten mit Morbus Google auf Histaminintoleranz zu testen. Schließlich lässt sich die Prozedur abrechnen. Der Patient zahlt.

Derweil bestärken sich die Ernährungssensiblen gegenseitig in ihren Verdachtsdiagnosen. In Internet-foren sammeln sich Berichte von Menschen, die sich schlagartig gut fühlen, seit sie auf Laktose, Fruktose oder Gluten verzichten. Vermutlich erzählen sie die Wahrheit, stellen bloß einen falschen Zusammenhang her zwischen Ursache und Wirkung. »Wenn wir den-ken, wir tun uns etwas Gutes, kann es uns tatsächlich besser gehen«, sagt Nanette Ströbele-Benschop, Pro-fessorin für Ernährungspsychologie an der Universität Hohenheim. Den Placeboeffekt gebe es eben auch beim Essen. Und der Preis spielt dabei keine geringe Rolle: »Die billigen Kekse schlingt man runter, von den teuren glutenfreien isst man weniger und bewuss-ter«, vermutet Ströbele-Benschop. Auch diese Selbst-aufmerksamkeit könne guttun.

Bei der Mythenbildung hilft obendrein der Rummel, den Prominente und Scheinprominente um die Sache machen: So haben die Sängerin Lady Gaga, die Spieler-frau Victoria Beckham und die Schauspielerin Miley Cyrus schon alles Gluten von ihren Tellern verbannt und halten die Welt über die wunderbare Wirkung des Ver-zichts auf dem Laufenden. »Die Veränderung deiner Haut, deiner physischen und psychischen Gesundheit ist erstaunlich«, twitterte Miley Cyrus. Weil sie Gluten weglasse, habe sie auch extrem abgenommen. So wird durch medialen Einsatz ein für die meisten Menschen völlig harmloser Inhaltsstoff dämonisiert. »Gluten ist Mist«, schrieb Miley Cyrus und empfahl allen, die ihr auf Twitter folgen, auch darauf zu verzichten.

Prominente Ratschläge, schlaues Marketing und sensible Esser schaukeln sich gegenseitig hoch. So setzt der Verstärkerkreislauf ein und pathologisiert höchst erfolgreich immer neue Zielgruppen. Schon ist glutenfreies Katzenfutter im Handel. Und im neu erschienenen Backbuch Weihnachtsplätzchen für Hun-de geht der Autor endlich auch auf die Festtagsbedürf-nisse des laktoseintoleranten Dackels ein.

www.zeit.de/audio

Die Legende vom bösen Gluten

Mythen über den Weizen gibt es seit Menschengedenken. Er gilt als »Seele der Erde«, »Mutter des Brotes«. Urvater Noah hat ihn mit in die Ar-che genommen, Jesus hat Brot auf wunderbare Weise

vermehrt, die kirchliche Hostie ist ein reines Weizen-produkt. Heute bevorzugen moderne Groß bäcker das Weizenmehl – und servieren mit ihm gleich eine neue Legende: Weizen sei besonders leicht verdaulich und daher das bevorzugte Getreide für geistig Arbeitende.

Patientenakte, Eintrag Anfang 2003: J. v. G. stellt sich mit anhaltenden Bauch-, Gelenk- und Muskel-schmerzen vor. Verdacht: Entzündungsgeschehen. Antibiotika wirken, leider nur vorübergehend.

Doch Weizen enthält, ebenso wie Roggen, Gerste oder Dinkel, eine Mixtur in Verruf geratener Eiweiße: das Gluten. »Glutenfrei«, kurz »GF«, ist die neue Gesund-heitsformel. Trendsetter sind die Amerikaner: Dort will fast jeder Dritte seinen Glutenverzehr drosseln oder aufgeben. Fett- oder kohlenhydratarme Diäten sind von gestern, GF-Diät ist Mode.

Glutenfreie Nahrungsmittel sind ein Milliar den-geschäft. Jeden Monat werfen multinationale Konzer ne neue Produkte auf den Markt. Die Glutenforschung boomt und produziert Tausende Fach artikel. Das führt naturgemäß zu Widersprüchen. Einige Stu-dien zeigen, warum Gluten mehr Menschen belas-ten könnte als gedacht – statt etwa einem Prozent gelten heute fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung als potenzielle Opfer der Eiweiße – andere zeigen, dass Gluten oft fälschlich verdächtigt wird.

