Diskurs durch Internet? Öffentlichkeitsmodelle im Vergleich · Institut für KMW – Journalistik...

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Institut für KMW – Journalistik Diskurs durch Internet? Öffentlichkeitsmodelle im Vergleich Prof. Dr. Martin Welker <[email protected]> Universität Leipzig Institut für KMW Journalistik 25.11.2011 Erfurt, Comdigmed

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Institut für KMW – Journalistik

Diskurs durch Internet? Öffentlichkeitsmodelle im Vergleich

Prof. Dr. Martin Welker <[email protected]>

Universität Leipzig Institut für KMW

Journalistik

25.11.2011 Erfurt, Comdigmed

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Gliederung

• Theoretische Grundlegung: das deliberative Öffentlichkeitsmodell im Internetzeitalter

• Funktionsorientierte Erwartungsdifferenzen • Die Erweiterung von Journalismus per

Funktionsergänzungen auf Online-Basis • Forschungsprojekt „Zusammenhalt durch Teilhabe“ • Beispiele • Fazit, Literatur

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Internetöffentl.: Entdifferenzierung, Fragmentarisierung, Aggregation

• Die Vernetzung der Kommunikationen schwächt die Errungenschaften von traditionellen Öffentlichkeiten (Habermas 2008: 82)

• Egalitarismus und unredigierte Beiträge (Habermas 2008: 81) • Fehlen funktionaler Äquivalente, die dezentralisierte Botschaften

wieder auffangen (Habermas 2008: 162) • Fehlen von geregelten Teilnahmemechanismen • Nicht-journalistische Aggregation fragmentierter Öffentlichkeiten

[durch Google, Twitter, Facebook]

• Journalismus unter Veränderungsdruck

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Institut für KMW – Journalistik Modell Dimension

„Liberal“ (Dahrendorf 1961)

„Republikanisch“ (Lippmann 1922)

„Deliberativ“ (Peters 2001); (Habermas 2008)

Internetöffentlichkeit (Münker 2009)

Rechtsstaat-liche Institutiona-lisierung , Demokratie-verständnis

Marktverständnis öffentlicher Kommunikation

Staatsbürgerlich begründete Öffentlichkeit; nationale Selbstbestimmung

Geregelte Teilnahme- und Artikulationsmöglichkeiten (partizipative Demokratie); Meinungen lassen sich über Argumente verändern

Graswurzel Demokratie Direkte Demokratie Dezentralisierung

Basis Prinzip eines freien Gedanken- und Meinungsaustauschs; Individuen; Rechtsstaat und Wettbewerb

Einigung auf Basis gemeinsamer kultureller Werte; vereinigte Bürgerschaft; Volkssouveränität

Legitime Interessen und Bedürfnisse werden öffentlich artikuliert und miteinander ausgetauscht; Einigung auf Basis der Verständigung über gemeinsame Rechte; · individuelle Akteure (Bürger) · kollektive Akteure (Interessengruppen)

Freie Artikulation von Meinungen Egalitarismus, Partikularismus

Zugang Zugangsoffenheit

Expertentum; Gelehrtenrepublik

Begründungspflichten (normative Vorgaben)

Aggregiert, zugangsfrei zugleich gatekeeperfrei, d.h. unredigierte Beiträge

Politik-verständnis

Politik als Bündelung von privaten Interessen der Bürger und Erarbeitung von Kompromissen

Politik als „Gespräch über das gute Leben“

Qualität der Demokratie beruht auf einer vitalen Öffentlichkeit; Gesetze werden durch Impulse aus der Öffentlichkeit angestoßen

Diffus; Politik als Umsetzer von Entscheidungen, die online getroffen wurden; keinerlei Kontrolle der Medien durch die Regierung

Journalismus Funktion / Ausprägung

Vermittler; Ermöglichung von individueller Freiheit

Staatsbürgerlich verantwortlicher Journalismus

Öffentliche Meinungs- und Willensbildung; Filterfkt.; Journalismus soll das diskursive Niveau der Öffentlichkeit wahren

Hybridisierung, Entdifferenzierung, Rollenvermischung

(Dewey 1927, Rawls 1975)

Liberalismus: Wettbewerb und Markt, Wirtschaftsfreiheit als persönliche Freiheit, staatsferne; Frage der gleichen Teilnahmechancen Republikanismus: Zusammenhang zwischen politischer und privater Autonomie, zwischen einem freien Staat und einem freien Bürger; Selbstregierung, Selbstgesetzgebung, Aktivbürgerschaft als Pflicht (Teilnahme an einer politischen Öffentlichkeit und Stimmabgabe), tugendhafte Mitwirkung, Gemeinsamkeitsideal Deliberativ: Gleichheit der Beteiligung, Offenheit, passive und aktive Partizipation „Gegenöffentlichkeit“, weitere Arten von Öffentlichkeiten; Kritik an Luhmann

