Dokumentation | AWO Fachkonferenz 2010 | „Zusammenhalt stärken - Ausgrenzung verhindern“

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Bundesverband e.V. „Zusammenhalt stärken - Ausgrenzung verhindern“ Dokumentation Fachkonferenz 2010

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Dokumentation zur Fachkonferenz 2010 „Zusammenhalt stärken - Ausgrenzung verhindern“

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Bundesverband e.V.

„Zusammenhalt stärken - Ausgrenzung verhindern“

Dokumentation

Fachkonferenz 2010

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Fachkonferenz 2010

„Zusammenhalt stärken - Ausgrenzung verhindern“

Dokumentation zur

1. Fachkonferenz der AWO zur Zukunft der Sozialpolitik am 1. Oktober 2010 in Essen

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„Zusammenhalt stärken – Ausgrenzung verhindern“

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Impressum

Herausgeber: AWO Bundesverband e.V.

Verantwortlich: Wolfgang Stadler, Vorsitzender des Vorstandes

Redaktion: Abteilung Arbeit, Soziales und Europa; Abteilung Kommunikation

Layout: Typografie Marx, Andernach

Fotos: AWO Bundesverband e.V.

© AWO Bundesverband e.V.Heinrich-Albertz-HausBlücherstr. 62/6310961 BerlinTelefon: 030 26309-0Telefax: 030 26309-32599Email: [email protected]

Oktober 2010

Abdruck auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Herausgebers. Alle Rechte sind vorbehalten.

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Seite

Vorwort ....................................................................................................................... 5

Wilhelm Schmidt, Präsident des AWO Bundesverbandes e.V.Wolfgang Stadler, Vorsitzender des AWO Bundesverbandes e.V. ............................................... 6

Grußworte ................................................................................................................... 8

Reinhard Paß Oberbürgermeister der Stadt Essen ..................................................................................... 9

Gunder HeimlichVorsitzender des AWO Bezirksverbandes Niederrhein e.V. ........................................................ 11

Michael FranzVorsitzender des AWO Kreisverbandes Essen e.V. ................................................................... 14

Reden ......................................................................................................................... 16

„Zusammenhalt stärken – Ausgrenzung verhindern“ Wilhelm Schmidt ............................................................................................................ 17

„Zur Zukunft des Sozialen in der Politik“Sigmar Gabriel Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands .................................................... 22

„Menschenwürde im Sozialstaat des 21. Jahrhunderts“Dr. Christine Hohmann-Dennhardt Richterin des Bundesverfassungsgerichts ............................................................................ 31

„Der demografische Wandel: Mega-Herausforderung für die Sozialpolitik“Prof. Dr. Gerhard NaegeleUniversität Dortmund ...................................................................................................... 39

„Handlungsstrategien der AWO für den sozialen Zusammenhalt“ Prof. Dr. Frank Nullmeier Universität Bremen ......................................................................................................... 48

Fachforen .................................................................................................................... 63

Forum 1: „Stärkung der frühkindlichen Bildung und Strategien zur Armutsvermeidung im Kinder- und Jugendalter“ Impuls: Gerda HolzInstitut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik, Frankfurt am Main ............................................. 64

Forum 2: „Integration durch gute Arbeit und gerechten Lohn“ Impuls: Dr. Claudia WeinkopfUniversität Duisburg-Essen .............................................................................................. 79

Forum 3: „Heute die Altersarmut von morgen bekämpfen“ Impuls: Dr. Elke OlbermannUniversität Dortmund ...................................................................................................... 91

Essener Erklärung .......................................................................................................... 103

„Zusammenhalt stärken – Ausgrenzung verhindern“

Inhalt

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Vorwort

„Zusammenhalt stärken –Ausgrenzung verhindern“

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Vorwort • Wilhelm Schmidt/Wolfgang Stadler

Wilhelm SchmidtVorsitzender des Präsidiums

Wolfgang StadlerVorsitzender des Vorstands

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Kein Zweifel: Der Sozialstaat steht in Folge derWirtschafts- und Finanzkrise vor großen Heraus-forderungen. Klar ist zugleich: Eine gerechte Ge-sellschaft kann es nur mit einem vitalen Sozial-staat geben. In den aktuellen Debatten um denSchuldenabbau droht genau diese Erkenntnis je-doch unter den Tisch zu fallen. Befeuert wird diesdurch eine Politik der Bundesregierung, die vor allem den bedürftigen Menschen immer neue Zumutungen aufbürdet.

Wir befinden uns in Deutschland an einer ent-scheidenden Wegmarke: Wollen wir immer mehrSozialbereiche der Logik des Marktes überlassenoder wollen wir einen Staat, der seiner sozialenVerantwortung gerecht werden kann – und dem-entsprechende Ressourcen bereithält und Investi-tionen tätigt. Letzteres ist in den Augen der AWOdringend geboten, wenn die wachsende Kluft zwi-schen Arm und Reich nicht noch größer werdensoll. Eine Politik, die große Einkommen und Ver-mögen schont, ist dabei sicher das falsche Signal.Wir können nicht hinzunehmen, dass die Teilhabe-möglichkeiten am gesellschaftlichen Miteinandereingeschränkt werden. Wir können nicht hinneh-

men, dass der Zusammenhalt in Deutschland zer-brechlicher wird und Ausgrenzungen bestimmterGruppen weiter zunehmen.

Auf der 1. Fachkonferenz der AWO wurden dieseGedanken insbesondere in den ThemenfeldernKinder- und Jugendarmut, Altersarmut und Lohn-gerechtigkeit eingehend diskutiert. Aufgrund derAktualität und Bedeutsamkeit dieser Themen ha-ben wir uns entschieden, die Reden und Vorträgemöglichst rasch zu veröffentlichen. Mehr denn jebedarf es bei uns einer Diskussion, wie wir Aus-grenzung verhindern und Zusammenhalt stärkenkönnen. Mit dieser Konferenz haben wir einenersten wichtigen Debattenanstoß gegeben. Wirwollen und werden auch künftig im Rahmen vonFachkonferenzen zu grundlegenden Fragen desgesellschaftlichen Zusammenhalts Stellung bezie-hen.

Die Konferenz wäre ohne das Engagement unsererFreunde des AWO Bezirksverbandes Niederrheinund des AWO Kreisverbandes Essen so nicht mög-lich gewesen. Dafür möchten wir uns für den Bun-desverband herzlich bedanken.

Vorwort • Wilhelm Schmidt/Wolfgang Stadler

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Grußworte

„Zusammenhalt stärken –Ausgrenzung verhindern“

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Grußworte • Reinhard Paß

Reinhard PaßOberbürgermeister der Stadt Essen

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Grußworte • Reinhard Paß

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Lieber Sigmar,lieber Wilhelm Schmidt,sehr geehrte Frau Dr. Hohmann-Dennhardt,lieber Gunder Heimlich, lieber Michael Franz,liebe Gäste, liebe Förderer und Freunde der AWO,

herzlich willkommen in Essen, herzlich willkom-men in der Metropole Ruhr!

Als Kulturhauptstadt Europas 2010 sind wir in die-sem Jahr Schauplatz zahlreicher großer Veranstal-tungen – da ist es schön, auch Sie/Euch im Namender Stadt Essen bei uns begrüßen zu dürfen.

Wie muss eine gerechte Sozialpolitik in Deutsch-land aussehen? Wie können wir die große Kluftzwischen Arm und Reich schließen?

Unter dem Motto „Zusammenhalt stärken – Aus-grenzung vermeiden“ werden Sie heute über die-se und andere elementaren Fragen diskutieren.

Wenn es um soziale Gerechtigkeit und um die Aus-wirkungen der Sozialpolitik geht, sind sicher nichtzuletzt die Kommunen gefragt. Denn schnelle unddirekte Hilfe passiert meistens vor Ort.

Die Städte und Gemeinden im Ruhrgebiet sind dakeine Ausnahme und wir tun, was wir können,damit die sozial Schwachen nicht auf der Streckebleiben.

Dabei sind wir auf die intensive Unterstützung vonInstitutionen und Einrichtungen angewiesen. Oh-ne sie geht es inzwischen nicht mehr – auch, weildie finanzielle Lage der Stadt uns momentan zueinem harten Sparkurs zwingt, so bitter das auchfür uns alle ist und bei aller Freude über das Amtdas ich habe, auch für mich ist.

Deshalb bin ich sehr froh, dass wir in Essen einenso starken Partner wie die AWO an unserer Seitehaben.

Die Arbeiterwohlfahrt versteht sich als Anwältinder Armen und Benachteiligten. Sie setzt alles daran, diesen Menschen Hilfe zur Selbsthilfe unddamit Chancen zu bieten. Sie hat soziale Netzeauf- und ausgebaut, die wir heute mehr denn jeverteidigen müssen.

Hier in Essen entwickelt die AWO – neben den be-kannten, bundesweit üblichen, sozialen Einrich-tungen, wie Beratungsstellen + Begegnungsstät-ten, Pflegeeinrichtungen oder der Trägerschaft vonKindertagesstätten – verstärkt auch neue Formensozialer Arbeit:

So erhalten Kinder und Jugendliche, die trotz städ-tischer Förderung nicht an Ferienfreizeiten teil-nehmen können, mit dem Projekt Kinderurlaubs-patenschaften des AWO-Jugendwerks die Chanceauf zusätzliche Hilfe – und damit die Möglichkeit,an einem Kinder-Urlaub teilzunehmen. Senioren-clubs oder Betriebe in Essen übernehmen seit eini-gen Jahren mit einer Spende die Patenschaft fürdiese Kinder und sponsern ihre Ferienfreizeit.

Kinderbetreuung, die über das normale Angebothinaus geht, gibt es im AWO-Kinderhotel. In engerZusammenarbeit mit einer Kindertagesstätte kön-nen Kinder dort auch am Wochenende oder überNacht pädagogisch betreut untergebracht werden.Dies entlastet Eltern und hilft bei so manchen be-ruflichen Terminproblemen.

Nicht zuletzt ist die AWO in Essen sehr aktiv im Be-reich der Integration. Heute hat nahezu die Hälftealler in Essen geborenen Kinder einen Migrations-hintergrund, bei der Gesamtbevölkerung sind esknapp 20 %.

Wir begrüßen daher die entsprechenden Aktivitä-ten des Essener Sozialverbandes wie:•gezielte Förderprojekte in den Kindertagesstätten, •Sprach- und Orientierungskurse der Bildungs-

einrichtungen, •Elternunterstützung und Elternbildung, •Angebote zum Miteinander von Jugendlichen und •Beratung bei Zuwanderung.

Meine Damen und Herren,

soziale Projekte, wie die der AWO, gewinnen mehrund mehr an Bedeutung. Sie fortzuführen, ja auszu-bauen, das ist eine unserer zukünftigen Aufgaben.

Ihre 1. Fachkonferenz zur Zukunft der Sozialpolitikist da ganz sicher ein Schritt in die richtige Rich-tung. Hier und heute wünsche ich Ihnen deshalbviel Erfolg und vor allem gute Ergebnisse.

Ihnen allen einen angenehmen Aufenthalt bei unsin Essen – noch einmal: Herzlich willkommen!

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Grußworte • Gunder Heimlich

Gunder HeimlichVorsitzender des AWO Bezirksverbandes Niederrhein e.V.

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Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Paß,lieber Sigmar Gabriel,lieber Wilhelm Schmidtliebe Freundinnen und Freunde, sehr geehrte Damen und Herren,

herzlich willkommen bei der AWO am Niederrhein!Ich freue mich sehr über das große Interesse ander ersten AWO-Fachkonferenz zur Zukunft der Sozialpolitik in Deutschland.

Und ich freue mich natürlich auch, dass dieseKonferenz heute hier in Essen auf Zeche Zollvereinstattfindet. In einem Weltkulturerbe tagt man janicht alle Tage. Für einen Verband in der Traditionder Arbeiter bewegung kann es gar keinen besse-ren Tagungsort geben. Genau hier haben Men-schen gelebt und gearbeitet, die die AWO und SPDstark gemacht haben. Hier gibt es einen Kreisver-band der AWO mit 8.000 Mitgliedern.

Es gibt noch einen weiteren Grund, warum Essenein ausgesprochen gut geeigneter Tagungsort fürunsere heutige Konferenz ist:

Unser Thema lautet „Zusammenhalt stärken –Ausgrenzung verhindern“.

Alle, die sich einmal konkret vor Augen führenwollen, warum wir uns überhaupt mit einem sol-chen Thema befassen, die gehen von hier 100 Me-ter bis zum Haupteingang der Zeche Zollverein,steigen dort in die Straßenbahn Linie 107 undfahren einmal von der einen bis zur anderen End-haltestelle.

Am einen Ende, im Essener Süden erwarten EuchVillen mit bis zu 270 Räumen und 8000 Quadrat-metern Wohn- und Nutzfläche. Am anderen Ende– im Essener Norden – sehen die Wohnungen et-was anders aus. Die Einkommensklassen der dortlebenden Menschen auch. Im Essener Norden fin-den wir Stadtteile wie zum Beispiel Altenessen,Vogelheim und Karnap, wo bis zu 59 Prozent derEinschulungskinder aus armen Einwandererfami-lien stammen. Im Essener Süden – z. B. im Stadt-teil Kettwig – beträgt der Anteil dagegen 8,4 Pro-zent.

Umgekehrt verhält es sich beim Sozialstatus.

Während im Norden knapp 20 Prozent einen nied-rigen Sozialstatus aufweisen, sind es im Süden lediglich 1,5 Prozent.

Und so, wie die Autobahn A 40 die Stadt Essen ineinen reichen Süden und einen armen Nordenteilt, gibt es ebenso gewaltige Unterschiede zwi-schen den Kommunen in diesem Land.

Ein Beispiel:

Eltern in Düsseldorf bringen ihre Kinder beitrags-frei in die Kindertagesstätten. Die Stadt Gelsen -kirchen dagegen – nur ein paar hundert Meternordöstlich von hier und haushaltstechnisch un-ter Zwangsverwaltung – musste die Elternbeiträgefür die Kinderbetreuung erhöhen. Die Folge: nochmehr derjenigen Kinder, die es am nötigsten ha-ben, gehen nicht in eine Kindertagesstätte.

Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst weiter.Das gilt hier in Essen ebenso wie am ganzen Nie-derrhein. Es gilt auch landesweit für ganz Nord-rhein-Westfalen und es gilt gleichermaßen bun-desweit.

Laut aktuellem Sozialbericht der LandesregierungNRW ist das Risiko, in Armut aufzuwachsen umweitere zwei Prozentpunkte gestiegen. 14,3 Pro-zent unserer Bevölkerung gelten mittlerweile alsarmutsgefährdet. Bei Kindern unter 16 Jahren be-trägt der Anteil 25,4 Prozent, bei Einwanderern31,7 Prozent und bei Alleinerziehenden mit min-derjährigen Kindern sogar 40,9 Prozent!

Gleichzeitig wächst der private Reichtum.

Seit 1998 ist das Durchschnittsvermögen der rei-chen Haushalte in NRW um 17,5 Prozent gestie-gen. Das Vermögen der nicht reichen Haushaltedagegen um 2,5 Prozent gesunken. Zwischen2004 und 2008 stiegen die Unternehmensgewin-ne bundesweit im Durchschnitt um 61 Prozent,während die Arbeitnehmereinkommen um real 4Prozent sanken.

Den Hartz IV-Empfängern werden 5 € Erhöhungmonatlich zugestanden. Das sind 16,6 Cent proTag. Die Kinder der Hartz IV-Empfänger erhaltengar nichts in bar – die bekommen ja eigentlichjetzt schon zu viel laut unserer Bundessozial -ministerin. Und vergessen wir es nicht: ab dem1.1. nächsten Jahres werden die 300 Euro Eltern-geld für Hartz IV-Empfänger ersatzlos gestrichen.Das ist eine schamlose und für 6,7 Millionen Men-schen eine würdelose Politik! Zur gleichen Zeitwird bekannt, dass 200 Bankangestellte mehr als 500.000 € jährlich verdienen in Banken, die

Grußworte • Gunder Heimlich

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ebenfalls durch Steuergelder über Wasser gehaltenwerden. Wie geht das zusammen?

Ein Staat, eine Regierung die Milliarden und Aber-milliarden in Banken, Atomkonzerne, Pharma -industrie und durch eine ungerechte Steuerpolitikversickern lässt, hat natürlich kein Geld, um dasim Grundgesetzt verankerte Sozialstaatsgebot zurealisieren. Menschen, die arm sind, und vonHartz IV leben müssen, weil das Versprechen, sie inArbeit zu bringen nicht erfüllt werden kann, wer-den oft als „sozial schwach“ bezeichnet. Für michist der Staat „sozial schwach“, der nicht alles tut,um seine Bürger aus der Armut heraus zu holen.

Wer den Zusammenhalt unserer Gesellschaft stär-ken will, muss nicht zuletzt auch dafür sorgen,dass Kapitaleigner und Arbeitnehmer gerecht vomgesellschaftlichen Fortschritt profitieren. Wenn wirso weitermachen, wie in den letzten beiden Jahr-zehnten, dann hat sich die Frage des Zusammen-halts in absehbarer Zeit erledigt, weil nichts mehrzusammengehalten werden kann.

Mittel- und langfristig kann es nicht funktionieren,immer mehr Menschen dauerhaft in unsichere,schlecht bezahlte und befriste Arbeitsverhältnissezu zwingen, um höhere Unternehmenserträge zuerzielen, die – möglichst an der Steuer vorbei – aufdie Konten der Shareholder geschaufelt werden.

Wer finanziert in 20, 30 oder 40 Jahren das Exis-tenzminimum derjenigen, die im Verlauf ihres Lebens zu kurze Zeit gearbeitet und schlecht be-zahlt waren und entsprechend geringe Ansprüchean die Rentenkasse erworben haben? Vielleichtsind wir ja dann soweit, dass auch die Reichenund die Shareholder gesellschaftliche Verantwor-tung übernehmen.

Demokratie lebt von sozialem Frieden, einer funk-tionierenden Solidargemeinschaft und einem brei-ten Rückhalt in der Bevölkerung. Die letzten Jahr-zehnte in unserem Land sind dagegen geprägt vonsozialen Gegensätzen, Entsolidarisierung, wach-sender Chancenungleichheit und Armut.

Liebe Freundinnen und Freunde:In keinem anderen Land in Europa ist eine so hohe Zunahme von Niedriglöhnen zu verzeichnenwie in Deutschland.

Seit Einführung von Hartz IV wurden 50 MilliardenEuro an Steuergeldern aufgewendet, um Niedrig -löhne aufzustocken.

Das heißt: Diejenigen, die noch Steuern zahlen,also vor allem lohnabhängig Beschäftigte, sub-ventionieren Unternehmen, damit sie mit Niedrig -löhnen ihre Gewinne und die Vermögen der Kapi-taleigner mehren können!

Das ist kein Beitrag, um Ausgrenzung zu verhin-dern, das schafft Ausgrenzung!

Was den Zusammenhalt stärkt sind gerechte Min-destlöhne und nicht Dumpinglöhne!

Wir in der AWO müssen uns erneut wie 1998 und2002 mit dem Thema Zukunft des Sozialstaatesund der Sozialpolitik in Deutschland befassen. AusSicht der AWO am Niederrhein sollte die heu tigeKonferenz den Auftakt bilden für eine grundlegen-de, bundesweite und alle Gliederungsebenen ein-bindende Debatte mit dem Ziel sein, klare grund-sätzliche sozialpolitische Positionen des Verbandesabzustecken und durch die Bundeskonferenz ver-abschieden zu lassen.

Neben der Reichtum-/Armutsfrage müssen wir unszukünftig zu weiteren wichtigen sozialpolitischenThemen, wie zum Beispiel Pflege und Migrationneu positionieren.

Lasst mich enden mit einem Dankeschön an dieFreunde der AWO Essen, die bei der Bundeskonfe-renz in Berlin den Anstoß für die heutige Konfe-renz gegeben haben.

Unserer Konferenz wünsche ich einen guten Ver-lauf!

Glück auf!

Grußworte • Gunder Heimlich

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Grußworte • Michael Franz

Michael FranzVorsitzender des AWO Kreisverbandes Essen e.V.

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Liebe Freundinnen und Freunde der Arbeiterwohlfahrt ,lieber Wolfgang Stadler,lieber Wilhelm Schmidt,sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Reinhard Paß,

Ich darf euch hier in Essen herzlich willkommenheißen. Als großer und aktiver Kreisverband habenwir uns sehr gefreut, dass unser Antrag, sich wie-der verstärkt mit der Sozialpolitik auseinander zusetzen bei der Bundeskonferenz in Berlin eine bereite Mehrheit gefunden hat. Diese Konferenzheute, kann nur der erste Schritt sein, um unserenVerband sozialpolitisch so aufzustellen, dass wirfür die Probleme der Menschen in unserer Gesell-schaft die richtigen Antworten finden.

Die AWO ist als Wohlfahrtsverband mit sozialpoliti-schem Auftrag verpflichtet, sich in die Diskussio-nen zur Zukunft der Sozialpolitik einzumischen.Vor unserem geschichtlichen Hintergrund als Teilder Arbeiterbewegung und als demokratischerMitgliederverband ist es richtig, Sozialpolitik zudiskutieren und gleichzeitig soziales Engagementdarzustellen.

Auf der Sonderkonferenz 2002 in Aachen wurdendie Ziele einer zukünftigen Sozialpolitik diskutiertund beschlossen:

1. Überwindung der Abhängigkeit von Transfer-leistungen

2. Stärkung der Prävention3. Stärkung von Integration und Teilhabe und4. Einbeziehung der Stärken der Betroffenen an-

stelle von Sanktionierung ihrer Schwächen

Diese Diskussion gilt es heute fortzusetzen undneue Impulse für die Entwicklung und die Praxissozialer Politik zu beschließen.

Mit der „Essener Erklärung“ sind wir hierbei aufeinem richtigen Weg.

Ich wünsche der Konferenz daher intensive Dis-kussionen und Beratungen sowie einen guten Ver-lauf mit Ergebnissen, die in die Zukunft weisen.

Glück auf!

Grußworte • Michael Franz

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Reden

„Zusammenhalt stärken –Ausgrenzung verhindern“

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Reden • Wilhelm Schmidt

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Wilhelm SchmidtVorsitzender des Präsidiums des AWO Bundesverbandes e.V.

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Im aktuellen AWOmagazin antwortet ProfessorFrank Nullmeier, der später noch zu uns sprechenwird, auf die Frage nach den Folgen der Wirt-schafts- und Finanzkrise wie folgt: „Während sichfür die (...) Gutverdienenden die Krise schon wie-der als überwundenes Geschehen verflüchtigt,werden all jene Bevölkerungsteile, die stärker auföffentliche Güter und Sozialleistungen angewiesensind, nun einer strikten Sparpolitik unterworfen“.Betrachten wir die aktuellen Politikvorhaben derBundesregierung, dann kann man nur sagen: Lei-der hat er Recht.

Ich muss ganz offen gestehen: Was in den letztenWochen und Monaten von der schwarz-gelbenKoalition an Politik betrieben und Gesetzesvorha-ben auf den Tisch gelegt wurde, habe ich in derForm noch nicht erlebt. Man konnte sich ja bei ei-ner schwarz-gelben Regierungskoalition auf eini-ges gefasst machen, aber was gegenwärtig pas-siert, ist nicht zu überbieten. Das ist ein massiverAngriff auf große Teile der Gesellschaft. Neben deninhaltlichen Grobheiten in der Sozialpolitik – aufdie ich noch eingehen werde – ist für mich vor al-lem der unwürdige Umgang mit den betroffenenMenschen schlicht nicht nachvollziehbar und auchnicht hinzunehmen. Mir ist nicht klar, mit welcheiner Vorstellung vom Menschen die politisch Han-delnden der Bundesregierung ihre Politik ange-hen. Das ist alles so weit entfernt vom Alltag vonMillionen von Menschen und hat mit sozialer Ge-rechtigkeit rein gar nichts mehr zu tun. Oder wiestand es mit Blick auf die Vorhaben zu den HartzIV-Regelsätzen diese Woche so treffend in derSüddeutschen Zeitung:

„Die Bundesregierung hat den Graben zwischenArm und Reich vergrößert. Diese Koalition bedientHoteliers, schont Vermögende beim Sparpaket,fördert die Atomindustrie, lehnt einen bundes-weiten Mindestlohn ab, aber hebt ausgerechnetbei Langzeitarbeitslosen den moralischen Zeige-finger (...)“

Kurzum: Es wird eine Politik für die Wenigen undauf Kosten der Mehrheit der Bürgerinnen und Bür-ger gemacht; es ist eine Politik, die die starken In-teressen prämiert und die schwachen Interessenüberhört. Dies wird – das sagt einem der gesundeMenschenverstand – mittel- und langfristig denVerdruss der Betroffenen auf politisch Verantwort-liche und das Gemeinwesen erhöhen. Es wird dieSpaltung vergrößern und somit den Zusammenhaltinnerhalb der Gesellschaft gefährden.

