DieKunst, besser zuleiden - BORBET...

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VIII LITERA TUR VIII Die Presse.com/spectrum Samstag, 27. März 2004 Die Medizin ist bemüht, den Schmerz aus seinem kulturellen Kontext zu lösen, um ihn besiegen zu können. [Foto: Alexander Schlee ] Die westliche Medizin über- nimmt sich, wenn sie nur benennt, was zu sehen ist, wegschneidet, wasstört, und das Klagen medikamentös zum Schweigen bringt. V ariationen über den Schmerz. Von Martina Wittels Die K unst, besser zu leiden I n seiner Kulturgeschichte über den Schmerz folgt der Soziologie- professor David Le Breton ei- nem der treuesten Begleiter der Menschheit. Er stellt dem Schmerz in unter- schiedlichen Epochen und unter verschie- denen sozialen Gegebenheitennach und stöbert Rituale auf, die bis zum heutigen T ag rund um den Schmerz praktiziert werden. So erfährt man, dass die körperliche Züchtigung in den Schulen erst im 16. Jahr- hundert Einzuggehalten hat. Diese Errun- genschaftwar der Geistlichkeit zuzuschrei- ben. Zuvor wurden V erstöße gegen die Ord- nung mit der Erfüllung von Diensten, die der Gemeinschaft zugute kamen, bestraft. Über die Marter lässt Le Breton uns wissen, dass sie nach genauen Regeln kalkuliert wurde, in denen jedes V ergehen einem kon- trollierten Maß an Leiden entsprach. Die Folter hingegen habe nur ein Ziel: die Zer- störung des Opfers, das einzig und allein der individuellen Grausamkeit des Folterers ausgesetzt ist. David B. Morris, Professor für Englische Literatur, fügt in seinem Buch Die Ge- schichte des Schmerzeshinzu, dass die Folter im Mittelalter legalisiert war und in dieser Zeit auch für die Folter festgeschrie- ben stand, bis zu welchem Gradder Schädi- gung der Wahrheit, die man für die Ur- teilssprechung benötigte, auf die Sprünge geholfen werden durfte. In Michel Foucaults Überwachen und Strafen, worauf beide Autoren sich beziehen, heißt es dazu, dass essich bei dieser Art gerichtlicher Folter nicht um die hemmungslose Folter moder- ner Befragungenhandelte, sie sei zwar grausam, aber nicht entartetgewesen. Es gibt hingegen Situationen, in denen große Schmerzen infolge kultureller Prä- gung widerstandslos hingenommen wer- den. Le Breton beschreibt Initiationsriten, die den Prüfling fast das Leben kosten, doch der erträgt sie klaglos, um als vollwertiges Mitglied in der Gruppe Aufnahme zu fin- den. Die T apferkeit gilt als Garant für das Überleben der Gemeinschaft. Der Schmerz dient dieser alsstarkessoziales Bindeglied. Über den Sinn des Schmerzes kann wahr- scheinlich nur aus beträchtlicher Distanz nachgedacht werden. Als Ärztin, in deren Fachgebiet die Schmerztherapie gehört, gehe ich mit Le Breton in vielen Dingen, die er über unsere Arbeit schreibt, nicht kon- form. Seine V orstellungen darüber sind vage bis unrichtig, seine Behauptungen pathe- tisch bis esoterisch. V on allemmöchteer ein bisschen ein wenig medikamentöse Schmerztherapie, nicht zu viel, damit das Sterbennoch bewusst erlebt werden kann. Eine Palliativmedizin wie aus dem Bilder- buch: sanft, effizient und jede Unbequem- lichkeit sofort behebend. Wenn dieses Ideal nicht erreicht werden kann, wird ein Unter- gangsszenario angeboten, das in der Bitte um Tötung auf V erlangen des Schmerz- gepeinigten gipfelt. Le Breton spricht vom totalen Schmerz, der das Lebensende oft begleitet. Diesen Schmerz gibt es in der medizinischen Nomenklatur nicht. Der to- tale Schmerz ist Propaganda. Alfred V elpeau, französischer Chirurg, machteessich 1847 anlässlich einer V er- sammlung der Akademie der Wissenschaf- ten, in der man die bahnbrechende Neuig- keit der Allgemeinanästhesie durch Lachgas und Äther diskutierte, leicht, indem er be- merkte: Ob ein Kranker nun mehr oder we- niger leidet, sollte das etwassein, was für die Akademie der Wissenschaften von Inter- esse ist?T rotz derrüden Ignoranz mancher