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Sechs junge Leute erleben — auf ganz unterschiedliche Weise —die Schrecken der letzten Kriegsmonate in Berlin. Ihre Lebens-läufe verknüpfen sich erst, als sie nach Kriegsende ihr Studiumbeginnen: Zunächst noch an der Ostberliner Humboldt-Uni-versität wollen sie teilnehmen am geistigen Wiederaufbau ihresLandes. Das erlebte Unheil soll sich nicht wiederholen. Diezunehmende Uniformierung des östlichen Lehrbetriebs aberwidert sie schon bald an, und sie ziehen mit Kommilitonen undProfessoren aus, um beim Aufbau der Freien Universität imwestlichen Teil Berlins dabeizusein. Die Generation, die dasLeben ohne Restriktion und Unterdrückung selbst in die Handnehmen will, gerät so mitten in die Ereignisse um die Spaltungzwischen Ost und West ...

Eindringlich und dabei ganz unsentimental erzählt Meichsnerdeutsche Geschichte und liefert ein überzeugendes Zeitdoku-ment.

Dieter Meichsner, geboren 1928 in Berlin, absolvierte seinStudium an der Humboldt-Universität und an der Freien Uni-versität. In den frühen fünfziger Jahren erste Veröffentlichun-gen. Ab 1966 war er zunächst Chefdramaturg, dann Leiter derHauptabteilung Fernsehspiel beim NDR. Als Autor erfolgrei-cher Hör- und Fernsehspiele wurde er mehrfach ausgezeichnet,u. a. mit dem Grimme-Preis. Meichsner lebt heute in Hamburg.

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Dieter Meichsner

Die Studenten von Berlin

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

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Die Erstausgabe des Romans erschien 1954 im Rowohlt Verlagin Hamburg, die vorliegende Ausgabe folgt der »vom Autor neu

durchgesehenen Fassung« von 1963.

April 2007Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,

Münchenwww.dtv.de

Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung© 2003 Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung GmbH

Frankfurt am MainUmschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlagbildgestaltung: Stephanie Weischer unter Verwendungeines Fotos von ullstein bild

Satz: Fotosatz Amann, AichstettenDruck & Bindung: Druckerei C. H. Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany • isBN 978-3-423-13555-9

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DerPhilosophischen Fakultät

»Freie Universität«Berlin

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Das Ende

Jutta Gebert

Dresden, Februar 1945Zuerst war es wie bei jedem anderen Fliegeralarm.

Sie hatten gerade ihre Koffer in den Keller geschleppt, undJutta war noch, wie immer, dabei, Frau Hoffmeister, die keu-chend nach Luft rang und dazu flüsterte: »Mein Gott im Him-mel, ich kann nicht, ich kann nicht mehr«, das Bett zu richten,damit sie sich endlich niederlegen konnte, als Vater, der mitHerrn Weinrich, dem Luftschutzwart, zusammen bei der TreppePosten stand, schon zu ihnen in den Keller kam: »Diesmal sindwir dran, sie werfen schon Christbäume.«

Die meisten hatten ihn nicht verstanden und fragten noch aufihn ein, als es, auch im Keller vernehmlich, über ihnen rauschteund draußen auf der Straße die ersten Bomben einschlugen. Esklang, als schlügen Hagelkörner auf ein Fensterbrett, Brand-bomben. Dann wurden, wie durch einen tiefen Seufzer, dieschweren Eisentüren aufgerissen und wieder zugeschlagen, undmit einem schmetternden Einschlag ging das Licht aus, und alleFrauen fingen an zu kreischen.

Jutta zitterte am ganzen Leibe und hielt sich die Ohren zu. Siefuhr zusammen, als jemand ihr mit einer Taschenlampe ins Ge-sicht leuchtete. Vaters Stimme schrie: »Kommt doch, kommt,wir müssen raus!»

Er zerrte sie von der Bank hoch, und Jutta packte MuttersHand, die ganz schlaff war. Sie erreichten wirklich den Keller-gang, und Jutta war von der flackernden, weißlichen Helle ge-blendet. Überall brannte es schon. Vater fing an zu rennen, und

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Jutta riß Mutter mit sich fort. Hinter ihnen stürzte ein feurigerKlumpen herab und klatschte auf das Pflaster, das schon an eini-gen Stellen in Flammen stand.