Um so wichtiger ist es deshalb, gegen diese be-wusste Inkaufnahme gesellschaftlicher Spaltungenanzugehen. Für uns als AWO war das in der über90-jährigen Geschichte ganz wesentliche Motiva-tion in unserem Handeln. Unsere Streiterinnenund Streiter für eine freie, gerechte und solidari-sche Gesellschaft haben dies immer wieder ein-drucksvoll gezeigt. Aktuell setzen wir als AWO mitunserer Kampagne „Jetzt geht’s ans letzte Hemd“ein Zeichen gegen den Sozialabbau und für denZusammenhalt in Deutschland. Nach dem öffentli-chen Protest vor dem Berliner Reichstagsgebäudewährend der Haushaltsberatungen des Bundesta-ges ist diese Sozialkonferenz ein weiterer wichtigerTeil dieser Kampagne. Wir wollen nicht nur protes-tieren, sondern auch inhaltlich argumentieren.Deshalb freue ich mich, dass wir hier in Essen zudieser Sozialkonferenz zusammengekommen sind.

In den aktuellen Debatten um die Hartz IV-Regel-sätze gehen die beschlossenen sozialpolitischenKürzungsvorhaben fast schon wieder unter.

Fest steht:

Die Sparbeschlüsse, die die Bundesregierung zurKonsolidierung der öffentlichen Haushalte vorge-legt hat, und die in den Haushalt 2011 einfließensollen, belasten einseitig sozial schwache Men-schen. Dagegen werden die Krisenverursacher,Vermögenden und Spitzenverdiener auffällig ge-schont.

Thema Elterngeld

Hier sollen Einsparungen von etwa 500 MillionenEuro pro Jahr durch eine Anrechnung des Eltern-geldes auf Leistungen des Arbeitslosengeldes II er-reicht werden.

Für die betroffenen Menschen bedeutet dies einedramatische Reduzierung ihrer Einkünfte, insbe-sondere für die laut Angaben der Bundesregierungcirca 47.000 weiblichen und die rund 500 männ-lichen Alleinerziehenden. Auch erwerbstätige El-tern, die so wenig verdienen, dass sie zusätzlicheinen Minijob annehmen, oder ihren Niedriglohnmit Leistungen der Grundsicherung aufstockenmüssen, könnten künftig weniger Elterngeld be-kommen. Denn Pläne des zuständigen Ministeri-ums stellen in Frage, dass ihnen derzeit der Min-destbetrag von 300 Euro monatlich zusätzlich zuden Grundsicherungsleistungen für maximal 14Monate gewährt wird.

Reden • Wilhelm Schmidt

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Zusammenhalt stärken – Ausgrenzung verhindern

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Thema Rentenbeiträge für Langzeitarbeitslose

Die schwarz-gelbe Regierung will die Renten -beiträge für Langzeitarbeitslose streichen. Das be-deutet, dass deren Altersrenten sinken und im Er-gebnis mehr Menschen im Alter Leistungen derGrundsicherung beanspruchen müssen. Dies be-lastet dann wiederum die Haushalte der ohnehinfinanziell klammen Kommunen, denn sie müssendie Leistungen der Grundsicherung finanzieren.

Thema Qualifizierungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit

Bei der Bundesagentur für Arbeit sollen Pflicht -leistungen durch Ermessensleistungen ersetzt wer-den. Zu den bisherigen Pflichtleistungen gehörenetwa Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichenEingliederung sechs Monate nach Eintritt der Arbeitslosigkeit, Eingliederungsgutscheine für äl -tere Arbeitnehmer, Berufsausbildungsbeihilfe, dieVorbereitung auf den nachträglichen Erwerb desHauptschulabschlusses sowie das Kurzarbeitergeld.

Wenn diese Pflichtleistungen zu Leistungen wer-den, deren Gewährung im Ermessen der Bundes-agentur für Arbeit liegen, hat dies fatale Auswir-kungen auf die Eingliederung benachteiligterMenschen in den Arbeitsmarkt. Die Hauptleid -tragenden wären Mehrfachbenachteiligte, Ältere,Menschen mit Behinderung sowie junge Menschenohne Schulabschluss.

Das Fördern, das ohnehin in den vergangenenJahren gegenüber dem Fordern zu wenig die Ar-beitsmarktpolitik bestimmte, würde noch weitergeschwächt.

Thema schnellerer Übergang zu Hartz IV

Der befristete Zuschlag für Arbeitslose, die aus demArbeitslosengeld I in das Arbeitslosengeld II wech-seln müssen, soll wegfallen. Für die Betroffenenbedeutet das einen erkennbaren Einschnitt. DieGefahr des sozialen Abstiegs, den viele Menschenschon heute fürchten, wird dadurch größer undbeschleunigt. Die Verunsicherung der Menschennimmt zu.

Thema Heizkostenzuschuss

Der Heizkostenzuschuss für Wohngeldempfängersoll eingespart werden. Darunter leiden vor allemältere Menschen und Familien mit Kindern, die

bislang am Häufigsten von dieser vorgelagertenSozialleistung profitieren. Zudem handelt die Re-gierung hier kurzsichtig, da auch in Zukunft dieEnergiepreise nicht vorhersehbar sein werden.

Thema ungedeckelte Zusatzbeiträge in der Gesetzlichen Krankenversicherung

In Zukunft werden neben höheren Beitragssätzenauch noch erhöhte pauschale Zusatzbeiträge ein-geführt, die einseitig alle Versicherten betreffenund insbesondere Geringverdiener belasten. Diebewährte paritätische Finanzierung durch Arbeit-nehmer und Arbeitgeber soll aufgegeben werden.

Kurzum: Wir brauchen die Einführung einer Bür-gerversicherung, in der alle beruftätigen Men-schen einzahlen, egal ob Beamte, Selbstständigeoder Angestellte.

Während sich also Hoteliers über Steuerentlastun-gen durch die schwarz-gelbe Bundesregierungfreuen können und die Banken nur minimal mitinsgesamt 6 Milliarden Euro an den Kosten derWirtschafts- und Finanzkrise beteiligt werden,sollen im Sozialbereich über 30 Milliarden Euroeingespart werden! Dies sind mehr als 40 Prozentdes gesamten kalkulierten Sparvolumens vonknapp 80 Milliarden Euro, das die Bundesregie-rung binnen vier Jahren einsparen will.

Dies ist keine ausgewogene oder gerechte Politik.Schlimmer noch: es ist ein ignorantes Verhalten gegenüber den Betroffenen. Es ist eine bewussteMissachtung derjenigen, die ihre Proteststimmenicht so laut erheben können, weil eben keine ge-ölten Kommunikationsmaschinen mächtiger Unter-nehmen ihre Anliegen unterstützen und massivenDruck auf die Bundesregierung ausüben – wie esdas dreiste Vorgehen der Atomlobby jüngst zeigte.

Die kommenden Monate werden für unser Landvon großer Bedeutung sein. Wenn die Bundesre-gierung mit ihren Vorhaben „durchkommt“, ha-ben wir ein anderes Land.

Die AWO setzt sich mit ihren 400.000 Mitglieder, den100.000 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfernund 150.000 Hauptamtlichen für den Zusammen-halt der Gesellschaft ein. Dies ist Auftrag unsererGründerin. Mehr denn je wird es nun darum gehen,die Stimme und die Tatkraft für Gerechtigkeit undZusammenhalt in der Gesellschaft zu erheben. DieSchere zwischen Arm und Reich kann nur geschlos-

Reden • Wilhelm Schmidt

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Page 20: Dokumentation | AWO Fachkonferenz  2010 | „Zusammenhalt stärken - Ausgrenzung verhindern“

sen werden, Kinderarmut kann nur bekämpft,Lohn- und Altersarmut nur dann wirksam zurückge-drängt werden, wenn die Politik starke Schulternmehr belastet als Schwache. Mit unserer Kampagnewollen wir versuchen zu verhindern, was zu verhin-dern ist; wollen wir auch als AWO zeigen: Armut – obals Kind oder im Alter – darf es in einem so reichenLand wie Deutschland nicht geben.

Und wenn das Eintreten in den letzten Jahren undJahrzehnten für die armen Menschen in Deutsch-land gerne auch einmal arrogant belächelt wurde,dann müssen wir als AWO erst recht dafür sorgen,dass der Abstieg in existenzielle Nöte nicht beför-dert, sondern den Betroffenen ein Weg aus ihrerArmut aufgezeigt wird. Stärker noch als bisher,müssen wir für die Menschen „da sein“, uns umsie kümmern.

Wie wir da noch besser werden können – auchdafür sind wir heute in Essen zusammengekom-men.

Einen inhaltlichen „Aufschlag“ für die heutigenDiskussionen ist die so genannte Essener Erklärung„Zusammenhalt stärken – Ausgrenzung verhin-dern“, die das Präsidium auf seiner Sitzung am 27. August 2010 verabschiedet hat und Euch allenzur Beratung vorliegt.

Wir haben im Präsidium lange diskutiert und auchvor dem Hintergrund der Beschlusslage der letztenBundeskonferenz die Themen

•Kinder- und Jugendarmut•Perspektiven der Arbeitsmarktpolitik•Altersarmut

in den Mittelpunkt dieser Konferenz und der Esse-ner Erklärung gestellt.

Wir hätten etwa auch die Fragen einer zukünftigenBehindertenpolitik oder Einwanderungsfragen mitgenau der gleichen Gewichtigkeit diskutieren kön-nen. Von daher gestattet mir – bevor ich näher aufdie Essener Erklärung eingehe – noch ein paarkurze Anmerkungen zu den beiden genanntenThemenfeldern.

Menschen mit Behinderung

Die Sozialpolitik für Menschen mit Behinderungenunterliegt zweifellos einem grundlegenden Wan-del. Unter Schlagworten wie Partizipation und In-

klusion finden sie Einzug in die praktische Arbeitder AWO. Von zentraler Bedeutung ist dabei dieUmsetzung der UN-Behindertenkonvention von2009. Für die AWO bedeutet dies, dass wir in un-seren Einrichtungen und Diensten die Ambulanti-sierung vorantreiben, die Selbstbestimmung undSelbsthilfe für Menschen mit Behinderung fördernund neue Wege für einen inklusiven Sozialraumschaffen.

Wir wollen die gleichen Rechte von Menschen mitBehinderung in den Vordergrund unserer Dienst-leistung stellen. Wir wollen nicht über Menschenmit Behinderung reden, sondern mit ihnen. In un-serem Sozialbericht „Was hält die Gesellschaft zu-sammen?“ aus dem vergangenen Jahr haben wirdiese Handlungs- und Planungsperspektiven fürden Verband umsetzungsrelevant beschrieben. Wirals AWO gehen damit neue Wege in der Sozialpolitikfür und mit Menschen mit Behinderung. Für uns alsAWO ist auch hier klar und selbstverständlich: AlleMenschen – unabhängig von ihren Behinderungen– müssen gerechte Teilhabechancen erhalten.

Einwanderung/Migration/Integration

In dem bereits angesprochen AWO-Sozialberichtaus dem Jahre 2009 wurde auch das ThemenfeldMigration ausführlich bearbeitet. Demnach ist kurzgesagt klar: Migrantinnen und Migranten inDeutschland leben in erheblichen Risikolagen be-zogen auf Bildung, Ausbildung und Arbeit, die sienicht zu verantworten haben.

Für die AWO war und ist in Integrationsdebatteneines immer klar: Eine der wichtigsten Vorausset-zungen für die Gestaltung der Einwanderungsge-sellschaft besteht darin, sich zu vergewissern,welche gesellschaftlichen Spielregeln für die ge-meinsame Zukunft gelten sollen. Das heisst, es bedarf einer Verständigung darüber, in welchemUmfang staatliche Integrationsleistungen erfor-derlich sind und welche Integrationsleistungenvon Migrantinnen und Migranten zu Recht erwar-tet werden können.

Es ist Aufgabe der AWO, Menschen mit Migrations-hintergrund auf der Basis von Respekt und Aner-kennung zu begegnen. Und um es auch an dieserStelle deutlich zu sagen: Migrantinnen und Mi -granten können sich darauf verlassen, dass sie inunseren Einrichtungen, Diensten und Maßnahmendie Unterstützung bekommen, die sie benötigen –auf der Grundlage wechselseitiger Anerkennung.

Reden • Wilhelm Schmidt

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Page 21: Dokumentation | AWO Fachkonferenz  2010 | „Zusammenhalt stärken - Ausgrenzung verhindern“

Im Verlaufe der letzten zwei Jahrzehnte wurdenwir Zeugen, wie umherirrende Apostel des freienMarktes aus Politik, Wirtschaft und Medienöffent-lichkeit beinahe gebetsmühlenartig immer wiederden Abbau oder Rückzug des Sozialstaates gefor-dert haben. Jeder Mensch sollte am besten seineseigenes Glückes Schmied sein. In diese Richtungweist auch die Politik der Bundesregierung – unddas nur knapp 2 Jahre nach dem Zusammenbruchder Wirtschafts- und Finanzmärkte.

Dabei hat die Wirtschafts- und Finanzkrise deut-lich gezeigt: ohne einen handlungsfähigen Sozial-staat und regulierende Maßnahmen geht es nicht.Der Zusammenhalt unserer Gesellschaft ist ohneeinen starken Sozialstaat schlicht nicht möglich.Die hohen Schulden haben den Staat in seinerHandlungsfähigkeit jedoch schon so weit einge-schränkt, dass gar nicht absehbar ist, wann er sichvon dieser Umklammerung wieder lösen kann.

Es wäre skandalös, wenn sich in Folge der Wirt-schaftskrise der Arbeitsmarkt so wandelt, dassVollerwerbstätige ihren Lebensunterhalt nichtmehr bestreiten können; dass Millionen von Men-schen in Mini-, Teilzeit- oder Leiharbeitsverhält-nissen arbeiten, die wiederum nur durch zusätz -liche staatliche Leistungen ein Existenzminimumermöglichen.

Kurzum: Wollen wir eine weitere Spaltung der Ge-sellschaft verhindern, brauchen wir gesetzlicheMindestlöhne! Die AWO fordert das seit langem.Leider kann dieses Vorhaben aufgrund der politi-schen Konstellation nicht umgesetzt werden.

Ungewissheiten auf dem Arbeitsmarkt, Unsicher-heiten in der Beschäftigung, rückläufige Staats-leistungen für Bildung und Erziehung – all dies istein Nährboden für Kinder- und Jugendarmut, diemittel- bis langfristig auch in Altersarmut mündenkann. All dies ist vor allem da spürbar, wo das eigentliche Herz des Zusammenlebens schlägt: inden Gemeinden und Kommunen. Die Folgen derWirtschaftskrise, Sparmaßnahmen von Bund undLändern oder Steuersenkungen fallen potenziertden Handelnden vor Ort besonders schwer auf dieFüße. Dies bleibt natürlich nicht ohne Nebenwir-kungen für die soziale Arbeit. Wir als AWO spürendas vielerorts bereits.

Der Bundesverband stellt derzeit ein so genanntesSchwarzbuch zu der prekären Lage der sozialen Ar-beit vor Ort zusammen. Diese Zusammenstellung istwahrlich keine Jubelliste. Es ist auch noch nicht ab-sehbar, wie wir als AWO mit unseren Einrichtungen,Diensten und als Verband damit umgehen können.Eines möchte ich aber an dieser Stelle deutlich be-tonen: Bei allem Druck, der mancherorts spürbar istund spürbar werden wird: Wir dürfen als AWO aufkeinen Fall unsere Qualität der Arbeit vernachläs -sigen oder auf geringe Entlohnung „setzen“. Dieswäre auf lange Sicht gesehen ein solch hoherGlaubwürdigkeitsverlust, der das Leben und Über-leben vor Ort erst Recht schwer macht.

Bei aller berechtigten Sorge um die Angebote undDienstleistungen dürfen wir ebenso die Zukunftunseres Mitgliederverbandes nicht aus den Augenverlieren. Ebenso wenig darf unsere sozialpoliti-sche Stimme verstummen. Im Gegenteil. Der Drei-klang in der AWO aus Mitgliederverband, Sozial-wirtschaft und sozialer Interessenvertretung darfnicht gestört werden.

Klar muss sein: Wir wollen als AWO nahe bei denMenschen und ihren Bedürfnissen sein.

Für mich ist hierbei die Kampagne „Jetzt geht’s anletzte Hemd“ ein mehr als ermutigendes Zeichen.Aus zahlreichen Gliederungen unseres Verbandeswird die Kampagne unterstützt. Ich finde, da istbisher tolle Arbeit geleistet worden, die uns alleoptimistisch stimmen sollte, wie wir auch künftigals AWO gemeinsam auftreten können.

Mit unserem hohen ehrenamtlichen Einsatz wollenwir einen spürbaren Beitrag dazu leisten, dass denMenschen am Rande der Gesellschaft wieder einePerspektive; dass wir ihnen Teilhabe wieder er-möglichen!

Ich wünsche mir ertragreiche Diskussionen undgreifbare Ergebnisse von dieser Sozialkonferenz.Mit der Essener Erklärung hoffen wir als Präsidium,Euch eine gute Beratungsgrundlage vorgelegt zuhaben und freuen uns, die heutigen Anregen indie Erklärung aufzunehmen.

Vielen Dank!

Reden • Wilhelm Schmidt

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Page 22: Dokumentation | AWO Fachkonferenz  2010 | „Zusammenhalt stärken - Ausgrenzung verhindern“

Reden • Sigmar Gabriel

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Sigmar GabrielVorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

Page 23: Dokumentation | AWO Fachkonferenz  2010 | „Zusammenhalt stärken - Ausgrenzung verhindern“

Lieber Wilhelm Schmidt, lieber Wolfgang Stadler, meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich danke herzlich für die Einladung der Arbeiter-wohlfahrt, einen Beitrag zur heutigen Fachkonfe-renz zur Zukunft der Sozialpolitik zu leisten. Vor al-lem bedanke ich mich dafür, dass die AWO sichdieses Themas annimmt und damit ein wichtigesZeichen setzt – gerade in einer Zeit, in der das So-ziale in der Politik aus dem Blick zu geraten scheint.

Denn die Bundesregierung orientiert sich in ihrerPolitik ganz offen an den Interessen großer priva-ter Unternehmen und nicht an den Bedürfnissender großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürgerin Deutschland.

Wilhelm Schmidt hat darauf eben hingewiesenund die Felder benannt, wo Zusammenhalt in un-serer Gesellschaft gefährdet ist und Ausgrenzungdroht. Dort also, wo wir uns dafür einsetzen müs-sen, dass dem Sozialen als Gestaltungsprinzip derPolitik wieder Geltung verschafft wird.

Das Motto „Zusammenhalt stärken – Ausgrenzungverhindern“, dass die AWO der Essener Erklärunggegeben hat, passt in diese Zeit und ich begrüßedieses Engagement der Arbeiterwohlfahrt für die-ses Thema sehr. Was heute hier beraten wird, trifftden Kern dessen, um was es hierzulande geradegeht.

Mangelnde Fairness

Wir haben in den letzten Monaten schwierige Zei-ten erlebt. Die Krise hatte für viele ganz alltäglicheFolgen. Dazu kam Unsicherheit über das, was nochkommt. Doch überall treffe ich trotzdem auf Opti-mismus und Hoffnung, Kraft und Einsatz.

Aber ein Thema nehmen die Leute sehr wichtig, esbeunruhigt und bewegt sie. Unterwegs im Landsprechen mich die Menschen immer wieder aufdie gleiche Beobachtung an: Es geht nicht fair zu.

Viele Beobachtungen nähren dieses Gefühl, dasses nicht gerecht zugeht, dass Menschen nichtgleich geachtet, dass Leistung nicht wertgeschätztwird, dass es an Solidarität mangelt.

Die Leute sehen, dass in ihrer Nachbarschaft, beiihren Freunden oder in der Familie Menschen mit

unsicheren Situationen zu kämpfen haben, diesich vor einigen Jahren keine Gedanken über wirt-schaftliche Probleme machen mussten.

Besonders augenfällig wird das beim Umgang mitArbeit. Auch da hat die Fairness gelitten.

Die Erfahrung, dass man für anständige Arbeit undAnstrengung längst nicht mehr immer auch einenfairen Lohn bekommt, kennt inzwischen beinahejeder aus alltäglichem Erleben.

Seit 1995 ist Deutschland bei der Entwicklung derLöhne Schlusslicht in Europa. Gleichzeitig sind dieEinkommen aus Vermögen und aus Spekulationdurch die Decke gegangen.

Der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit!“gilt noch lange nicht, wenn Frauen immer nochein Viertel schlechter bezahlt werden als Männer!Zu niedrige Löhne treffen direkt die „kleinen Leu-te“. Aber sie setzen längst auch die Mittelschichtunter Druck, die Einkommensmitte in Deutsch-land. Mancher ist aus ordentlicher Arbeit in solcheJobs hinein gedrängt worden.

Dazu sind zu niedrige Löhne eine schwere Hypo-thek für die Renten! Denn Basis für vernünftigeRenten sind ordentliche Löhne, daran bemessensich die Rentenbeiträge ebenso wie später Ren-tenanspruch und Rentenhöhe.

Leiharbeit, sachgrundlose Befristungen und im-mer neue Formen flexibler Beschäftigung erhöhenden Druck nach unten.

Alleinerziehende, Frauen nach der Babypause, Ältere oder junge Leute ohne Abschluss kriegenkaum noch eine Chance auf ordentliche Arbeit.

Viel zu wenige schaffen es noch, bis zum normalenRentenalter im Beruf zu bleiben. Vier von Fünfüber 60-jährigen sind schon nicht mehr in Ar-beit!

Das sind ganz persönlichen Erfahrungen vielerMenschen, die ein Gefühl befördern: Das ist nichtfair!

Das verstärkt sich noch, wenn man sieht, dass diejenigen, die es könnten, immer weniger mit-helfen. Die Steuerlast sollen allein Arbeitnehmer,kleine Selbstständige und Handwerker tragen.

Reden • Sigmar Gabriel

Zur Zukunft des Sozialen in der Politik

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Die Regierung lässt gleichzeitig Vermögende, Kon-zerne und reiche Erben aus der Pflicht. In der Fol-ge zerbröckeln Straßen und Schulgebäude, werdenSporthallen und Kinderbibliotheken geschlossen,weil die Städte kein Geld mehr haben.

Das, was ich immer wieder zu hören kriege, ist Un-mut und Sorge bei vielen über die gesellschaftlicheEntwicklung in Deutschland:

Die Menschen erleben eine Gesellschaft, die Ein-stieg und Aufstieg blockiert. Eine Gesellschaft,die Lasten und Chancen unfair verteilt. Eine Ge-sellschaft, die Sicherheiten nimmt, weil sie Unsi-cherheit als Triebfeder für Leistung nutzen will.

Das löst Angst aus und keinen Aufschwung!

Immer mehr Menschen in unserem Land leben inUnsicherheit über ihre Zukunft und in der Sorge,dass sie von Abstieg bedroht sind. Ihnen müssenwir neue Sicherheit geben. Wer den Rücken freihat, kann nach vorne schauen und Leistung brin-gen.

Immer mehr Menschen sehen schwarz für ihre Zu-kunft, fühlen sich bedroht von ständig steigendenAnforderungen, glauben nicht an ihre Chance, biszur Rente arbeiten zu können. Ihnen müssen wirdiese Chance schaffen, auch Aufstieg ermöglichen.

Immer mehr Menschen haben sich innerlich ver-abschiedet, haben sich abgefunden, bleiben au-ßen vor. Wir müssen dafür sorgen, dass keiner zurückbleibt, dass alle die Chance auf Teilhabebekommen – und zwar immer wieder.

Gute Tradition der AWO

Meine Damen und Herren, es ist sicherlich kein Zu-fall, dass sich gerade die Arbeiterwohlfahrt umden Zusammenhalt der Gesellschaft sorgt. Denn espasst zu ihrer über 90jährigen Geschichte und Tra-dition. Das rote Herz ist Markenzeichen dafür.

„Aus der Fülle der praktischen Arbeit heraus ist dasstarke Verstehen für die Probleme (…) erwachsen“,so lautet schon das erste Fazit von Marie Juchacznach zehn Jahren Arbeiterwohlfahrt.

Darin ist sich die AWO treu, sie ist aus ihrer Arbeitheraus „eine sozialpolitische Organisation“, dieauch „mit den Mitteln der Politik die gesetzlichen

Grundlagen (…) der Wohlfahrtspflege verbessernund neuschaffen will“, wie Lotte Lemke es einmalbeschrieb.

Nach vielen Jahrzehnten ihres Wirkens ist die Ar-beiterwohlfahrt unverzichtbarer Bestandteil unse-res sozialen Gemeinwesens.

