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VIII LITERATURVIII Die Presse.com/spectrum Samstag, 27. März 2004

Die Medizin istbemüht, denSchmerz ausseinem kulturellenKontext zu lösen,um ihn besiegen zukönnen.[Foto: Alexander Schlee]

Die westliche Medizin über-nimmt sich, wenn sie nurbenennt, was zu sehen ist,wegschneidet, was stört, unddas Klagen medikamentöszum Schweigen bringt.Variationen über den Schmerz.

Von Martina Wittels

Die Kunst,besserzu leiden

In seiner Kulturgeschichte überden Schmerz folgt der Soziologie-professor David Le Breton ei-nem der treuesten Begleiter der

Menschheit. Er stellt dem Schmerz in unter-schiedlichen Epochen und unter verschie-denen sozialen Gegebenheiten nach undstöbert Rituale auf, die bis zum heutigen Tagrund um den Schmerz praktiziert werden.So erfährt man, dass die körperliche

Züchtigung in den Schulen erst im 16. Jahr-hundert Einzug gehalten hat. Diese „Errun-genschaft“ war der Geistlichkeit zuzuschrei-ben. Zuvor wurden Verstöße gegen die Ord-nung mit der Erfüllung von Diensten, dieder Gemeinschaft zugute kamen, bestraft.Über die Marter lässt Le Breton uns wissen,dass sie nach genauen Regeln kalkuliertwurde, in denen jedes Vergehen einem kon-trollierten Maß an Leiden entsprach. DieFolter hingegen habe nur ein Ziel: die Zer-störung des Opfers, das einzig und alleinder individuellen Grausamkeit des Folterersausgesetzt ist.David B. Morris, Professor für Englische

Literatur, fügt in seinem Buch „Die Ge-schichte des Schmerzes“ hinzu, dass dieFolter im Mittelalter legalisiert war und indieser Zeit auch für die Folter festgeschrie-ben stand, bis zu welchem Grad der Schädi-gung der „Wahrheit“, die man für die Ur-teilssprechung benötigte, auf die Sprüngegeholfen werden durfte. In Michel Foucaults„Überwachen und Strafen“, worauf beideAutoren sich beziehen, heißt es dazu, dasses sich bei dieser Art gerichtlicher Folter„nicht um die hemmungslose Folter moder-ner Befragungen“ handelte, sie sei zwar„grausam, aber nicht entartet“ gewesen.Es gibt hingegen Situationen, in denen

große Schmerzen infolge kultureller Prä-gung widerstandslos hingenommen wer-den. Le Breton beschreibt Initiationsriten,die den Prüfling fast das Leben kosten, dochder erträgt sie klaglos, um als vollwertigesMitglied in der Gruppe Aufnahme zu fin-den. Die Tapferkeit gilt als Garant für dasÜberleben der Gemeinschaft. Der Schmerzdient dieser als starkes soziales Bindeglied.Über den Sinn des Schmerzes kann wahr-

scheinlich nur aus beträchtlicher Distanznachgedacht werden. Als Ärztin, in derenFachgebiet die Schmerztherapie gehört,gehe ich mit Le Breton in vielen Dingen, dieer über unsere Arbeit schreibt, nicht kon-form. Seine Vorstellungen darüber sind vagebis unrichtig, seine Behauptungen pathe-tisch bis esoterisch. Von allem möchte erein bisschen – ein wenig medikamentöseSchmerztherapie, nicht zu viel, damit dasSterben noch bewusst erlebt werden kann.Eine Palliativmedizin wie aus dem Bilder-buch: sanft, effizient und jede Unbequem-lichkeit sofort behebend. Wenn dieses Idealnicht erreicht werden kann, wird ein Unter-gangsszenario angeboten, das in der Bitteum Tötung auf Verlangen des Schmerz-gepeinigten gipfelt. Le Breton spricht vom„totalen Schmerz, der das Lebensende oftbegleitet“. Diesen Schmerz gibt es in dermedizinischen Nomenklatur nicht. Der to-tale Schmerz ist Propaganda.Alfred Velpeau, französischer Chirurg,

machte es sich 1847 anlässlich einer Ver-sammlung der Akademie der Wissenschaf-ten, in der man die bahnbrechende Neuig-keit der Allgemeinanästhesie durch Lachgasund Äther diskutierte, leicht, indem er be-merkte: „Ob ein Kranker nun mehr oder we-niger leidet, sollte das etwas sein, was fürdie Akademie der Wissenschaften von Inter-esse ist?“ Trotz der rüden Ignoranz mancherÄrzte – sie kannten nichts anderes als Pa-tienten, die während der chirurgischen Ein-griffe von maskierten, schwarz gekleidetenHelfern am Tisch festgehalten werdenmussten – setzte sich die Anästhesie durch.Kaum glaubte man den Schmerz unter