An der Kelzigstraße kamen ihnen Leute entgegen, die bren-nende Kleider am Leibe hatten. Vater wich ihnen aus, rannte indie Jakobigasse hinein, zwischen brennenden Autos durch undan herabhängenden, glühenden Straßenbahnleitungen vorüber,aber Jutta glaubte, sie kämen aus dem beißenden Rauch nie mehrheraus, sie konnte nicht mehr atmen und mußte husten, währendVater sie weiter und weiter und weiter riß, bis Jutta endlich dieBürgerwiesen-Anlagen vor sich sah. Auf der Lenné-Straße schie-nen alle zusammenzulaufen. Auch hier lagen, wie Lumpenbündel,brennende Menschen am Boden.

Im Großen Garten hörte Jutta das Gebrüll der Menschen viellauter, und dann merkte sie, daß es auch aus ihr schrie.

Als Vater stehenblieb, brach sie fast in die Knie, aber sie hieltensich aneinander aufrecht, und Vater brüllte ihnen zu: »Wir müs-

sen nach Strehlen raus!» Er packte wieder Juttas Hand undstürmte weiter, da stolperte Jutta über einen im Wege liegendenKoffer, Vaters Hand war fort, und sie stürzte der Länge nach hin,ihre Mutter fiel ihr auf den Rücken, und jemand trat auf ihrenFuß. Sie raffte sich hoch und zerrte auch ihre Mutter auf dieBeine, aber im flackernden, rötlichen Licht zwischen den Bäu-men konnte sie die Gesichter nicht unterscheiden: »Vater, Vater,VATER!« Der Anprall der Flüchtenden schwemmte sie fort, undwährend sie die fernen Detonationen hörte, wehte, wie einheißer Schlag, die Luftdruckwelle neuer Einschläge über dieKöpfe. »Vater, Vater, Vater!«

Jutta stieß und trat um sich und kämpfte sich, über gestürzteMenschen hinweg, den Hang zur Straße hinauf.

Dort oben standen auf einem Sandkasten zwei politische Lei-ter und schrien durch vorgehaltene Hände etwas zu den Men-schen hinunter. Erst als Jutta nahe bei ihnen war, konnte sie ver-stehen, was sie schrien: »Über die Bahn weg, über die Baaahn, dieBaaaaaahn! «

Sie stolperte den Bahndamm hinunter und mußte ihre Mutterüber jedes einzelne Geleise hinwegheben.

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Jenseits des Bahngeländes standen zwischen brennenden La-gerschuppen Hitler-Jungen. Zwei Jungen halfen Jutta, ihre Mut-ter auf einen der Lastwagen zu heben, und stemmten auch Juttahoch. Sie hockte sich auf den Boden, und Mutter wühlte ihrenKopf an Juttas Hals.

Am Teich in Coschütz hielt der Wagen. Auch dort wartetenHitler-Jungen, Rote-Kreuz-Schwestern und Arbeitsmaiden.Zwei Jungen halfen Jutta absteigen, nahmen Mutter in die Mitteund wollten sie zur Schule schleppen, da fiel Jutta ein, daß sie zuTante Berta gehen konnten. Die Jungen nickten, als sie ihnen denWeg erklärte.

Jutta sah Tante Berta von weitem. Sie stand im Garten und sahauf die brennende Stadt hinunter und fuhr erst herum, als Juttaan der Pforte klingelte. Sie legte vor Schreck beide Hände auf denMund, flog auf sie zu und rief: »Hilde, Hilde, daß ihr da seid!«

Sie half den beiden Jungen, Mutter ins Haus zu bringen, undJutta ging mit, bis Mutter im Bett lag. Sie hatte die Augen ge-schlossen, nur ihre Brust hob und senkte sich ruckweise zuihrem keuchenden Atem.

Jutta konnte nichts erzählen. Sie schluchzte, konnte aber nichtweinen. Sie sah teilnahmslos zu, als Tante Berta ihr im Wohn-zimmer das Sofa zum Schlafen herrichtete. So wie sie war, inihrem angesengten Sommermantel, legte sie sich hin und hörtenoch, daß Tante Berta sagte: »Jutta, Mädchen, zieh dich dochaus, du erkältest dich sonst.«

Als sie erwachte, war es Tag, aber der Himmel vor dem Fen-ster schien trübe und grau. Im Haus war es so still, daß Juttahochfuhr und sich aufsetzte. Ohne nach den Skistiefeln zu su-chen, die jemand ihr ausgezogen hatte, ging sie endlich, noch be-nommen, durch das Wohnzimmer und über die Diele zur Küche.