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Kennzeichen von Internetöffentlichkeit

• Verschiebung: die Öffentlichkeit und das Private • Verlust an Zivilität -> Vernunftgebrauch • Keine echte Verbindung zu institutionalisierten Diskursen und Prozessen • Flutung des Öffentlichen mit nicht-fiktionaler Intimität • Tyrannei der Intimität

Folgen: • Egozentrik der Netzwerke • Wahrnehmung der Welt durch Links • Renaissance des Charismatischen

• Verlust von vernünftiger Kommunikation

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Internetöffentlichkeit Klassische journalistische Funktionen / Implikationen

Kompl. Funktionen per Internet

Gefahren

Graswurzel Demokratie, Direkte Demokratie, Dezentralisierung

Relevanzprüfung Sorgfalt und Genauigkeit

Gatewatching

Des- und Falschinformation

Freie Artikulation von Meinungen, Egalitarismus, Partikularismus Zugangs- und Gatekeeperfrei, unredigierte Beiträge

Artikulation von Themen, Bündelung von Diskursen, Argumente filtern, Schwachen eine Stimme verleihen, Kontroverse Argumente gegenüberstellen, Kritik und Kontrolle

Steuerung von Laienkommunikation, Moderation; Ermöglichung von Partizipation, Pro-Am-Projekte, Bündelung ‚kollektiver Intelligenz‘

Hybridisierung; Ersetzen von Journalisten, Tarifflucht Übersteuerung, Überforderung der Redaktion, Kollektive Dummheit

Diffus Anschlusskommunikation sicherstellen

Herstellen von Hyperlokalität

Irrelevanzen, Informationsmüll

Komplementäre journalistische Funktionen durch Internetöffentl.

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Rollenerwartungen Publikum vs. Rollenumsetzung Journalisten in %

Quellen: 1) Welker/Psychonomics 2009; Studie „Journalismus 2009“, Online-Panel-Befragung; 1.000 Bundesbürger; 16 bis 65 Jahre; N=982 bzw. 819 / 2) Weischenberg/Malik/Scholl 2006) a

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Lebenshilfe bieten [Service, Nutzwert] 6,9 7 58 62 dem Publikum eigene Ansichten präsentieren // pos. Ideale verm. 8,9 9,3 34 30 Publikum unterhalten und für Entspannung sorgen 13 14,4 69 62 sich auf Nachrichten konzentrieren die für ein breites Publikum interessant sind 30,9 31,9 72 68 die politische Tagesordnung beeinflussen und Themen auf die politische Agenda setzen [Themensetzung] 31,5 30,5 45 42 + neue Trends aufzeigen 36,8 36,6 43 42 normalen Leuten eine Chance geben, ihre Meinung zu sagen [Artikulation] 41 40,6 61 63 + sich für die Schwachen in der Gesellschaft einsetzen [Anwaltschaft] 48,2 47,7 44 43 Politik, Wirtschaft und Gesellschaft kontrollieren [Kritik & Kontrolle] 54,5 57,3 28 29 - Publikum möglichst schnell Informationen vermitteln 59,4 61,1 80 78 komplexe Sachverhalte erklären und vermitteln 76,7 76,4 72 70 Realität genauso abbilden wie sie ist 77,8 76,9 69 68 Kritik an Missständen üben [Kritik & Kontrolle] 84,5 83,5 45 43 - Publikum möglichst präzise informieren 87,8 86,9 78 79

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Defizite und Überschüsse: Komplementärfkt. online

Themen auf die politische Agenda setzen [Themensetzung], Unterhaltung & Entspannung, massenspez. Information

Steuerung von Laienkommunikation, Moderation

Schwachen eine Stimme verleihen, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft kontrollieren [Kritik & Kontrolle]

Pro-Am-Projekte, Ermöglichung von Partizipation, Bündelung ‚kollektiver Intelligenz‘

Tageszeitungen, insb. Lokal- und Regionalzeitungs-journalismus ist dazu bestens geeignet, aufgrund Nähe zum Leser / Nähe zu den Gegenständen der Berichterstattung und aufgrund des bestehenden Drucks

Grün: Erwartungsüberschuss; Rot: Erwartungsdefizit

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Crowdfunding / Community-funded Reporting

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Forschungsprojekt „Zusammenhalt durch Teilhabe“

Landkreis Ludwigslust, MV Vogtlandkreis, Sachsen Gemeinsame Kennzeichen

Schrumpfende oder abgehängte Bevölkerung Schwache bürgerschaftliche Infrastruktur Geringe Nutzung von Tageszeitungen, hohe Nutzung nicht-

journalistischer Informationen (Anzeigenblätter etc.), mediale Lücken

Geringe politische Beteiligung einschließlich Wahlen Hoher Anteil rechtsextremer Wähler

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Leipzig

Hof

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Vogtlandkreis, Sachsen

• Die Orte sind ein Problemgebiet. Die Bevölkerungszahl schrumpft beständig. Die, die bleiben, haben ein immer geringeres Realeinkommen.