Mit ihren 400.000 Mitgliedern, den 100.000 eh-renamtlich Tätigen und 145.000 hauptamtlich Be-schäftigten ist die AWO eine feste Größe in allenBereichen des Wohlfahrtswesen Deutschlands.

Die Arbeiterwohlfahrt war und ist aber gleichzeitigTeil der sozialdemokratischen Arbeiterbewegungund eine politische Interessengemeinschaft, derenMitglieder für soziale Gerechtigkeit und sozialenFortschritt eintreten.

Bei der Gründung der Arbeiterwohlfahrt durch denSPD-Parteivorstand am 13. Dezember 1919 ging esdarum, die Mitwirkung der Arbeiterschaft an derWohlfahrtspflege und an der Sozialgesetzgebungsicherzustellen.

Auch heute bestimmen Solidarität, Toleranz, Frei-heit, Gleichheit und Gerechtigkeit das Handeln derArbeiterwohlfahrt.

Dabei kann sich die AWO sicher sein, dass sie dieSPD stets an ihrer Seite hat – auch dann, wenn wirmanche Dinge gelegentlich aus unterschiedlichenBlickwinkeln betrachten.

Kritik an der Bundesregierung

Meine Damen und Herren,

bei der Analyse der Politik der Bundesregierungsind wir uns indes vollkommen einig: „Das vorlie-gende (Spar-)Konzept der Bundesregierung (…)gefährdet den sozialen Zusammenhalt und ver-schärft die soziale Ungleichheit!“ So heißt es tref-fend in der Essener Erklärung. Schwarz-gelb be-treibt eine Politik ohne jeden sozialen Kompass.

Dieses Regierungsbündnis war angetreten mit demselbsterklärten Anspruch, den Zusammenhalt zustärken. Und genau das Gegenteil machen sie: Siefördern die Spaltung der Gesellschaft. Sie verletzenFairness und Bürgersinn, Verantwortung und An-stand. Ohne Orientierung am Gemeinwohl und amZusammenhalt.

Reden • Sigmar Gabriel

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Stattdessen machen sie eine Politik mit erhebli-cher sozialer Schlagseite. Sie schnüren ein Sparpa-ket, in dem vor allem die Schwächsten in der Ge-sellschaft die Zeche zahlen. Ein Sparpaket, das sichdas Soziale selbst spart.

Statt etwas für die Familien und Alleinerziehendenzu tun, wird das Elterngeld für Hartz IV-Empfängergestrichen. Mehr als 100.000 Familien und 50.000Alleinerziehende bekommen deshalb nächstesJahr spürbar weniger. Sie zahlen pro Jahr 3.600 €für die Folgen der Krise, die Verursacher lässt Mer-kel laufen.

Und auch die Beiträge zur Rentenversicherung fürHartz-IV-Bezieher sollen gestrichen werden. Esmag ja richtig sein, dass aus diesen Beiträgen ohnehin keine großen Ansprüche entstehen.

Aber die Begründung zeigt die Richtung, in die dieMerkel-Koalition marschiert: Sie sagen, es gebedoch die Grundsicherung. Das bedeutet dochnichts anderes als: Ja, Ihr werdet im Alter armsein, findet Euch einfach damit ab. Merkel undvon der Leyen schreiben Millionen Menschen ein-fach ab!

Das setzt sich bei der aktiven Arbeitsmarktpolitikfort. Die wird zum Steinbruch des Haushaltes.

Dort, wo es vorher Ansprüche auf aktivierendeMaßnahmen gab, soll es künftig im Ermessen derJob-Center liegen, wer noch Hilfe bekommen soll.Auf jeden Fall sollen es viel weniger Menschensein, denn die Mittel werden zusammen gestri-chen.

Diese ist Arbeitsmarktpolitik nach Kassenlage undnach Gutdünken nimmt den betroffenen Men-schen Chance und Perspektive.

Dass es ihnen nicht um Zusammenhalt, sondernum Ausgrenzung geht, zeigt sich am deutlichstenbei der Frage, wie die Grundsicherung gestaltetwird.

Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich ge-macht, was das Gebot des Grundgesetzes ist:

Der Anspruch darauf, ein Minimum an Möglichkei-ten zur Teilhabe in der Gesellschaft und zur per-sönlichen Entfaltung zu haben, begründet sich ausnicht weniger als der Würde des Menschen!

Meine Damen und Herren,

das ist ein hoher Maßstab. Doch die Regierung un-terläuft das Urteil mit undurchsichtigen Tricksereien.

Da wurde um die Regelsätze geschachert, bis siezur Kassenlage passten. Transparenz des Verfah-rens? Fehlanzeige! Monatelang hat Frau von derLeyen in Hinterzimmern rechnen und feilen lassenund dabei die große Chance vertan, gemeinsammit den Ländern und Kommunen etwas zu ent -wickeln, das wirklich wirksam ist gegen die Armutin unserem Land.

Wir werden uns die Vorschläge der Bundesregie-rung sehr genau ansehen. Wir werden keinem Ge-setz zustimmen, das nicht alle Vorgaben des Bun-desverfassungsgerichts erfüllt.

Wenn die das Lohnabstandsgebot ins Feld führendafür, dass sie die Regelsätze klein rechnen, dannsage ich: Anreiz zum Arbeiten gibt man nicht, in-dem man die Sozialleistungen rasiert. Sondern mitanständigen Löhnen!

Der jetzt gemachte Vorschlag – 5 Euro mehr –zeigt: Maßstab der Bundesregierung ist nicht, einMindestmaß an Teilhabe und persönlicher Entfal-tung zu ermöglichen. Maßstab ist, möglichst wenigLeistung auszuzahlen.

Das spricht der Würde der betroffenen MenschenHohn. Das missachtet das Verfassungsgericht. Daszeigt die Verantwortungslosigkeit der Regierung.

Und es demonstriert das Prinzip dieser Regierungin der Sozialpolitik: Almosen nach Gutherrenartstatt sozialer Rechte.

Klientelpolitik

Wenn dann gleichzeitig die „Belle Etage“ der Ge-sellschaft bedient und hofiert wird und die Lobby-Politik bei Atom und Gesundheit fröhliche Urstän-de feiert, wird vollends klar:

Es fehlt dieser Koalition vollständig jede Bereit-schaft, der Gesellschaft als ganzer und nicht nurPartikularinteressen zu dienen.

Sie haben weder Blick noch Sinn für eine Politik,die Zusammenhalt stärkt, die Ausgrenzung ver-hindert.

Reden • Sigmar Gabriel

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Reden • Sigmar Gabriel

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Das Soziale in der Politik

Die Arbeiterwohlfahrt warnt daher in der EssenerErklärung zu recht so eindringlich vor einer Spal-tung der Gesellschaft.

Ich will aber noch einen Schritt weiter gehen. Dennes geht nicht nur darum, in den einzelnen Feldernder Sozialpolitik das Richtige zu tun. Es kommt vorallem darauf an, dass wir das Leitbild des Sozialenin der Politik wieder sichtbar machen.

Möglich zu machen, dass alle Menschen am Lebendieser Gesellschaft gleichermaßen teilhaben kön-nen, muss das Leitbild des Sozialen in der Politiksein, das ist die Grundforderung von Demokratie.

Die SPD ist und bleibt die Partei in Deutschland,deren Politik darauf zielt, durch soziale Gerechtig-keit den gesellschaftlichen Zusammenhalt zuwahren, Einstiege und Aufstiege zu ermöglichen.

Dieses Leitbild der Integration und Inklusion, derumfassenden Teilhabe aller an den Gesellschaft,ihren Wohlstand und ihrem Fortschritt und dasgemeinsame von Werten, Wohlstand und Gerech-tigkeit müssen unser politischer Kompass sein –eben das Soziale in der Politik.

Niemand soll weniger Chancen haben wegen sei-ner ethnischen oder kulturellen Zugehörigkeit.

Die Alleinerziehende muss die gleichen Chancenauf dem Arbeitsmarkt haben wie Kinderlose oderdie klassische Familie.

Wer schwer krank und pflegbedürftig ist, mussdurch Rehabilitation eine neue Chance bekommen.

Wer Behinderungen hat, darf deswegen nicht ander Teilhabe gehindert werden.

Solidarische Unterstützung schaut nicht darauf,wer jemand ist, sondern will seine Freiheit undTeilhabe verwirklichen.

Darum ist das Soziale in der Politik mehr, als denSozialstaat und die sozialen Sicherungssystemeweiterzuentwickeln. Es ist Maßstab dafür, wie wirsie weiterentwickeln.

Für Sozialdemokratinnen und Sozialdemokratenist klar: Wir wollen eine Gesellschaft mit Dynamik,Innovation, Fortschritt und Vielfalt. Und wir wollen

eine Gesellschaft des Zusammenhaltens, der Ori-entierung, der Zugehörigkeit und der Solidarität.

Fairness auf dem Arbeitsmarkt

Im Zentrum einer sozialen Politik steht für die SPDeine produktive, gerechte und demokratische Arbeitswelt. Sie gehört an die erste Stelle, wenn esum das Soziale in der Politik geht.

Der deutsche und der europäischen Arbeitsmarktsind unfair geworden. Globaler Wettbewerb unddie Wirtschafts- und Finanzkrise haben die Ar-beitsmärkte unter erheblichen Druck gesetzt.

Das erleben die Beschäftigten im Arbeitsalltag.

Mehr als 20 Prozent der Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer arbeiten in Deutschland im so ge-nannten „Niedriglohnsektor“.

Über 5 Millionen Menschen arbeiten für wenigerals 8 Euro pro Stunde. Mindestens 1,2 Millionenarbeiten für weniger als 5 Euro pro Stunde.

Und mindestens 1,3 Millionen Menschen müssensich nach der Arbeit noch staatliche Unterstützungholen, weil ihre Löhne zu niedrig sind, um wenigs-tens das gesetzliche Existenzminimum abzusichern.

Leiharbeit und sachgrundlose befristete Beschäfti-gung, die ursprünglich dazu dienen sollten, Über-stunden abzubauen und Arbeitsplätze neu zuschaffen, gefährden normale, tarifgebundene Ar-beitsplätze und erweisen sich als „Lohndrücker“.

Für viele Arbeitnehmer wurde beim Lohn ein„Fahrstuhl nach unten“ geschaffen. Besondersvielen jungen Menschen wird eine vernünftige Le-bens- und Familienplanung verwehrt.

In Deutschland muss auf dem Arbeitsmarkt wiederOrdnung geschaffen werden. Dazu gehören Spiel-regeln, die den Unternehmen ebenso helfen wieden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.

Wir wollen Arbeit, von der man leben kann undBeschäftigungsangebote für diejenigen, die der-zeit keine Chance auf einen Arbeitsplatz im so ge-nannten „ersten Arbeitsmarkt“ haben.

Arbeitsplatzsicherheit ist für Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer von großer Bedeutung. Nur ein

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sicherer Arbeitsplatz ermöglicht, dass man sein Leben ordentlich planen kann.

Deshalb ist es notwendig, das klassische, unbe-fristete Arbeitsverhältnis zu stärken, Leiharbeitund Befristungen zu begrenzen.

Eine Marktwirtschaft braucht Mindestlöhne. Fastüberall auf der Welt sind sie daher selbstverständ-lich. Nur in Deutschland ist das bisher anders. Esist uns gelungen, die branchenbezogenen Min-destlöhne in Deutschland auszubauen.

Dass dies auch für den Pflegebereich mit seinerkomplizierten Trägerstruktur gelungen ist, möchteich dabei besonders hervorheben.

Unabhängig davon braucht Deutschland aber einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn. Dasgilt erst Recht, wenn ab dem 1. Mai 2011 vollstän-dige Freizügigkeit auf dem europäischen Arbeits-markt herrscht. Das darf nicht der Beginn einesWettbewerbs um Dumpinglöhne werden.

Wir setzen uns – gemeinsam mit dem DGB – füreinen gesetzlichen Mindestlohn von 8 Euro 50 ein,damit eine Arbeitnehmerin, ein Arbeitnehmer si-cher sein kann, bei Vollzeitarbeit ohne öffentlicheHilfe den eigenen Lebensunterhalt bestreiten zukönnen. Und zwar auch im Alter, denn mit Löhnenunter dieser Marke kann man bei der Rente dasNiveau der Grundsicherung im Alter nicht über-steigen.

Bildung für den Arbeitsmarkt

Meine Damen und Herren,

soziale Politik bedeutet, dass jeder Bürger und je-de Bürgerin eine Chance haben muss, den eigenenLebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen.

Wir halten auch nicht viel von Vorstellungen ei-nes bedingungslosen Grundeinkommens, weil esMenschen abspeist und keineswegs ihre Teilhabesichert.

Es ist auch eine Frage der Würde eines Menschen,von seiner Arbeit leben zu können. Auch wennmillionenfache Arbeitslosigkeit viele zweifelnlässt, dass dieser Anspruch jemals zu realisierenist, geben wir das Ziel der Vollbeschäftigung nichtauf!

Der Strukturwandel der deutschen Wirtschaftschreitet voran. Bis 2030 wird einerseits ein Ver-lust von Arbeitsplätzen in der Produktion in Höhevon 1,5 Mio. Arbeitsplätzen verbunden sein.

Andererseits entstehen neue Beschäftigungsfelderim Bereich der Dienstleistungen, der Green Econo-my und der Gesundheitswirtschaft. – Wenn wir dienötigen Maßnahmen ergreifen, um die Chancen,die in diesen Bereichen stecken, zu heben.

Eine zentrale Herausforderung dabei ist, dass dieBevölkerung im erwerbsfähigen Alter zwischen2020 und 2030 um 4,6 bis 5,5 Millionen sinkenwird.

Schon jetzt klagen die ersten Branchen über einenMangel besonders an qualifizierten Arbeitskräften– diese Nachfrage wird in Zukunft noch stärker, eswerden Millionen Arbeitskräfte gesucht werden.

Damit bietet sich uns die Chance, die lange Phasehoher Arbeitslosigkeit zu überwinden.

Aber nur, wenn alles dafür getan wird, dass jedeArbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer die not-wendigen beruflichen Qualifikationen erhält. Dazumüssen wir in Schulen, Berufsschulen, Betriebenund Universitäten alles tun.

Ich habe aber noch nicht den Eindruck, dass dasgeschieht.

Jedes Jahr gehen Zehntausende ohne Abschlussaus den Schulen. Und auch von denen, die einenHauptschulabschluss schaffen, bekommt heutenicht einmal die Hälfte eine Lehrstelle.

Auch dieses Ausbildungsjahr 2010 ist mit fast 100.000 unversorgten Bewerbern gestartet. Und jederDritte davon hatte mindestens einen Realschulab-schluss!

Das ist ein fatales Signal für die jungen Menschen,die ins Arbeitsleben starten, die sich beweisen undetwas leisten wollen und zurückgewiesen werden.Wir müssen die Zahl der gering qualifizierten Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch einemassive Bildungsoffensive reduzieren.

Vor allem Jugendliche und junge Erwachsenen ausFamilien mit Migrationshintergrund müssen wirerreichen. Rund 40 Prozent von ihnen machenheute keinen berufsqualifizierenden Abschluss.

Reden • Sigmar Gabriel

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Wenn wir das nicht schaffen, leiden nicht nur ihreChancen auf eine selbstbestimmte Zukunft, son-dern auch die Zukunft unseres Landes steht aufdem Spiel. Wir können uns da kein Versagen leis-ten.

Statt Arbeitslosen mit einer Kürzung der Regel -leistungen zu drohen, brauchen wir mehr undbessere Arbeitsangebote auf dem Arbeitsmarkt fürdiejenigen, die derzeit auf dem normalen Arbeits-markt keine Arbeit finden. Die meisten wollen ar-beiten, das zeigen Studien deutlich.

Bei einem Drittel der Langzeitarbeitslosen liegt dieletzte sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsechs oder mehr Jahre zurück. Viele haben ge-sundheitliche Beschwerden.

Gute Jobcenter zeigen, dass auch sie mit einer intensiven und anhaltenden Unterstützung den-noch erfolgreich eine Arbeit finden können. Dazubraucht man gute Fallmanager und eine Perspek-tive auf dem Arbeitsmarkt, die motiviert.

Ziel muss es sein, anständige Arbeitsplätze zuschaffen und Menschen ein auskömmliches Ein-kommen zu ermöglichen.

Weil die gute Qualifikation der Beschäftigten sowichtig ist, wollen wir den Anspruch auf Arbeits -losengeld I bei Qualifizierungen verlängern.

Und wir wollen die Entwertung der bisherigen Lebensleistung verhindern:

Wer jahrzehntelang gearbeitet hat, hat Angst, imFalle unverschuldeter Arbeitslosigkeit alles, was an Vermögen und Rücklagen aufgebaut wurde,schnell zu verlieren.

Deshalb ist es richtig, auf die Anrechnung von Ver-mögen zu verzichten (nicht von Einkommen ausVermögen) und lediglich ein Missbrauchsverbot andiese Stelle zu setzen.

Außerdem findet, wer arbeitslos wird, die Arbeits-und Lebensleistung nicht gerecht gewürdigt, wennsie nach spätestens zwei Jahren lediglich die glei-chen Unterstützungsleistungen erhalten, wie die-jenigen, die noch niemals berufstätig waren.

Deshalb wollen wir das bereits existierende zwei-jährige Übergangssystem vom Arbeitslosengeld Iauf das Arbeitslosengeld II nicht abschaffen, wie

die Koalition, sondern so weiterentwickeln, dasslange Beschäftigungszeiten von Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmern sich darin niederschla-gen.

Regelsätze

Ich komme in diesem Zusammenhang noch ein-mal auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtszurück.

Das Verfassungsgericht hat deutlich gemacht, dassdie Grundsicherung neben der Existenz ein Min-destmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kultu-rellen oder politischen Leben, gewährleisten muss. Dabei hat es besonders die fehlende Ermittlungder besonderen Bedarfe von Kindern kritisiert. Dazu gehören insbesondere Teilhabechancen anBildung und kulturellem Leben.

Wir wollen einen Rechtsanspruch auf Förderungund soziokulturelle Teilhabe für alle Kinder ge-setzlich verankern. Nicht nur für Hartz IV-Kinder.

Wir wollen, dass alle Kinder neben Kindergartenund Schule in einem Sportverein sein können, ei-ne Musikschule besuchen können, außerschuli-sche Bildungsmöglichkeiten wahrnehmen könnenund ein gesundes, warmes Mittagessen bekom-men.

Das hat nicht nur Folgen beim Regelsatz. Das heißtzum Beispiel auch, dass die Bundesregierung ihrePläne für eine Herdprämie wieder in der Schub -lade verschwinden lässt, denn sie stehen demdiametral entgegen.

Und es heißt, dass auch unionsregierte Länder denAusbau von Krippen und Ganztagsschulen endlichvorantreiben müssen. Das heißt, dass die Kommu-nen in den Stand versetzt werden, wieder kul -turelle Angebote für Kinder machen zu könnenund nicht durch die schwarz-gelben Streichor-gien in Bund und Ländern gezwungen werden,Schwimmbäder und Museen, Turnhallen und Kin-derbibliotheken zu schließen.

Auch das sind wesentliche Felder von Sozialpolitik.Auch das ist Politik, die Zusammenhalt stiftet undAusgrenzung verhindert.

Reden • Sigmar Gabriel

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Soziale Sicherungssysteme

Meine verehrten Damen und Herren,

die Bertelsmann-Stiftung hat ausgerechnet, dassdie Folgekosten einer unzureichenden Politik fürKinder und Bildung sich in Deutschland über dienächsten 80 Jahre auf mehr als 2,8 Billionen Eurosummieren könnten. Das Risiko, das die schwarz-gelbe Bundesregierung mit ihrer Politik eingeht,ist also riesengroß!

Und auch darin, dass sie anstatt auf solide, nach-haltige Wirtschaftspolitik wieder allein auf Export-und Finanz-Wirtschaft setzen, schlummern großeRisiken. Sie schränken die Binnenkonjunktur ein,anstatt mit fairen Löhnen für Kaufkraft zu sorgen.

Klar ist doch: Wenn es einen Aufschwung gibt,muss es ein Aufschwung für alle sein!

Wir müssen über eine steigende Binnennachfragezu einem Aufschwung kommen, der sich selbstträgt und der nicht mehr so unmittelbar davonabhängt, wie sich die Lage in den USA oder Chinaentwickelt.

Unbefristete Vollzeitarbeit zu ordentlichen Löh-nen muss wieder der Normalfall sein.

Über den Lohn müssen die Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer ihren fairen Anteil bekommenan dem von ihnen erwirtschafteten Wohlstand.Das ist in den letzten Jahren erheblich zu kurz ge-kommen.

Aber gut bezahlte Arbeit ist die Grundlage für sta-bile, leistungsfähige und solidarisch finanzierteSozialversicherungssysteme.

Wenn wir wollen, dass niemand bei elementarenLebensrisiken und im Alter alleine gelassen wird,müssen wir uns für Arbeit und ordentliche Löhnestark machen.

Wir wollen die die Sozialversicherungen ausbauenund für alle Bürgerinnen und Bürger, unabhängigvon ihrem Erwerbsstatus, gleichermaßen in dieVersicherungen einbeziehen.

Das unterscheidet uns von denjenigen, die densolidarischen Sozialstaat schwächen wollen undunter dem Begriff „Eigenverantwortung“ Privati-sierung und Kapitaldeckung meinen.

Niemand wird anders krank, weil er selbstständigoder verbeamtet ist. Er muss deshalb auch nichtanders versichert sein oder anders versorgt wer-den.

Deshalb ist der soziale Weg der hin zu einer soli-darischen Bürgerversicherung in Gesundheit undPflege: gleiche Versicherung – gleiche Versorgungund gleiche Teilhabe am medizinischen Fortschrittfür alle.

Und auch eine auskömmliche Rente im Alter setztein Arbeitsleben mit ordentlichen Löhnen voraus.

Dieser Zusammenhang wird gelegentlich unter-schlagen. Mit dem Beschluss zur Rente hat die SPDdaran erinnert.

Das gilt insbesondere im Zusammenhang mit demRenteneintrittsalter. Solange es für ältere Men-schen nicht genügend Chancen auf Arbeit und Er-werbstätigkeit gibt, wäre die Heraufsetzung desRenteneintrittsalters eine schlichte Rentenkür-zung.

Und wenn wir es um die Anerkennung erbrachterLebensleistung geht, müssen wir auch für die, diedas gesetzliche Renteneintrittsalter nicht errei-chen, mehr tun, damit sie im Alter abgesichertsind.

Und wer wegen lang anhaltender Arbeitslosigkeitnur geringe Ansprüche auf Rente hat, kann nur miteiner Aufwertung aus der Rentenversicherung eineauskömmliche Rente erhalten kann.

Das Ziel ist für uns klar: Grundsicherung soll im Alter auch in Zukunft die Ausnahme bleiben unddarf nicht zur Regel werden.

Gute Arbeit, gesunde und längere Arbeit, flexibleÜbergänge in den Ruhestand und die Vermeidungvon Altersarmut, das sind die Eckpfeiler für die Zukunft einer guten solidarischen Alterssicherungin Deutschland, meine Damen und Herren.

Armutsbekämpfung

Wir leben in einer reichen Gesellschaft, in der esaber auch Armut gibt – offen sichtbare und ver-schämt versteckte. Wo Menschen arm sind, weil sieChancen auf Teilhabe und Arbeit nicht bekommenoder nicht suchen und annehmen.

Reden • Sigmar Gabriel

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Wer arm ist oder wird, soll es nicht bleiben. DerSozialstaat garantiert ein Existenzminimum undhilft, aus der Bedürftigkeit herauszukommen.

Es gibt viel ehrenamtliches Engagement, mit demin Not geratenen Menschen geholfen wird. Initia-tiven wie die „Tafeln“ verdienen hohen Respekt.Denn der Staat kann nicht in jedem Einzelfall dieMenschen tatsächlich erreichen und die Wechsel-fälle des Lebens sofort auffangen.

Wichtig ist, dass karitative Einrichtungen für dieseMenschen schnelle unbürokratische Hilfe zur Ver-fügung stellen und sie mit niedrigschwelligen An-geboten in ihrer Alltagskompetenz zu stärken.

Sie können auch Begleiter sein, wenn es darumgeht, Rechte und Ansprüche wahrzunehmen oderwieder Zugang zu Erwerbstätigkeit zu finden.

Sie können aber den Sozialstaat nicht ersetzen. DasSoziale in der Politik heißt auch: Wir wollen ei-nen Sozialstaat, keinen Almosenstaat. Dazu müs-sen alle ihren Beitrag leisten.

Darum dürfen wir es nicht hinnehmen, wenn dieStarken und Reichen aus der Pflicht entlassenwerden. Und wir dürfen nicht hinnehmen, dassdie Früchte der Arbeit und des Aufschwungs un-gleich verteilt werden. Der Aufschwung, von demwir jeden Tag im Fernsehen hören, muss zumAufschwung für alle werden!