Ärzte sie kanntennichts anderes als Pa- tienten, die währendder chirurgischen Ein- griffe von maskierten, schwarz gekleideten Helfern am Tisch festgehalten werden mussten setzte sich die Anästhesie durch. Kaum glaubte man den Schmerz unter Kontrolle gebracht zu haben, tauchteer in immer neuen V erkleidungen, oft perfider als zuvor, wieder auf: Hundert Jahre nach V el- peau beschreibt der gleichfalls in Frank- reich geborene Chirurg Ren´ e Lericheeinen Patienten mit einer chronischen Schmerz- krankheit: V on dem Augenblick an, wo der David Le Breton Schmerz Eine Kulturgeschichte. Aus dem Fran- zösischen von Maria Muhle, Timo Obergöker und Sabine Schulz, 268 S., geb., € 25,80 (Diaphanes Verlag, Berlin) David B. Morris Geschichte des Schmerzes Aus dem Englischen von Ursula Gräfe, 460 S., geb., € 13,40 (Insel Verlag, Frankfurt/Main) Schmerz besteht, ist der Kranke außer sich gebracht, außerhalb seiner analytischen Möglichkeiten, wenigstens dann, wenn er sich nicht im Gegenteil ganz auf sein Leiden konzentriert. Und man steht da, unfähig zu verstehen, verstört vor diesem Abgrund, in den mannicht hinabsteigen kann, und ver- sucht ohne Erfolg, sich ein Bild zu machen. Man berührt mit der Hand leicht den schmerzhaften Bezirk und ist erstaunt, nichts wahrzunehmen, löst aber dort häufig schreckliche V erschlimmerung aus.So einfach lässt sich der Begleiter der Menschheit also nicht verscheuchen. Die nur teilweise gelungenen V ertreibungsver- suche nötigen uns, immer neue Betrachtun- gen über den Schmerz anzustellen. Bereits 1948 schöpfte der Physiologe und Psycho- loge Buytendijk V erdacht: Die bürgerliche Haltunggegenüber dem Schmerz hat jede Einsicht in die subtile Beziehung zwischen Krankheit, Schmerz und persönlichem Le- ben verschüttet.Die Medizin ist seit den T agen des Chirurgen V elpeau bemüht, den Schmerz ausseinem kulturellen Kontext zu lösen, um ihn besiegen zu können, doch sie übersieht, dass der Schmerz ein soziales Reich bewohnt, dassich ganz außerhalbdes medizinischen Einflussbereiches befindet. Schmerz ist ein von der Gemeinschaft ge- prägtes Ereignis. V on der Mutter, innerhalb der Familie, wirddie Widerstandsfähigkeit gegenüber Schmerz erlernt und ein akzep- tables Maß definiert. Die Gemeinschaft, die soziale Gruppe bestimmt, wie auf den Schmerz reagiert und wie viel von ihm er- tragen wird. Sie gibt vor, wie sich der Dulder des Schmerzes zu verhalten hat. Klagt er zu wenig, fühlen sich die Mitmenschen zurück- gewiesen, da ihr T rost, zu dem sie verpflich- tet sind, nicht erwünscht scheint; klagt er zu viel, wird nur so lange V erständnis und Hilfe gewährleistet, solange die Nahestehenden noch glauben, dass der Leidende gesund werden will. Die mehr oder weniger begründete Mei- nung, dass die Schulmedizin im Stande ist, jeden Schmerzzu beseitigen, ruft bei nicht wenigen Kranken, bei denen die Behand- lung scheitert, Verzweiflung unddas Ge- fühl, allein gelassen zu werden, hervor, schreibt Le Breton. Wenn alles versucht wurde undder Erfolg ausbleibt, denkt auch der eifrige Schmerztherapeut, dass hinter der Erfahrung seines Patienten ein gehei- mer anderer Grund stecken muss. Bietet er eine psychologische Begutachtung nur infolge seiner Ratlosigkeit und nicht als T eil eines interdisziplinären Konzepts an, ist die Enttäuschung des Schmerzpatienten meist groß, weil er sich als unglaubwürdig enttarnt fühlt: Was ist das, was ich fühle, wenn es dafür keinen Namen in der Medi- zin gibt?Diese Frage nach dem Namen, nach der Diagnose, scheint indes mit der Sinnfrage ident zu sein, denn der Schmerz ist einge- bettet in offizielle und inoffizielle Denksys- teme, die ihn mit einem zeitgebundenen Sinn ausstatten theologisch, naturwissen- schaftlich oder psychologisch. Schmerz wird auf eine sehr ähnliche Weise gedeutet wie die Welt, so der Literaturwissenschaft- ler David B. Morris in Die Geschichte