DIEVERGESSENEN KINDER · mehr als 30 Jah ren in Sambia lebt. „Weil das nicht in die hiesi ge...

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DIE VERGESSENEN KINDER Gift heißt „Geschenk“ und ist immer noch ein beliebter Name in Sambia. Trotzdem platzt das St. Anthony-Kinderdorf in Ndola aus allen Nähten. „Kinder, die nicht gewollt waren – so etwas gab es früher in Sambia nicht“, sagt Schwester Philomena. Mit Aids wurde alles anders. TEXT: VERONIKA BUTER FOTOS: GÜNTHER MENN

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  • DIE VERGESSENEN

    KINDERGift heißt „Geschenk“und ist immernocheinbeliebterName inSambia.Trotzdem platzt das St. Anthony-Kinderdorf in Ndola aus allen Nähten.„Kinder, die nicht gewollt waren – so etwas gab es früher in Sambianicht“, sagt Schwester Philomena. Mit Aids wurde alles anders.

    TEXT: VERONIKABUTER FOTOS:GÜNTHERMENN

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    REPORTAGE

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    „Matthewwar ein Kind, als er gebracht wurde,aber er sah auswie ein alterMann.”

    PhilomenaSchwegmann, 69, Strahlfelder Missionsdominikanerin

    Medizin: Lebenslänglich Tabletten nehmen.

    Spielen, Lernen, Kindsein: Im St. Anthony-Kinderdorf finden vergessene und todkranke Kinder ein zuverlässiges Zuhause.

  • S onnenstrahlen fallen ins Zimmer. Fas-ziniert beobachtet Gift durch tief-schwarze Kinderaugen, wie der Schat-ten seines Gitterbettchens den Fußbodenschraffiert. Still und aufrecht sitzt der Zweijäh-rige auf seiner Matratze. Über seinem Kopfschwebt eingrünesMoskitonetz, daszueinemdickenKnotenzusammengefasst ist.Aneinemder Gitterstäbe baumelt ein gestrickter bunterBär. Rechts und links von ihm stehen nochviele andere Bettchen sowie offene Regale mithunderten, sorgfältig gestapelten Hosen,T-Shirts, Schlafanzügen. Gift wartet. Er wartetdarauf, dass irgendwann eine der „Tanten“kommt, ihnausseinemBettchenhebt, ihnaus-zieht, aufs Töpfchen setzt, einseift undduscht,abgetrocknet und in frische Klamotten steckt.Die „Tanten“ haben immer alle Hände voll zu-tun. Gift hat gelernt sich zu gedulden. Erweiß,dass er hier nicht vergessenwird.Gift ist eines von 123 Kindern, das in der

    Obhut der Missionsdominikanerinnen vomHeiligsten Herzen Jesu (Strahlfelder Missions-dominikanerinnen) imKinderdorf St.Anthonyam Rande der Industriestadt Ndola lebt. Dasmütterliche Regiment hat hier die 40-jährigeKinder- und PalliativpflegerinMaureen Kanta.Ihr helfen 19 fest angestellte Mitarbeiter undetliche Freiwillige. DiemeistenKinder – davon23 Babys – und Jugendliche im Alter bis zu 21Jahren, sind HIV-positiv, geistig oder körper-lich behindert, zurückgeblieben, traumati-siert. Schwester Philomena Schwegmann, 69,eine energische Westfälin, kennt alle ihreNamen und ihre Geschichten.Zum Beispiel Matthew. Er war ein Kind, als

    ergebrachtwurde.Aberer sahauswieeinalterMann. Das war am Tag der Beerdigung seinerMutter.MatthewwarHIV-positiv, er eiterte aus

    der Nase, lange hatte sich niemand mehr umden Jungengekümmert.OderTabesa. Siewur-de als Baby an dieWand geworfen undwar ex-trem mangelernährt, als sie im Kinderdorf an-kam.Wenn Bananen verteilt wurden, blieb siereglos auf ihrem Platz sitzen. Sie sprach nicht,schrie,wennmansieanziehenwollte, hob ihreArme vors Gesicht, als erwarte sie einenSchlag. Und schließlich Joseph. Seine Mutterwollte nichts von ihrem Baby wissen, weil esHIV-positivwar.Sie setzte sich indenKongoabund überließ Joseph ihrem aidskrankenEhemann, der kurz darauf verstarb.