Wir wollen neues Wachstum, von dem die Men-schen profitieren, nicht allein anonyme Märkte.Wir wollen nachhaltiges Wachstum, das nicht aufKosten der Natur und zu Lasten des sozialen Aus-gleichs geht. Wir wollen Wohlstand, der sich nichtan ökonomischen Größen, sondern an der Lebens-qualität der Menschen bemisst.

Wir wollen ein faires und gerechtes Deutschland,das den Menschen Zuversicht und Zukunft gibt.

Die Menschen wollen in einer Gesellschaft leben,in der Chancen und Lasten fair verteilt sind.

In einer Gesellschaft, in der sie sich zurechtfin-den und zurechtkommen, weil es klare Regelnund faire Bedingungen für das Zusammenlebengibt.

Es geht darum, diesen Menschen eine Stimme zugeben. Daraus kann eine neue soziale Bewegungwerden. Eine Bewegung, die sich für neuen sozia-len Frieden einsetzt, eine neue soziale Balance –für eine neue soziale Ordnung.

Schluss

Die Arbeiterwohlfahrt erhebt heute hier in Essendeutlich vernehmbar ihre Stimme für den Zusam-menhalt in Deutschland, sie nimmt Partei gegenAusgrenzung.

Schon das zeigt, dass das Soziale in der Politik kei-ne Idee ist, die man so einfach zu den Akten legenkönnte. Die soziale Frage bewegt.

Die Krise hat gezeigt, dass Egoismus das Ganzeverspielt. Und sie hat die soziale Frage mit größe-rer Aktualität zurück in die Diskussion gebracht.

Ich erinnere noch einmal an den Satz von MarieJuchacz, dass aus der praktischen Arbeit das starkeVerstehen für die Probleme kommt.

Sich der Probleme der Menschen anzunehmen undzu helfen, das Leben menschlicher zu machen. Fürjeden Einzelnen, aber auch für unsere Gesellschaftinsgesamt. Das ist das Credo der AWO.

Ich bin jetzt gut 30 Jahre Mitglied der AWO. Das er-füllt mich mit Stolz. Genau wegen dieses Credosbin ich 1979 eingetreten. Und dieses Credo treibtmich auch politisch an.

Gemeinsam können wir es schaffen, in Deutsch-land den Zusammenhalt zu stärken und Ausgren-zung zu verhindern. Vielen Dank für die Aufmerk-samkeit.

Reden • Sigmar Gabriel

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Reden • Dr. Christine Hohmann-Dennhardt

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Dr. Christine Hohmann-Dennhardt Richterin des Bundesverfassungsgerichts

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„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zuachten und zu schützen ist Verpflichtung allerstaatlichen Gewalt.“ Mit diesen zwei Sätzen vonschlichter Erhabenheit beginnt unser Grundgesetzin seinem Art. 1. Dass gerade dieser kategorischeImperativ vor mehr als 60 Jahren ganz an den An-fang unserer Verfassung gestellt worden ist, kamnicht von ungefähr. Es war die bittere historischeErfahrung, wie verächtlich und demütigend Men-schen doch ihrer Würde beraubt werden oder ihrverlustig gehen können, die die Mütter und Väterdes Grundgesetzes vor mehr als 60 Jahren dazubewegte, die Lehre daraus zu ziehen und dieMenschlichkeit zum Maß allen staatlichen Han-delns zu erheben.

Da stand ihnen zum einen noch voller Schreckendie grausame Wirklichkeit des Naziregimes mitseinem Quälen und Foltern, Verstümmeln und Erniedrigen, Peinigen und Morden von MillionenMenschen in Europa vor Augen. Fassungslos wiebeschämt darüber, dass solch menschenverach-tendes Treiben möglich und geduldete wie unter-stützte Alltäglichkeit gewesen war, wollten siederartiger Barbarei mit diesem ersten Gebot derVerfassung ein unmissverständliches „Nie wieder“entgegenhalten und dem Staat eine absolute, un-verrückbare Grenze für sein Handeln setzen.

Zum anderen erwuchs der Wunsch, den Schutz dermenschlichen Würde zur vorrangigen Pflicht desStaates zu machen und allen grundrechtlichenVerbürgungen voranzustellen, aus der im vorletz-ten Jahrhundert erstarkten Erkenntnis, dass nichtnur ungezügelte Staatsgewalt der Menschenwürdezuleibe rücken kann, sondern auch Elend, Armutund Ausbeutung zu einem menschenunwürdigenDasein verdammen, das ein selbstbestimmtes Le-ben unmöglich macht und Freiheitsrechte zur lee-ren Hülse verkümmern lässt. „Würde des Men-schen – nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essengebt ihm, zu wohnen. Habt ihr die Blöße bedeckt,ergibt sich die Würde von selbst“, mit diesen Wor-ten hatte schon Schiller der rein philosophischenBetrachtung, was die Würde des Menschen aus-macht, eine Abfuhr erteilt und darauf hingewie-sen, dass menschliche Würde einen sozialen Hu-mus braucht, um gedeihen zu können. Denn wiekann ein Mensch in sittlicher Willensautonomiehandeln, die, so Kant, Kennzeichen menschlicherWürde ist, und was nutzen ihm eingeräumte Frei-heiten, wenn die Verhältnisse so sind, dass erdurch sie weder Selbstachtung gewinnen kannnoch Achtung erfährt, sondern nur die Freiheit zu

hungern und sich zu unterjochen besitzt? Es wardie Arbeiterbewegung, die damals gegen solch er-niedrigende, die Massen bedrückende Lebens-und Arbeitsbedingungen aufbegehrte und mitwachsendem Zulauf einforderte, allen Menschennicht nur Freiheits- und Gleichheitsrechte einzu-räumen und sie aus der Knechtschaft zu befreien,sondern ihnen auch eine materielle Basis zu si-chern, die sie in die Lage versetzt, ihre Rechte tatsächlich wahrnehmen und am politischen wiegesellschaftlichen Leben teilhaben zu können.

Damit wurde die Menschenwürde vom Firmamenttheoretischer Zuschreibung auf die Erde des realenmenschlichen Daseins geholt, aus ihrer Exklusi -vität für privilegierte Schichten in demokratischenZusammenhang gestellt und zum Auftrag an denStaat erhoben, durch Schutzrechte und sozialenAusgleich Sorge dafür zu tragen, dass alle ein Le-ben in aufrechtem Gang führen können, das demAnspruch menschlicher Würde gerecht wird. Nachlangem politischem Kampf kam es nach dem 1. Weltkrieg schließlich dazu, dass die Menschen-würde mit dieser, auf die Sicherung menschlicherExistenz abzielenden materiellen Wendung erst-mals in Recht gegossen wurde und in der ers -ten demokratischen Verfassung Deutschlands, derWeimarer Reichsverfassung, gepaart mit sozialenRechten, ihren Niederschlag fand.

Doch die geschaffene junge Demokratie war nochnicht stark genug, um ihren Widersachern zu trot-zen und ihren Verfassungsgeboten Folge zu leisten.Zwar entstand damals das Arbeitsrecht und der sozialen Alters-, Unfall- und Krankenversicherungwurde die Arbeitslosenversicherung hinzugesellt.Als aber die Weltwirtschaftskrise hereinbrach, ver-mochte dies den Massenabsturz in die Arbeitslosig-keit nicht zu verhindern. Hunger und Armut breite-ten sich wieder im Lande aus und mit ihnen dieEnttäuschung über den Staat, der seine Verspre-chungen nicht eingelöst hatte, sodass Peachum inder Dreigroschenoper seufzte: „Doch leider hatman bisher nicht vernommen, dass einer auch seinRecht bekam – ach wo! Wer hätte nicht gern ein-mal Recht bekommen. Doch die Verhältnisse, siesind nicht so.“ So wurde die Mischung aus sozialerNot und enttäuschter Hoffnung neben anderemzum Nährboden für das diktatorische Regime, dasdann die Macht im Staat ergriff, Heil versprach undder ganzen Welt maßloses Unheil bescherte.

Auch im Bewusstsein solch möglicher verheerenderFolgen der Vernachlässigung sozialer Bedürfnisse

Reden • Dr. Christine Hohmann-Dennhardt

Menschenwürde im Sozialstaat des 21. Jahrhunderts

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erhoben deshalb die Mitglieder des Parlamentari-schen Rates nach dem 2. Weltkrieg den Schutz derMenschenwürde zur obersten Maxime des Staatesund verpflichteten ihn in Art. 20 GG auf sozial-staatliches Handeln. So prangt nun seither dieMenschenwürde mit ihren beiden Geboten, derAchtung und Respektierung eines jeden Menschensowie der Ermöglichung und Sicherung eines men-schenwürdigen Lebens, an unserem Verfassungs-firmament und strahlt auf die Grundrechte aus, diein diesem Lichte Abwehrrechte gegenüber staatli-chen Eingriffen in die Persönlichkeitssphäre undFreiheit des Einzelnen, aber auch soziale Teilhabe-rechte sind, aus denen Schutz- und Gewährleis-tungspflichten des Staates erwachsen.

Doch was macht die Menschenwürde im Konkretenund in heutiger Zeit eigentlich aus, was verletzt sieund was braucht man, um ein menschenwürdigesLeben führen zu können? Da gehen die Meinungenoft weit auseinander. Würde, das ist für die einenetwas mittlerweile Unzeitgemäßes, klingt nachWeisheit, Ruhe und Müßiggang, die zu den Anfor-derungen globalisierter Welten nicht mehr zu pas-sen scheinen, und erinnert gar, wie zu vernehmenwar, an spätrömische Dekadenz. Andere warnendavor, die Menschenwürde nicht allzu klein zumünzen, sie nicht zur „Wanderdüne ohne Halt“ zumachen, und empfehlen, sie nur in Extremfällenbei eklatanten Verstößen gegen die Menschlichkeitzur Anwendung zu bringen. Wiederum andere hal-ten für menschenunwürdig, was die eigene Mess-latte des erwünschten Sozialstandards unterschrei-tet. Man sieht, es ist nicht ganz einfach, derMenschenwürde rechtlich feste Kontur und klaresMaß zu geben. Sie ein für alle Mal fest umreißenund definieren zu wollen, scheitert schon daran,dass damit schwerlich alle Lebensbereiche erfassbarsind, in denen die Menschenwürde berührt seinkann. Zudem ändern sich stetig die Lebensverhält-nisse und mit ihnen die Möglichkeiten der Antast-barkeit menschlicher Würde. Vor allem aber darfder Würdeschutz nicht mit dem Sozialstaatsauftraggleichgesetzt werden. Mit diesem wird der Staatumfassend aufgefordert, bei seinem Handeln fort-während Kurs auf sozialen Ausgleich, gerechtereLebensverhältnisse und eine Verbesserung der Le-bensqualität für alle zu nehmen. Es ist der politi-sche Wille des Gesetzgebers, der dabei das Tempound Ausmaß des Voranschreitens bestimmt, demein Ziel, die Schaffung einer gerechten Sozialord-nung, aber kein Ende gesetzt ist. Währenddessengibt der Menschenwürdeschutz dem Sozialstaat alsMindestbedingung vor, jedem Menschen Achtung

und Anerkennung zu zollen, in welcher Lage erauch ist, und gebietet ihm deshalb, jedem, der derHilfe bedarf, zumindest das Existenzminimum zusichern, mit dem ein menschenwürdiges Lebenmöglich ist. Er markiert also die unbedingte Grenze,die der Sozialstaat keinesfalls unterschreiten darf.

Wo diese Untergrenze zu ziehen ist, hat Anfangdieses Jahres das Bundesverfassungsgericht präzi-siert. In seiner Hartz IV-Entscheidung hat es er-klärt, dass Art. 1 GG neben der Pflicht des Staates,die Menschenwürde zu sichern, auch ein Grund-recht auf Gewährleistung eines menschenwürdi-gen Existenzminimums enthält und dass hierzunicht nur die physische Existenzsicherung gehört,sondern dass dieses Grundrecht darüber hinausauch umfasst, in die Lage versetzt zu werden, zwi-schenmenschliche Beziehungen pflegen und amgesellschaftlichen, kulturellen und politischen Le-ben teilhaben zu können.

Dieses vom Gericht allgemein umschriebene Limitphysischer wie sozialer Lebensbedürfnisse, derenAbdeckung der Staat zu sichern hat, wenn Men-schen dazu selbst nicht in der Lage sind, ist keinefeststehende Größe und bedarf weiterer Konkreti-sierung. Sein Umfang hängt von den jeweils imLande bestehenden Lebensstandards und -um-ständen ab. Denn je mehr Wohlstand in einemLand herrscht, je mehr technischer Fortschritt hierEinzug gehalten hat, je mehr Dinge zum alltägli-chen Leben wie selbstverständlich dazu gehörenund je höher die Preise und Lebenshaltungskostensind, desto mehr braucht ein Mensch, um men-schenwürdig leben zu können und nicht gesell-schaftlich ausgegrenzt zu werden. Am Ausmaß derDiskrepanz zum normalen Leben und am Grad derExklusion von dem, was ein Land kulturell undwirtschaftlich zu bieten hat, ist zu bemessen, wasMenschen brauchen, damit ihre Würde gewahrtbleibt. Dies ist zunächst einmal vom Gesetzgeberzu ermitteln, der dabei die Notwendigkeit einzel-ner Bedarfe anhand der sozialen Wirklichkeit abzuwägen und in sozialer Verantwortung wieeingedenk seines Auftrags, der MenschenwürdeGenüge zu tun, darüber zu entscheiden hat, wasalles seines Erachtens zu einem menschenwürdi-gen Existenzminimum dazugehört. Das von ihmgefundene Ergebnis ist dann allerdings daraufhinzu prüfen, ob es vor Art. 1 GG Bestand haltenkann.

Bei der Prüfung der Regelsätze des Alg II am Maß-stab dieser Grundrechtsnorm hat das Bundesver-

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fassungsgericht deshalb nicht allein schon aus de-ren Höhe schließen können, ob sie zur Sicherungdes Existenzminimums ausreichen. Das wäre nurmöglich gewesen, wenn die Beträge so niedrig lä-gen, dass man mit ihnen ganz offensichtlich nichtauskommen kann. Es hat auch nicht beanstandet,dass der Gesetzgeber seiner Berechnung die Ver-brauchsstatistiken zugrunde gelegt und sich zurErmittlung des Existenzminimums am tatsächli-chen Verbrauch der untersten 20 Prozent der Ein-kommensbezieher orientiert hat. Doch an die ehschon sehr eingegrenzte, selbstgewählte Berech-nungsgrundlage muss sich der Gesetzgeber dannauch halten und darf sich die statistisch erhobe-nen Zahlen nicht schönrechnen. Moniert und fürunvereinbar mit Art. 1 GG hat das Verfassungsge-richt deshalb erklärt, dass der Gesetzgeber dieAusgaben für Bildung gänzlich unberücksichtigtgelassen und etliche Verbrauchspositionen insBlaue hinein einfach gekürzt hat. Eine derartigeVorgehensweise ist in sich selbst widersprüchlich,intransparent sowie nicht mehr nachvollziehbarund wird der Pflicht, allen ein menschenwürdigesLeben zu sichern, nicht gerecht.

Das Verfassungsgericht hat dem Gesetzgeber des-halb aufgegeben, eine Neuberechnung der Grund-sicherungsleistungen anhand aktueller Zahlenvorzunehmen, die seinen Vorgaben nach Stringenzund Transparenz Rechnung trägt. Seit einigen Ta-gen wissen wir nun, zu welchem Ergebnis dieBundesregierung dabei gekommen ist: um geradeeinmal 5 € soll der Regelsatz für Erwachsene steigen, bei den Kindern bleibt es sogar bei denbisherigen Leistungsbeträgen, allerdings ergänztdurch ein sog. „Bildungspaket“ aus Sachleistun-gen. Für die einen, die auf eine deutliche Verbes-serung ihrer Lebenslage gehofft haben, ist diesverständlicherweise ein enttäuschendes, ja empö-rendes Resultat, zumal im Vorfeld der Eindruckentstehen konnte, hier werde auch diesmal wie-der um die Höhe der Leistungsanhebung politischgeschachert und an den Zahlen herumgeschraubt.Den anderen wiederum kommt das Ergebnis zupasse, weil sie eh der Meinung sind, die Leistun-gen seien zu üppig und dürften angesichts der an-gespannten Haushaltslage wenn überhaupt, dannnur minimal angehoben werden. Und sogleichblüht wieder die Spekulation, ob das gefundeneErgebnis denn diesmal verfassungsfest ist. Zur Be-antwortung dieser Frage bedarf es einer gründ -lichen Studie des der Berechnung zugrundeliegen-den statistischen Zahlenmaterials sowie der dabeiin Ansatz gebrachten bzw. unberücksichtigten

Verbrauchspositionen; eine Aufgabe, der sich nunin den nächsten Wochen das Parlament zu wid-men hat.

Dabei stellen sich jedoch schon bei erster Lektüredes vorgelegten Gesetzentwurfs ein paar Fragen.So bleibt z. B. unklar, weshalb man der Leistungs-berechnung für Kinder die Verbrauche von Fami -lienhaushalten mit den unteren 20 % Einkommenzugrunde gelegt hat, während für den Erwach -senenregelsatz diesmal nur die Einpersonenhaus-halte mit den unteren 15 % Einkommen herange-zogen worden sind und dabei zwar alle Haushalteherausgerechnet wurden, die ausschließlich überSozialleistungen als Einkommen verfügen, nichtjedoch diejenigen, die ihr Einkommen mit So -zialleistungen aufstocken müssen, weil es alleinein menschenwürdiges Existenzminimum nicht sichert und die deshalb eigentlich ebenfalls alsVergleichsgruppe auszuschließen sind. Denn einmenschenwürdiger Bedarf lässt sich nicht anschon eingetretener Bedürftigkeit bemessen. Dasfolgte der Zirkelschluss-Logik: was Hartz IV-Emp-fänger verbrauchen, das reicht auch für sie aus.Ebenso ist erläuterungsbedürftig, wie die diversenVerteilungsschlüssel zustandegekommen sind, mitdenen aus dem Gesamtverbrauch von Familien-haushalten der spezielle Bedarf für Kinder errech-net worden ist, scheinen sie doch der maßgebliche„Schlüssel“ dafür zu sein, dass bei der Berechnungim Ergebnis keine höheren, sondern sogar niedri-gere Leistungsbeträge für Kinder als bisher he-rausgekommen sind. Und dass Tabak und Alkoholnicht unbedingt zum menschenwürdigen Exis-tenzminimum zählen, mag ja durchaus richtigsein. Das „Freibier“ soll also gestrichen werden.Doch wer hier applaudiert, der sollte bedenken,dass das Herausrechnen dieser Verbrauchspostenauch die Nichttrinker und -raucher unter den Be-dürftigen trifft. Denn bei niedrigem Einkommenbleibt nicht aus, dass der, der raucht und trinkt,an Sonstigem, z. B. am Essen spart. Das aberschlägt sich senkend auf die statistisch erfasstenDurchschnittsausgaben der Geringverdiener fürdas Essen nieder, die beim Regelsatz in Ansatz gebracht werden – zulasten aller, auch der Absti-nenzler von Alkohol und Tabak. Schließlich sollenaus der Liste der diesmal nicht mehr berücksich-tigten Verbrauchspositionen die Schnittblumenund Zimmerpflanzen nicht unerwähnt bleiben.Gewiss muss man auch die Freude an ihnen nichtzum Existenzminimum zählen. Doch das Streichendieses Minibetrags von 3,24 € pro Monat wirft einLicht darauf, mit welcher sozialen Einstellung die

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Verbrauchsstatistik minutiös durchforstet wurde,um bedürftigen Menschen nur ja nicht zu viel zugönnen.

Sollte die Prüfung der statistischen Daten bestä -tigen, dass die Verbrauchsausgaben der unte-ren Einkommensbezieher trotz gestiegener Preisewirklich nur sehr geringfügig zugenommen habenund es deshalb zu dieser minimalen bzw. keinerAnhebung der Regelsätze gekommen ist, ist dafürgewiss auch das Sinken der Löhne durch die deut-liche Zunahme prekärer Beschäftigungen verant-wortlich zu machen. So hat Ministerin von der Ley-en zur Rechtfertigung des geringen Anstiegs derRegelsätze auf den Bäcker, Lagerarbeiter oder dieFriseurin verwiesen, die trotz Arbeit auch nur mitwenig Geld auskommen müssen. Angesichts des-sen könne man bei den Leistungen für arbeitsloseHartz IV-Empfänger nicht noch weiter draufsat-teln. Dies klingt zunächst einleuchtend und sprichtdas Lohnabstandsgebot an, das gegen steigendeGrundsicherungsleistungen zu Felde geführt wird.Davon ist im Grundgesetz zwar keine Rede, dochsoll nicht geleugnet werden, dass ein Problem be-steht, wenn soziale Leistungen, die bei Arbeitslo-sigkeit gewährt werden, gleich hoch liegen odergar mehr einbringen als das, was Menschen mitvollem Arbeitseinsatz als Einkommen erzielenkönnen. Leider ist das immer häufiger der Fall.Durch die Zunahme von Minijobs, Leiharbeit,kaum bezahlten Schein-Praktika oder befristetenBeschäftigungsverhältnissen und die Abnahme tarifgebundener Arbeit ist der Niedriglohnsektorhierzulande deutlich angewachsen. Der Anteilderjenigen Menschen an der Gesamtzahl der HartzIV-Empfänger, die trotz eines Einkommens aus Er-werbsarbeit Grundsicherungsleistungen empfan-gen, ist von 16,9 % im Jahre 2005 auf inzwischen27, 4 % Ende 2009 angestiegen. 1,3 Mio. Men-schen sind damit sog. Aufstocker, rund 440 Tau-send davon trotz einer Vollbeschäftigung, der sienachgehen. Diese Zahlen widerlegen zunächsteinmal die immer wieder aufgestellte These, dassMenschen, selbst wenn sie mit ihrer Arbeit ihrenLebensunterhalt nicht voll bestreiten können, inder Regel der Arbeit den Müßiggang vorziehen.Denn Arbeit bringt nicht nur Lohn ein, sondernkann sinnstiftend sein und stärkt gemeinhin auchdas Selbstwertgefühl. Allerdings dann nur schwer-lich, wenn Menschen selbst bei vollem Arbeitsein-satz so niedrigen Lohn erhalten, dass sie nicht inder Lage sind, sich selbst zu ernähren, und des-halb zusätzlich auf Sozialleistungen angewiesensind. Mit solch niedriger Entlohnung wird die ge-

leistete Arbeit nicht wertgeschätzt und damit auchder Mensch, der sie verrichtet. Er muss sich ausge-nutzt und missachtet fühlen. Dies ist das eigentli-che Problem, das der Menschenwürde zuwider-läuft und zu beheben ist, dies ist die eigentlicheUrsache für das Schrumpfen des Lohnabstandes,nicht dagegen die Höhe der sozialen Grundsiche-rungsleistung. Diese hat sich, um der Verfassungzu genügen, nach dem zu bemessen, was einMensch für ein menschenwürdiges Leben im Mini-mum braucht, nicht dagegen danach, welcheHungerlöhne Menschen erhalten.

Der Abwärtstrend in die Notdürftigkeit, der mit derzunehmenden Zahl von Niedriglöhnern und Auf-stockern einhergeht, ist auch nicht dadurch zustoppen, dass die Leistungsansprüche derjenigen,die keine Arbeit haben, stagnieren oder gar ge-senkt werden. Das macht die Niedriglöhner nichtweniger arm, senkt aber auch deren Ansprücheauf aufstockende Leistungen und könnte den Ef-fekt mit sich bringen, dass die Löhne und Sozial-leistungen sich wechselseitig immer mehr herun-terschaukeln und in den Keller befördern. EinNiedergang des gesamten Sozialniveaus im Landekönnte so stattfinden, der mit dem Sozialstaats -gebot und dem Menschenwürdeschutz unsererVerfassung nur schwerlich noch in Einklang stün-de. „Die freiheitlich demokratische Grundordnungentnimmt dem Gedanken der Würde und Freiheitdes Menschen die Aufgabe, auch im Verhältnis der Bürger untereinander für Gerechtigkeit undMenschlichkeit zu sorgen. Dazu gehört, dass eineAusnutzung des einen durch den anderen verhin-dert wird. Sie sieht es als ihre Aufgabe an, wirk -liche Ausbeutung, nämlich Ausnutzung der Ar-beitskraft zu unwürdigen Bedingungen undunzureichendem Lohn zu unterbinden“. DieseAussage, die das Bundesverfassungsgericht einst1956 in seiner KPD-Entscheidung getroffen hat,hat auch heute noch Geltung. Statt die Höhe derSozialleistungen zu beklagen und sie möglichstniedrig zu halten, sollte der Gesetzgeber deshalbfür bessere Beschäftigungsverhältnisse und ange-messenere Löhne Sorge tragen. Die Festsetzunggesetzlicher Mindestlöhne ist hier ein probatesMittel. Angemerkt sei, dass dies nicht nur dem so-zialen Verfassungsauftrag folgte, sondern auchökonomischer Vernunft und haushaltspolitischerWeitsicht. Denn was nutzen die schönsten Produk-te, wenn sie keinen hinreichenden Absatz mehrfinden, weil in den Geldbeuteln der Menschen im-mer größere Dürre herrscht? Und wie lässt sich aufDauer die Alterssicherung finanzieren, wenn in die

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Sozialversicherung immer niedrigere Beiträge flie-ßen, die Renten deshalb immer dürftiger ausfallenund der Staat dann von Verfassungs wegen in im-mer größerem Umfang dazu verpflichtet ist, mitseinen finanziellen Mitteln für ein menschenwür-diges Existenzminimum im Alter zu sorgen? Aufdieses Problem hat soeben der Deutsche Juristen-tag hingewiesen und ebenfalls die Empfehlungausgesprochen, mit einem gesetzlichen Mindest-lohn einer solch fatalen Entwicklung entgegenzu-wirken.