Patientenakte, August 2005: Überweisung zu Diffe-rentialdiagnostik in eine Rheuma-Klinik. Unter-suchung des Darmgewebes ergibt das typische Bild einer Zöliakie. Glutenfreie Diät reduziert Bauch-schmerzen, J. v. G. spürt neuen »Energieschub«.

»Verbannen Sie den Weizen aus Ihrem Leben!«, for-dert der amerikanische Präventivmediziner William Davis. Sein Buch Wheat Belly stand monatelang auf

der Bestsellerliste der New York Times. Seit Jahres-beginn liegt die deutsche Übersetzung vor: Weizen-wampe. Warum Weizen dick und krank macht. Das 400-Seiten-Werk verkauft sich wie geschnitten Brot. Davis sieht im Weizen die Wurzel aller Zivilisations-übel wie Fettleibigkeit, Diabetes, Herzkreislauf- oder Krebsleiden. Obendrein mache das Getreide süchtig, warnt er. Es halte »uns ähnlich in den Klau-en wie das Heroin den verzweifelten Junkie«.

Davis ist heute einer der wortgewaltigsten Missio-nare im Glaubenskrieg um gesunde Ernährung. Früher hat er sich mit Toasts, Bagels, Pfannkuchen und Spa-ghetti selbst einen Wabbelbauch angefressen. Entsetzt über seine Blutwerte – Fettwerte exorbitant hoch, Zu-ckerwerte wie ein Diabetiker –, verbannte er eines Tages alle Weizenprodukte aus seiner Kost. Rasch schmolzen die Pfunde, die Blutwerte normalisierten sich. Diese Diät half auch seinen Patienten: Weizen weg, Wampe weg, sogar der Diabetes verflüchtigt sich.

Ein medizinisches Wunder? Wohl kaum! Weizen-mehl besteht vor allem aus Stärke, einem kalorien-reichen Kohlenhydrat. Stärke dient als kompakter Energiespeicher in Körnern, Knollen und Wurzeln. Weil sie Speicherprodukt der Pflanzenphotosynthese ist, besteht sie aus langen Glukoseketten. Unser Ver-dauungsapparat zerlegt diese Ketten wieder in einzelne Zuckermoleküle – wodurch der Blutzucker steigt. Nach dem wiederum giert unser Hirn, Glukose ist sein wich-tigster Treibstoff. Hohe Energiezufuhr fördert aber nicht nur Denkleistungen, sondern auch Fettpolster. Mit den Weizenprodukten verbannte Davis also seine Hauptkalorienquelle. Dass er gesünder und dünner wurde – kein Wunder.

Patientenakte, März 2006: Noch immer anhalten-de Muskel- und Gelenkschmerzen, eine erneute Gabe von Antibiotika wirkt, aber nicht nachhaltig.

Einen kleinen wahren Kern haben Davis’ maßlose Übertreibungen aber doch. Weizen ist zwar ein wichtiges Nahrungsmittel, kann aber tatsächlich krank machen. Neben Kuhmilch, Ei, Soja, Erdnüs-sen oder Fisch zählt er zu den Hauptauslösern von Nahrungsmittelallergien. Schuld daran ist das Glu-ten. Dieses komplexe, immer noch nicht voll er-

forschte Proteingemisch erfüllt im Samenkorn eine wichtige Speicherfunktion: Es liefert keimenden Weizenpflänzchen alle Aminosäuren und Eiweiß-stoffe, die sie zum Wachstum brauchen.

Bei Menschen mit erblicher Vorbelastung kann dieses klebrige Eiweißgemisch das Immunsystem alarmieren, das zur Erkennung gefährlicher Eindring-linge dient. Da Gluten in vielen Getreidesorten vor-kommt und zahlreichen Speisen als Bindemittel zu-gesetzt wird, geraten sensible Immunsysteme derart in Dauerstress, dass sie körpereigenes Gewebe attackieren. So entsteht die sogenannte Zöliakie oder Sprue.

Zöliakie zeigt sich in chronischen Entzündungen des Dünndarms und zerstört allmählich dessen fili-grane Innenwand, insbesondere die Zotten. Das sind feine Verästelungen, welche die Oberfläche der Darm-wand auf etwa 180 Quadratmeter vergrößern und so wichtigen Stoffen aus dem Nahrungsbrei den Übergang ins Blut ermöglichen. Bei Zöliakiekranken schrumpft diese Austauschfläche. Dadurch wird die Aufnahme von Zucker, Fetten, Aminosäuren oder Spuren-elementen gehemmt, und es kommt zu Mangeler-krankungen. Durch die verletzte Darmwand können Mikroben und Fremdstoffe ins Blut eindringen. Die sind in der Darmflora harmlos und helfen teilweise bei der Verdauung. Im Blut können sie tückisch werden.