Im Herd bullerte ein Feuer, und als Jutta am Tisch vor demFenster jemand sitzen sah, der nicht Tante Berta sein konnte,schrak sie zusammen. Es war aber nur ihr Vetter Klaus, der dieEllbogen auf den Tisch gestützt hatte und vor sich hinstierte,während er kaute. Sein Mantel war voller Kalkstaub, und dieHitler-Jugend-Armbinde war halb abgerissen. Sie ging auf ihnzu, und als er endlich aufsprang, fiel sie in seine Arme und fing

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an zu weinen, während er ihr stumm den Rücken klopfte. Ei-setzte sie auf einen Stuhl, schob ihr den Teller mit Marmeladen-broten hin, holte eine Tasse und goß ihr Kaffee ein. Sie schüttelteden Kopf. Nein, jetzt nichts.

Und als Jutta ihn ansah, sagte er, ohne ihrem Blick zu begeg-nen: »Nein, Jutta, bis jetzt noch nicht, aber vielleicht ...«

»Wir waren doch schon im Großen Garten, es war doch ... ichfiel hin ... und dann war seine Hand ... und als ich wieder...hoch war, konnte ich ihn nicht mehr sehen und ... er hatte dochden ... Stahlhelm auf, und ich hätte ihn doch, wir waren dochschon raus ... und er kann doch nicht ...«

»Paß mal auf«, sagte Klaus, »ich muß sowieso gleich wiederrunter, vielleicht kann ich was rauskriegen.«

»Ich gehe mit.«»Das geht auf keinen Fall«, sagte Klaus hastig.Dann sah er sie mit seinen rotgeränderten Augen an und

sagte: »Wir waren heute nacht beim Hauptbahnhof. Jutta, es hatwirklich keinen Zweck, daß du mitkommst. Bleib doch hier, ichwerde schon sehen.«

Er zögerte, dann stand er auf und griff nach dem Stahlhelmund der Gasmaskenbüchse, die auf einem Stuhl lagen.

»Klaus, bitte, nimm mich mit.«»Sie lassen dich ja doch nicht rein.«Aber sie legte für Tante Berta einen Zettel auf den Küchen-

tisch: >Bin bald wieder zurück, Jutta<, und ging noch einmal insWohnzimmer, zog sich die Stiefel an und band sich das Kopftuchwieder um.

Es war kalt draußen. In den meisten Gärten lag noch Schnee,auch ans Rinnstein waren die schmutzigen Häufchen noch nichtgetaut. Sie fröstelten und marschierten rasch die Straße nachPlauen hinunter. In Gruppen standen Menschen vor den Häu-sern und in ihren Gärten und sahen unverwandt auf Dresdenhinunter.

Den Weg stadteinwärts kam ihnen der nicht abreißendeStrom Flüchtender entgegen. Manchmal auf Lastwagen, meistzu Fuß, Handwagen mit den kümmerlichen Resten ihrer Habse-ligkeiten ziehend.

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Ein Polizeioffizier hielt sie an, aber Klaus sagte, er müsse zumGauleiterbunker im Großen Garten.

»Und Sie?« fragte der Polizist und sah Jutta an.»Ich bin hergeschickt, ich habe eine Feldscherausbildung.«Der Mann sah sie an und murmelte: »Doch nicht hier, die sind

wohl verrückt geworden.« Aber dann winkte er mit dem Kopfzur Stadt hin: »Das Wettinum, wissen Sie, wo das ist?«

»Ja.»»Die können Sie vielleicht gebrauchen.«Einzelne Villen an der Straße brannten noch, und in anderen

Gärten standen Menschen um ein paar gerettete Möbelstückeoder stocherten in den schwelenden Trümmern herum.

Am Bahngelände trafen sie auf neue Posten: Soldaten, Polizi-sten, politische Leiter. Sie konnten von weitem den brennendenTrümmerhaufen des Hauptbahnhofs sehen. Ein beißender Ge-ruch kalter Asche hing in der Luft. Als sie sagten, sie müßtenzum Wettinum, durften sie passieren.