Besondere Sorge muss zudem bereiten, wie de-spektierlich bei alledem auf die betroffenen Men-schen herabgesehen wird. Schon kurz nach derEntscheidung des Verfassungsgerichts wurde vordem Ausschütten sozialer Füllhörner gewarnt, redete der Vizekanzler von anstrengungslosemWohlstand, der Sozialleistungsempfängern zuteilwürde, gab Herr Sarrazin seinen Speiseplan für Bedürftige zum Besten und empfahl, wenn dasGeld nicht reiche, sollten Hartz IV-Empfänger ebenkalt duschen.

Und in ähnlicher Weise wird auch derzeit wiedergegen Sozialleistungsempfänger polemisiert. Davermittelt der Hinweis, der Sozialstaat dürfe nichtaus dem Ruder laufen, den Eindruck, die Grund -sicherungsleistungen seien so üppig, dass sich dieLeistungsbezieher wie Maden im Speck darinhäuslich einrichten könnten. Da suggeriert dieAussage, nur durch niedrige Regelsätze könntenAnreize für Hilfeempfänger zur Arbeitsaufnahmegeschaffen werden, dass es sich bei ihnen um einearbeitsscheue Spezies handelt, der Beine gemachtwerden muss. Nun gibt es unter den Hartz IV-Empfängern sicherlich wie auch anderswoschwarze Schafe. Doch getroffen von diesen pau-schalen Grobzeichnungen und in die Ecke desSchmarotzertums gestellt werden damit auch alldiejenigen, die als Alleinerziehende keinen Be-treuungsplatz für ihr Kind finden und deshalb keiner Arbeit nachgehen können, die behindertoder leistungsgemindert und deshalb nur einge-schränkt vermittelbar sind, oder die in die Jahregekommen sind und deshalb keine Anstellungmehr finden. Solches „Über-einen-Kamm-Sche-ren“ schiebt den Betroffenen unterschwellig dieSchuld an der eigenen Misere zu, lässt bei ihnendas Gefühl aufkommen, sie seien nur Last, dieman nicht gebrauchen kann, vergiftet das sozialeKlima im Lande und treibt einen Keil zwischen dieMenschen. So ist nicht verwunderlich, wenn eineUmfrage ergeben hat, dass sich die Mehrheit der

Bürger gegen eine Anhebung der Hartz IV-Sätzeausgesprochen hat. Das deckt sich mit sozialwis-senschaftlichen Erhebungen, nach denen über einDrittel unserer Bevölkerung inzwischen der Auffas-sung ist, die Gesellschaft könne sich wenig nütz -liche Menschen nicht mehr leisten, und vierzigProzent gar der Meinung sind, es werde zuvielRücksicht auf Versager genommen. Das sind keineerfreulichen Entwicklungen. Sie verschlechtern dieVoraussetzungen für ein gedeihliches Zusammen-leben in einem demokratischen Gemeinwesen,das alle mitnehmen muss und deshalb für sozialeIntegration zu sorgen hat. Und es verträgt sich nurschwer mit dem Menschenbild, das in Art. 1 unse-res Grundgesetzes zum Ausdruck kommt.

Doch nicht nur beim Feilschen um die finanzielleAbsicherung des Existenzminimums drohen derMenschenwürde in heutigen Zeiten Gefahren, de-nen der Sozialstaat entgegenzuwirken hat.

So ist die Zahl der Kinder, die in unserer reichenGesellschaft in Armut leben, beschämend groß.Ihnen mangelt es nicht nur an Mitteln und Mög-lichkeiten, über die andere wie selbstverständlichverfügen. Sie machen nicht nur die Erfahrung, wieman sich fühlt, von Vielem ausgeschlossen zu seinund zu den Bedürftigen-Tafeln gehen zu müssen,wo das verteilt wird, was bei andern übrigbleibt.Vor allem, das hat erst jüngst die neue Shell-Stu-die bestätigt, bedrückt sie ihre trübe Lebensper-spektive. Die Zukunft, in die sie sehen, scheintvermauert zu sein. Und die gesellschaftlichenStrickleitern, die in den siebziger Jahren ausgerolltwurden und halfen, soziale Hindernisse zu über-winden und in bessere Verhältnisse aufzusteigen,sind kaum mehr vorhanden. Sie sind Stück fürStück wieder eingezogen worden. So gelingt dasKlettern aus defizitären Lagen nach oben immerseltener. Es hat sich erwiesen: Unser Bildungssys-tem selektiert nach Herkunft, statt zu integrierenund zu beflügeln, und wer in der Hauptschulehängen bleibt, ist abgestempelt und hat wenigChancen, aus sozialer Not durch eigene Arbeit herauszukommen. Das gilt nicht nur, aber in be-sonderem Maße für Kinder und Jugendliche mitMigrationshintergrund. Sie haben das zusätzlicheHandicap, sich in zwei Lebenswelten zurechtfin-den zu müssen und oftmals trotz ihres Bemühens,sich zu integrieren, als andersartig misstrauischund vorurteilsbeladen beäugt zu werden. So wirdhierzulande vorrangig der seines Glückes Schmied,der vom Glück schon bei seiner Geburt aufgrundseiner Herkunft eine große Portion abbekommen

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hat. Armut ist wieder vererblich geworden konsta-tieren die Sozialforscher, sie ist eine Falle, der mannur schwerlich entkommt. Wen wundert da, dassbetroffene Heranwachsende auf die Frage nachdem, was aus ihnen wird, resigniert antworten:„Hartz IV-Empfänger“. Verlorene Hoffnung undSelbstaufgabe spricht aus diesen Worten. Das kannin Lethargie, aber auch gewaltsamem Umsich-schlagen als scheinbar einziger Möglichkeit, sichzu behaupten, enden. Einer solchen verhängnis-vollen Entwicklung darf der Sozialstaat nicht ein-fach tatenlos zuschauen und erst dann einschrei-ten, wenn aufgestauter Frust sich bei Jugendlichenzerstörerisch entlädt. Er ist vielmehr aufgefordert,dem frühzeitig entgegenzuwirken und zu verhin-dern, dass auf diese Weise Lebensläufe in Sack -gassen geraten und der Gesellschaft wertvollemenschliche Ressourcen verloren gehen. Vonnötenist, kindlichen Lebensmut aufzurichten, geradeauch unterprivilegierten Kindern die erforderlicheWertschätzung entgegenzubringen, damit sich ihrSelbstwertgefühl entwickeln kann, und ihnen un-terstützend unter die Arme zu greifen, sodass auchsie ihre Talente entdecken und entfalten könnenund gleiche Chancen wie andere erhalten, aus sichund ihrem Leben etwas zu machen. Auch hier gehtes um menschliche Würde: um die Befähigung vonKindern zu einer ich-starken Persönlichkeit, dieselbstverantwortlich handelt und Toleranz gegen-über Anderen übt. Da helfen keine Sozialgutschei-ne für Hartz IV-Kinder, einzulösen für Bildung, daführen nur gute und ausreichende Betreuungsan-gebote und vor allem ein reformiertes Bildungs-system weiter, das nicht aussiebt, sondern danachtrachtet, verschüttete Begabungen ans Tageslichtzu befördern und deshalb denjenigen ganz be-sonders viel Aufmerksamkeit widmet und Unter-stützung bietet, die am Beginn ihres Lebensschlechtere Startbedingungen haben.

Aber auch bei vielen alten Menschen ist es heutzu-tage um die menschliche Würde nicht gut bestellt.Schon die sinkenden Renten müssen bedenklichstimmen. Sie führen immer öfter zu Altersarmut,die sich in Zukunft aufgrund der Zunahme von unstetigen Beschäftigungsverhältnissen und demAnwachsen des Niedriglohnsektors noch weiterausbreiten wird, wenn dem nicht entgegenge -steuert wird. Besorgniserregend ist aber vor allemauch der Umgang mit pflegebedürftigen altenMenschen, deren Zahl, wie wir wissen, stetig stei-gen wird. In einer Welt, in der der Mensch zu funk-tionieren hat, in der sein Wert bemessen wird anseiner Fähigkeit, den immer höher geschraubten

Leistungsanforderungen zu genügen, in der der Ellenbogen herrscht und Arbeitsbedingungen auffamiliären Zusammenhalt kaum Rücksicht neh-men, bleibt immer weniger Zeit, sich um alte undpflegebedürftige Familienangehörige zu kümmern.Vermehrt landen sie deshalb in Heimen, die ihrePflege übernehmen. Nun ist es durchaus eine so-ziale Errungenschaft, dass es solche Einrichtungengibt. Und den dort tätigen Pflegekräften ist hochanzurechnen und dafür zu danken, dass sie dieseschwere und verantwortungsvolle Arbeit bereitsind zu leisten. Doch hilfebedürftige alte Menschenbrauchen nicht allein körperliche Pflege. Persönli-che Zuwendung ist es vor allem, die sie benötigen,um nicht nur durch die Tage vor sich hin zu vege-tieren, sondern das Gefühl zu haben, als Menschnoch geachtet und ernst genommen zu werden.Zuwendung aber kostet Zeit und damit Geld. Undfrei nach Goethe gilt auch in der Altenpflege: nachGelde drängt, am Gelde hängt doch alles. Und die-ses teilt alte Menschen in zwei Klassen: in diejeni-gen, die ausreichend davon haben, um sich inteueren Altenresidenzen einquartieren und Zu-wendungszeit erkaufen zu können, und diejeni-gen, die über die Mittel nicht verfügen. An ihnenaber wird mit knapp bemessenem Personaleinsatz,der auf menschliche Bedürfnisse kaum Rücksichtnimmt, gespart. Alte Menschen werden so zu Kos-tenfaktoren, die es zu senken gilt, werden zeitge-taktet in einzelne, streng rationierte Pflegeverrich-tungen, damit nur ja keine überflüssige Minute aufsie verschwendet wird, werden zu Wasch-, Fütter-und Windelobjekten, die über sich ergehen lassenmüssen, was mit ihnen gemacht wird. Von einemwürdevollen Leben kann bei solch einer Behand-lung kaum mehr die Rede sein. Darf es sein, dasswir Menschen, wenn sie im Alter nicht mehr vonNutzen sein können, in heutiger Zeit nicht mehr fürwert befinden und es als unnötige Zeitvergeudungansehen, ihnen, ihrer Persönlichkeit und ihrer Le-bensgeschichte Achtung und Anerkennung entge-genzubringen? Nein, lautet die Antwort, die Art. 1unseres Grundgesetzes auf diese Frage gibt. Es darfnicht sein, dass Alten- und Pflegeheime zu Ver-wahranstalten und Wartesälen zum Tod verkom-men. Der Sozialstaat ist dringend aufgerufen, sol-chen Zuständen ein Ende zu bereiten.

Die Beispiele machen deutlich: Menschen ihreWürde zu geben oder zu belassen, bedeutet, sienicht wie bloße Objekte, sondern zu achtendeSubjekte zu behandeln, sie nicht als Mittel zumZweck zu missbrauchen, sondern ihre Person undPrivatsphäre zu respektieren und ihnen einen

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höchstpersönlichen Bereich privater Lebensgestal-tung zu sichern. In einer Zeit, in der der Menschwieder zunehmend lediglich als Kalkulationsgrö-ße, als fungibles Gut, als wegzurationalisierenderFaktor, als störendes Moment betrachtet wird, inder Arbeitnehmer durch das weltweite Verschie-ben von Standorten und die Zerstückelung von Arbeit wieder in größere Abhängigkeit geraten undobendrein die moderne Technik es möglich macht,Menschen ständiger Beobachtung auszusetzen,anhand ihrer Gene und Daten zu entblößen, ihreGewohnheiten und sozialen Beziehungen auszu-forschen und ihre Geheimnisse zu lüften, ist esdringlicher denn je, zu gemahnen, dass diesenverfassungsrechtlichen Verdikten Rechnung zutragen ist, damit die Menschenwürde bei alledemnicht auf der Strecke bleibt.

Das gilt für den Staat selbst, der bei aller Notwen-digkeit, seinen Bürgern vor vagabundierendemund mordendem Fanatismus und Terrorismus hin-reichend Sicherheit zu bieten, beim Einsatz derMittel im Kampf gegen den Terror nicht die Grenzeüberschreiten darf, die ihm die Menschenwürdesetzt. Wo sie im Einzelnen liegt, hat das Bundes-verfassungsgericht dem Gesetzgeber in den letztenJahren vor allem mit seinen Entscheidungen zumGroßen Lauschangriff, zum Luftsicherheitsgesetz,zur Rasterfahndung, Onlinedurchsuchung und zu-letzt zur Vorratsdatenspeicherung aufgezeigt.

Das gilt aber auch im Privaten. Es war der Men-schenwürde geschuldet, so sagte es Hugo Sinz -heimer der große Arbeitsrechtler einst, dass derarbeitende Mensch, der früher nur als Sache be-handelt wurde, durch Zuerkennung von Schutz-und Partizipationsrechten zur Person aufsteigenund als Mensch Anerkennung finden konnte. Undes bleibt ihr geschuldet. Auch in heutigen Zeiten

darf Arbeitnehmern diese Anerkennung nicht ver-wehrt werden. Und wenn die alten Rechte keinenhinreichenden Schutz mehr bieten, weil sie z. B.bei befristeten Arbeitsverhältnissen und Leiharbeitnicht mehr greifen, oder Gefährdungen nur unge-nügend Einhalt bieten können, denen Arbeitneh-mer beim Einsatz neuer Techniken ausgesetzt sind,dann müssen neue Rechte geschaffen werden, dieschützen: vor Hire und Fire-Methoden, die Le-benssicherheit zerstören, vor Ausbeutung, die Ar-mut mit sich bringt, und vor Besitzergreifung derPersönlichkeit abhängig Beschäftigter durch per-manente Überwachung und Ausforschung, wiedies in skandalöser Weise bei Lidl, der Bahn undder Telekom, aber gewiss auch anderenorts schongeschehen ist.

Dies ist keine „Kleinmünzerei“ der Menschenwür-de, es verweist vielmehr auf ihre demokratischenFüße und macht klar, dass sie nicht nur denenvorbehalten ist, die sie sich selbst erwerben undsichern können, sondern allen in jeder Lebenslagezukommt. Dies zu beherzigen und der Menschen-würde immer wieder aufs Neue ein soziales Ge-sicht zu verleihen, das der Gegenwart und den Be-dürfnissen der Menschen gerecht wird, ist Aufgabedes Sozialstaats und Sache der Politik. Es stimmtbedenklich, dass diese sich in letzter Zeit daraufkapriziert zu haben scheint, haarscharf an derGrenzlinie des Minimums zu operieren, die dieMenschenwürde zieht, und nur das zu tun, wassoeben noch mit ihr verträglich erscheint. Rückbe-sinnung auf den sozialen Auftrag unserer Verfas-sung, die Verhältnisse für alle zum Besseren, Ge-rechteren zu kehren, täte hier Not. Denn es bleibtrichtig, was Ernst Bloch einst gesagt hat: „Es gibtsowenig menschliche Würde ohne Ende der Not,wie menschgemäßes Glück ohne Ende alter undneuer Untertänigkeit“.

Reden • Dr. Christine Hohmann-Dennhardt

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Reden • Prof. Dr. Gerhard Naegele

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Prof. Dr. Gerhard NaegeleInstitut für Gerontologie an der TU Dortmund

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Obwohl der demografische Wandel weit mehr alsdas Altern der Bevölkerung umfasst, beschäftigtsich dieser Beitrag ausschließlich mit dem Mega-Trend des kollektiven Altern der Bevölkerung.

1. Demografische Megatrends und Rahmendaten

Bekanntlich wird schon seit mehreren Jahrzehntendie Bevölkerung Deutschlands kontinuierlich älter,und dieser Trend wird auch künftig dauerhaft an-halten. Für diese Entwicklung sind insbesonderezwei als irreversibel geltende Trends verantwortlich:Konstant niedrige Geburtenraten und eine weitersteigende mittlere und fernere Lebenserwartung: •Seit langem schon schwankt die „zusammenge-

fasste Geburtenziffer“ zwischen 1,3 und 1,4 undliegt damit um etwa ein Drittel unterhalb der fürdie natürliche Reproduktion der einheimischenBevölkerung erforderlichen Geburtenrate. Hier-für sind im Wesentlichen drei Trends bedeutsam(1) Frauen werden immer später Mutter. (2) DieZahl der lebenslang kinderlos bleibenden Frauensteigt. (3) Zwar bleibt die durchschnittliche Kinderzahl je Mutter relativ stabil, aber vor dem Hintergrund der ersten beiden Megatrendsnimmt die durchschnittliche Zahl der Kinder, diedie Frauen eines Jahrgangs zur Welt bringen, imZeitablauf ab.

•Sowohl die mittlere Lebenserwartung einer Neu-geborenen wie die fernere Lebenserwartung be-reits Lebensälterer sind in der Vergangenheitstark gestiegen. Ein weiterer Anstieg wird erwar-tet. Die 12. Koordinierte Bevölkerungsvoraus -berechnung des Statistischen Bundesamtes vomNovember 2009 kommt in ihrer Basisannahmefür 2060 zu einer durchschnittlichen Lebens -erwartung neugeborener Jungen von 85,0 Jah-ren und neugeborener Mädchen von 89,2 Jah-ren (zum Vergleich: Sterbetafel 2006/2008: 77,2bzw. 82,4 Jahre). Für 65-jährige Männer wirdfür 2060 eine fernere Lebenserwartung von 87,3Jahren und für 65-jährige Frauen von 90,5 Jah-ren angenommen (jeweils etwa 5 Jahre mehrgegenüber 2006/2008).

•Zwar sind auch künftig allerdings eher moderatausfallende Außenwanderungsgewinne zu er-warten – bedingt insbesondere durch dasSchrumpfen des einheimischen Erwerbsperso-nenpotenzials und dadurch induzierte Arbeits-migration sowie weltweite, durch den Klima-

wandel verstärkte Wanderungsbewegungen. Ak-tuell gibt es übrigens schon mehr Abwan -derungsverluste als Zuwanderungsgewinne. Al-lerdings wird dadurch sowohl der Trend zurSchrumpfung (s.u.) wie zum kollektiven Alternder Bevölkerung nicht aufgehalten, allenfalls imAnstieg abgebremst. Andererseits steigt die Zahlälterer Menschen mit Migrationsgeschichte undstellt insbesondere die sozialen Dienste vor neueHerausforderungen.

•Vor diesem Hintergrund errechnet – je nach An-nahmen – das Statistische Bundesamt fürDeutschland im Jahre 2060 eine Gesamtbevöl-kerungszahl von zwischen 65 Mio. (Minimum -variante) und 77 Mio. (Maximumvariante) undsomit in beiden Vorausberechnungen einen erheblichen Rückgang gegenüber der jetzigen Bevölkerungszahl von rd. 82 Mio. (StatistischesBundesamt 2009).

Schwerwiegender als das Schrumpfen der Gesamt-bevölkerung – Experten/innen sind sich darübereinig, dass es keine „optimale Bevölkerungsgrößegibt – sind die Konsequenzen des demografischenWandels für die Bevölkerungszusammensetzung:Das „dreifache Altern“ der Bevölkerung setzt sichfort: (1) Zunahme des Anteil der Älteren an der Ge-samtbevölkerung, (2) Zunahme der absoluten Zahlder Älteren sowie (3) Zunahme insbesondere vonAnteilen und Zahlen sehr alter Menschen (80+)(„Hochaltrigkeit“, „viertes Alter“). Ausgehend vonaktuell etwa 21 %, so werden im Jahr 2030 schon29 % der Bevölkerung 65 und älter sein, 2060 so-gar mehr als jeder dritte Einwohner Deutschlands.Bezogen auf die Gruppe 80+ werden von jetzt et-wa 4 Mio. bzw. einem Anteil von noch erst 5 % ander Gesamtbevölkerung, 2060 etwa 9 Mio. Men-schen – das heißt dann jeder 7. – 80 und ältersein, d.h. dann 14 % der Gesamtbevölkerung, da-runter mehrheitlich Frauen. Auch wenn die Le-benserwartung der Männer insgesamt stärker alsdie der Frauen ansteigt, wird sich an der „Femini-sierung des Alters“, insbesondere in den oberstenAltersgruppen, nichts Grundlegendes ändern.

Auf der anderen Seite sinkt die Zahl jüngerer Men-schen weiter. Im Jahr 2060 wird es nach der be-reits erwähnten 12. Bevölkerungsvorausberech-nung nur noch etwa 10 Mio. junge Menschen imAlter von unter 20 Jahren geben – gegenüber ak-tuell noch etwa 16 Mio. Darunter werden sich mitsteigenden Anteilen junge Menschen mit Migrati-

Reden • Prof. Dr. Gerhard Naegele

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Demografischer Wandel – Mega-Herausforderungen für die Sozialpolitik

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onsgeschichte befinden, womit zugleich ein zen-trales Anliegen der Integrations- und Bildungspo-litik angesprochen ist, dessen Aktualität auch ichkeineswegs unterschätze, zu dem ich aber andereals in den letzten Wochen vielfach zitierte Schluss-folgerungen ziehe, auf die ich hier aber nicht ein-gehen möchte.

Entsprechend sinken auch Zahlen und Anteile derMenschen im so genannten erwerbsfähigen Altervon heute etwa 50 Mio. auf – je nach Annahme –zwischen 33 und 36 Mio. im Jahre 2060. Schon imJahre 2035 wird etwa die Hälfte der Bevölkerung50 Jahre und älter. In der Konsequenz altern auchdie Belegschaften. Darin sehen vor allem jeneÖkonomen, die dem „demografischen Krisen -szenarium“ nahe stehen, wichtige Indikatoren fürkünftig steigende gesamtwirtschaftliche Risiken(„Altern der Gesellschaft als Wachstums- und Innovationsbremse“).

2. Einige sozialpolitische Implikationen

Auch wenn diese Rahmendaten und -trends weit-gehend bekannt sein dürften (was jedoch keines-wegs für ihre Konsequenzen gilt), so sind sie dochwichtige Hintergrundfolien für das Thema „Sozial-politik in demografisch alternden Gesellschaften“.Einer weit verbreiteten Definition zufolge reagiertSozialpolitik auf soziale Risiken und Probleme, diesich von privaten Risiken und Problemen dadurchabgrenzen, dass zu ihrer Bearbeitung und Lösungdie individuellen wie familialen Hilfepotenzialenicht ausreichen bzw. überfordert sind und infol-gedessen organisierter Hilfe und Unterstützungdurch Einrichtungen und Maßnahmen der Sozial-politik benötigen. Nun ist Alter zwar selbst keineLebensphase, die per se hauptsächlich durch so-ziale Risiken und soziale Probleme gekennzeichnetwäre. Im Gegenteil: Die weit überwiegende Mehr-heit der Älteren in Deutschland lebt vergleichs -weise frei von ernsthaften sozialpolitisch relevan-ten sozialen Risiken und Problemen. VorsichtigeSchätzungen kommen auf ein tatsächliches Risiko-und Problempotenzial von weniger als 20 % in derGruppe 65 +, das sich allerdings auf bestimmteTeilgruppen konzentriert. Besonders betroffensind sehr alte Menschen, darunter viele alleinle-bende ältere Frauen, ältere Menschen aus den unteren Sozialschichten und/oder ältere Menschenmit Migrationsgeschichte. Aus sozialpolitischerSicht besorgniserregend ist, dass speziell für sehralte Menschen und für ältere Menschen mit Migra-

tionsgeschichte hohe Zuwachsraten vorausberech-net werden. Die von vielen erwartete künftig wie-der steigende Altersarmut (s.u.) ist bei dieser Risi-koprognose noch gar nicht berücksichtigt.