Patientenakte, Sommer 2007: Mehrere Rückfälle mit heftigen Bauchkrämpfen nach dem Essen.

Je nachdem, welche Nährstoffe nicht mehr durch-dringen und welche ungebetenen Gäste ins Blut ge-langen, kommt es zu sehr unterschiedlichen Symp-tomen. Meist sind sie unspezifisch wie Durchfall, Müdigkeit, Gewichtsverlust, Depressionen, Blut armut. All das macht die Zöliakie so schwer erkennbar, wes-halb viele Patienten nichts von ihrer Krankheit ah-nen. Grobe Schätzungen sagen: Etwa ein Prozent der Bevölkerung könnte darunter leiden. Häufig at-tackiert deren hyperaktives Immunsystem weitere Organe, es kommt zu Diabetes, Rheuma oder Haut-schäden mit brennendem Juckreiz. Ohne Therapie – also strikten lebenslangen Glutenverzicht – kön-nen bösartige Tumoren im Dünndarm oder Lymph-system entstehen. Wie komplex die Diagnose ist,

Laktose- intoleranz

HintergrundWer laktoseintolerant ist, verträgt den Milchzucker Laktose nicht, der etwa in Milch, Frischkäse und Sahne enthalten ist. Die Betroffenen können das Enzym Laktase, das die Laktose spaltet, nicht in ausreichender Menge bilden. In Deutschland sind bis zu 20 Prozent der Be-völkerung laktoseintolerant. Man könnte denken, dass immer mehr Menschen betroffen sind, doch das ist nicht so: Weil die Krankheit heute besser zu diagnostizie-ren ist, werden einfach mehr Intolerante gefunden.

EmpfehlungBetroffene müssen sich kaum einschränken: Milch, Frischkäse oder Sahne sollten sie meiden oder in der laktosefreien Variante kaufen, die meisten festen Käsesorten enthalten durch die Reifeprozesse von Natur aus kaum Laktose.

Bauchgrimmen Fortsetzung von S. 41

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Jeder Fünfte reagiert auf zu viele

Milchprodukte mit Beschwerden

Page 3: DIE ZEIT No 48 WISSEN - gv-bayern.de · ein Tabuthema bei Tisch, heute breitet sich beim gemeinsamen Essen die neue Innerlichkeit aus. Jedes Grummeln im Magen, ... Das liegt an den

21. NOVEMBER 2013 DIE ZEIT No 48 WISSEN 43

Jeder Bauch tut hin und wieder weh. Die beste Strategie ist dann: Nichts tun. Erst wenn starke Symptome wie Übelkeit, Erbrechen, Durchfall,

Schmerzen, Luftnot, Hautausschlag oder Fieber auftreten oder schwächere Symptome länger als drei Monate anhalten, wenn man deutlich an Gewicht verliert oder ein Kind verzögert gedeiht, sollte man etwas unternehmen. Das empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechsel-krankheiten. Bei anhaltenden Beschwerden gilt:

1Nicht googeln. Im Internet kursieren viele falsche Informationen über Nahrungsmittel-unverträglichkeiten. Scheinbar objektive

Seiten werden von PR-Agenturen oder Nahrungs-mittelfirmen betrieben, subjektive Berichte von Betroffenen führen leicht auf die falsche Fährte.

2Keine Diät machen. Selbst wenn man über-zeugt davon ist, an einer bestimmten Unver-träglichkeit zu leiden, kann die Diagnose

falsch sein. Wer Lebensmittel meidet, riskiert durch einseitige Ernährung einen Nährstoffman-gel. Auch die Diagnose wird dann schwieriger: Ist jemand tatsächlich an Zöliakie erkrankt und meidet Gluten für mehrere Wochen, werden Anti körper abgebaut, und die für die Erkrankung typischen Veränderungen am Darm können verschwinden. Die Zöliakie lässt sich dann kaum nachweisen.

3Tagebuch schreiben. Zunächst ist es sinnvoll, eine Ernährungstabelle zu führen, in die man einträgt, was man wann zu sich genommen

hat und welche Beschwerden man hatte. Ein sol-cher Überblick hilft dem Arzt bei der Diagnose.