    Roger hat sich die Füße verbranntEine zwei Meter hohe graue Betonmauer um-gibt das Kinderdorf. Ein Schutzwall, der klei-nenMenschenwie Joseph ein Stück Ruhe undGeborgenheit bietet. Es ist zu heiß, um auf derausgedörrten Rasenfläche zu spielen. Diemeisten Kinder tummeln sich auf den über-dachtenFluren,diedieeinzelnenSchlafgebäu-demiteinander verbinden. Deborah, 15, hocktschon eine ganze Weile reglos im Schatteneines großen Baumes auf dem Boden. DenKopf in denNacken gelegt, dieHändewie zumGebet gefaltet, die Augen weit geöffnet. Sie istgeistig behindert. Roger, 6, schlurft geräusch-voll in seinen Lederstiefeln, die er mal wiederfalsch herum angezogen hat, über den Gang.ErwarmitnacktenFüßen ineinenbrennendenMüllhaufengetreten,weil er dort ein Spielzeugentdeckt hatte, und trug schwerste Verbren-nungen davon. Immerhin kann er wieder lau-fen. Alex, 5, hat sich den ganzen Nachmittagmit einem transparenten Fetzen Stoff beschäf-tigt. Er hat ihn zerknüllt, dann als Fahne imWind wehen lassen und dabei vor Freude ge-quietscht.

    Liebe:Schwester Philomena kennt alle Namen und Schicksale der Kinder. Nahrung:SechsMahlzeiten bekommen die Kinder am Tag.

    REPORTAGE

  • „Früher starben uns die Kinder unter denHändenweg, heutewachsen und gedeihen sie.”

    PhilomenaSchwegmann, 69, Strahlfelder Missionsdominikanerin

    Spaß:BeimSpielenmit Freunden vergessen die Kinder ihr schweres Schicksal.

    Geduld: Tracy wartet darauf, dass eine der Ersatzmütter kommt, und sie ins Bett bringt.

    Schutz:Schwester Philomöchte das Kinderdorf erweitern.

    Hilfe:Roger schützt seine verbrannten Füße.

  • REPO RTAG E

    sient Home war tatsächlich als Überganggedacht. Um Waisenkinder vorübergehendzu versorgen. Das war naiv“, sagt SchwesterPhilo aus heutiger Sicht. „Drei Jahre späterwaren vie le Kinder immer noch bei uns. Wirkonnten keine Verwandten finden, die bereitwaren, sich der Kinder anzunehmen.“ 2003gründeten die Ordensfrauen dann das Kin -der dorf. „Eigentlich mag ich das Wort Wai -senhaus nicht“ sagt Schwester Philo, die seitmehr als 30 Jah ren in Sambia lebt. „Weil dasnicht in die hiesi ge Kultur passt. Kinder, dienicht gewollt waren – so etwas gab es früherhier nicht“, sagt sie. Mit Aids wurde dasanders. Oftmals werden Kinder, deren Elternan Aids gestorben sind, ausgegrenzt und blei -ben in völliger Armut zurück. In einem Land,wo gut zwei Drittel der Bevölkerung unter derArmutsgrenze lebt, ist für 750 000 Waisen(Stand 2006) oft kein Geld in der Großfamilieübrig. Besonders wenn die Kinder selbst HIV-positiv oder behindert sind.

    Kein Platz für RebeccaDennoch: „Wenn es irgendwie geht, ver-suchen wir die Kinder zurück in ihre Familienzu brin gen“, sagt Schwester Philo. Auf derSuche nach den Verwandten der acht Monatealten, HIV-positiven Rebecca muss sie ineinem der ärm lichen Townships mehrmalsanhalten und fra gen. Hier gibt es weder Stra-ßennamen noch Haus nummern. „Manchmalkönnen wir in die sem Dschungel dieFamilien verstorbener Kin der nicht finden“,sagt die Nonne. „Dann müssen wir sie ein-fach so begraben.“ Elisa, eine hagere Steine -klopferin am Straßenrand, weist ihr schließ-lich den Weg. „Hast du heute schon ge-gessen?“, fragt Philo. „Nein“, sagt Eli sa. Ob-wohl sie den ganzen Tag gearbeitet und amEnde den verabredeten Lohn doch nicht be-kommen hat. Das Leben ist hart für diemeisten hier.