Andererseits weisen so genannte Kohorteneffektevor allem für die jüngeren Älteren von morgen undübermorgen weiter steigende förderliche Ressour-cen und Potenziale und damit im Durchschnittgünstigere Ausgangsbedingungen für Gestaltungund Bewältigung des eigenen wie des kollektivenÄlterwerdens auf. Diese betreffen insbesonderedie Dimensionen höheres Einkommen, bessereGesundheit, mehr Bildung, mehr soziale Integra -tion sowie mehr allgemeine Verhaltenspotenzialeund Problemlösungskompetenzen und signalisie-ren somit im Kern zwar so etwas wie „sozialpoliti-sche Entwarnung“. Dies gilt aber keineswegs füralle sozialen Gruppen Älterer und schon gar nichtfür die stark wachsende Zahl sehr alter Menschen.Z. B. sprechen Gerontologen in diesem Zusam-menhang von der zunehmenden sozialen Diffe-renzierung des Alters, die zudem von einer wach-senden Polarisierung des Alters in sozialpolitischgute und sozialpolitisch problematische Lebens -lagen („positives“ und „negatives“ Alter) charak-terisiert ist. Die Differenzierung des Alters gehteinher mit einem stabilen Trend zu einer eine sub-jektiv wahrgenommene „Verjüngung“ des Alters,die das eigentliche kalendarische Alter als Prog -nosekategorie für die soziale Lage im Alter zu -nehmend in den Hintergrund drängt. Chronolo -gisches/kalendarisches Alter eignet sich heuteallenfalls noch für eine grobe Abgrenzung des risi-kobehafteten hohen Alters (80-85 Jahre), nichtaber mehr als relevantes soziales Unterschei-dungsmerkmal für Menschen innerhalb der ge-samten und gegenüber früher deutlich länger ge-wordenen Lebensphase „Alter“. UnterschiedlicheKohortenerfahrungen und biografische Bedingun-gen, unterschiedliche Lebensformen und Lebens-stile werden auch im Alter wirksam, was sich übri-gens auch auf der individuellen Ebene dessubjektiven Alternserlebens widerspiegelt. Bei-spielsweise zeigen empirische Befunde, dass Fle-xibilität, Mobilität und Selbständigkeit in sämt -lichen Altersgruppen über 50 Jahre deutlichzugenommen haben und dass sich Menschen zwi-schen 40 und 85 Jahren subjektiv heute im Schnittbis zu zehn Jahre jünger einschätzen, als es ihremeigentlichen kalendarischen Alter entspricht.

Allerdings wirken neben solchen förderlichen undim Grundsatz optimistisch stimmenden Kohorten-

Reden • Prof. Dr. Gerhard Naegele

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effekten auch lebensgeschichtliche Erfahrungenvon sozialer Ungleichheit auf die Prozesse des Äl-terwerdens ein und bestimmen Lebenslagen imAlter. In der Tat gibt es empirische Belege für einsogar noch wachsendes Ungleichheitspotenzial in-nerhalb der Lebensphase Alter, d.h. für das Ausei-nanderdriften von positiven und problematischenLebenslagen im Alter, die über die ungleich ver-teilten Möglichkeiten zur längeren Erwerbsbeteili-gung, wachsende Einkommensunterschiede bishin zu solchen in Wohnqualität, Gesundheit bishin zur Lebenserwartung reichen. Wer arm ist, istauch heute noch kränker und stirbt auch heutenoch deutlich früher. Eine Sozialpolitik, die sichauch die sozial Gestaltung von Lebenslagen aufdie Fahnen geschrieben hat – und hier stehe inder Tradition des dem einen oder anderen in die-sem Raum vielleicht noch bekannten Ludwig Prel-ler, der von der Gestaltungsfunktion von Sozialpo-litik als Teil von Gesellschaftspolitik gesprochenhat – kann derartige soziale Ungleichheiten im Al-ter nicht übersehen.

3. Einflüsse des allgemeinen sozialenund politischen Wandels

Es ist bereits deutlich geworden, dass sich nebenden erwähnten demografischen Megatrends heu-tige und künftige alterstypische soziale Risikenund Probleme nicht unmaßgeblich auch durch denallgemeinen politischen, ökonomischen und so-zialen Wandel mit bestimmt werden. Ohne hier insDetail gehen zu können, kann in diesem Zusam-menhang auf folgende, auf künftige Kohorten äl-terer Menschen zutreffende Trends hingewiesenwerden: •Die finanziellen und ökonomischen Folgen von

Langfristarbeitslosigkeit (nicht nur älterer Ar-beitnehmer) einerseits bzw. von Nicht-Erreich-barkeit der Rente mit 67 andererseits führen ineiner wachsenden Zahl von Fällen, vor allem bei„marktschwachen“ (älteren) Beschäftigten, zuRentenkürzungen. Schon heute scheiden fast 50 % aller Neurentner/innen mit Abschlägenaus, darunter jede/r Dritte mit dem vollen 18 %-igen Abschlag.

•Damit einher (und nicht selten mit kumulativerWirkung auf die Rentenerwartungen) gehen Si-cherungslücken aufgrund von wachsender Nied-rigentlohnung – die AWO selbst spricht von 6,5Mio. Betroffenen –, wachsenden Diskontinui -täten in den Erwerbsverläufen und zunehmen-der „Entnormalisierung“ von Beschäftigungsver-

hältnissen, von denen zunehmend auch ältereArbeitnehmer/innen betroffen sind (Teilzeit, be-fristete Beschäftigungsverhältnisse, 400 EuroJobs und andere Formen prekärer Beschäfti-gung).

• Insgesamt sind diese Sicherungsrisiken nochüberlagert von den Fernwirkungen des mit der„neuen Alterssicherungspolitik“ der letzten Jah-re eingeleiteten Paradigmenwechsels in derRentenpolitik. Dieser zielt insgesamt auf eineReduzierung der Bedeutung der umlagefinan-zierten GRV, in der Konsequenz auf eine Absen-kung ihres Leistungsniveaus und auf deren teil-weisen Ersatz durch kapitalfundierte privateAlterssicherungsprodukte, die allerdings – so diesozialpolitisch eigentlich alarmierend Nachrichtin diesem Zusammenhang – bislang eher undhäufiger von denen genutzt werden, die ohne-hin bereits günstige Einkommenserwartungenim Alter aufweisen. Allerdings kann davon aus-gegangen werden, dass kein massenhaftes An-steigen von Altersarmut erfolgen wird. Gleich-wohl wird es mittel- bis längerfristig wiedermehr Armut im Alter geben bei gleichzeitigerweiterer Spreizung der Alterseinkommen insge-samt. Zwar könnten die steigenden Frauen -erwerbsquoten und ggf. eine verlängerte Le-bensarbeitszeit (zumindest bei denen, die das„schaffen“) zu einer Reduzierung des künftigenArmutsrisikos beitragen, darauf jedenfalls deu-ten neuere Simulationsrechnungen des DIW hin.Andererseits zeigen sie aber auch, dass für Ost-deutschland – und bei Männern wie Frauengleichermaßen – künftig sinkende Renten un-ausweichlich sind, d.h. das künftige Altersar-mutsrisiko wird sozial und regional sehr un-gleich verteilt sein.

Zu den wichtigsten Dimensionen des allgemeinensozialen Wandels mit Folgen für alterstypische so-ziale Risiken und Probleme zählen darüber hinausgewichtige Veränderungen in den Lebensformenund Familienstrukturen der älteren Menschen. Aufdrei Dimensionen will ich kurz eingehen:•Künftig wird es bei der schon jetzt sehr hohen

Zahl an Ein-Personenhaushalten älterer Men-schen bleiben („Singularisierung des Alters“).Ihre Zahl liegt jetzt bei etwa 15 Mio. und hat sichgegenüber Anfang der 1990er Jahre um fast einViertel erhöht. Zu ihrer Unterstützung sind ins-besondere personenbezogene Dienste gefragt.

•Erschwert wird dies noch durch strukturelle Ver-änderungen in den Familien, die ebenfalls neueund dann auch sozialpolitisch relevante Versor-

Reden • Prof. Dr. Gerhard Naegele

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gungsbedarfe vor allem für die wachsende Zahlallein lebender sehr alter Menschen betreffen. Siegelten insbesondere die Möglichkeit der Aufrecht -erhaltung der selbständigen Lebensführung unddie Versorgung bei Krankheit und Pflegebedürf-tigkeit. Dafür stehen u.a. sinkende Geburtenra-ten, verkleinerte Haushaltsgrößen, rückläufigeHeirats- bei steigender Scheidungs- und sinken-der Wiederverheiratungsbereitschaft sowie zu-sätzlich die weiter wachsende (aber zugleichgleichstellungs- und arbeitsmarktpolitisch erfor-derliche) Ausweitung von Frauenerwerbsarbeit.

•Vor allem die Zunahme von Hochaltrigkeit mussals wichtigste driving force künftiger sozialpoliti-scher Handlungserfordernisse in einer Gesell-schaft des langen Lebens gelten. Auch wennneuere Daten – so z. B. des jüngsten Alters -surveys von 2010 – für nachrückende jüngere Altersgruppen Verbesserungen im Gesundheits-zustand ausweisen, so gelten doch chronischeErkrankungen und Multimorbidität sowie im Ge-folge steigende Pflegebedürftigkeit, vor allem inForm demenzieller Erkrankungen, als unmittel-bar an sehr hohes Alter gebunden. Auch wennkeine Geradlinigkeit in der Beziehung zwischendemografischer Entwicklung hin zur Hochaltrig-keit und alterstypischen Krankheits- und Pflege-bedürftigkeitsrisiken besteht, so ist in Anbetrachtder demografischen Entwicklung in jedem Fallvon steigenden Fallzahlen auszugehen. Z. B.kommen seriöse Vorausberechnungen – aller-dings unter Zugrundlegung von status-quo-An-nahmen – zu einem Anstieg von bis zu 3,6 Mio.hauptsächlich sehr alte Pflegebedürftige und aufweit über 2 Mio. ebenfalls hauptsächlich sehr al-te demenziell erkrankte Menschen bis 2040 (vonjetzt etwa 2.3 Mio. Pflegebedürftige im Sinne desSGB XI bzw. rund 1 Mio. demenziell Erkrankte).

4. Schwerpunkte künftiger sozial-politischer Handlungserfordernisse –für eine „soziale Demografiepolitik“!

Zweifellos sind mit den demografischen Herausfor-derungen auch wachsende sozialpolitische Risikenverbunden. Diese Zusammenhänge müssen abernicht zwangsläufig geradlinig verlaufen: Es gibt kei-nen simplen „demografischen Determinismus“. Vondaher reicht eine rein „demografische Brille“, wiediese z. B. in gängigen, häufig zudem noch neolibe-ral begründeten demografischen Krisenszenarien,benutzt wird, für eine sozialpolitischen Betrachtungnicht aus. Vielmehr ist es erforderlich, die sozial-

strukturellen Dimensionen demografischer „Droh-szenarien“ mit in den Blick zu nehmen. Auch wirdhäufig übersehen, dass sich demografische Prozesseebenso wie solche des allgemeinen sozialen undpolitischen Wandels in aller Regel schleichend ent-wickeln, von daher langfristig vorhersehbar und so-mit im Grundsatz – ganz im Sinne eines präventivenund Sozialpolitikverständnisses – auch gestaltbarsind. Die Einschätzung einer prinzipiellen politi-schen Gestaltbarkeit sowohl der Faktoren wie derKonsequenzen demografischer Prozesse war hierzu-lande bislang wenig verbreitet, was man exempla-risch am Beispiel der „Beerdigung erster Klasse“ derbereits 2002 veröffentlichten Empfehlungen derBundestags-Enquete-Kommission demografischerWandel, die im Grundsatz politisch nie aufgegriffenwurden, belegen kann. Von daher sind die nachste-henden Ausführungen auch als Plädoyer für einesoziale Demografiepolitik zu verstehen.

Dies soll an einigen künftigen Schwerpunkten so-zialpolitischer Gestaltungserfordernisse im Kontextdes demografischen Alterns der Gesellschaft ver-deutlicht werden. Sie stehen zugleich für die fol-gende Aussage: In den erwähnten demografischenwie sozial-strukturellen Mega-Herausforderungenliegen auch Chancen dafür, nicht nur zu aus sozi-alpolitischer Sicht fachlich angemessenen und in-novativen Bearbeitungsstrategien für die bereitsjetzt evidenten alten und neuen sozialen Altersri-siken und -probleme zu kommen. Vielmehr kön-nen aus ihrer erfolgreichen Lösung auch positiveAbstrahleffekte für die Bewältigung anderer struk-tureller Reformerfordernisse in wichtigen übrigenFeldern der Sozial- und Gesellschaftspolitik liegen– entsprechend dem Motto: Die demografischenauch als Chance zur Bewältigung von nicht primärdemografischen Herausforderungen zu nutzen!Diese These soll im Folgenden an insgesamt neuenaus sozialpolitischer Sicht hoch bedeutsamen sozi-alpolitischen Handlungserfordernissen in einer alternden Gesellschaft begründet werden.

4.1. Anpassung der Alterssicherungssysteme ansich verändernde und flexiblere Lebensläufe

Im Bereich der der Alterssicherung gilt es – nebender präventiven Vermeidung von Altersarmut (hie-rauf wird nicht eingegangen, da dies in anderenBeiträgen erfolgt) künftig vor allem jene Einkom-mensrisiken abzusichern, die auf zunehmendefreiwillige oder erzwungene Unterbrechungenund/oder Flexibilisierungen von Erwerbsbiografienzurückzuführen sind und deren Bedeutung in den

Reden • Prof. Dr. Gerhard Naegele

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letzten Jahren massiv zugenommen hat. Entspre-chende Lösungswege markieren z. B. die 2007 vonder EU-Kommission vorgelegten allgemeinen „ge-meinsamen Grundsätze“ für ein Flexicurity-Kon-zept, das auf eine bessere Absicherung von erwerbsbiografischer Diskontinuität zielt, derenWeiterentwicklung und Umsetzung für Deutsch-land (z. B. im Rahmen der Offenen Methode derKoordinierung (OMK)) noch aussteht. Perspektiveneröffnet auch die Idee der Weiterentwicklung derArbeitslosenversicherung hin zu einer Beschäfti-gungsversicherung, die auf die soziale Sicherungvon typischen erwerbsbiografischen Risiken imKontext von Arbeitslosigkeit und riskanten Über-gängen und damit zugleich auf die Eröffnung vonGelegenheitsstrukturen für neue berufliche Ent-wicklungsperspektiven einerseits sowie auf dieVerbesserung von individuellen work-life-balan-ce’s andererseits abzielt. Unter sozialpolitischenGesichtspunkten hoch bedeutsam ist darüber hi-naus insgesamt, die gesunkene „Vertrauenskrise“in den Alterssicherungssystemen – die sich bei derjüngeren Generation insbesondere in Klagen übermangelnde „Generationengerechtigkeit“ (vor al-lem hinsichtlich Beitrags- und Leistungsgerechtig-keit) manifestiert, politisch zu bekämpfen.

4.2. Förderung der Beschäftigungsfähigkeit eines insgesamt alternden Erwerbs-personenpotenzials

Insbesondere auch um die umlagefinanzierten so-zialen Sicherungssysteme nachhaltig zu sichern,dem künftigen Altern der Belegschaften, den de-mografischen Engpässen auf dem Arbeitsmarktund nicht zuletzt dem bereits jetzt vielerorts er-kennbaren Fachkräftemangel zu begegnen, bedarfes zweifellos auch einer Ausweitung der Alters -erwerbsarbeit. Diese lässt sich aber nicht „perKnopfdruck“ realisieren – und schon gar nichtüber rentenpolitische Anreize nach dem Musterder „Rente mit 67“ allein. Notwendig ist vielmehreine integrierte, auf mehreren Ebenen ansetzen-den Politik zum Erhalt und zur Förderung der Be-schäftigungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer/innen,die eine auch real längere Lebensarbeitszeit über-haupt erst einmal möglich und auch individuellwünschenswert macht. Hier hilft z. B. auch einBlick über die Grenzen weiter, z. B. in die skandi-navischen Länder, allen voran nach Finnland.Notwendig ist weiterhin eine entsprechende An-passung von Arbeitsbedingungen und -belastun-gen sowie die Schaffung geeigneter Arbeitsplätze,damit Menschen auch in den Betrieben und auf

ihren angestammten Arbeitsplätzen „in Würde“(Adamy) älter werden können.

Dies setzt zugleich eine Abkehr von der bisherigen,auf die letzten Berufsjahre beschränkten Ältere-Arbeitnehmer-Politik hin zu einer lebenslaufsen -siblen Personalpolitik voraus. So plädiert z. B. die6. Altenberichts-Kommission in ihrem im nächstenMonat vorgelegten Abschlussbericht für eine be-triebliche Beschäftigungspolitik, „die sich über-haupt nicht (mehr) an (z. T. innerbetrieblich ge-setzten) Altersbildern orientiert, also keine primärkalendarische Zuordnung und Typisierung vonMaßnahmen mehr vornimmt, sondern am Lebens-zyklus ausgerichtet ist“ („LebenszyklusorientiertePersonalpolitik“). Diese sollte vor allem in den Betrieben und dort auf den unterschiedlichen Stufen der Erwerbsbiografie ansetzen. Die Kommis-sion setzt sich weiterhin für Demografietarifver -träge ein, von denen es erste bereits gibt, z. B. mitZielen wie Qualifikationsförderung, Gesundheits-schutz und Motivationserhalt über den gesamtenArbeitnehmerlebenslauf hinweg sind, so z. B. inder Eisen- und Stahl- oder in der Chemischen In-dustrie.

4.3. Zeitliche Andersverteilung von Arbeit überden Lebenslauf i.S. einer Neuorganisationvon Lebensarbeitszeit

Eine lebenszyklusorientierte Personalpolitik erfor-dert zugleich eine zeitlichen Andersverteilung vonArbeit über den Lebenslauf i.S. einer Neuorganisa-tion von Lebensarbeitszeit. Gemeint ist eine Neu-konzeptualisierung der klassischen „Dreiteilungdes Lebenslaufs“, die vor dem Hintergrund positi-ver Kohorteneffekte nachwachsender Generatio-nen Älterer und einer weiteren Verlängerung derLebenserwartung für viele als unausweichlich gilt.Damit könnte zugleich angemessen auf den ge-wachsenen Bedarf an einer besseren Synchroni-sierung von Arbeitszeit reagiert werden, die Men-schen in der Mitte und in der Spätphase desErwerbslebens in ganz besonderer Weise betrifft(z. B. „neue Vereinbarkeitsproblematik von Berufund Pflege“). Die bisher in diesem Zusammenhangvon der Politik gegebenen Antworten zur Neuver-teilung von Lebensarbeitszeit sind unzureichend.Einerseits sind sie lediglich rentenrechtsintern(„Rente mit 67“), andererseits schaffen sie, insbe-sondere wegen sich ausweitender prekärer Be-schäftigungsverhältnisse, neue soziale und damitübrigens auch neue ökonomische Risiken bei denkünftigen Kohorten Älterer.

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4.4. Förderung lebenslangen Lernens

Die Forderung nach lebenslangem Lernen und vonErwachsenenbildung hat vordergründig zunächstebenfalls beschäftigungspolitische Hintergründeund gilt insbesondere für ältere Arbeitneh-mer/innen. Zu Recht wird die berufliche Bildung inDeutschland als zu „frontlastig“ kritisiert. Lebens-langes Lernen impliziert aber mehr, so z. B. das„Matthäus-Prinzips“ in der betrieblich verant -worteten beruflichen Fort- und Weiterbildung zuüberwinden, die Möglichkeit, fehlende Schul- undBildungsabschlüsse nachzuholen, oder in den Uni-versitäten und Hochschulen mehr (möglichst be-rufsbegleitende) Weiterbildungsangebote zu schaf-fen. In Deutschland gibt es kaum individuelleRechtsansprüche auf Weiterbildung, deren Absiche-rung und Finanzierung z. B. per Gesetz oder Tarif-vertrag erfolgen könnte. Die 5. Bundesaltenbe-richtskommission plädiert neben dem Ausbau derbetrieblichen Weiterbildung z. B. für eine staatlicheErwachsenbildungsförderung, z. B. über Modelledes Bildungssparens, Bildungsschecks, Lernzeitkon-ten, Fondsmodelle oder öffentliche Förderungendurch die Bundesagentur für Arbeit (BA).

Unter demografischen Aspekten hat lebenslangesLernen aber auch einen unmittelbaren Altersbezug.Sowohl aus individueller wie aus gesellschaftlicherSicht spricht vieles für eine eigenständigen Bildungfür das Alter, die es z. B. älteren Menschen ermög-lichen könnte, mehr für die eigene Gesundheits-prävention zu tun, Rehabilitationsbemühungenselbst zu flankieren oder intelligente Techniken,welche die selbständige Lebensführung fördern,besser zu beherrschen. Insgesamt ist Lernen im Alter auch hilfreich, wenn es darum geht, ganzpersönlich besser mit alterstypischen Einschrän-kungen und Verlusten umzugehen.

4.5. Schaffung neuer Wohn- und Lebensformenund Förderung der selbständigen Lebens-führung

Wohnen ist bekanntlich mehr als nur „das Lebenin den eigenen vier Wänden“. Dies gilt in ganz besonderer Weise für ältere Menschen, die heuteselbst bei schwerwiegender Krankheit und Pflege-bedürftigkeit möglichst lange zu Hause in der ei-genen Wohnung wohnen bleiben wollen und diesmöglichst auch sollten. Dies gilt insbesondere für die zunehmende Zahl von Ein-Personen-Haus-halten. Wohnexperimente, wie gemeinschaftlicheWohnformen und dgl., genießen zwar eine hohe

Publikumswirksamkeit in den Medien, sie werdensich sicherlich auch ausbreiten, aber quantitativeher beschränkt bleiben. Gerade für Wohnen imAlter gilt die Differenzierungsthese: Wohnwünscheund Wohninteressen sind auch im Alter – je nachLebensform und Phase im Lebensverlauf – vari -abler geworden. In der Konsequenz verbieten sichauch hier Standardlösungen.

Neben den klassischen Wohnraumanpassungsmaß-nahmen sind „vernetzte“ Wohnlösungen die richti-gen Antworten. Beim Wohnen im Alter meint Ver-netzung dreierlei: (1) Vernetzungen von im engerenSinne wohnbezogener mit haushaltsbezogener, sozialer und Technikinfrastruktur im Sinne eines„Maßnahmen-Mixes“. Besondere Beachtung ver-dienen hier intelligente IT-Systeme, etwa nach demMuster des Ambient Assisted Living (AAL). Auch hierlohnt ein Blick über die Grenzen mit deutlich höhe-ren Verbreitungsgraden in England oder in Skandi-navien. (2) Vernetzung bezieht sich zweitens auf dieAkteure. Voraussetzung dafür sind – neben vernet-zenden und steuernden Bemühungen der kommu-nalen Sozialpolitik – neue „grenz- und gebiets-übergreifende“ Positionierungen von Akteuren, dieauch die etablierten Wohlfahrtsanbieter betreffen.Statt Verteidigung von Bastionen ist die Beteiligungan integrierten und vernetzten Wohn- und Versor-gungskonzepten gefragt, geht es um Mitwirkung inneuen strategische Allianzen vor Ort – zwischen denverschiedenen sozialen Dienstleistern, den Kassen,der Wohnungswirtschaft, den Handwerksbetrieben,der örtlichen Seniorenwirtschaft, den Gesundheits-und Pflegeanbietern, der Medizintechnik, der IT-Branche, der Finanzwirtschaft und nicht zuletztdem bürgerschaftlichem Engagement. (3) Neue Ver-netzungserfordernisse ergeben sich schließlich zwi-schen Wohnen und gesundheitlicher und pflegeri-scher Versorgung. Künftig wird die Wohnung vorallem bei sehr alten Menschen immer mehr zum„dritten Gesundheitsstandort“ anacieren. Dies gilterst recht angesichts neuer Finanzierungsmodi inden Krankenhäusern mit immer früheren Entlas-sungen auch Älterer. Skandinavische Modelle zei-gen z. B. sinnvollen und ökonomisch günstigerenRegeleinsatz für Telemedizin.

Für Deutschland gilt für die meisten der hier ange-dachten Vernetzungsstrategien, dass sie sich zu-meist noch im Erprobungs- bzw. Modellstadiumbefinden. Es fehlen geeignete Geschäftsmodelleund Finanzierungskonzepte, für die SGB-V- undSGB-XI-Lösungen denkbar, aber nicht regelhaftsind. Auch findet man sie – wenn überhaupt –

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zumeist nur in den Ballungszentren, wie hier imRevier, wo z. B. die großen Mietwohnungsbauge-sellschaften als neue Akteure längst auf dem Wegsind. Demgegenüber bestehen im ländlichen Be-reich und vor allem im Ein-Familienhaus-Wohnen– hier wohnen fast 50 % aller älteren Menschen inDeutschland ! – gewichtige Versorgungslücken.

