»Die Zukunft gehört den Phantomen« - Kunst und Politik ... · Inhaltsverzeichnis Monika...

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Aus:

Artur R. Boelderl, Monika Leisch-Kiesl (Hg.)

»Die Zukunft gehört den Phantomen«Kunst und Politik nach Derrida

Juni 2018, 430 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-4222-3

»Die Zukunft gehört den Phantomen«, so Jacques Derrida 1983 im Film Ghost Dance. In seinerZukunft – unserer Gegenwart – begeben sich die Autor_innen dieses Text-Bild-Bandes auf derenSpuren in Kunst-, Literatur- und Musikwissenschaft, politischer Philosophie, Kunst und Psychoana-lyse.Am Leitfaden seiner Abarbeitung an der UnGestalt des Phantoms zeichnen Derrida-Kenner und-Leser ein eindrückliches Bild der Dekonstruktion und zeigen, dass diese nichts mit einer früher oftunterstellten Vorliebe für Obskurantismus gemein hat noch vom aktuell erhobenen Vorwurf derWirklichkeitsverweigerung getroffen wird, sondern im unendlichen Dienst einer radikalen Aufklä-rung der Vernunft über sich selbst steht.Mit einem erstmalig auf Deutsch erscheinenden Beitrag von Jacques Derrida.

Artur R. Boelderl, geb. 1971, Universitätsdozent für Philosophie an der Alpen-Adria-Universität Kla-genfurt (AAU), ist Senior Scientist im FWF-geförderten Forschungsprojekt MUSIL ONLINE –interdiskursiver Kommentar am dortigen Robert-Musil-Institut für Literaturforschung sowie Redakteurdes RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse Freud-Lacan. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Philosophie des20. Jahrhunderts und der Gegenwart, bes. Phänomenologie, Hermeneutik und Dekonstruktion, Text-und Literaturtheorie, Philosophie und/der Psychoanalyse sowie Literaturvermittlung.Monika Leisch-Kiesl, geb. 1960, ist Universitätsprofessorin für Kunstwissenschaft und Ästhetik ander Fakultät für Philosophie und für Kunstwissenschaft der Katholischen Universität Linz. IhreArbeitsschwerpunkte sind u.a. Kunsttheorie und Ästhetik, Text und Bild, Gegenwartskunst,Zeichnung, Gender Studies sowie Kunst in inter- und transkulturellen Kontexten.

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Inhaltsverzeichnis

Monika Leisch-Kiesl9 Die Zukunft gehort den Phantomen. Ein Brief, 2015_2017

Jacques Derrida17 Prägnanzen. Lavierungen Colette Deblés

Jane Tormey37 The Ghost in the Image

Carolin Meister63 Tragweiten des Trägers. Zerstreutes zur Zeichnung im Film

Monika Leisch-Kiesl83 „le trait – le retrait“. Der Einschnitt | entame [in] der Zeichnung

Hans-Joachim Lenger109 Dead Letters. Die Formeln Derridas

Daniel Martin Feige127 L’avenir in Jazz – L’avenir des Jazz

Sophia Panteliadou / Magda Sorger-Domenigg151 Gespenster und Geheimnisse

Sophia Panteliadou151 Von der ‚Phantomalität‘ der Dinge

Magda Sorger-Domenigg165 Das Schweigen des Phantoms

Martin A. Hainz177 Phantomschmerzen

Artur R. Boelderl199 Romantische Vorrede zur Logik der Bilder

Safaa Fathy / Artur R. Boelderl201 D’ailleurs Derrida: Die Zeit der Gabe. PhantoPhotoroMan

Elisabeth Schäfer209 „The Origin of Tears“ – Derridas Zirkumskriptionen der Korper

Andreas Oberprantacher227 Phantome zwischen uns. Einem ominosen Phänomen namens

„Illegale“ auf der visuellen Spur

Detlef Thiel253 „Wir wittern Morgenluft, wir alten Gespenster“.

Friedlaender/Mynonas phantomatische Lektüre von Derridas Marxbuch

François-David Sebbah283 Abstand und Nähe: Levinas / Derrida

Matthias Flatscher305 Derridas „Politik der Alterität“.

Zur normativen Dimension des Kommenden

Alain David335 Das Fehlen von Antisemitismus genügt keineswegs

Georg Christoph Tholen361 Die Différance und das Politische.