des Schmerzes. Wiewohl dieses Buch bereits 1994 erschienen ist, wird es weder an V er- ständlichkeit noch an Formulierungskunst durch einneueres Werk überboten. Um der Sinnfrage näher zu kommen, bie- ten die Autorenneben dem psychologi- schen Zugang noch andere Modelle an: so zum Beispiel das biblische Gleichnis Hiobs oder die Erzählung Iwan Iljitschvon T olstoi. Iwan Iljitschs Schmerz begann bedeutungslos und steigerte sich bis zu einem Maß, dass Iljitsch drei T age hindurch wie außer sich schrie. Der Schmerz offen- barte ihm seine V erbindung zum T od. Dann hörte Iljitsch zu schreien auf. Er hatte sei- nen Schmerz bis zu einem Zustand spiri- tueller Erweckung durchlaufen: ,Undder Schmerz?fragt er sich.,Wo ist der hin? Ja, wo ist der Schmerz?Und er horcht auf.,Ja, da ist er. Nun, meinetwegen.Wer nun glaubt, diese Geschichte hätte keinen Bezug zuunserem heutigen Leben, irrt. Unter den Besuchern einer Schmerz- ambulanz findet man immer wieder Men- schen, die nach vielen Therapieversuchen nur wenig Besserung erfahren, an Neben- wirkungen leiden oder denen die Fahrten ins Krankenhaus zu anstrengend werden; dann beschließen sie, lieber so zu leben, als den zehrenden Wunsch nach Beschwerde- freiheit weiter zu hegen. Sie sind zwar nicht in den Genuss der Kunst des Lebens ohne Leidengekommen, wohl aber in die Kunst, weniger zu leiden, indemman besser zu lei- den vermag. Die Geschichte von Hiob ist dieeines auf- rechten, unschuldigen Mannes, der alles verliert, leidet und zu wissen verlangt, wa- rum. Hiob ist weniger an der Erlösung von seinen Schmerzen interessiert als an einer annehmbaren Erklärung für seine Bestra- fung. Die Antworten, die Gott nach langem verzweifeltem Ringen Hiobs bereit ist zu geben, belegennur Gottes Macht unddie Schwäche des Menschen. Das Leiden des unschuldigen Menschen soll ein undurch- dringbares Geheimnis bleiben. Der Befreiungstheologe Gustavo Guti ´ er- rez hingegen geht davon aus, dass Schmerz ein Stigma der Armen sei unddass es billig ist, die Belohnung im Jenseits zu verspre- chen. V ehement besteht er darauf, Leiden nicht mehr als individuelles Schicksal zu begreifen, sondern von einem kollektiven Schmerz der armen Massen zu sprechen. Indem Guti ´ errez die sozialen und ökonomi- schen Ursachen benennt, die ganze Völker im Leid festhalten, bekommt der Schmerz eine neue, eine politische Dimension. Die Erlösung des Menschen ist, darauf will Gu- ti ´ errez hinaus, durchaus im Diesseits zu er- reichen. In einer Welt der kulturellen Vielfalt wird sowohl nach einer medizinischen Pluralität verlangt als auch nach einer Pluralität der Sinnfrage. Jeder Menschhat im Leiden das V erlangen, einen Grund für sein Leiden be- nennen zu können. Die westliche Medizin übernimmt sich aber, wenn sieengstirnig nur benennt, was zu sehen ist, wegschnei- det, wasstört, unddas Klagen medikamen- tös zum Schweigen bringt. In Lateinamerika wird zu Beginn jeder längeren Busreiseeinem Heiligen, dem am Straßenrand ein winziger Altar errichtet worden ist, vom Chauffeur eine Gabe dar- gebracht: eine Kerze, eine Blume, ein paar Centavos. Man versteht bald, warum: Der Fahrstil lässt ein Ankommen am Zielort unwahrscheinlich erscheinen. Daher beob- achten die Reisenden genauund abergläu- bisch, ob alles dem Ritual entsprechend erledigt wird. Die kleine Opfergabe ver- spricht Sicherheit. Hat in Lateinamerika je- mand Schmerzen, sucht er meist zuerst einen Schamanen auf. Der verlangt von sei- nen Kunden Rosenwasser, Nelken und Schnaps, damit wird er die Götter gütig zu stimmen versuchen. Ofttrinkt er selbst vom Schnaps und wartet: Die Götter sind nicht immer bereit. Vielleicht verlangen der Schmerz unddie nicht zu lösende Frage nach seinem Sinn von uns neben Wissen und Können auch Gleichmut und immer wieder auch eine Opfergabe an einem metaphorisch ge- sprochen Marterl. Q dpsp 27.03.04 "008 SPECTRUM "