4Zum Arzt gehen. Die erste Anlaufstelle ist der Hausarzt oder Kinderarzt. Der stellt Fragen zu den Symptomen und überweist zum Gas-

troenterologen oder zum Allergologen, wenn sich der Verdacht erhärtet. Die Diagnosemethode hängt davon ab, welchen Befund die Ärzte ver-muten (siehe unten). Sich bei einem spezialisierten Zentrum, etwa im Uni-Klinikum, vorzustellen ist erst notwendig, wenn alle anderen Versuche die Beschwerden nicht erklären konnten.

5Die Diagnose einer Laktoseintoleranz: Bei manchen Menschen entsteht Laktoseintole-ranz infolge einer Erkrankung, beispielsweise

einer entzündlichen Veränderung im Dünndarm. Im Allgemeinen ist sie aber ganz natürlich: Gene-tisch bedingt, konnte der Mensch Jahrtausende lang nur in den ersten Lebensjahren Milchzucker verdauen, was für ein Säugetier wichtig ist. Nach dem Abstillen verlor er diese Fähigkeit. Erst als der Mensch Viehzucht betrieb und Kühe molk, hatte derjenige einen Überlebensvorteil, der Milch auch als Jugendlicher und Erwachsener noch vertrug. In Skandinavien vertragen heute die allermeisten Menschen Laktose, in vielen Gegenden Asiens sind dagegen fast alle Menschen laktoseintolerant. Für die Diagnose führt der Arzt einen H₂-Atemtest durch. Dazu trinkt der Patient eine Mischung aus Wasser und Laktose. Anschließend wird mehrere Stunden lang in Abständen gemessen, wie hoch die Wasserstoffkonzentration im Atem ist. Diese gibt Aufschluss darüber, ob jene Enzyme, die Laktose spalten, ausreichend aktiv sind.

6Die Diagnose einer Fruktose-Malabsorption: Eine Fruktose-Malabsorption wird zwar häu-figer diagnostiziert als noch vor einigen Jah-

ren, was aber daran liegt, dass die Diagnose heute jedermann bekannt ist – Patienten drängen des-halb oft selbst auf einen Test. Der Eindruck, dass der Anteil jener Menschen steigt, die Fruktose schlecht vertragen, entsteht auch dadurch, dass viele heute große Mengen der Substanz zu sich nehmen: So sind Smoothies echte Fruktose-Bom-ben. Ob ein Patient an Fruktose-Malabsorption leidet, prüft der Arzt auch mit einem H₂-Atemtest: Der Patient trinkt eine Lösung aus Wasser und Fruktose, danach wird der Wasserstoffgehalt in der Atemluft einige Stunden lang gemessen. Auf diese Weise zeigt sich reduzierte Aktivität der Enzyme.

7Die Diagnose einer Glutenunverträglichkeit: Der Arzt nimmt bei Verdacht zuerst Blut ab und untersucht, ob Antikörper gegen das

Enzym Transglutaminase vorhanden sind. Danach werden bei einer Dünndarmspiegelung oft Gewe-beproben entnommen. Seit Kurzem ist es möglich, das Blut daraufhin zu untersuchen, ob eine geneti-sche Prädisposition für eine Zöliakie vorliegt. Der Test ist gut geeignet, die Krankheit auszuschließen: Wer die erbliche Veranlagung nicht hat, hat ziem-

lich sicher auch keine Zöliakie. Um die Krankheit zu diagnostizieren, ist der Gentest allein aber nicht aussagekräftig – denn nur etwa fünf Prozent der Menschen mit genetischer Prädisposition erkran-ken tatsächlich an Zöliakie.

Was tun, wenn Essen weh tut?Kleiner Leitfaden für den Umgang mit unklaren Verdauungsbeschwerden

VON SUSANNE SCHÄFER

erleben viele Patienten. Bei manchen, bei denen nach sorgfältiger Untersuchung eine Sprue festgestellt wur-de, entpuppt sich die Diagnose im Licht moderner Genanalytik als falsch (siehe die Auszüge aus der Pa-tientenakte).