• Die Netzabdeckung mit Internet, zum Teil aber auch mit Mobilfunk ist mangelhaft. Immer weniger Menschen abonnieren Tageszeitungen und beteiligen sich am politischen Geschehen

• Bei der Landtagswahl 2009 lag die Wahlbeteiligung bei nur 50,2 Prozent. Extremistische Parteien erzielen seit Jahren hohe Wahlergebnisse: Bei der letzten Landtagswahl 2004 kam die NPD auf 8,3 Prozent und erzielte auch 2009 in 21 Gemeinden mehr als 5 Prozent.

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Forschungsdesign

Strukturparameter analysieren

(sozioökonomische Parameter, pol.

Beteiligung, Mediennutzung)

Regionale Diskurse analysieren (relevante

regionale Themen )

Wissen der Zielgruppen analysieren

(in Bezug auf relevante regionale

Themen )

Effekte analysieren (in Bezug auf

relevante regionale Themen und pol.

Beteiligung)

Empfehlungen

erarbeiten

Bis Frühjahr

2012 Bis Ende

2012

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Literatur, Quellen 1/2

Dahrendorf, Ralf (1961): Gesellschaft und Freiheit. Zur soziologischen Analyse der Gegenwart. München: Piper.

Der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (Hrsg.)(2008): Medien- und Kommunikationsbericht der Bundesregierung 2008. Online: http://www.bundesregierung.de/Content/DE/__Anlagen/BKM/2009-01-12-medienbericht-teil1-barrierefrei,property=publicationFile.pdf vom 02.11.10

Esch, Nico (2008): Leserbeteiligung in Lokalredaktionen. Anspruch und Wirklichkeit. Leipzig, Diplomarbeit

Forster, Klaus (2006): Journalismus im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Verantwortung. Köln: Halem Verlag.

Habermas, Jürgen (2008): Hat die Demokratie noch eine epistemische Dimension? Empirische Forschung und normative Theorie. In: Habermas, Jürgen: Ach, Europa. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 138-191.

Lippmann,Walter (1922/1946): Public opinion. New York:Macmillan/Pelican books. Mast, Claudia (2007): Chefredakteure auf Leserfang. In: Zeitungen 2007. Bundesverband

Deutscher Zeitungsverleger (Hrsg.), Berlin: BDZV, S. 136 - 147 Münker, Stefan (2009): Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Die Sozialen Medien im Web 2.0.

Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, edition unseld.

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Literatur, Quellen 2/2

Peters, Bernhard (2001): Deliberative Öffentlichkeit. In: Wingert, Lutz/Günther, Klaus (Hrsg.): Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Festschrift für Jürgen Habermas. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 655-677.

Rosen, Jay (2000): Public Journalism. In: Journalism Studies, Vol. 1, No. 4, 679-694. Scholl, Armin (2004): Die Inklusion des Publikums – Theorien zur Analyse der Beziehungen von

Journalismus und Publikum. In: Löffelholz, Martin (Hrsg.): Theorien des Journalismus, Wiesbaden: VS-Verlag, 2. Auflage, 517-536.

Weischenberg, Siegfried/Malik, Maja/Scholl, Armin (2006): Die Souffleure der Mediengesellschaft. Konstanz: UVK Verlag.

Welker, Martin/YouGovPsychonomics AG (2009): Studie Journalismus 2009 – zum Status des deutschen Journalismus; Journalisten aus Sicht der deutschen Bundesbürger (der bayerischen Bürger) {Ergebnisband, Auswertung} / Martin Welker, Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation, YouGovPsychonomics, München, 2009. Online Ressource, elektronische Ressource des Deutschen Bundestages.

Wolf, Fritz (2010): Salto Lokale. Das Chancenpotential lokaler Öffentlichkeit. Zur Lage des Lokaljournalismus. Hrsg. vom MainzerMedienDisput, zum 15. MMD am 24./25.11.2010 „Örtliche Betäubung und bestellte Wahrheiten –Wenn Öffentlichkeit amputiert wird“. Online: http://www.mediendisput.de/downloads/Studie%202010.pdf vom 20.11.2010.