Jenseits des Bahngeländes sahen sie weit und breit keinenMenschen mehr. Die Staubschicht auf den Straßen erstickte dasGeräusch ihrer Schritte. Aus der Wolke von Rauch regnete einAschenschauer auf sie herab. Sie hörten das Geknister schwelen-den Gebälks.

An den Splittern des Ladenschildes einer Drogerie, die Juttawiedererkannte, merkten sie, daß sie sich schon in der WettinerStraße befinden mußten, als ihnen ein Trupp Männer in schwe-ren, weiten Mänteln entgegenkam. Sie gingen rings um einenzweirädrigen Karren, der von zwei mageren, struppigen Pfer-den gezogen wurde.

Das Gefährt war fast auf gleicher Höhe, ehe Jutta die Leichenauf dem Wagen sah. Nackte und andere, denen noch Kleiderfet-zen auf verkohlten Körpern klebten. Zerrissene, verbrannte, un-kenntliche Leichen lagen, fast sorgfältig gestapelt, auf dem fla-chen Karren.

Die Männer trugen unförmige weiße Stulpenhandschuhe anden Händen, die kraftlos herunterhingen, und schwankten anihnen vorüber, ohne sie zu beachten. Nur die hölzernen Räderdes Karrens knarrten, und einmal schnaubte eines der beiden

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Pferde und schüttelte seine Mähne, daß die Spangen des Zaum-zeuges aneinanderschlugen.

Sie hatte Klaus am Arm gepackt, aber obgleich ihre Knie nach-zugeben drohten, mußte sie dem Zug nachstarren, bis er hintereinem der Berge von Trümmern verschwunden war.

Das Wettiner Gymnasium lag am Rande des vernichteten Be-zirks. Das massive Gebäude war nur zum Teil zerstört, ein Flügelschien ausgebrannt, die Türen und Fenster waren alle heraus. Vordem Gebäude und im Hof standen Lastwagen. Arbeitsmännerund Soldaten schleppten Verwundete ins Haus. In einer Ecke desHofes standen Pferdekarren von der Art, die sie auf der Straßegesehen hatten, und bei ihnen standen Männer in den formlosen,weiten Mänteln, die sich in einer kehligen, fremden Sprache un-terhielten. Einer setzte eine Flasche an den Mund, nahm einentiefen Schluck und reichte die Flasche weiter.

Im Kommen und Gehen auf der Treppe verlor sie Klaus ausden Augen, aber im ersten Stock hielt Jutta eine verschwitzte,ältliche Schwester an, deren Haube verrutscht war, daß ihr eineSträhne grauen Haars ins Gesicht hing, die sie mit dem Unter-arm zurückzustreifen versuchte. Sie sei ausgebildet, sagte Jutta,ob sie gebraucht würde.

In allen Klassenzimmern, auf Pritschen und auf dem Fußbo-den, lagen Verwundete und Verbrannte. Niemand schien sichum sie zu kümmern. Männer trugen neue Verwundete hereinund schafften andere, die gestorben waren, wieder hinaus.

Sie solle mit ins Operationszimmer kommen, wenn sie etwasverstünde, sagte die Schwester. Hier verstünde niemand etwas.Die Idioten schickten nur immer Leute, die nichts verstünden,und darum sei sie ganz allein.

Das Operationszimmer war ein Klassenzimmer wie alle ande-ren, nur lagen keine Verwundeten auf dem Fußboden. In derMitte des Raumes stand ein Tisch, über den man ein Laken ge-breitet, das sich schon voll Blut gesogen hatte.

Jutta hatte in ihrem Leben noch keinen Schwerverwundetengesehen und kannte auch verletzte und verstümmelte Glied-maßen nur von den bunten Papptafeln im Feldscherkurs.

Sie gab sich Mühe, nicht hinzusehen, und führte die Befehle

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aus, die Schwester Ida ihr erteilte: einen Spirituskocher in Ganghalten, Binden wickeln, Eimer voll Blut, Fleischklumpen undVerbandfetzen fortschaffen und auf dem Hof in eine Grubeschütten. Später mußte sie während der Operationen auch dieKöpfe der Verwundeten halten, weil am Nachmittag die Betäu-bungsmittel ausgegangen waren und es mehrere Stunden dau-erte, bis neue gebracht wurden. Dann stellte sie sich so neben denTisch, daß sie nicht beobachten konnte, wie der Arzt schnitt.Nur einmal starrte sie einen Beinstumpf an, aus dem ein Stückangeschwärzten Knochens ragte, und mußte sich erbrechen.