Das kommt häufiger vor, sagt Ansgar Lohse, Magen-Darm-Experte am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. »Die Beurteilung biologischer Proben ist schwierig«, sagt er. Ihn würde es nicht wundern, »wenn ein Viertel der älteren Zö lia kie dia-gno sen, die ohne Genanalytik gestellt wurden, sich bei erneuter Prüfung als falsch entpuppten.«

Patientenakte, Herbst 2009. Erneute Rückfälle. Ver-dacht: Diätfehler durch verstecktes Gluten. Von nun an strikte Glutenabstinenz: kein Brot, keine Nudeln, kein Bier, keine Light-Produkte ...

Während Zöliakie-Diagnosen früher übereifrig gestellt wurden, blieb Gluten als Krankmacher bei einem weit häufigeren Krankheitsbild namens Reiz-darmsyndrom (RDS) oft unerkannt. Auch RDS ist nur schwer diagnostizierbar. Es soll aber deutlich häufiger auftreten als die Sprue und dient als Sam-melbegriff für schwer erklärbare schmerzhafte Ver-dauungsbeschwerden. Oft werden Stress und psy-chische Probleme als Verursacher genannt, doch viele Reizdarmpatienten schwören auf die Wirkung einer glutenfreien Diät. Deshalb testeten italienische Wis-senschaftler um Antonio Carroccio die Reaktionen dieser Patienten auf glutenfreie oder glutenhaltige Kost. Weder Ärzte noch Patienten wussten dabei, ob Gluten verspeist wurde oder ein harmloser Ersatz-stoff. Solche placebokontrollierten Doppelblind-versuche verhindern eine Legendenbildung. Und sie-he da: Gluten verursacht offenbar auch bei Menschen ohne klassische Zöliakie Bauchgrimmen. Dieses neue klinische Bild, vor einem Jahr im American Journal of Gastroenterology beschrieben, heißt zöliakieunab hän-gige Weizenempfindlichkeit.

Die Verursacher der neuen Weizenempfindlich-keit entdeckte Detlef Schuppan, der Leiter des Zöliakie zentrums in Mainz. Der Entzündungs-forscher fand weitere, bisher unbeachtete Reizstoffe im Getreide: eine Gruppe von Eiweißen, kurz ATI

genannt (Amylase-Trypsin-Inhibitoren). Diese wir-ken als Verdauungsblocker und dienen Pflanzen als natürliche Pestizide, indem sie bei Parasiten den Hungertod verursachen.

Die Biowaffe wirkt offenbar auch beim Menschen: Ähnlich wie Gluten alarmieren die ATI das Immun-system. Dieses reagiert wie bei einer Allergie: Beim Einatmen von Mehlstaub kann es das sogenannte Bäckerasthma auslösen. Deshalb leiden viele Müller und Bäcker unter Atemnot und tränenden Augen. Im Magen-Darm-Trakt können die ATI zöliakieähnliche Symptome hervorrufen.

Patientenakte, Mai 2011: Chronischer Infekt mit Chlamydophila pneumoniae wird zufällig entdeckt. Langzeit-Antibiotikatherapie lindert Muskel- und Gelenkschmerzen, diesmal nachhaltiger.

Ernährungsexperten mutmaßen, moderne Getreide-züchtungen seien verantwortlich für die Zunahme der Bauchschmerzen: Neue Hochertragssorten enthielten mehr Gluten und ATI – Letztere, um Pflanzen gegen Schädlingsbefall zu stärken. Ökobäcker triumphieren: Ihr Brot sei gesünder, bestehe aus »seit Tausenden Jahren unveränderten« Getreidesorten wie Urroggen, Einkorn und Kamut und sei deshalb unbelastet von den Neben-wirkungen moderner Pflanzengenetik.

Belege für diese These fehlen: Bäckerasthma wurde schon vor 300 Jahren beschrieben. Eine Nachfrage bei der KWS Saat AG, einem Großanbieter von Getreide-saatgut, ergibt: Resistenz gegen Fraßschädlinge ist bei Weizen kein Zuchtziel. Unabhängige Agrarwissenschaft-ler wie Sven Gottwald von der Universität Gießen sagen, die Fortschritte der Weizenzucht beträfen überwiegend die Ertragssteigerung, kaum die Zusammensetzung der Inhaltstoffe. Wenn sich der Glutengehalt ändere, sei das eher anbau- oder klimabedingt.

