Donald Cardwell: Viewegs Geschichte der Technik. Aus dem Englischen übersetzt von Peter Hiltner....

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40 Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 22 (1999) Donald Cardwell: Viewegs Geschichte der Technik. Aus dem Englischen uber- setzt von Peter Hiltner. Braunschweig/Wiesbaden: Friedr. Vieweg & Sohn Verlags- gesellschaft 1997. 346 Seiten, DM 78. Im Rahmen der Buchreihe des Vieweg Verlags zur Geschichte der Naturwissenschaften ist jetzt auch eine Geschichte der Technik erschienen. Wie bei den anderen Banden handelt es sich um eine Ubersetzung aus dem Englischen. Die Vorlage, bereits 1994 als The Fontana Histovy of Techno- logy publiziert, hat Donald Cardwell zum Verfas- ser, einen renommierten Naturwissenschafts- und Technikhistoriker, der zuletzt an der Universitat Manchester lehrte. Die sprachlich an sich gute Ubersetzung zeigt die Grundproblematik solcher Unternehmungen. Jeder professionelle Uberset- zer, der nicht in der Wissenschafts- und Technik- geschichte zuhause ist, ist uberfordert bei der Ubertragung heute nicht mehr verwendeter Fach- begriffe und bei der Funktionserklarung heute nicht mehr gebrauchlicher Maschinen. So auch im vorliegenden Fall: Der Generator etwa wird zum ,,Magnetzunder", aus Spulen werden ,,Schleifen", und Richard Arkwrights wasserradbetriebene Spinnmaschine (waterframe) mutiert zum ,,Was- serwebrahmen". Die Lekture verlangt von Fach- Ieuten also ein gewisses Mafi an Duldsamkeit. Eine allgemeine Technikgeschichte ist nicht zu schreiben ohne konzeptionelle Vorentscheidungen und leitende Gesichtspunkte. Cardwell, fur den die Technikgeschichte ,,die allgemeinste und [. . .] die fundamentalste Form der [...I Geschichts- schreibung" darstellt (S. V), nennt zwei Kriterien fur die notwendigen Auswahlentscheidungen: die - gemeint ist die soziokulturelle - Bedeutung einer Erfindung und Neuerung sowie den Grad der Stimulation anderer Erfindungen und Neuer- ungen. Mit dem letzteren verweist er auf die in- zwischen in Verruf gekommene ,Eigendynamik' der technischen Entwicklung. Cardwell konzen- triert sich auf physikalische Technologien, chemi- sche und Biotechnologien bleiben weitgehend au- gen vor. Eine gewisse Englandlastigkeit raumt er von vornherein ein; aui3erdem finden die USA breitere Behandlung, wahrend Deutschland - auch weil Cardwell nur englischsprachige Litera- tur verarbeitet - deutlich zuriicksteht. Cardwell geht von einer engen symmetrischen Wechselbeziehung zwischen Wissenschaft und Technik aus. Wissenschaftsgeschichte sei nicht ohne Technikgeschichte, Technikgeschichte nicht ohne Wissenschaftsgeschichte zu schreiben. Diese Uberzeugung fiihrt zu drei grogen Entwicklungs- perioden der Wissenschafts- und Technikge- schichte; andere Zeiten wie das Neolithikum wer- den nur kursorisch gestreift, die Antike nur ganz knapp abgehandelt. Die aushhrliche Narratio be- ginnt mit dem Mittelalter. In mittelalterlichen In- novationen wie der Uhr und der Druckerpresse sieht Cardwell Voraussetzungen und Bedingun- gen der Wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts (Periode 1). Diese wiederum leite iiber zur Technologie der Industriellen Revo- lution. Technologie unterscheidet Cardwell von Technik und charakterisiert sie durch die Anwen- dung systematischer Forschungsmethoden und die Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse (Pe- riode 2). Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts schliefie sich die ,,zweite industrielle Revolution" an, gekennzeichnet durch das ,,High-Tech'' der Chemie, Elektrotechnik, der Verbrennungskraft- maschinen usw., welche bis zur Gegenwart noch nicht zum Abschlug gelangt sei. Als wichtigsten friihen Standort der neuen Industrien nennt Card- well Deutschland mit seinen Forschungs- und Bildungsinstitutionen (Periode 3). Soweit das Programm. Die Durchfiihrung er- folgt nicht sehr systematisch, ja mehr noch: Die vorgeschlagene historische Struktur besitzt fur den Text praktisch keine Bedeutung. Zur Verwir- rung tragen 19 Kapiteliiberschriften bei, die kaurn Ruckschliisse auf den Inhalt zulassen. Tatsachlich besteht das Buch aus vielleicht hundert Kurzkapi- teln, denen am besten mit Hilfe des Registers na- hezukommen ist. Diese nur locker verbundenen Kurzkapitel behandeln Innovationen, Techniker und Wissenschaftler; denn Cardwell bekennt sich zum technischen Fortschritt, welcher von Person- lichkeiten (,,Ingenieurhelden") vorangetrieben wird. Auch der von Cardwell postulierte Zusam- menhang von Wissenschaft und Technik wird eher additiv als integrativ ausgebreitet. Dabei geht er in keiner Weise dogmatisch vor. So weist er ausdriicklich die immer wieder aufgewarmte Le- gende zuriick, James Watt habe mit der Erfindung seiner Dampfmaschine wissenschaftliche Ergeb- nisse umgesetzt. Bleibt Cardwell bei der systernatischen Durch- dringung seines Gegenstands auch das meiste schuldig, so hat er in den einzelnen Innovations- und Personengeschichten doch eine Menge zu bieten. Sie dokumentieren sein enormes wissen- schafts- und technikgeschichtliches Wissen, das auch die Kontexte einschliegt und seine Vertraut- heit mit dem Stand der Forschung (etwa bis um 1990). Sie bieten nicht nur historiographische In- formationen, sondern enthalten auch essayistische Bemerkungen, mit denen Cardwell die grogen Fragen der Wissenschafts- und Technikgeschichte anreifit und kiihne interpretatorische Spriinge Ber.Wissenschaftsgesch. 22 (1999) 32-64