Kontrolle gebracht zu haben, tauchte er inimmer neuen Verkleidungen, oft perfider alszuvor, wieder auf: Hundert Jahre nach Vel-peau beschreibt der gleichfalls in Frank-reich geborene Chirurg Rene Leriche einenPatienten mit einer chronischen Schmerz-krankheit: „Von dem Augenblick an, wo der

David Le BretonSchmerzEine Kulturgeschichte. Aus dem Fran-zösischen vonMaria Muhle, TimoObergöker und Sabine Schulz, 268 S.,geb., € 25,80 (Diaphanes Verlag,Berlin)

David B. MorrisGeschichte des SchmerzesAus dem Englischen von UrsulaGräfe, 460 S., geb., € 13,40 (InselVerlag, Frankfurt/Main)

Schmerz besteht, ist der Kranke außer sichgebracht, außerhalb seiner analytischenMöglichkeiten, wenigstens dann, wenn ersich nicht im Gegenteil ganz auf sein Leidenkonzentriert. Und man steht da, unfähig zuverstehen, verstört vor diesem Abgrund, inden man nicht hinabsteigen kann, und ver-sucht ohne Erfolg, sich ein Bild zu machen.Man berührt mit der Hand leicht denschmerzhaften Bezirk und ist erstaunt,nichts wahrzunehmen, löst aber dort häufigschreckliche Verschlimmerung aus.“So einfach lässt sich der Begleiter der

Menschheit also nicht verscheuchen. Dienur teilweise gelungenen Vertreibungsver-suche nötigen uns, immer neue Betrachtun-gen über den Schmerz anzustellen. Bereits1948 schöpfte der Physiologe und Psycho-loge Buytendijk Verdacht: „Die bürgerlicheHaltung gegenüber dem Schmerz hat jedeEinsicht in die subtile Beziehung zwischenKrankheit, Schmerz und persönlichem Le-ben verschüttet.“ Die Medizin ist seit denTagen des Chirurgen Velpeau bemüht, denSchmerz aus seinem kulturellen Kontext zulösen, um ihn besiegen zu können, doch sieübersieht, dass der Schmerz ein sozialesReich bewohnt, das sich ganz außerhalb desmedizinischen Einflussbereiches befindet.Schmerz ist ein von der Gemeinschaft ge-

prägtes Ereignis. Von der Mutter, innerhalbder Familie, wird die Widerstandsfähigkeitgegenüber Schmerz erlernt und ein akzep-tables Maß definiert. Die Gemeinschaft, diesoziale Gruppe bestimmt, wie auf denSchmerz reagiert und wie viel von ihm er-tragen wird. Sie gibt vor, wie sich der Dulderdes Schmerzes zu verhalten hat. Klagt er zuwenig, fühlen sich die Mitmenschen zurück-gewiesen, da ihr Trost, zu dem sie verpflich-tet sind, nicht erwünscht scheint; klagt er zuviel, wird nur so lange Verständnis und Hilfegewährleistet, solange die Nahestehendennoch glauben, dass der Leidende gesundwerden will.„Die mehr oder weniger begründete Mei-

nung, dass die Schulmedizin im Stande ist,jeden Schmerz zu beseitigen, ruft bei nichtwenigen Kranken, bei denen die Behand-lung scheitert, Verzweiflung und das Ge-fühl, allein gelassen zu werden, hervor“,schreibt Le Breton. Wenn alles versuchtwurde und der Erfolg ausbleibt, denkt auchder eifrige Schmerztherapeut, dass hinterder Erfahrung seines Patienten ein gehei-mer anderer Grund stecken muss. Bieteter eine psychologische Begutachtung nurinfolge seiner Ratlosigkeit und nicht als Teileines interdisziplinären Konzepts an, istdie Enttäuschung des Schmerzpatientenmeist groß, weil er sich als unglaubwürdigenttarnt fühlt: „Was ist das, was ich fühle,wenn es dafür keinen Namen in der Medi-zin gibt?“Diese Frage nach dem Namen, nach der