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Die Medizin istbemüht, denSchmerz ausseinem kulturellenKontext zu lösen,um ihn besiegen zukönnen.[Foto: Alexander Schlee]

Die westliche Medizin über-nimmt sich, wenn sie nurbenennt, was zu sehen ist,wegschneidet, was stört, unddas Klagen medikamentöszum Schweigen bringt.Variationen über den Schmerz.

Von Martina Wittels

Die Kunst,besserzu leiden

In seiner Kulturgeschichte überden Schmerz folgt der Soziologie-professor David Le Breton ei-nem der treuesten Begleiter der

Menschheit. Er stellt dem Schmerz in unter-schiedlichen Epochen und unter verschie-denen sozialen Gegebenheiten nach undstöbert Rituale auf, die bis zum heutigen Tagrund um den Schmerz praktiziert werden.So erfährt man, dass die körperliche

Züchtigung in den Schulen erst im 16. Jahr-hundert Einzug gehalten hat. Diese „Errun-genschaft“ war der Geistlichkeit zuzuschrei-ben. Zuvor wurden Verstöße gegen die Ord-nung mit der Erfüllung von Diensten, dieder Gemeinschaft zugute kamen, bestraft.Über die Marter lässt Le Breton uns wissen,dass sie nach genauen Regeln kalkuliertwurde, in denen jedes Vergehen einem kon-trollierten Maß an Leiden entsprach. DieFolter hingegen habe nur ein Ziel: die Zer-störung des Opfers, das einzig und alleinder individuellen Grausamkeit des Folterersausgesetzt ist.David B. Morris, Professor für Englische