Gegen Abend war kein Verbandmaterial mehr da und nochimmer kein ordentliches Operationsbesteck, und es fehlte an dennotwendigsten Medikamenten und an Decken. Die meisten derVerwundeten lagen auf dem blanken Parkettfußboden, und mankonnte sie nicht einmal zudecken. Wenigstens wurden keineneuen mehr hereingeschafft. Soldaten trugen die Toten hinaus.

Jutta hatte noch immer gehofft, ihren Vater unter den Ver-wundeten zu finden, aber als sie nachts um zwölf wußte, daß erin diesem Lazarett bestimmt nicht lag, fuhr sie mit einem Last-wagen, der zwei Ärzte und zwei Schwestern mitgebracht hatte,bis Plauen zurück. Nach Coschütz hinauf mußte sie laufen.

Tante Berta redete auf sie ein, als sie in der Küche zu essen ver-suchte, aber keinen Bissen halten konnte. Tante Berta war schonin der allergrößten Sorge gewesen. Klaus hatte ihr zwar erzählt,daß er bis zum Wettinum bei Jutta geblieben war, aber beim Ein-kaufen, sagte sie, hätten die Leute von Giftschwaden gespro-chen, die über Dresden lägen und an denen alle Überlebendenzugrunde gehen würden.

Mutter saß teilnahmslos dabei und starrte auf das Feuer imHerd. Jutta hatte nicht gewagt, ihr zu erzählen, wie es in derStadt aussah, und daß sie fast alle Hoffnung aufgegeben hatte.

Am Abend darauf fuhr sie mit einem Lastwagen, den sie imPlauener Grund angehalten hatte, wieder zum Wettinum.

Schwester Ida schien sich zu freuen, daß sie wiedergekommenwar, obgleich sie meinte, sie seien aus dem Schlimmsten heraus.Es waren zwei Decken für jeden Verwundeten da, für die schwe-ren Fälle sogar Feldbetten, und alle hatten frische Verbände. Die

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Verpflegung wurde regelmäßig herangeschafft, und es gab sogareine Gummischürze und einen weißen Kittel für Jutta.

Am nächsten Morgen wurden alle Verwundeten auf Lastwa-gen geladen. Jutta saß zusammen mit Schwester Ida auf einemWagen voller schwerverletzter Frauen, die wimmerten undstöhnten, als der Wagen über die zerlöcherten Straßen holperte.

Das Lazarett war schon zu Beginn des Krieges in einer Plaue-ner Oberschule eingerichtet worden, und es herrschte, obgleichseit dem Luftangriff auch viele Zivilpersonen dort lagen, mi-litärische Ordnung. Aber weil Schwester Ida ein Wort für Juttaeinlegte und weil ohnehin Pflegepersonal gebraucht wurde,durfte sie bleiben und war eine Hilfsschwester unter vielen.

Da sie Tante Berta, wenn irgend möglich, mied, um nicht im-mer neue Weltuntergangsgeschichten anhören zu müssen, undweil Mutter, die meist bis tief in die Nacht hinein aufsaß undnoch nicht glaubte, daß Vater tot war, kaum ein Wort sprach, undsie Klaus, der immer wieder zu neuen >Einsätzen< kommandiertwar, nie zu Hause antraf, fühlte sich Jutta sehr einsam, obgleichdie Schwestern, die sie zuerst von oben herab behandelt hatten,jetzt sehr freundlich zu ihr waren. Denn fast niemand, der dortarbeitete, stammte aus Dresden, und es hatte sich herumgespro-chen, daß Juttas Vater umgekommen war.

Sie mußte oft daran denken, daß er bestimmt noch lebte,wenn sie seine Hand festgehalten hätte oder wenn sie wenigstensnicht gleich weitergerannt wäre, als sie Vater verloren hatte.

Eines Tages kam Klaus ins Lazarett, um sich von ihr zu verab-schieden, ehe er an die Front fuhr. Er war zuversichtlich undsagte, eines Tages würden auch die Toten von Dresden gerächtsein. Jutta dachte allerdings, daß davon Vater auch nicht wiederlebendig würde.

Inzwischen waren von der Front, die immer noch bei Görlitzstand, die ersten Verwundetentransporte gekommen, und ob-gleich der Hauptschub hinauf ins Erzgebirge geleitet wurde, tra-fen sie bald in so dichter Folge ein, daß Jutta tagelang nicht mehrnach Hause kam.