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40 Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 22 (1999)

Donald Cardwell: Viewegs Geschichte der Technik. Aus dem Englischen uber- setzt von Peter Hiltner. Braunschweig/Wiesbaden: Friedr. Vieweg & Sohn Verlags- gesellschaft 1997. 346 Seiten, DM 78.

Im Rahmen der Buchreihe des Vieweg Verlags zur Geschichte der Naturwissenschaften ist jetzt auch eine Geschichte der Technik erschienen. Wie bei den anderen Banden handelt es sich um eine Ubersetzung aus dem Englischen. Die Vorlage, bereits 1994 als The Fontana Histovy of Techno- logy publiziert, hat Donald Cardwell zum Verfas- ser, einen renommierten Naturwissenschafts- und Technikhistoriker, der zuletzt an der Universitat Manchester lehrte. Die sprachlich an sich gute Ubersetzung zeigt die Grundproblematik solcher Unternehmungen. Jeder professionelle Uberset- zer, der nicht in der Wissenschafts- und Technik- geschichte zuhause ist, ist uberfordert bei der Ubertragung heute nicht mehr verwendeter Fach- begriffe und bei der Funktionserklarung heute nicht mehr gebrauchlicher Maschinen. So auch im vorliegenden Fall: Der Generator etwa wird zum ,,Magnetzunder", aus Spulen werden ,,Schleifen", und Richard Arkwrights wasserradbetriebene Spinnmaschine (waterframe) mutiert zum ,,Was- serwebrahmen". Die Lekture verlangt von Fach- Ieuten also ein gewisses Mafi an Duldsamkeit.

Eine allgemeine Technikgeschichte ist nicht zu schreiben ohne konzeptionelle Vorentscheidungen und leitende Gesichtspunkte. Cardwell, fur den die Technikgeschichte ,,die allgemeinste und [. . .] die fundamentalste Form der [...I Geschichts- schreibung" darstellt (S. V), nennt zwei Kriterien fur die notwendigen Auswahlentscheidungen: die - gemeint ist die soziokulturelle - Bedeutung einer Erfindung und Neuerung sowie den Grad der Stimulation anderer Erfindungen und Neuer- ungen. Mit dem letzteren verweist er auf die in- zwischen in Verruf gekommene ,Eigendynamik' der technischen Entwicklung. Cardwell konzen- triert sich auf physikalische Technologien, chemi- sche und Biotechnologien bleiben weitgehend au- gen vor. Eine gewisse Englandlastigkeit raumt er von vornherein ein; aui3erdem finden die USA breitere Behandlung, wahrend Deutschland - auch weil Cardwell nur englischsprachige Litera- tur verarbeitet - deutlich zuriicksteht.