Literatur, fügt in seinem Buch „Die Ge-schichte des Schmerzes“ hinzu, dass dieFolter im Mittelalter legalisiert war und indieser Zeit auch für die Folter festgeschrie-ben stand, bis zu welchem Grad der Schädi-gung der „Wahrheit“, die man für die Ur-teilssprechung benötigte, auf die Sprüngegeholfen werden durfte. In Michel Foucaults„Überwachen und Strafen“, worauf beideAutoren sich beziehen, heißt es dazu, dasses sich bei dieser Art gerichtlicher Folter„nicht um die hemmungslose Folter moder-ner Befragungen“ handelte, sie sei zwar„grausam, aber nicht entartet“ gewesen.Es gibt hingegen Situationen, in denen

große Schmerzen infolge kultureller Prä-gung widerstandslos hingenommen wer-den. Le Breton beschreibt Initiationsriten,die den Prüfling fast das Leben kosten, dochder erträgt sie klaglos, um als vollwertigesMitglied in der Gruppe Aufnahme zu fin-den. Die Tapferkeit gilt als Garant für dasÜberleben der Gemeinschaft. Der Schmerzdient dieser als starkes soziales Bindeglied.Über den Sinn des Schmerzes kann wahr-

scheinlich nur aus beträchtlicher Distanznachgedacht werden. Als Ärztin, in derenFachgebiet die Schmerztherapie gehört,gehe ich mit Le Breton in vielen Dingen, dieer über unsere Arbeit schreibt, nicht kon-form. Seine Vorstellungen darüber sind vagebis unrichtig, seine Behauptungen pathe-tisch bis esoterisch. Von allem möchte erein bisschen – ein wenig medikamentöseSchmerztherapie, nicht zu viel, damit dasSterben noch bewusst erlebt werden kann.Eine Palliativmedizin wie aus dem Bilder-buch: sanft, effizient und jede Unbequem-lichkeit sofort behebend. Wenn dieses Idealnicht erreicht werden kann, wird ein Unter-gangsszenario angeboten, das in der Bitteum Tötung auf Verlangen des Schmerz-gepeinigten gipfelt. Le Breton spricht vom„totalen Schmerz, der das Lebensende oftbegleitet“. Diesen Schmerz gibt es in dermedizinischen Nomenklatur nicht. Der to-tale Schmerz ist Propaganda.Alfred Velpeau, französischer Chirurg,

machte es sich 1847 anlässlich einer Ver-sammlung der Akademie der Wissenschaf-ten, in der man die bahnbrechende Neuig-keit der Allgemeinanästhesie durch Lachgasund Äther diskutierte, leicht, indem er be-merkte: „Ob ein Kranker nun mehr oder we-niger leidet, sollte das etwas sein, was fürdie Akademie der Wissenschaften von Inter-esse ist?“ Trotz der rüden Ignoranz mancherÄrzte – sie kannten nichts anderes als Pa-tienten, die während der chirurgischen Ein-griffe von maskierten, schwarz gekleidetenHelfern am Tisch festgehalten werdenmussten – setzte sich die Anästhesie durch.Kaum glaubte man den Schmerz unter

Kontrolle gebracht zu haben, tauchte er inimmer neuen Verkleidungen, oft perfider alszuvor, wieder auf: Hundert Jahre nach Vel-peau beschreibt der gleichfalls in Frank-reich geborene Chirurg Rene Leriche einenPatienten mit einer chronischen Schmerz-krankheit: „Von dem Augenblick an, wo der

David Le BretonSchmerzEine Kulturgeschichte. Aus dem Fran-zösischen vonMaria Muhle, TimoObergöker und Sabine Schulz, 268 S.,geb., € 25,80 (Diaphanes Verlag,Berlin)

David B. MorrisGeschichte des SchmerzesAus dem Englischen von UrsulaGräfe, 460 S., geb., € 13,40 (InselVerlag, Frankfurt/Main)

Schmerz besteht, ist der Kranke außer sichgebracht, außerhalb seiner analytischenMöglichkeiten, wenigstens dann, wenn ersich nicht im Gegenteil ganz auf sein Leidenkonzentriert. Und man steht da, unfähig zuverstehen, verstört vor diesem Abgrund, inden man nicht hinabsteigen kann, und ver-sucht ohne Erfolg, sich ein Bild zu machen.Man berührt mit der Hand leicht denschmerzhaften Bezirk und ist erstaunt,nichts wahrzunehmen, löst aber dort häufigschreckliche Verschlimmerung aus.“So einfach lässt sich der Begleiter der