Eine Spurenlese zum Früh- und Spätwerk Jacques Derridas

Artur R. Boelderl405 Als ob er tot wäre: v-e-r-sprechen, phantomatisch und konkret

417 Register424 Beitragende

DIE ZUKUNFT GEHÖRT DEN PHANTOMEN. EIN BRIEF, 2015_2017

Monika Leisch-Kiesl

Linz, 15. Oktober 2015

Lieber Artur,

Ich antworte auf Dein Exposé mit einem Brief – und moglicherweise wird ja ein Vorwort daraus …

Ich habe mir nochmals die Ausgangsfrage unseres im September 2014 anlässlich des 10. Todestages Jacques Derridas veranstalteten Kolloquiums „Die Zukunft gehört den Phantomen.“ Kunst und Politik (in) der Dekonstruktion vor Augen geführt. Genauer gesagt, die kurze Filmsequenz aus Ken McMullens Ghost Dance aus dem Jahr 1983, in der Derrida auf die von Pascale Ogier gestellte Frage „Glauben Sie an Phantome?“ antwortet: „Das ist eine schwierige Frage. Erstens, Sie fra-gen ein Phantom, ob es an Phantome glaubt. Hier bin ich das Phan-tom. Seit ich gefragt wurde, ob ich in diesem mehr oder weniger im-provisierten Film meine eigene Rolle spiele, habe ich den Eindruck, ein Phantom für mich sprechen zu lassen.“ Und weiter: „Das Kino ist eine phantasmatische Kunst.“1 Die modernen Technologien und Formen der Telekommunikation hätten nicht, wie erwartet, die Zeit der Phantome hinter sich gelassen. Ganz im Gegenteil, „vivent les fantômes!“ Die viel-zitierte Aussage hat aufs erste gehort medientheoretische, moglicher-weise auch medienkritische Aspekte.

1 Vgl. www.youtube.com/watch?v=0nmu3uwqzbI [15.10.2015], Übers. M.L-K.

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Nun haben wir diesen Satz von Anfang an nicht primär in einem filmtheoretischen Sinn begriffen. Indessen, wenn es für Derrida, spätes-tens seit De la Grammatologie, auch kein ‚Außerhalb des Textes‘ gibt und er auf keine Realität jenseits der Phantome zielt, so verdient dieser formale, genauer mediale Aspekt doch explizit Beachtung.

Die Phantome bilden die eine Seite der Frage. Was sind die Phanto-me Derridas? Wo sind sie? Und welche Rolle(n) spielen sie?

Die andere Frage gilt dem, wie Du auch in Deinem Exposé mar-kierst, oft beschworenen „avenir/à venir“, jener Zukunft, die stets im Kommen bleibt und nie ankommt.

Handelt es sich dabei um Fragen der Kunst bzw. Ästhetik oder viel-mehr um Fragen der Politik bzw. Ethik?

Ich bin den Fährten, die wir auf der Konferenz erprobt haben, noch-mals nachgegangen.2 Da sind jene Beiträge, die stärker am Strang der Kunst, und jene, die stärker am Strang der Politik ziehen. Manches ge-horte noch pointiert, und einige Aspekte würde ich gerne hinzufügen.

Zunächst zum l’avenir der Kunst: Thomas Rosch fragte nach der Mog-lichkeit des Singulären im Medium der Dichtung. Gibt er damit auch einen Hinweis auf das Phantom? Was verbirgt sich hinter deinem Titel „Écrire pour ne pas peindre“ – Derrida über Colette Deblé? Ein Plädoyer für das Schreiben anstelle des Malens? Was hat das Schreiben dem Malen voraus? Oder kommt es danach? Hier konnte Markus Mittmans-grubers Gedanke zum Unbehagen des Aufschubs anschließen und wei-ters Hans-Joachim Lengers Nachzeichnung von Bartlebys ‚I would prefer not to‘.

Von hier ließe sich ein Bogen zur Zeichnung, zur Malerei, kurz zu den bildenden Künsten – wie sie in einer überkommenen, doch miss-verständlichen Terminologie heißen – spannen. Zunächst Le trait / en

2 Zur Konzeption und zu den Vortragenden der Tagung vgl. www.ufg.ac.at/Archivdetail.2020+M50e5b34fcf5.0.html?&tx_ttnews%5Bpointer%5D=3 [16.10.2015].