Cardwell geht von einer engen symmetrischen Wechselbeziehung zwischen Wissenschaft und Technik aus. Wissenschaftsgeschichte sei nicht ohne Technikgeschichte, Technikgeschichte nicht ohne Wissenschaftsgeschichte zu schreiben. Diese Uberzeugung fiihrt zu drei grogen Entwicklungs- perioden der Wissenschafts- und Technikge- schichte; andere Zeiten wie das Neolithikum wer- den nur kursorisch gestreift, die Antike nur ganz knapp abgehandelt. Die aushhrliche Narratio be-

ginnt mit dem Mittelalter. In mittelalterlichen In- novationen wie der Uhr und der Druckerpresse sieht Cardwell Voraussetzungen und Bedingun- gen der Wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts (Periode 1). Diese wiederum leite iiber zur Technologie der Industriellen Revo- lution. Technologie unterscheidet Cardwell von Technik und charakterisiert sie durch die Anwen- dung systematischer Forschungsmethoden und die Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse (Pe- riode 2). Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts schliefie sich die ,,zweite industrielle Revolution" an, gekennzeichnet durch das ,,High-Tech'' der Chemie, Elektrotechnik, der Verbrennungskraft- maschinen usw., welche bis zur Gegenwart noch nicht zum Abschlug gelangt sei. Als wichtigsten friihen Standort der neuen Industrien nennt Card- well Deutschland mit seinen Forschungs- und Bildungsinstitutionen (Periode 3).

Soweit das Programm. Die Durchfiihrung er- folgt nicht sehr systematisch, ja mehr noch: Die vorgeschlagene historische Struktur besitzt fur den Text praktisch keine Bedeutung. Zur Verwir- rung tragen 19 Kapiteliiberschriften bei, die kaurn Ruckschliisse auf den Inhalt zulassen. Tatsachlich besteht das Buch aus vielleicht hundert Kurzkapi- teln, denen am besten mit Hilfe des Registers na- hezukommen ist. Diese nur locker verbundenen Kurzkapitel behandeln Innovationen, Techniker und Wissenschaftler; denn Cardwell bekennt sich zum technischen Fortschritt, welcher von Person- lichkeiten (,,Ingenieurhelden") vorangetrieben wird. Auch der von Cardwell postulierte Zusam- menhang von Wissenschaft und Technik wird eher additiv als integrativ ausgebreitet. Dabei geht er in keiner Weise dogmatisch vor. So weist er ausdriicklich die immer wieder aufgewarmte Le- gende zuriick, James Watt habe mit der Erfindung seiner Dampfmaschine wissenschaftliche Ergeb- nisse umgesetzt.

Bleibt Cardwell bei der systernatischen Durch- dringung seines Gegenstands auch das meiste schuldig, so hat er in den einzelnen Innovations- und Personengeschichten doch eine Menge zu bieten. Sie dokumentieren sein enormes wissen- schafts- und technikgeschichtliches Wissen, das auch die Kontexte einschliegt und seine Vertraut- heit mit dem Stand der Forschung (etwa bis um 1990). Sie bieten nicht nur historiographische In- formationen, sondern enthalten auch essayistische Bemerkungen, mit denen Cardwell die grogen Fragen der Wissenschafts- und Technikgeschichte anreifit und kiihne interpretatorische Spriinge

Ber.Wissenschaftsgesch. 22 (1999) 32-64

Rezensionen 41

durch die Jahrhunderte vollfiihrt, indem er etwa Verbindungen zwischen der mittelalterlichen Kunst und dem heutigen Sportwagenbau in Norditalien herstellt.

Viewegs Geschichte der Technik wendet sich weniger an Wissenschafts- und Technikhistoriker denn an technisch und naturwissenschaftlich In- teressierte. Die Publikation enthalt keine Nach- weise und noch nicht einrnal ein Literaturver- zeichnis. Trotz dieser Zielrichtung vermittelt sie

in Einzelfragen auch Fachleuten Anregungen. In ihrer Programmatik und der Art der Durchhh- rung wird Cardwells Geschichte der Technzk vie- len Wissenschafts- und Technikhistorikern wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten, als ein ganz und gar unmodernes Buch vorkommen. Ihnen sei es gerade deswegen, zur Uberpriihng des eigenen Standpunkts, empfohlen.

Wolfgang Konig, Berlin

John D. North: Viewegs Geschichte der Astronomie und Kosmologie. Aus dem Englischen ubersetzt von Rainer Sengerling. Braunschweig/Wiesbaden: Friedrich Vieweg & Sohn 1997. XIII, 463 Seiten, ISBN 3-528-06644-X, gebunden DM 78.