Menschheit also nicht verscheuchen. Dienur teilweise gelungenen Vertreibungsver-suche nötigen uns, immer neue Betrachtun-gen über den Schmerz anzustellen. Bereits1948 schöpfte der Physiologe und Psycho-loge Buytendijk Verdacht: „Die bürgerlicheHaltung gegenüber dem Schmerz hat jedeEinsicht in die subtile Beziehung zwischenKrankheit, Schmerz und persönlichem Le-ben verschüttet.“ Die Medizin ist seit denTagen des Chirurgen Velpeau bemüht, denSchmerz aus seinem kulturellen Kontext zulösen, um ihn besiegen zu können, doch sieübersieht, dass der Schmerz ein sozialesReich bewohnt, das sich ganz außerhalb desmedizinischen Einflussbereiches befindet.Schmerz ist ein von der Gemeinschaft ge-

prägtes Ereignis. Von der Mutter, innerhalbder Familie, wird die Widerstandsfähigkeitgegenüber Schmerz erlernt und ein akzep-tables Maß definiert. Die Gemeinschaft, diesoziale Gruppe bestimmt, wie auf denSchmerz reagiert und wie viel von ihm er-tragen wird. Sie gibt vor, wie sich der Dulderdes Schmerzes zu verhalten hat. Klagt er zuwenig, fühlen sich die Mitmenschen zurück-gewiesen, da ihr Trost, zu dem sie verpflich-tet sind, nicht erwünscht scheint; klagt er zuviel, wird nur so lange Verständnis und Hilfegewährleistet, solange die Nahestehendennoch glauben, dass der Leidende gesundwerden will.„Die mehr oder weniger begründete Mei-

nung, dass die Schulmedizin im Stande ist,jeden Schmerz zu beseitigen, ruft bei nichtwenigen Kranken, bei denen die Behand-lung scheitert, Verzweiflung und das Ge-fühl, allein gelassen zu werden, hervor“,schreibt Le Breton. Wenn alles versuchtwurde und der Erfolg ausbleibt, denkt auchder eifrige Schmerztherapeut, dass hinterder Erfahrung seines Patienten ein gehei-mer anderer Grund stecken muss. Bieteter eine psychologische Begutachtung nurinfolge seiner Ratlosigkeit und nicht als Teileines interdisziplinären Konzepts an, istdie Enttäuschung des Schmerzpatientenmeist groß, weil er sich als unglaubwürdigenttarnt fühlt: „Was ist das, was ich fühle,wenn es dafür keinen Namen in der Medi-zin gibt?“Diese Frage nach dem Namen, nach der

Diagnose, scheint indes mit der Sinnfrageident zu sein, denn der Schmerz ist „einge-bettet in offizielle und inoffizielle Denksys-teme, die ihn mit einem zeitgebundenenSinn ausstatten – theologisch, naturwissen-schaftlich oder psychologisch. Schmerz

wird auf eine sehr ähnliche Weise gedeutetwie die Welt“, so der Literaturwissenschaft-ler David B. Morris in „Die Geschichte desSchmerzes“. Wiewohl dieses Buch bereits1994 erschienen ist, wird es weder an Ver-ständlichkeit noch an Formulierungskunstdurch ein neueres Werk überboten.Um der Sinnfrage näher zu kommen, bie-

ten die Autoren neben dem psychologi-schen Zugang noch andere Modelle an:so zum Beispiel das biblische GleichnisHiobs oder die Erzählung „Iwan Iljitsch“von Tolstoi. Iwan Iljitschs Schmerz begannbedeutungslos und steigerte sich bis zueinem Maß, dass Iljitsch drei Tage hindurchwie außer sich schrie. Der Schmerz offen-barte ihm seine Verbindung zum Tod. Dannhörte Iljitsch zu schreien auf. Er hatte sei-nen Schmerz bis zu einem Zustand spiri-tueller Erweckung durchlaufen: „,Und derSchmerz?‘ fragt er sich. ,Wo ist der hin? Ja,wo ist der Schmerz?‘ Und er horcht auf. ,Ja,da ist er. Nun, meinetwegen.‘“Wer nun glaubt, diese Geschichte hätte