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EIN BRIEF, 2015_2017 |

son retrait, wie ich es an der Tagung hinsichtlich der Zeichnungen Toba Khedooris ausgeführt habe – ich würde hier (da zeitgleich mein Buch zu Toba Khedoori erscheinen wird) jedoch eine andere zeichnerische Position ins Spiel bringen. In La Vérité en peinture läge noch eine Reihe weiterer moglicher Bezugspunkte; das ginge dann stärker in die Tradi-tion der Ästhetik und Kunsttheorie (Hegel, Kant, Heidegger, Benjamin). Wer konnte diese Texte gut gegen den Strich bürsten? Und moglicher-weise die Spuren des Phantoms ausloten? Vielleicht Dieter Mersch? Peter Schnyder? Zudem würde mich ein neuer Zugang zu Derridas frü-hen Schriften zu Artaud reizen, eventuell auch in einer Gegenüber-stellung zu Bataille – ob Markus Klammer, vor dem Hintergrund seiner Freud-Interpretation, hier fündig werden konnte? Ich werde ihn sowie andere potentielle AutorInnen kommende Woche an der eikones- Tagung treffen, und kann im Zuge dessen das eine oder andere Gespräch führen.

Julia Allerstorfers Ausführungen zu künstlerischen Strategien der Mimikry führen die Virulenz der différance sehr plastisch vor Augen. In Positionen wie jener Shahram Entekhabis verbinden sich zudem künst-lerische Strategien mit politischen Pointen.

Bislang unangetastet haben wir den Bereich der Architektur. Mark Anthony Wigley wäre ein interessanter Autor, ich müsste aber klären, inwieweit auch die Phantome für ihn ein Thema wären. Du schreibst davon, dass Derrida sich auch mit Jazz befasste. Ich vermute, dass sich von hier aus manche Spur zum Phantom legen ließe. Katrin Eggers wäre eine mogliche Autorin, oder auch Daniel Martin Feige. Und sehr gerne hätte ich Susanne Lüdemann mit im Boot; ihre Übersetzernotiz in Marx’ Gespenster würde sie für unser Fragen geradezu prädestinie-ren.

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Stark im Ohr habe ich noch Detlef Thiels wie endlos wirkende Ausfüh-rungen zu Friedlaender / Mynonas Lektüre von Derridas Marxbuch – war da nicht die Rede von den „Gespenstern, die in Europa umgehen“? Damit wären wir gewissermaßen bei der Politik – les fantômes – ange-kommen. Elisabeth Schäfer sprach, im Anschluss an Mémoires d’aveugle, von den Tränen. Und Martin A. Hainz las vom (m)ich und suchte an einer Stelle das Gespenst als eine „Halluzination mit Wirklichkeitsge-halt“ zu fassen. Martin G. Weiß sprach von der Utopie – konnte er diese eventuell vom Phantom her einer gewissen Kritik unterziehen? Weiß die Utopie moglicherweise bereits zu sehr um das Ziel …?

Hinsichtlich Ethik /Politik bin ich weniger firm. Das ist stärker Deine Domäne! Doch ich würde jedenfalls gerne mehr darüber horen/lesen, wie das Phantom sich in der Polis einnistet, bzw. wie sich im ‚à venir’ handeln lässt.

Stefan Rois müsste seine Gedanken zur Gastfreundschaft noch wei-ter ausführen und zum Begriff des Phantoms in Beziehung setzen. Ich habe diesen Sommer Anne Dufourmantelles Einladung in der deut-schen Edition Von der Gastfreundschaft gelesen. Sie spricht hier davon, „dem Ort Statt [zu] geben“ (donner lieu au lieu) und bezieht diesen Gedanken auf das Denken Derridas: „Es ist, als wohne man einem Den-ken bei, das eben im Moment seiner Äußerung denkt. Der hier laut phi-losophiert, entwickelt keine glatte und eindeutige Grundlage, sondern exponiert ihre Risse. Er räumt dem Erstaunen Platz ein, dem, was in der Ergriffenheit des Erschreckens die Reflexion unterbricht“ – und sie kommt am Ende des Textes auf die Gespenster zu sprechen. Man müs-se die Gastfreundschaft auch gegenüber dem Tod denken; „[d]er Tote, der uns besucht/heimsucht, ist das Gespenst (spectre)“.3 Ob wir sie für einen Beitrag – rund fünfzehn Jahre danach – gewinnen konnten?