    „Ich kann das Baby nicht zu mir nehmen“,klagt Rebeccas Tante Louisa. Das zweiräu-mige Haus, das sich die verwitwete 34-Jäh-rige mit ihrer Mutter und ihrer Oma, einerverwitweten Schwester und deren dreiKindern, den Kin dern einer an Aids ver-storbenen Schwester sowie einem Neffenteilt, ist mit insgesamt elf Leuten mehr alsvoll. Und weil ihr Mann verstorben ist, ist siegezwungen, arbeiten zu gehen.

    Also wird Rebecca im St. Athony-Kinder-dorf bleiben. Und sie hat Glück: Nur ein Pro-zent der Aidswaisen in Sambia findet Platz ineinem Waisenhaus. „Ich weiß noch nicht,was aus diesen heranwachsenden Jungenund Mädchen wird“, sagt Schwester Philo -mena, die sich viele Gedanken über derenZukunft macht. Sie muss erst einmal weitereSchlafsäle bauen, um die Mädchen und Jun -gen, die in die Pubertät kommen, räum lichvoneinander zu trennen. Das Kinderdorfplatzt aus allen Nähten. Trotzdem haben sichdie Missionsdominikanerinnen in Ndola keinLimit gesetzt. „Wir nehmen jedes Kind auf,das Hilfe braucht“, sagt Schwester Philo.„Und irgendwie kommen wir schon über dieRunden.“

    18 Uhr, Zeit für die Bananen. Der Tages-ablauf im Kinderdorf wird vom Essen struk -turiert, sechs Mahlzeiten pro Tag. Porridgeum viertel nach sieben, Früchte um zehn,Mittagessen um 12 Uhr. Eine Kleinigkeit umdrei, Abendessen um viertel nach vier. Undals letztes die Banane um sechs. Eine regel-mäßige, ausgewogene und reichhaltige Er-nährung ist das A und O vor allem für die HIV-positiven Kinder. Genauso wichtig wie dieEinnahme der lebenswichtigen Aids-Medizinzweimal am Tag. Seit es die Behandlung mitanti retro vi ra len Medikamenten (ARV) gibt,habe sich die Situation drastisch verbessert,sagt Schwes ter Philo, wie die Ordensfrauliebevoll gerufen wird. „Früher starben unsdie Kinder unter den Händen weg.“ Heutewachsen und gedeihen sie: Der elfjährigeMatthew kann inzwischen sogar eine Schulebesuchen; Tabesa hat sich von ihren Miss-handlungen erholt; der kleine Joseph hatAntikörper entwickelt und ist heute HIV-negativ.

    Mit fünf Kindern hatten die Missionsdomi -ni kanerinnen im Jahr 2000 ihre Arbeit fürAidswaisen begonnen. „Das Twapia Tran-

    SAMBIA

    ZAHLEN UND FAKTENGeografie: Binnenstaat im südlichen Afrika. Fläche: Mit 752 614 Quadratkilometern istSambia doppelt so groß wie Deutschland.Einwohner: 10 Millionen.Sprache: Englisch, lokale Bantusprachen. Staatsform: Republik.Religion: 50%-75 % Christen, davon 26 % katho-lisch, 24-49 % Muslime und Hindus, Sonstige.Soziale Lage: Sambia hat mit 10-20 % eine derweltweit höchsten HIV-Infektionsraten, davon100 000 Kinder. Im Jahr 2015 wird mit einerMillion Aidswaisen gerechnet.Wirtschaft: Kupfer und Kobalt, Zinn und Bleisind die Hauptexportgüter.Einkommen pro Kopf: 800 US-Dollar im Jahr.

    Simbabwe

    Dem. Rep.Kongo

    Lusaka

    Botswana

    Tansania

    Bangweufu-see

    Ndola Chipata

    Livingstone

    Viktoria-fälle

    Sambesi

    LÄNDERINFO

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    13_Sambia_Karte_NEU.qxp:01Cover#2_06 420.qxp 08.10.2010 11:23 Uhr Seite 1