keinen Bezug zu unserem heutigen Leben,irrt. Unter den Besuchern einer Schmerz-ambulanz findet man immer wieder Men-schen, die nach vielen Therapieversuchennur wenig Besserung erfahren, an Neben-

wirkungen leiden oder denen die Fahrtenins Krankenhaus zu anstrengend werden;dann beschließen sie, lieber so zu leben, alsden zehrenden Wunsch nach Beschwerde-freiheit weiter zu hegen. Sie sind zwar nichtin den Genuss der Kunst des „Lebens ohneLeiden“ gekommen, wohl aber in die Kunst,weniger zu leiden, indem man besser zu lei-den vermag.Die Geschichte von Hiob ist die eines auf-

rechten, unschuldigen Mannes, der allesverliert, leidet und zu wissen verlangt, wa-rum. Hiob ist weniger an der Erlösung vonseinen Schmerzen interessiert als an einerannehmbaren Erklärung für seine Bestra-fung. Die Antworten, die Gott nach langemverzweifeltem Ringen Hiobs bereit ist zugeben, belegen nur Gottes Macht und dieSchwäche des Menschen. Das Leiden desunschuldigen Menschen soll ein undurch-dringbares Geheimnis bleiben.Der Befreiungstheologe Gustavo Gutier-

rez hingegen geht davon aus, dass Schmerzein Stigma der Armen sei und dass es billigist, die Belohnung im Jenseits zu verspre-chen. Vehement besteht er darauf, Leidennicht mehr als individuelles Schicksal zubegreifen, sondern von einem kollektivenSchmerz der armen Massen zu sprechen.Indem Gutierrez die sozialen und ökonomi-schen Ursachen benennt, die ganze Völkerim Leid festhalten, bekommt der Schmerzeine neue, eine politische Dimension. DieErlösung des Menschen ist, darauf will Gu-tierrez hinaus, durchaus im Diesseits zu er-reichen.In einer Welt der kulturellen Vielfalt wird

sowohl nach einer medizinischen Pluralitätverlangt als auch nach einer Pluralität derSinnfrage. Jeder Mensch hat im Leiden dasVerlangen, einen Grund für sein Leiden be-nennen zu können. Die westliche Medizinübernimmt sich aber, wenn sie engstirnignur benennt, was zu sehen ist, wegschnei-det, was stört, und das Klagen medikamen-tös zum Schweigen bringt.In Lateinamerika wird zu Beginn jeder

längeren Busreise einem Heiligen, dem amStraßenrand ein winziger Altar errichtetworden ist, vom Chauffeur eine Gabe dar-gebracht: eine Kerze, eine Blume, ein paarCentavos. Man versteht bald, warum: DerFahrstil lässt ein Ankommen am Zielortunwahrscheinlich erscheinen. Daher beob-achten die Reisenden genau und abergläu-bisch, ob alles dem Ritual entsprechenderledigt wird. Die kleine Opfergabe ver-spricht Sicherheit. Hat in Lateinamerika je-mand Schmerzen, sucht er meist zuersteinen Schamanen auf. Der verlangt von sei-nen Kunden Rosenwasser, Nelken undSchnaps, damit wird er die Götter gütig zustimmen versuchen. Oft trinkt er selbst vomSchnaps und wartet: Die Götter sind nichtimmer bereit.Vielleicht verlangen der Schmerz und die

nicht zu lösende Frage nach seinem Sinnvon uns neben Wissen und Können auchGleichmut und immer wieder auch eineOpfergabe an einem – metaphorisch ge-sprochen – Marterl. Q