3 Dufourmantelle, Anne, Einladung, in: Derrida, Jacques, Von der Gastfreundschaft, a. d. Franz. v. Markus Sedlaczek, hg. v. Peter Engelmann, Wien 2001, 111–144, hier 114, 116, 142 [De l’hospi-talité, 1997].

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EIN BRIEF, 2015_2017 |

Matthias Flatscher stellte die Frage nach einer Politik der Alterität und verortet die U-topie zwischen Zukunft und Vergangenheit. Hier konnte Alain Davids Um-schreiben des Antisemitismus anschließen. In François-David Sebbahs Konfrontation von Antlitz (Levinas) und Spur (Derrida) ruht meines Erachtens ein starkes Potential für die Registrie-rung des Phantomatischen im Denken Derridas, nicht zuletzt im Zu-sammenhang des Fragens nach dem Politischen. Zur Erkundung der Spur, weniger in ihrer indexikalischen als vielmehr evokativen Bedeu-tung, wäre von Sibylle Krämer manch reizvolle Pointe zu erwarten.

Sehr dicht und grundlegend fand ich den Beitrag von Georg Chris-toph Tholen. Das ‚es gibt’ des Entzugs, das Rumoren im Denken der Zeit, ein Vielleicht, das aber doch etwas anderes als das Phantom zu sein scheint, sind, wie mir scheint, lohnende Gedanken in unserem Fra-gekontext. Gut wäre, er konnte den Begriff der différance auch noch auf das Phantom im Kontext einer Theorie der Politik beziehen. Ich werde ihn in den nächsten Tagen treffen und mochte mit ihm über seinen Text, aber auch über die von uns bislang ausgelegten Fährten sprechen.

Und schließlich sind da noch die eindrücklichen Fotografien Safaa Fathys, die im Zuge der Dreharbeiten zum Film D’ailleurs Derrida (2000) entstanden, ein berührendes filmisches Porträt dieses suchenden Den-kers, das den Auftakt des Derrida-Kolloquiums 2014 bildete – als ein Epilog des Buches?

Soweit erstmalMonika

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| Monika Leisch-Kiesl

Basel, 15. September 2017

Lieber Artur,

es ist ein langer Weg geworden, auf dem wir nicht nur Zeitpläne revi-dieren mussten, sondern sich auch die Konturen mehrmals verändert haben.

Nicht alle Vorträge haben Eingang in den Band gefunden; Forscher- Innen, die wir zu gewinnen suchten, waren verhindert oder haben sich wieder entzogen – dennoch haben sie ihre Spuren hinterlassen und an der Profilierung der Blick- und Gedankenführung mitgewirkt. Mit Jane Tormey und Andreas Oberprantacher haben sich zwei weitere pointier-te Beiträge eingefügt, zu Fragen der Ästhetik der eine, zu Fragen der Ethik der andere.

Während der gesamten Projektphase war eine Bildmontage von Julia Allerstorfer ein nicht unwesentlicher Impulsgeber: Angeregt durch den Folder des Linzer Kolloquiums hat sie einem Bildausschnitt von Safaa Fathys Fotografie Derrida filming from house Laguna Beach, California eine Fotoarbeit des iranischen Künstlers Shervin Shamlou gegenübergestellt. Trotz intensiver facebook-Kommunikation ist Shervin ein Phantom geblieben.4 Es war nicht moglich, ihn hinsichtlich einer anscheinenden Auseinandersetzung mit dem Denken Derridas zu befragen.

Soweit alsoMonika

4 Zu weiteren Arbeiten des Künstlers vgl. www.instagram.com/shamloushervin/ [15.09.2017].

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EIN BRIEF, 2015_2017 |

Unser Dank gilt allen, die die Publikation in der vorliegenden Form moglich gemacht haben. Das sind die Vortragenden, die temporären Weggefährten, die AutorInnen, Marguerite Derrida für die Überset-zungsrechte von Prégnances, die KünstlerInnen, insbesondere Colette Deblé, Safaa Fathy, Birgit Petri und Shervin Shamlou für die Bildrechte an ihren jüngeren Arbeiten, der Grafiker sowie der Verlag. Es sind nicht zuletzt die finanziellen Forderer der Publikation: der Forschungsrat der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, der Bischofliche Fonds zur Forde-rung der Katholischen Privat-Universität Linz, die Günter Rombold Privatstiftung, die Energie AG Oberosterreich sowie die Fakultät für Kulturwissenschaften der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.

Monika Leisch-Kiesl und Artur R. Boelderlim Dezember 2017