4.6. Paradigmenwechsel in der Gesundheits-politik

In der Gesundheitspolitik muss es künftig vor allemdarum gehen, die bestehenden ambulanten undstationären Versorgungssysteme sehr viel zielgenau-er auf eine insgesamt alternde Patientenschaft mitihrer durch chronische Erkrankungen und Multimor-bidität gekennzeichneten besonderen Morbiditäts-struktur auszurichten. Die in Deutschland bislangstark auf Diagnose, Kuration und Medikalisierungfokussierte Gesundheitspolitik stellt sich vor diesemHintergrund als wenig gewappnet dar für die neuenHerausforderungen, die ein demografisch bedingtverändertes Krankheitspanorama zwangsläufig nachsich zieht. Veränderte Ziele sind insbesondere dieWeiterentwicklung und Umsetzung von geriatrischerPrävention und Rehabilitation, die Stärkung derChronikermedizin, Ausweitung integrierter Versor-gungsmodelle unter Einbezug der Pflege, vernetztesHandeln der Professionen sowie Schaffung neuer Al-tersbilder in der Medizin, Kranken- und Altenpflege.Das kürzlich dazu vorgelegte Sondergutachten desSachverständigenrates zur Begutachtung der Ent-wicklung im Gesundheitswesen zum Thema „Koor-dination und Integration – Gesundheitsversorgungin einer Gesellschaft des längeren Lebens“ verweistinsbesondere auf fehlende Leitlinien und Standardszum Umgang mit Multimorbidität sowie auf die bis-lang nicht gelösten Herausforderungen für eine be-darfsgerechte Arzneimittelversorgung im Alter.

4.7. Weiterentwicklung der Pflege(versicherungs)politik,

Zweifellos ist die Mitte der 1990er Jahre erfolgteEinführung der Pflegeversicherung ein sozialpoliti-sches „Erfolgsmodell“. Allerdings gilt gerade hierder Satz: „Nach der Reform ist vor der Reform“. Sosind dringend mehr Anreize zur Vermeidung vonPflegebedürftigkeit erforderlich, gilt es das beste-hende Leistungs- und Finanzierungsspektrum stär-ker auf differenzierter gewordene Bedarfssituatio-nen auszurichten und den money-led-approachdurch einen need-led-approach zu ersetzen sowiedas enge verrichtungsbezogene Konzept der Pflege-

versicherung durch ein erweitertes Pflegeverständ-nis und eines darauf ausgerichteten Begutachtungs-verfahrens abzulösen. Erst dadurch kann eine ange-messene Versorgung demenziell erkrankter älterer Menschen ermöglicht werden. Weitgehendungelöst ist zudem das Pflegepersonalproblem.Auch die „neue Vereinbarkeitsproblematik“ kann alsungelöst gelten. Allerdings setzt dies alles die Be-reitschaft in der gesamten Gesellschaft voraus, mehrFinanzmittel für die Pflege bereit zu stellen. Für bei-de Systeme, GKV wie PV, gleichermaßen besteht –gerade jetzt – die Erfordernis, weitere Einkommens-quellen zu nutzen („Bürgerversicherung“).

4.8. Erkennen und Nutzen der gewachsenen Potenziale älterer Menschen – Vom Versorgungs- zum Aufforderungs- und Verpflichtungsparadigma – das Konzept des „active ageing“,

In der Altenpolitik und -arbeit im engeren Sinnemuss es weiter gehen mit dem bereits im 5. Alten-bericht eingeleiteten Paradigmenwechsel: mit demZiel: weg von der traditionellen „Ruhestandsorien-tierung“ hin zur individuell wie gesellschaftlichnützlichen „Potenzialentfaltung und –nutzung“.In einer kollektiv alternde Gesellschaft muss eskonsensual getragenes Ziel sein, die Beteiligungder Älteren selbst an der Sicherung des kleinen wiedes großen Generationenvertrages einzufordern. Esgilt, das überkommende Versorgungsparadigmazugunsten eines Aufforderungs-, wenn nicht sogarVerpflichtungsparadigmas zu überwinden. Altern-de Gesellschaften zwingen zu einer neuen Verant-wortungsübernahme durch die Älteren selbst. Dasdarf aber nicht – so wie es speziell neoliberale Altenpolitikkonzepte im Umfeld des bewusst falsch interpretierten „aktiven Altern“ meinen – zueiner Rücknahme sozialstaatlicher Verantwortungund zu einer Finanzierungsverlagerung zu Lastender Älteren selbst führen. Das im Sinne des Auffor-derungsparadigmas derzeit am meisten fortge-schrittene Konzept ist das des „active ageing“ inder Interpretation von Alan Walker. Seine heraus-ragenden Merkmale sind neben einer integriertenund lebenslaufbezogenen Konzeptualisierung ins-besondere die Betonung von inter- und intra -generationeller Solidarität und gesellschaftlichemNützlichkeitsbezug bei gleichzeitig bevorzugter Be-achtung von Problemen sozial benachteiligter älte-rer Bevölkerungsgruppen. Speziell in der Verbin-dung des „Für-sich-etwas-Tun“ und des„Für-andere-etwas-Tun“, möglichst für ältereMenschen in eingeschränkten Lebenslagen, liegt

Reden • Prof. Dr. Gerhard Naegele

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die Kernidee des „active ageing“. Vor allem für dieKommunalpolitik bestehen bislang völlig unge-nutzte Perspektiven.

5.9. Stärkung und Förderung von intra- und intergenerationeller Solidarität.

Letzteres verweist zugleich auf die Notwendigkeiteiner Neujustierung beider Generationenverträge,des großen gesellschaftlichen Generationenvertragsim System der umlagefinanzierten Sozialversiche-rung ebenso wie des so genannten kleinen Genera-tionenvertrags im familialen Umfeld. Es geht um eine neue Aushandlung der Generationensolidaritätvor dem Hintergrund des kollektiven Alterns der Bevölkerung. In der Alterssicherungspolitik betrifftdies vor allem das neue Problem der Verteilungsge-rechtigkeit in den Dimensionen Beitrags- und Leis-tungsverteilung, das derzeit vor allem die jüngereGeneration bedroht. Es ist darauf zu achten, die je-weiligen Generationen entsprechend ihrer je spezi-fischen Leistungsfähigkeit möglichst gleichmäßig zubelasten. In diesem Zusammenhang stehen Jungewie Alte beide in der Verantwortung. Für beide gibtes nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Diejunge Generation sollte vor allem mehr Bildung undmehr Zukunftsinvestitionen erwarten können, musssich aber im Gegenzug selbst auf mehr Lernen, neueErwerbsmuster und mehr berufliche Mobilität undFlexibilität einstellen und nicht zuletzt auch mehrBereitschaft für ein Leben mit Kindern aufbringen.Die älteren Generationen wiederum dürfen sichnicht primär in tradierten Rollen als Rentenempfän-ger und „Ruheständler“ definieren, sondern müs-sen sehr viel stärker bereit sein, mehr Verantwor-tung für das eigene Leben („Selbstverantwortung“)wie für das anderer sowie insbesondere der nach -rückenden Generationen („Mitverantwortung“) zuübernehmen. Der 5. Altenbericht der Bundesregie-rung hat eindrucksvoll auf vorhandene Potenzialeund Ressourcen in einer kollektiv alternden Gesell-schaft und auf Möglichkeiten ihre besseren Nutzungim Interesse von Generationensolidarität und damitauch zur Reduzierung der „demografischen Heraus-forderungen“, die hier nicht geleugnet werden sol-len, die ich aber für bewältigbar halte, beizutragen.Dazu gehört u.a. auch die Bereitschaft, bei gegebe-nen Voraussetzungen länger im Erwerbsleben zubleiben.

5. Ausblick

Es sollte deutlich geworden sein, dass das kollek -tive Altern der Gesellschaft – bei allen proble -matischen Dimensionen – nicht primär als Be -drohungsszenarium interpretiert werden darf,sondern als eine gesellschaftspolitische Gestal-tungsaufgabe, bei der insbesondere die Sozialpo-litik – ganz im Sinne des Preller’schen Gestal-tungsauftrages – aufzugreifen ist.

Verwendete und weiterführende Literatur

Bäcker, G., Naegele, G. et al. (2010): Sozialpolitikund soziale Lage in Deutschland, 2 Bände, 5. Auflage: VS-Verlag für Sozialwissenschaften .

BMFSFJ (Hrsg.) (2006): 5. Altenbericht: Potenzialedes Alters in Wirtschaft und Gesellschaft. Berlin.BMFSFJ-Eigenverlag.

BMFSFJ (Hrsg.) (2010): 6. Altenbericht: Altersbilderin der Gesellschaft. Berlin (in Druck)

Heinze, R. und Naegele, G. (Hrsg.)(2010): EinBlickin die Zukunft. Gesellschaftlicher Wandel undZukunft des Alterns. Dortmunder Beiträge zurSozial- und Gesellschaftspolitik, 61. LIT-Verlag:Berlin.

Heinze, R., Naegele, G. und Schneiders, K. (2010):Die wirtschaftlichen Potenziale des Alters. Stutt-gart: Kohlhammer Verlag. Reihe Grundlagen derGerontologie (in Druck).

Igl, G. und Naegele, G. (2009) (Hrsg.): Themenheft: „Strukturelle Weiterentwicklungder Pflegeversicherung. Nach der Reform ist vorder Reform“. Zeitschrift für Gerontologie undGeriatrie, Bd. 42, 4.

Naegele, G. (2009a): Perspektiven einer fachlichangemessenen, bedarfs- und bedürfnisgerech-ten gesundheitlichen Versorgung für ältereMenschen. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, Bd. 42, 6.

Naegele, G. (2009b): Politische und soziale Partizipation im Alter – 13 Thesen zu einer„dialogfähigen Reformdebatte“. Theorie undPraxis der sozialen Arbeit, 2.

Naegele, G. (2010a): Für eine soziale Lebenslauf-politik. In: Naegele, G. (Hrsg.): Soziale Lebens-laufpolitik. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozial -wissenschaften.

Naegele, G. (2010b): Kommunale Altenpolitik angesichts des sozio-demografischen Wandelsneu denken ! Theorie und Praxis der sozialenArbeit, 3.

Reden • Prof. Dr. Gerhard Naegele

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Reden • Prof. Dr. Frank Nullmeier

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Prof. Dr. Frank Nullmeier Universität Bremen

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Reden • Prof. Dr. Frank Nullmeier

Handlungsstrategien der AWO für den sozialen Zusammenhalt

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Reden • Prof. Dr. Frank Nullmeier

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Reden • Prof. Dr. Frank Nullmeier

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Reden • Prof. Dr. Frank Nullmeier

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Reden • Prof. Dr. Frank Nullmeier

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Reden • Prof. Dr. Frank Nullmeier

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Reden • Prof. Dr. Frank Nullmeier

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Reden • Prof. Dr. Frank Nullmeier

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Reden • Prof. Dr. Frank Nullmeier

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Reden • Prof. Dr. Frank Nullmeier

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Fachforen

„Zusammenhalt stärken –Ausgrenzung verhindern“

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Forum 1 • Gerda Holz

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Forum 1:

„Stärkung der frühkindlichen Bildung und Strategien zur Armutsvermeidung im Kinder- und Jugendalter“

Impuls: Gerda HolzInstitut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik, Frankfurt am Main

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Forum 1 • Gerda Holz

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Forum 1 • Gerda Holz

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Forum 1 • Gerda Holz

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Forum 1 • Gerda Holz

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Forum 1 • Gerda Holz

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Forum 1 • Gerda Holz

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Forum 1 • Gerda Holz

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Forum 1 • Gerda Holz

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Forum 1 • Gerda Holz

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Forum 1 • Gerda Holz

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Forum 1 • Gerda Holz

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Forum 1 • Gerda Holz

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Forum 1/Diskussion

Impuls von: Gerda Holz (Institut für Sozialarbeit undSozialpädagogik) undBarbara König (Zukunftsforum Familie e.V.)

Der Fachvortrag von Gerda Holz enthielt die Ergeb-nisse der Längsschnittstudie der AWO zum ThemaKinderarmut. Er war Grundlage für die Teilneh-menden, sich über künftige Schwerpunkte undZielsetzungen der AWO im Bereich Kinderarmutauszutauschen.

Die Diskussion begann mit der Fragestellung, wiedie gewonnenen Erkenntnisse aus der Studie brei-ter in die Öffentlichkeit getragen werden könnte.Es wurde festgehalten, dass die Studie zwar vorhe-rige Annahmen bestätigte jedoch keine eigenenForderungen hervorbrachte. Diese Aufgabe wurdedem AWO Bundesverband zugesprochen. Darüberhinaus sollten die Ergebnisse noch breiter in dieÖffentlichkeit getragen werden. Das AWO Jugend-werk in Essen entwickelte gemeinsam mit Kommu-nalpolitikern eine Strategie zur Zurückdrängungvon Kinderarmut, die bisher nicht umgesetzt wur-de. Deshalb kam man zu der Annahme gelangte,das Thema Kinderarmut sei kein Image träger für Politiker. Von den Teilnehmenden wurde derWunsch geäußert, die AWO möge in Zusammenar-beit mit dem ISS Umsetzungsstrategien entwickeln.

Es wurde festgestellt, dass es sich beim Thema Kin-derarmut nicht um ein Erkenntnis- sondern um einHandlungsproblem handelt. In der Öffentlichkeitwerden häufig Geldleistungen gegen den Aus bauvon Infrastruktur ausgespielt. Ein Problem bei derArmutsbekämpfung sei vor allem die fö deraleStruktur, die es zu überwinden gelte um somit zuvereinheitlichten bundesweiten Regelungen zukommen. Es dürfe nicht passieren, dass die Kom-munen aufgrund von Finanzkürzungen in Berei-chen der Sozialpolitik handlungsunfähig gemachtwürden. Weiterhin wurde das von der Bundes -regierung geplante Chipkartenmodel kritisch dis -kutiert und vielfach festgestellt, dass dieses Instru-mentarium abzulehnen sei. Es wurde angeregt, diesbei der weiteren Überarbeitung der Essener Erklä-rung unbedingt zu berücksichtigen. Als weitererPunkte wurde benannt, dass die Terminologie „so-zial schwach“ durch „einkommensschwach“ ersetzt

werden und der Aspekt der frühkindlichen Bildungals Armutsprävention aufgenommen werden solle.Insgesamt sei die Essener Erklärung sehr lang unddeshalb für die sehr wichtige Medienarbeit schwereinsetzbar. Um einen leichteren Übergang für Kin-der von der Kita in die Schule gewährleisten zukönnen, soll in der Er zieherausbildung verstärkt aufdie frühkindliche und musikalische Bildung einge-gangen werden. Es wurde gewünscht, den Aspektder frühkindlichen Bildung in der Essener Erklärungdeutlicher herauszuarbeiten. Weiterhin gab es dieAnregung die Betreuungsangebote für Kinder undJugendliche nicht ungebremst zu einem Familien-ersatzangebot auszubauen, sondern sehr deutlichauch von den Arbeitgebern mehr Familienfreund-lichkeit zu fordern.

Mit Blick auf die aktuelle politischen Situationwurde gefordert, die AWO solle stärker in der Öf-fentlichkeit Position beziehen, nachdem sie sichlange mit sich selbst und den Strukturen beschäf-tigt und sich politisch zurückgehalten habe. Es seiwichtig, die Berechungsgrundlage der Hartz IV-Regelsätze zu prüfen, Wenn diese stimmen würde,wären Forderungen nach einem erhöhten Regel-satz schwer begründbar. Dabei sollte gleichzeitigdarauf geachtet werden, dass die Diskussion nichtausschließlich über die Gruppe der Arbeitslosen-geld II-Empfänger geführt wird um große Teile derGesellschaft nicht auszuschließen.

Das Thema Betreuungsgeld könnte von der AWO inVerbindung mit der Langzeitstudie zur Kinderar-mut und in Zusammenarbeit mit der SPD politischweiter verfolgt werden. Die AWO müsse stärkeraufzeigen, dass die derzeitige Politik der Bundes-regierung die Menschen verschiedene Klassen ein-teile. Mit der Umwandlung des Erziehungsgeldesin Elterngeld und der aktuellen Streichung des Elterngeldes für Hartz IV-Empfänger wurde eineAbwärtsspirale für Arme beschlossen.

Die Diskussion zeigte weiterhin dass der derzeitigeFamilienlastenausgleich zu Ungerechtigkeit in derGesellschaft führt. Dabei wurde vor allem derAspekt der Bezüge von Sozialleistungen für Millio-närsfamilien kritisiert. Zudem solle die AWO, nach-dem es das Bekenntnis zur Zielsetzung einer Kin-dergrundsicherung gab, nun zur Entwicklung vonUmsetzungsstrategien kommen.

Forum 1 • Diskussion

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Forum 2 • Dr. Claudia Weinkopf

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Forum 2:

„Integration durch gute Arbeit und gerechten Lohn“

Impuls: Dr. Claudia WeinkopfUniversität Duisburg-Essen

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Forum 2 • Dr. Claudia Weinkopf

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Forum 2 • Dr. Claudia Weinkopf

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Forum 2 • Dr. Claudia Weinkopf

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Forum 2 • Dr. Claudia Weinkopf

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Forum 2 • Dr. Claudia Weinkopf

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Forum 2 • Dr. Claudia Weinkopf

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Forum 2 • Dr. Claudia Weinkopf

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Forum 2 • Dr. Claudia Weinkopf

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Forum 2 • Dr. Claudia Weinkopf

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Forum 2 • Dr. Claudia Weinkopf

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Forum 2 • Diskussion

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Forum 2/Diskussion

Als Fazit des Inputs von Frau Dr. Weinkopf (sieheFolienvortrag) lässt sich festhalten:

In Deutschland ist eine Zunahme prekärer Be-schäftigung zu verzeichnen, Deutschland ist sogardabei die USA im Bereich Niedriglohnsektor einzu-holen und steht an zweiter Stelle im internationa-len Vergleich.

In den letzten Jahren hat sich die Situation in Bezug auf die Höhe der Löhne sowie die Anzahlder Betroffenen dramatisch verschlechtert. Be-merkenswert ist, dass der überwiegende Teil derim Niedriglohnsektor beschäftigten Menschen inDeutschland eine Ausbildung hat, also qualifiziertist.

Das Plädoyer von Dr. Weinkopf lautete: Es ist not-wendig sich Gedanken zu machen, wie man atypi-sche Beschäftigungsformen eindämmen kann undhierfür weitergehende Strategien zu entwickeln.

Aus der folgenden Diskussion:

In der Essener Erklärung der AWO gibt es Forderun-gen zum Mindestlohn. Diese wurden einhellig un-terstützt. Dennoch sei es auch notwendig nocheinmal einen Schritt zurückzugehen und sich fürexistenzsichernde Löhne und die Stärkung von Ta-

riflöhnen einzusetzen. Gleichzeitig wurde zu be-denken gegeben, dass auch über die Refinanzie-rung der Personalkosten gesprochen werdenmüsste.

Darüber hinaus ging es in der Diskussion um dieAuswirkungen des Vergaberechts sowohl auf denPreis als auch auf die Qualität der Arbeit. Hiermüsste man trotz bereits verlorener Schlachtenweiterhin dafür kämpfen, dass in die Länderge-setze wieder Tariftreueklauseln eingeführt wer-den. Diese gab es teilweise bereits, sie sind jedochin den letzten Jahren wieder abgeschafft worden.

Es wurde angeregt, in der Essener Erklärung dieAussagen bzgl. Leiharbeit zu öffnen und auch Mi-nijobs sowie andere prekäre Beschäftigungsartenmit einzubeziehen.

Zum Thema Minijobs sprachen sich die Diskutan-ten für mehr Kontrolle aus. So muss sichergestelltsein, dass die Arbeitnehmer, die eh schon unterprekären Bedingungen arbeiten nicht auch nochfür ihren Stundenlohn länger arbeiten müsstenwenn die Stundenzahl zu knapp kalkuliert ist.

Die AWO sieht hier auch für sich selbst eineSchwierigkeit: einerseits als Lobbyverband auf deranderen Seite als Arbeitgeber, der auf dem Marktbestehen muss. Auch hierüber wurde eine weiter-führende Debatte im Verband gewünscht.

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Forum 3 • Dr. Elke Olbermann

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Forum 3:

„Heute die Altersarmut von morgen bekämpfen“

Impuls: Dr. Elke OlbermannUniversität Dortmund

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Forum 3 • Dr. Elke Olbermann

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Forum 3 • Dr. Elke Olbermann

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Forum 3 • Dr. Elke Olbermann

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Forum 3 • Dr. Elke Olbermann

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Forum 3 • Dr. Elke Olbermann

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Forum 3 • Dr. Elke Olbermann

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Forum 3 • Dr. Elke Olbermann

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Forum 3 • Dr. Elke Olbermann

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Forum 3 • Dr. Elke Olbermann

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Forum 3 • Dr. Elke Olbermann

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Forum 3 • Diskussion

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Forum 3/Diskussion

Nach einem einleitenden Fachvortrag von Frau Dr.Elke Olbermann vom Institut für Gerontologie ander TU Dortmund wurde im Plenum engagiert überdie vielen Formen der Altersarmut und Konzeptezur Vermeidung und Bekämpfung von Armut imAlter diskutiert.

Besonders das Konzept der Lebenslagenarmut, dasArmut als Unterversorgung in Bereichen wie Ge-sundheit, Bildung und sozialen Beziehungen be-schreibt, regte viele Workshopteilnehmer an, sichlebhaft an der Diskussion zu beteiligen. Schnellwurde man sich einig, dass der bedrückendsteAspekt von Armut, sich nicht unbedingt in einemzu niedrigen Einkommen ausdrückt, sondern inden Folgen, die sich daraus ergeben. Die Schamdarüber, sich „nicht mal das Stück Kuchen“ leistenzu können oder in einer kargen Wohnung zu le-ben“, in die man niemanden einladen kann“,treibt viele ältere Menschen zum Rückzug. Am Ende dieser Kette stehen Vereinsamung und derVerzicht, sich an sozialen Prozessen zu beteiligenoder sich selbst zu verwirklichen. Diese Punkteund der Hinweis, dass Armut multidimensionalbekämpft werden müsse, sollten in der weiterenArbeit an der Essener Erklärung mit berücksichtigtwerden.

Altersarmut von morgen muss bereits heute be-kämpft werden. Ein Miteinander und Füreinanderaller Altersgruppen sei zentral, um das gegenseiti-ge Verständnis der Generationen zu verbessern.Die aktive Einbeziehung aller Generationen sei daher ein Garant dafür, dass Teilhabe ermöglichtwird. Daher komme generationenübergreifendenAnsätzen, deren Ziel eine bessere Vernetzung inder Nachbarschaft ist, große Bedeutung zu. Für dieArbeitswelt sei es darüber hinaus unabdingbar,

flexible Lebens- und Arbeitskonzepte zu imple-mentieren, die auf die Lebenssituationen der ver-schiedenen Generationen eingehen. Dazu gehöreauch, ältere Arbeitnehmer auf die Zeit nach derRente vorzubereiten.

Viele Diskutanten waren sich einig, dass Aktivitäten,insbesondere Fitness und Gesundheitsvorsorge zen-trale Bestandteile eines glücklichen Lebens im ho-hen Alter seien, Erkrankungen vorbeugen und somiteinem Abrutschen in die Altersarmut verhindernkönnten. In diesem Zusammenhang müsse nebender Initiative des Einzelnen Staat und Gesellschaftdafür Sorge tragen, dass Bildung und die Möglich-keit, sich kontinuierlich auch im hohen Alter nochWissen anzueignen, für alle zugänglich sind.

Die Diskussion blieb nicht nur bei der Frage vonPrävention, sondern drehte sich auch um die heu-tigen Probleme und wie man ihnen begegnenkönne. Vermehrt kam die Forderung auf, manmüsse prekäre Arbeit verhindern, da sie einengroßen Teil des Problems der finanziellen Altersar-mut bedinge. Auch der eingeschränkten Mobilität,vor allem auf dem Land, solle entgegengewirktwerden. Angebote, die allen Aspekten von Le-benslagenarmut entgegen wirken, müssten gene-rell besser finanziert und vernetzt werden. Diesesollten vor allem niedrigschwellig sowie für alleRisikogruppen erreichbar sein.

Bundes-, Landes, EU- und kommunale Program-me müssten dringend besser finanziert und nach-haltiger aufgelegt werden, vor allem mit Blick aufdie Mobilität von älteren Menschen – insbesonde-re dann, wenn diese in ländlichen Gebieten woh-nen. Das Forum endete mit der Forderung, nachweiterem Engagement der AWO im Kampf gegenAltersarmut und einem Lob auf die bereits vielsei-tig gezeigten Leistungen vor Ort.