John North ist einer der bedeutendsten und pro- duktivsten Wissenschaftshistoriker mit Schwer- punkt Astronomiegeschichte. Er hat bisher etwa zehn Biicher veroffentlicht und weitere herausge- geben, deren zeitliches Spektrum vom Neolithi- kum bis zum 20. Jahrhundert reicht. So ist es nur folgerichtig, dai3 er auch eine - gewissermanen - Zusammenfassung seines Werkes in Form einer allgemeinen Geschichte der Astronomie versucht hat, die recht gelungen ist. Sein 1994 in englischer Sprache vorgelegtes, jetzt von R. Sengerling ins Deutsche iibersetztes Buch ist derzeit das einzige, das von der Vorgeschichte bis zum Hubble Space Telescope reicht, und es ist eines der besten popu- larwissenschaftlichen Biicher, die je auf diesem Gebiet geschrieben wurden. Auch wenn es sich an einen breiten Leserkreis richtet, kann der pro- fessionelle Astronomiehistoriker viele Anregun- gen darauf entnehmen, und fur Historiker be- nachbarter Fachrichtungen ist es ein empfehlens- werter Uberblick iiber die Geschichte eines Ge- bietes, ohne das allgemeine Wissenschaftsge- schichte nicht denkbar ist.

Die Vorziige des Buches liegen vor allem in der Ausgewogenheit der Darstellung hinsichtlich ver- schiedener Kulturen, im Sichtbarmachen groi3er Zusammenhange und Entwicklungslinien, in der Einbettung in die allgemeine Kulturgeschichte so- wie in den vielen originellen und geistreichen Kom- mentaren des Autors. Neben der Traditionslinie Agypten-Mesopotamien-Griechenland/Rom-Is- lam-europaisches Mittelalter/Renaissance usw. finden China, Japan, Indien und das Amerika vor Kolumbus eine angemessene Beriicksichtigung. Bei der modernen Astronomie verfallt der Autor nicht in eine bloBe Aufzahlung von Fakten, son- dern liefert auch hier Zusammenhange und Kom- mentare. Scheinbar unausgewogen ist allerdings das Verhaltnis zwischen der relativ kurzen Dar- stellung des 20. Jahrhunderts, das die iiberwie- gende Masse des vorhandenen Wissens lieferte,

und der Ausfiihrlichkeit, mit der die Jahrhunderte davor bedacht werden. Dem Autor war dies sehr wohl bewuBt, und im Vorwort erklart er, als Richtschnur ,,die intellektuelle Herausforderung, die sich den aufeinanderfolgenden Generationen von Astronomen stellte, und andererseits den Wi- derhall ihres Werkes im Geistesleben und in der Gesellschaft" genommen zu haben. AuBerdem verweist er auf die Schwierigkeit, die Werke von Einstein, Eddington und Hawking verstandlich zu behandeln. Zumindest ersteres ist allerdings diskussionswiirdig, und fur kiinftige Wissen- schaftshistoriker - das Problem stellt sich nicht nur f i r die Astronomie - ergeben sich hier weite, wenn auch schwierige Tatigkeitsfelder.

Bemerkenswert am Kapitel iiber die Entste- hung der Astrophysik ist, wie vie1 ,klassische' Astronomie es enthalt. Offenbar erscheint dem Autor der Gegensatz zwischen beiden Richtun- gen nicht so grog, wie er oft konstruiert wird.

Ein solches Buch mu6 zwangslaufig zahlreiche Liicken enthalten, und angesichts einer Ge- schichte, die im Neolithikum beginnt, ist natiir- lich auch kaum Platz fur Einzelheiten. Uber astronomische Photometrie etwa findet sich nur sehr wenig. Das ausfiihrliche und kornmentierte Verzeichnis weiterfiihrender, vorwiegend eng- lischsprachiger Literatur bietet in diesen Fallen allerdings eine gute Hilfestellung. Auf Zitate und FuBnoten hat der Autor ganzlich verzichtet.

Eine spezielle Liicke sei noch erwahnt: Karl Friedrich Zollner, der in der deutschsprachigen Literatur als einer der bedeutendsten Pioniere der Astrophysik gilt, kommt in diesem Buch gar nicht vor. Es fragt sich, ob es hier tatsachlich Ge- gensatze in der Einschatzung gibt, oder ob es nur an den fehlenden englischen Ubersetzungen der Primar- wie der Sekundarliteratur liegt. Natiirlich finden sich in einem solchen Buch auch Fehler in den Details. Im Fall von Wilhelm Struve ( S . 287f.) haufen sie sich allerdings: Sein Rufname wie auch

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