Diagnose, scheint indes mit der Sinnfrageident zu sein, denn der Schmerz ist „einge-bettet in offizielle und inoffizielle Denksys-teme, die ihn mit einem zeitgebundenenSinn ausstatten – theologisch, naturwissen-schaftlich oder psychologisch. Schmerz

wird auf eine sehr ähnliche Weise gedeutetwie die Welt“, so der Literaturwissenschaft-ler David B. Morris in „Die Geschichte desSchmerzes“. Wiewohl dieses Buch bereits1994 erschienen ist, wird es weder an Ver-ständlichkeit noch an Formulierungskunstdurch ein neueres Werk überboten.Um der Sinnfrage näher zu kommen, bie-

ten die Autoren neben dem psychologi-schen Zugang noch andere Modelle an:so zum Beispiel das biblische GleichnisHiobs oder die Erzählung „Iwan Iljitsch“von Tolstoi. Iwan Iljitschs Schmerz begannbedeutungslos und steigerte sich bis zueinem Maß, dass Iljitsch drei Tage hindurchwie außer sich schrie. Der Schmerz offen-barte ihm seine Verbindung zum Tod. Dannhörte Iljitsch zu schreien auf. Er hatte sei-nen Schmerz bis zu einem Zustand spiri-tueller Erweckung durchlaufen: „,Und derSchmerz?‘ fragt er sich. ,Wo ist der hin? Ja,wo ist der Schmerz?‘ Und er horcht auf. ,Ja,da ist er. Nun, meinetwegen.‘“Wer nun glaubt, diese Geschichte hätte

keinen Bezug zu unserem heutigen Leben,irrt. Unter den Besuchern einer Schmerz-ambulanz findet man immer wieder Men-schen, die nach vielen Therapieversuchennur wenig Besserung erfahren, an Neben-

wirkungen leiden oder denen die Fahrtenins Krankenhaus zu anstrengend werden;dann beschließen sie, lieber so zu leben, alsden zehrenden Wunsch nach Beschwerde-freiheit weiter zu hegen. Sie sind zwar nichtin den Genuss der Kunst des „Lebens ohneLeiden“ gekommen, wohl aber in die Kunst,weniger zu leiden, indem man besser zu lei-den vermag.Die Geschichte von Hiob ist die eines auf-

rechten, unschuldigen Mannes, der allesverliert, leidet und zu wissen verlangt, wa-rum. Hiob ist weniger an der Erlösung vonseinen Schmerzen interessiert als an einerannehmbaren Erklärung für seine Bestra-fung. Die Antworten, die Gott nach langemverzweifeltem Ringen Hiobs bereit ist zugeben, belegen nur Gottes Macht und dieSchwäche des Menschen. Das Leiden desunschuldigen Menschen soll ein undurch-dringbares Geheimnis bleiben.Der Befreiungstheologe Gustavo Gutier-

rez hingegen geht davon aus, dass Schmerzein Stigma der Armen sei und dass es billigist, die Belohnung im Jenseits zu verspre-chen. Vehement besteht er darauf, Leidennicht mehr als individuelles Schicksal zubegreifen, sondern von einem kollektivenSchmerz der armen Massen zu sprechen.Indem Gutierrez die sozialen und ökonomi-schen Ursachen benennt, die ganze Völkerim Leid festhalten, bekommt der Schmerzeine neue, eine politische Dimension. DieErlösung des Menschen ist, darauf will Gu-tierrez hinaus, durchaus im Diesseits zu er-reichen.In einer Welt der kulturellen Vielfalt wird

sowohl nach einer medizinischen Pluralitätverlangt als auch nach einer Pluralität derSinnfrage. Jeder Mensch hat im Leiden dasVerlangen, einen Grund für sein Leiden be-nennen zu können. Die westliche Medizinübernimmt sich aber, wenn sie engstirnignur benennt, was zu sehen ist, wegschnei-det, was stört, und das Klagen medikamen-tös zum Schweigen bringt.In Lateinamerika wird zu Beginn jeder

längeren Busreise einem Heiligen, dem amStraßenrand ein winziger Altar errichtetworden ist, vom Chauffeur eine Gabe dar-gebracht: eine Kerze, eine Blume, ein paarCentavos. Man versteht bald, warum: DerFahrstil lässt ein Ankommen am Zielortunwahrscheinlich erscheinen. Daher beob-achten die Reisenden genau und abergläu-bisch, ob alles dem Ritual entsprechenderledigt wird. Die kleine Opfergabe ver-spricht Sicherheit. Hat in Lateinamerika je-mand Schmerzen, sucht er meist zuersteinen Schamanen auf. Der verlangt von sei-nen Kunden Rosenwasser, Nelken undSchnaps, damit wird er die Götter gütig zustimmen versuchen. Oft trinkt er selbst vomSchnaps und wartet: Die Götter sind nichtimmer bereit.Vielleicht verlangen der Schmerz und die

nicht zu lösende Frage nach seinem Sinnvon uns neben Wissen und Können auchGleichmut und immer wieder auch eineOpfergabe an einem – metaphorisch ge-sprochen – Marterl. Q