Auch der oberste Getreidewächter der Nation sieht die Schuld nicht bei den Züchtern. »Wir konnten keine relevanten Veränderungen feststellen«, erklärt Meinolf Lindhauer, der das Institut für Sicherheit und Qualität bei Getreide am Max-Rubner-Institut in Detmold leitet. Entscheidender für den Verbraucher sei der industrielle Umgang mit Gluten. »Der Einsatz des Stoffes hat ins-gesamt zugenommen, nicht nur bei der Herstellung von

Backwaren«, sagt er. Nahrungsmittelproduzenten inte-ressiert vor allem die hervorragende Bindefähigkeit von Gluten, das auch Klebereiweiß heißt. Es wird beim Befeuchten elastisch wie Kaugummi, hält Teige in Form und Puddings zusammen, festigt Spaghetti oder Würste.

Patientenakte, Mai 2012: Eine erneute Darmspiege-lung weckt Zweifel an Zöliakie. Expertenstreit: Ist ein durch strikte Glutendiät gesundeter Darm unter-scheidbar von einem gesunden Darm?

Als Nebenprodukt der Stärkeindustrie ist das Weizen-protein weltweit günstig und massenhaft im Handel. »Light-Produkte« wie Quark oder Joghurt bleiben mit dem Naturklebstoff schön luftig und sättigen den Esser. Eiweißbrot, vermehrt als Schlankmacher angepriesen, enthält meist sehr viel Weizenkleber und Sojaeiweiß.

Vegetarier und Veganer verspeisen sogar reines Gluten mit dem Fleischersatz Seitan, auch Weizen-fleisch genannt. Viele glutenreiche Produkte wie Ba-guettes oder Ciabattas bestehen aus weißem Mehl, mit höherem Glutenanteil als das ballaststoffreiche Vollkornmehl. Auch wird immer seltener Sauerteig verwendet, der pflanzeneigene Enzyme aktiviert, die Stärke- und Glutenmoleküle in leicht verdauliche Substanzen wie Glukose und Aminosäuren umwan-deln. Getreidewächter Lindhauer weist jedoch darauf hin, all dies seien zwar plausible Annahmen. Aber »eindeutige Beweise fehlen noch«.

Hier liegt ein Hauptgrund für die Unsicherheit der Verbraucher und die grassierende Geschäftemacherei mit Diäten: Wir verstehen immer noch kaum, wie unser hochkomplexer Verdauungsapparat mit Grundnah-rungsmitteln interagiert, ganz zu schweigen von den wachsenden Mengen an Koch- und Backhilfen (wie Gluten) und den exotischen Nahrungsmitteln aus aller Welt. Auf diesem Unwissen gedeihen Selbsttäuschung, Bestseller von Diät-Aposteln wie William Davis und immer wieder neue Legenden.

Patientenakte, Februar 2013: Ein Gentest schließt Zöliakie aus. Nachuntersuchung des seit 2005 auf-bewahrten Darmgewebes ergibt, Sprue-Diagnose war falsch. Bruch der Glutendiät bleibt folgenlos – J. v. G. darf wieder alles essen!

Vor zehn Jahren klagte unser Autor erstmals über starke Bauchschmerzen. Er verzichtete auf Brot und Nudeln. Das schien zu helfen. Nach Jahren der Diät stellt sich nun heraus: Er hat umsonst gedarbt. Die Hintergründe einer Fehldiagnose VON JOHANNES VON GUDOW

Titel: Alles unverträglich?

Fruktose- intoleranz

HintergrundVon einer Fruktose intoleranz sprechen Mediziner nur, wenn jemand an einem angeborenen kompletten Enzymdefizit leidet. Sie kann Leber und Nieren schädigen, ist aber sehr selten. Die harmlose Variante, die Fruktose-Malabsorption, kommt wohl häufiger vor: Bei etwa jedem dritten Er-wachsenen ist die Aufnahme des Fruchtzuckers über den Darm gestört, glaubt die Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und Stoff-wechsel krankheiten. Die weitgefasste Diagnose gilt für alle Patienten, die Beschwerden bekommen, wenn sie mehr als 25 Gramm Fruktose pro Stunde zu sich nehmen (so viel ist in 400 Gramm Äpfeln oder 60 Gramm Honig enthalten).

EmpfehlungDer Körper kann Fruktose generell nur in begrenzter Menge verarbeiten. Auch den meisten Gesunden zwickt der Bauch, wenn sie mehr als 35 Gramm Fruktose pro Stunde zu sich nehmen. Zurückhaltung hilft.

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Fruchtzucker kann der Körper nur begrenzt verarbeiten