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Essener Erklärung1

„Zusammenhalt stärken –Ausgrenzung verhindern“

1 Die vorliegende Essener Erklärung war Diskussionsgrundlage der Fachkonferenz. Zahlreiche Anregungen und Änderungsvor-schläge, die sich aus den Diskussionen in den Foren ergeben haben, werden noch einmal im AWO Präsidium beraten und zurÜberarbeitung genutzt.

Beschluss des AWO Präsidiums vom 27.08.2010, ergänzt am 30.09.2010

– Zur Beratung auf der 1. Fachkonferenz der AWO „Zur Zukunft der Sozialpolitik“ am 1.10.2010 in Essen –

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Ein starker Sozialstaat – Markenzeichen einer sozial gerechten Gesell-schaft

Der Sozialstaat steht vor einer schwierigen Zu-kunft. Das im Grundgesetz garantierte Sozial-staatsgebot wurde und wird durch die Politik beständig ausgehöhlt. Dadurch hat sich unsereGesellschaft immer mehr von dem Anspruch ent-fernt, alle Bürgerinnen und Bürger am gesell-schaftlichen Leben und den vorhandenen Güternund Dienstleistungen angemessen zu beteiligen.Sowohl die Armut als auch der Reichtum sind kon-tinuierlich gewachsen. Eine Politik des beständi-gen Sozialabbaus führt schleichend zu einer Spal-tung der Gesellschaft.

Viele Menschen sind in ihrem Alltag im wachsen-den Maße verunsichert und zugleich von der Poli-tik verdrossen. Die Wirtschafts- und Finanzkriseder letzten Jahre hat diese Verunsicherung undVerdrossenheit weiter gefördert. Zwar konntendurch enorme Ausgaben des Staates der Banken-sektor stabilisiert, wichtige Zweige der deutschenWirtschaft geschützt und ein gravierender Ein-bruch auf dem Arbeitsmarkt verhindert werden.Dies alles ist aber nur auf Kosten einer immensenStaatsverschuldung gelungen, die wiederum alsRechtfertigung für die gravierenden Sparvorschlä-ge herhalten.

Die entscheidende Frage, die sich nun stellt ist:Wie ist diese Verschuldung in den Griff zu be -kommen?. Nach den Plänen der Bundesregierungzur Refinanzierung der Schuldenlasten werden die Krisenverursacher und Krisengewinnler sowieSpitzenverdiener und Vermögende weitgehendverschont. Der Schuldenabbau soll vielmehr durchmassive Kürzungen sozialer Leistungen verbundenmit dem Abbau sozialer Rechte finanziert werden.Damit sind Politik und Verwaltung dafür verant-wortlich, dass der Sozialabbau zugleich ein wach-sendes Almosenwesen mit z. B. ,Tafeln‘, Kleider-kammern und Sozialkaufhäusern befördert.

Die AWO hat schon zu einem frühen Zeitpunkt derWirtschafts- und Finanzkrise davor gewarnt, dieFolgekosten der Krise einseitig dem Sozialstaatund vor allem jenen Menschen aufzubürden, dieauf Sozialtransfers und staatliche Unterstützungangewiesen sind. Eine erfolgreiche und zukunfts-orientierte Krisenbewältigung zeichnet sich viel-mehr durch die gerechte Verteilung der Krisenlas-ten aus. Sie achtet auf eine gerechte Verteilung der

Lasten. Starke Schultern müssen mehr als schwa-che Schultern tragen. Das vorliegende Konzept derBundesregierung lässt keinen politischen Willenerkennen, den Staatshaushalt sozial gerecht unddurch eine Stärkung der Einnahmenseite zu kon-solidieren. Eine solche Entwicklung gefährdet densozialen Zusammenhalt und verschärft die sozialeUngleichheit!

Der Sozialstaat der Zukunft muss ein Garant gegenArmut und Ausgrenzung sein. Die sozialen Siche-rungssysteme müssen wieder eine bedarfsgerechteGrundsicherung gewährleisten. Ihre Finanzierungist auf eine breitere Basis zu stellen, in die alleEinkommen einbezogen werden. Versicherungs-fremde Leistungen müssen steuerfinanziert wer-den.

Ein handlungsfähiger Sozialstaat braucht hand-lungsfähige Kommunen. Und: Er kann nur soli -darisch finanziert und getragen werden. Deshalbfordert die AWO eine Steuer- und Finanzpolitik,die den kommunalen Haushalten wieder Spielräu-me eröffnet und die zugleich dafür sorgt, dass dieSchere zwischen Arm und Reich geschlossen wird.

Die erfolgreiche Bekämpfung von Armut und Aus-grenzung sowie die Stärkung des sozialen Zu -sammenhalts sind die zentralen Schlüsselthemen unserer Gesellschaft. Die Bürgerinnen und Bürgerbrauchen auch in den kommenden Jahren undJahrzehnten einen starken, verlässlichen und soli-darisch finanzierten Sozialstaat.

Die AWO warnt vor einer weiteren Spaltung der Gesellschaft und einer Gefährdung des sozialenFriedens in Deutschland. Sie wird sich in den kom-menden Wochen und Monaten im Rahmen einerKampagne entschlossen dafür einsetzen, dass dieunsozialen und unausgewogenen Kürzungspläneder Bundesregierung nicht umgesetzt werden.

Die AWO ist der festen Überzeugung, dass nur einintakter, handlungsfähiger und ausgleichenderSozialstaat in der Lage ist, soziale Ungerechtigkei-ten abzumildern und Investitionen etwa in Kinder,Familie, Bildung, Beschäftigungsförderung und zurVermeidung von Altersarmut zu leisten. Zentral istdabei eine Trendumkehr im Bereich niedriger undniedrigster Löhne. Denn: Lohnarmut führt zu Kin-derarmut und mündet in Altersarmut.

Demokratie und ein starker Sozialstaat sind zweiSeiten ein und derselben Medaille! Wer einen Teil

Essener Erklärung

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schwächt, gefährdet die Zukunftsfähigkeit unsererGesellschaft.

Gute Lebenschancen garantieren – Kinder- und Jugendarmut bekämpfen

In Deutschland wachsen gegenwärtig jedes sechs-te Kind und jeder fünfte Jugendliche in Armut auf.Das höchste Armutsrisiko haben Kinder aus Ein-El-tern-Familien sowie Kinder mit Migrationshinter-grund. Armut im Kinder- und Jugendalter ist einextremer Risikofaktor für die gesamten Lebens -chancen der betroffenen Kinder – aber auch fürdie Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft insge-samt.

Die bislang vorliegenden drei AWO-ISS-Langzeit-studien über Kinderarmut haben die Ursachen undWirkungen von Armut auf Eltern und Kinder inten-siv untersucht und Konsequenzen daraus aufge-zeigt. Neben materiellen Entbehrungen geht Ar-mut häufig mit sozialer Isolation der Kinder,einem erhöhten Krankheitsrisiko und der Gefahrvon Bildungsnachteilen einher. Die Folgen vonKinderarmut erschweren ein Leben in Chancen-gleichheit und Selbstbestimmung. Sie können alleLebenslagen negativ beeinflussen.

Die Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung mussdeshalb sehr entschieden im frühesten Kindesalterbeginnen. Sie ist Teil der öffentlichen Verantwor-tung dafür, dass alle Kinder und Jugendlichen ge-sund und gefördert aufwachsen können.

Die AWO betrachtet die drohenden Einsparungenbeim Elterngeld mit großer Sorge, weil sie genau indie entgegengesetzte Richtung weisen. Sie treffeneinseitig arme Kinder und ihre Eltern. Sie sind un-sozial, kurzsichtig und senden im laufenden Euro-päischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgren-zung das falsche Signal. Zur Bekämpfung derKinderarmut müssen folgende Fragen verbindlichbeantwortet werden: Wie kann eine Steuerungdurch den Bund im Sinne gleicher und gerechterLebensverhältnisse für alle Kinder in Deutschlanderfolgen? Wer trägt auf den Ebenen des Bundes,der Länder und Kommunen die Verantwortung?Wie wird diese Verantwortung bei der Finanzie-rung wahrgenommen und umgesetzt?

Viel zu lange haben Bund, Länder und Kommunendie Verantwortung für eine konsequente Bekämp-fung von Kinder- und Jugendarmut untereinanderhin und hergeschoben. Die AWO fordert daher ein

abgestimmtes Bildungs-, Sozialstaats- und Finan-zierungskonzept gegen Kinder- und Jugendarmutmit konkreten und nachprüfbaren Zielvereinba-rungen, das noch bis Jahresende vorzulegen ist.

Konkret fordern wir:

•Allen Kindern und Jugendlichen muss ein kos-tenfreier Zugang zu Bildungs-, Betreuungs- undErziehungsangeboten garantiert werden. Dazugehören auch Leistungen in den Kindertagesein-richtungen und Schulen wie z. B. ein kostenlosesschulisches Mittagessen und kostenfreie Lern-mittel für alle Kinder sowie bei Bedarf die kos-tenlose und umfassende Bereitstellung vonNachhilfe- und Förderunterricht.

•Prävention und Partizipation müssen vorrangigan die Stelle von Krisenintervention treten. DieAusrichtung des Instrumentariums der Kinder-,Jugend- und Familienhilfe sowie des Bildungs-systems muss grundlegend verändert werden.Ressourcen für Kinder und Jugendliche müssenverlagert werden von einer Krisenintervention,die in der Regel bei jungen Menschen im Altervon 12 bis 17 Jahren ansetzt, hin zu einem prä-ventiven Ansatz. Hier sind insbesondere armeKinder und ihre Eltern in den prägenden erstenLebensjahren zu unterstützen und zu fördern.Präventive Angebote zu schaffen, muss Vorranghaben und Pflichtaufgabe im Fördersystem derKommunen und der Länder werden.

•Die Rahmenbedingungen in der Erziehung, Bil-dung und Betreuung müssen verbessert werden.Am jeweiligen Bedarf der Kinder orientierte Förderangebote sind in den Tageseinrichtungenzu garantieren. Einrichtungen, die besondereAnforderungen zu bewältigen haben – wie vorallem bei einem hohen Anteil armer Kinder –,brauchen zur Erfüllung ihres Auftrags entspre-chend bessere Rahmenbedingungen. Ungleich-heit muss durch eine besondere Förderung be-kämpft werden!

•Statt einer sozialen Selektion muss die schulischeBildung neu gestaltet werden. Jugendhilfe undSchule müssen unter Einbeziehung weiterer au-ßerschulischer Anbieter einen kooperativen An-satz zur ganzheitlichen Förderung der Kinderund Jugendlichen entwickeln. Schulpädagogikund Sozialpädagogik sind gleichberechtigtePartner einer modernen Schule – und das ab derGrundschule. Schülerinnen und Schüler sollenbis zum Ende der Sekundarstufe I (10. Klasse) inintegrierten Ganztagsschulen miteinander ler-nen. Voraussetzung hierfür ist ein pädagogi-

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sches Konzept, in dem sich Lern- und Frei-zeitangebote miteinander verbinden. Dies mussein verbind liches Regelangebot für alle Kindersein.

•Eine verbindliche, kostenfreie, durchgängigeund ganzheitlich ausgerichtete Gesundheitsför-derung und Gesundheitsversorgung für alle Kin-der.

•Ein Rechtsanspruch auf Eltern- und Familienbil-dung soll gewährleisten, dass auch sozial be-nachteiligte Familien erreicht werden können.

•„Mit den Beschlüssen des Koalitionsausschussesvom 26.9.2010, die Regelsätze nur um 5 Euroanzuheben und die Kinderregelsätze nicht zu er-höhen, missachtet die Bundesregierung die rea-len Bedarfe der Hilfebedürftigen und setzt sobewusst den sozialen Frieden aufs Spiel. Die AWOfordert die Einhaltung der Vorgaben des Bun-desverfassungsgerichts, allen Hilfebedürftigenein menschenwürdiges Existenzminimum zu ge-währleisten, ihre realen Bedarfe zu decken unddie Regelsätze transparent abzuleiten. Die Re-gelsätze für Erwachsene und Kinder sind daherdeutlich anzuheben, um die grundlegenden Bedarfe von Erwachsenen und Kindern und ihrsoziokulturelles Existenzminimum angemessenabzudecken.“

•Mittelfristig ist für die Kinder eine eigenständigeKindergrundsicherung einzuführen, die ihremateriellen Bedarfe losgelöst vom Regelsatzsys-tem sicherstellt. Im Unterschied zum heutigenSystem ist das Kindergrundsicherungsmodell, fürdas die AWO eintritt, transparent, unbürokra-tisch und sozial gerecht.2

Für gute Arbeit und gerechte Löhne – Perspektiven der Arbeitsmarktpolitik

Deutschland zählt zu den reichsten Volkswirt-schaften der Welt und hat nach wie vor einen Spit-zenplatz als Exportnation. Der Ertrag dieser Leis-tung kommt allerdings den Beschäftigten immerweniger zugute. Besorgniserregend ist dabei, dassder Preis für den Reichtum Weniger mit einerwachsenden Armut und Ausgrenzung von immermehr Menschen einhergeht.

Die Politik der letzten Jahrzehnte hat zu einer Deregulierung auf dem Arbeitsmarkt und zu einerzunehmenden Diskriminierung von Arbeitslosenbeigetragen.

6,5 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer sind derzeit im Niedriglohnsektor tätig, das ist ein Fünftel aller Beschäftigten. Zwei von dreiNiedriglohnbeschäftigten sind Frauen. Ihre Er-werbsbiographien weisen zudem überproportionalhäufig Unterbrechungen auf. Zudem müssen oft-mals Frauen mit einem prekären Beschäftigungs-verhältnis umgehen und zurechtkommen.

Insbesondere im Osten sind niedrige und niedrigs-te Stundenlöhne weit verbreitet. Der Niedriglohn-sektor ist in den vergangenen Jahren in Deutsch-land nahezu ungebremst gewachsen und immermehr Vollzeitarbeitsplätze werden in nicht mehrExistenz sichernde Teilzeitarbeitsplätze umgewan-delt. Zudem boomt die Leiharbeit. Aktuell schaffenFirmen überdurchschnittlich häufig Leiharbeits-plätze, die verglichen mit regulären Arbeitsplätzenin den meisten Fällen deutlich schlechtere Be-schäftigungsbedingungen bieten.

Insgesamt ist das Ziel, der Mehrheit der Langzeit -arbeitslosen wirkliche Perspektiven auf eine Inte-gration in den Arbeitsmarkt zu eröffnen und ihreAbhängigkeit von staatlichen Transferleistungen zubeenden, nicht erreicht. Die Grundsicherung für Ar-beitsuchende wird von vielen Menschen nicht alseine Hilfe empfunden, sondern als Bedrohung vorsozialem Abstieg, Armut und Ausgrenzung. Zugleicherlebt ein bestimmter Personenkreis, in der RegelErwerbsfähige mit erheblichen persönlichen Proble-men und schlechten Qualifizierungen, dass für siekeine geeigneten und dauerhaften Integrationsan-gebote auf dem Arbeitsmarkt existieren. Gleichzeitigkönnen die mit den Sozialgesetzen verbundenenSanktionen unvertretbare Härten bedeuten.

Die AWO fordert:

•Arbeit darf nicht arm machen. Deshalb muss eingesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro in ganz

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2 Für die Kinder und Jugendlichen fordert die AWO eine kurzfristige Anhebung der Kinderregelsätze und mittelfristig die Einführungeiner gestuften Kindergrundsicherung von bis zu 502 Euro monatlich. Das Konzept ist unter www.kinderarmut-hat-folgen.debeschrieben. Es berücksichtigt sowohl den finanziellen als auch den Bildungsbedarf aller Kinder und Jugendlicher und bietet dieChance, sie aus dem stigmatisierenden Bezug von Leistungen aus dem SGB II herauszuholen. Durch eine Besteuerung der Kinder-grundsicherung wird sichergestellt, dass diejenigen Kinder die höchste Förderung erhalten, die den höchsten Bedarf haben.

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Deutschland als absolute Lohnuntergrenze einge-führt werden. Daneben müssen verbindlichebranchenspezifische Lohnuntergrenzen vorange-trieben und die Tariflöhne gestärkt werden. Leih-arbeit muss – dem ursprünglichen Ziel folgend –auf die Abdeckung von Auftragsspitzen und Auf-tragsschwankungen konzentriert werden.

•Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeiter sindden Festangestellten nach dem Grundsatz „glei-cher Lohn für gleiche Arbeit“ gleichzustellen. Dieaus der Gleichbehandlung von Leiharbeiterin-nen und Leiharbeitnehmern und einem gesetz-lichen Mindestlohn resultierenden verändertenfinanziellen und wirtschaftlichen Rahmenbe-dingungen für Träger müssen bei der Refinan-zierung berücksichtigt werden.

• In der Arbeitsmarktpolitik muss fünf Jahre nachHartz IV ein Paradigmenwechsel stattfinden.Statt der einseitigen Betonung von Zwang undSanktionierungen sowie Leistungskürzungenun ter das soziokulturelle Existenzminimum mussein Eingliederungsprozess organisiert werden,der individuelle Anstrengungen belohnt und dieZiele und Schritte mit den Betroffenen gemein-sam erarbeitet. Dieser Eingliederungsprozessmuss repressionsfrei sein.

•Die aus einem gesetzlichen Mindestlohn und ausder Gleichbehandlung von Leiharbeiterinnenund Leiharbeitnehmern resultierenden verän-derten finanziellen und wirtschaftlichen Rah-menbedingungen für Träger müssen bei der Re-finanzierung berücksichtigt werden.

• Im Grundsatz ist es richtig, dass mit der Jobcen-terreform die Zusammenarbeit von Agenturenfür Arbeit und Kommunen auf eine verfassungs-gemäße Grundlage gestellt wird. Die Kommunenbenötigen mehr Mitspracherechte bei der Steue-rung regionaler Arbeitsmarktpolitik. Dabei darfjedoch die Finanzverantwortung des Bundes fürdie Arbeitsmarktpolitik nicht kommunalisiertwerden – auch nicht auf dem Umweg einer Aus-weitung der Optionskommunen.

• In den Jobcentern ist die Beratung und die In-formation in soweit zu verbessern, dass sie denindividuellen Lebensentwürfen, Bedürfnissenund Fähigkeiten der Betroffenen gerecht wird.Die AWO befürwortet zudem den Einsatz wei-sungsfrei arbeitender Ombudsleute als Mittlerzwischen Bürgerinnen und Bürger und Behördensowie den Ausbau und die Finanzierung unab-hängiger Beratungsstellen, welche die Interes-sen der betroffenen Menschen vertreten undsich als Kooperationspartner (auf gleicher Au-genhöhe) mit den Leistungsträgern begreifen.

•Besondere Anstrengungen sind für die jährlichmehr als 70.000 jungen Erwachsenen erforder-lich, die Jahr für Jahr die Schule ohne Abschlussverlassen. Die Aktivitäten am Übergang zwischenSchule und Beruf müssen besser auf die indivi-duellen Bedürfnisse der jungen Menschen zuge-schnitten werden. Die Möglichkeiten, über einezweite Chance Bildungsabschlüsse zu erlangen,müssen ausgeweitet werden!

•Regionale Unterschiede (Ost-West, Stadt-Land)müssen bei der Konzeption von Arbeitsmarkt -instrumenten berücksichtigt werden. Gleichzei-tig müssen insbesondere die Zielgruppen, dieauf dem Arbeitsmarkt besonders benachteiligtsind, gezielte, intensive und bedarfsgerechteUnterstützungsangebote erhalten.

•Durch einen öffentlich geförderten Arbeitsmarktsind sozialversicherungspflichtige Beschäfti-gungsverhältnisse zu schaffen. Er soll sich an einer ortsüblichen oder tariflichen Entlohnungorientieren und aus Steuermitteln finanziertwerden.

Altersarmut bekämpfen – heute die Weichen für morgen stellen

Laut 3. Nationalen Armuts- und Reichtumsbericht(Mai 2008) entspricht das Armutsrisiko von Senio-rinnen und Senioren mit aktuell 13 Prozent genaudem bundesdeutschen Durchschnitt. Am Jahres-ende 2008 erhielten rund 768.000 MenschenLeistungen der Grundsicherung im Alter und beiErwerbsminderung. Im Vergleich zum Vorjahr er-höhte sich diese Zahl um 35.000 oder 4,8 Prozent.Seit 2005 (rund 439.000) hat sich die Zahl bei naheverdoppelt.

Trotz der insgesamt positiven wirtschaftlichen Ent-wicklung der vergangenen Jahre und Jahrzehnte istAltersarmut längst in der Mitte der Gesellschaft an-gekommen. Die sozial- und rentenpolitischen Re-formen der Vergangenheit waren durch eine Stär-kung des Äquivalenzprinzips und eine Absenkungdes staatlichen Rentenniveaus bei gleichzeitigerStärkung der privaten Altersvorsorge gekennzeich-net. Dabei ist die Kaufkraft von Ruheständlern durchNullrunden bei der Rentenanpassung und steigen-der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherungspürbar geschwächt. Auch ist die Vermögensvertei-lung unter den Ruheständlern größer geworden.Zudem leben bereits heute viele von Armut betrof-fene oder armutsgefährdete Menschen im Alter in zukleinen Wohnungen. Vor allem bei älteren, alleinlebenden Frauen nimmt die Vereinsamung zu.

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Ein zukunftsgerichtetes Politikkonzept gegen Al-tersarmut darf sich nicht allein auf die Einkom-mensverhältnisse derzeitiger Altengenerationenreduzieren. Die materielle Absicherung alter Men-schen muss genauso sichergestellt werden wie ih-re gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe. Hinzukommen der Erhalt der Gesundheit, ein lebens-langer Zugang zu Bildung und Unterstützung beiPflegebedürftigkeit. Die Unterschiede zwischen Ostund West, Frauen und Männern sowie die über-durchschnittlich schwierigen Lebenslagen ältererMenschen mit Migrationshintergrund müssen ineinem zukunftsgerechten Politikkonzept berück-sichtigt werden.

Aus Sicht der AWO ist es ein Fehler, dass die Bun-desregierung die Einberufung der im Koalitions-vertrag vereinbarten Regierungskommission zumThema Altersarmut auf 2011 verschoben hat. Zu -kunftsfähige Sozialpolitik muss jetzt die Weichenstellen, damit Altersarmut und mangelnde sozialeTeilhabe nicht zu massiven Problemen werden.

Deshalb fordert die AWO:

•Rücknahme der geplanten Streichung der staat-lichen Zuschüsse zur Rentenversicherung fürHartz-IV-Empfänger und der geplanten Zusatz-beiträge in der gesetzlichen Krankenversiche-rung. Beide Maßnahmen erhöhen das Risikospäterer Altersarmut.

•Beibehaltung des Solidarprinzips in der Kran-ken- und Pflegeversicherung und die Weiterent-wicklung zu einer Bürgerversicherung unter Ein-

beziehung aller Einkommensarten. Nur durchdie sozialstaatliche Absicherung der Risiken deshöheren Lebensalters ist Teilhabe trotz Krankheitoder Pflegebedürftigkeit möglich.

•Armutsfeste Löhne auf dem Arbeitsmarkt durchdie Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnesund die Stärkung von Tariflöhnen. Der von derAWO maßgeblich auf den Weg gebrachte Bran-chenmindestlohn in der Pflege ist ein richtigesSignal.

•Gezielte Maßnahmen zur Anhebung des durch-schnittlichen Zugangsalters in Altersrenten wieden Ausbau von Weiterbildung und Qualifizie-rung und die gezielte Förderung alternsgerechterArbeitsplätze. Hier müssen zwingend große Fort-schritte erzielt werden, weil sonst die Heraufset-zung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre in -akzeptable Rentenkürzungen und vermehrteAltersarmut bedeuten würde.

•Den Ausbau von Leistungen für erwerbsgemin-derte Menschen, um ihnen einen sozialverträgli-chen Übergang vom Berufsleben in die Rente zuermöglichen.

•Den Erhalt des Solidarprinzips in der Rentenver-sicherung.

•Eine Weiterentwicklung der Rentenversicherungzu einer Erwerbstätigenversicherung, die alleEinkommensarten berücksichtigt.

•Eine besondere Förderung der zusätzlichen pri-vaten Altersvorsorge im unteren Einkommens-bereich, um einen Zusatzschutz zu ermöglichen.

•Angesparte private Zusatzrenten sind zumindestteilweise von der Anrechnung auf die Grundsi-cherung im Alter zu befreien.

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„Zusammenhalt stärken – Ausgrenzung verhindern“

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Für seine langjährige Verdienste innerhalb der Arbeiterwohlfahrt wurde Dr. Hans van Els (2.v.r.) im Rahmen der 1. Fachkonferenz mit der Marie-Juchacz-Plakette, der höchsten Auszeichnung derAWO, geehrt. Es gratulierten ihm AWO-Präsident Wilhelm Schmidt (r.), der AWO-BundesvorsitzendeWolfgang Stadler (l.) und der AWO-Vorsitzendes des Bezirks Niederrhein, Gunder Heimlich (2.v.l.).

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