Viele der Männer weinten, wenn sie nicht dalagen und stumman die Decke starrten. Es sei nichts mehr zu machen, erzählte ihr

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ein Feldwebel, dessen linker Unterschenkel amputiert wordenwar. Die russischen Panzer seien nicht mehr aufzuhalten, nie-mand werde sie aufhalten. Aber obgleich auch einige dort lagen,die bei der Wiedereroberung Laubans dabeigewesen waren underzählten, wie die Russen gehaust hatten, hatte Jutta viel zuvielzu tun, um häufig darüber nachdenken zu können, was ausihnen werden sollte, wenn die Russen wirklich kamen. Nur inden Sekunden zwischen dem Zu-Bett-Gehen und dem Einschla-fen mußte sie daran denken, daß sie jetzt allein war und daß siefür Mutter würde sorgen müssen. Sie war aber froh darüber, daßsie nicht mehr oft mit ihr zusammentraf, denn sie fühlte sichaußerstande, sie zu trösten.

Dann ging alles sehr schnell. Als in den Wehrmachtsberichtenschon von Kämpfen in Berlin die Rede war, schob sich drei Tagelang ein Strom deutscher Kolonnen zu Fuß und motorisiert —zwischen ihnen Flüchtlingstrecks — durch den verstopften Plaue-ner Grund in Richtung Freital.

Und als Jutta am Morgen des dritten Tages nach Plauen zumLazarett gehen wollte, wurde sie auf der Straße von Leuten ange-halten. Es hätte gar keinen Zweck, der Russe sei schon im Grundund würde sowieso bald hier sein.

Zusammen mit Mutter und Tante Berta beobachtete Juttavom Schlafzimmerfenster aus, wie die ersten russischen Infante-risten auf der Hauptstraße herankamen, vorsichtig nach allenSeiten spähend. Viele Leute hatten weiße Tücher aus den Fen-stern gehängt, auch von Tante Bertas Balkon hing ein weißes La-ken herab. Sie blieben den ganzen Tag über im Hause. Durch dieverlassene Straße rollten Panzer, Geschütze und Lastwagen, aufdenen singende Mannschaften saßen. Einmal, gegen Mittag,hörten sie für kurze Zeit Kanonendonner in der Ferne.

Vor Einbruch der Dunkelheit gab es Geschrei auf der Straße,und in Trupps zogen russische Soldaten von Haus zu Haus. Siestanden hinter der vorgezogenen Gardine am Schlafzimmerfen-ster, als fünf Russen durch den Vorgarten auf die Haustür zuka-men und an der Klinke rüttelten. Sie standen stumm, hielten sichan den Händen gepackt, aber rührten sich nicht, bis die Russenmit ihren Kolben auf die Tür einschlugen. Tante Berta lief die

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Treppe hinunter und rief: »Schlagt mir doch nicht die Tür kaputt,ihr Tiere!«

Vom Treppenabsatz konnten sie beobachten, wie Tante Bertaöffnete, die Russen hereinstürmten und einer ihr den Kolbenseiner Maschinenpistole in die Seite schlug, daß Tante Berta nie-derstürzte. Mutter, die bis zu diesem Augenblick fast gleichgül-tig gewesen war, flüsterte Jutta zu, sie sollte sich auf dem Bodenverstecken, aber es war schon viel zu spät.

Sie ließ alles über sich ergehen und hörte nur, daß Mutterschrie und daß die Russen später im Hause herumtrampelten,die Schränke aufsprengten und die Schubladen herausrissen.Einer kletterte auf das Klavier und nahm die Wanduhr ab. Dannwaren sie fort, und nach einer Weile erwachte Jutta wie aus einerOhnmacht, nur, daß sie die ganze Zeit über ihrer Sinne mächtiggewesen war.

Sie ging zu ihrer Mutter, die noch wimmernd am Boden lag,und streichelte ihr den Kopf. Das Geschrei auf der Straße gingnoch stundenlang weiter, und weil sie wußten, daß die Haustüroffenstand, wagten sie nicht, aufzustehen.

Immer, wenn Stiefelgetrappel auf der Straße zu hören war, hiel-ten sie den Atem an, aber es kamen keine Russen mehr herein.

Erst tief in der Nacht wagten sie, hinunterzugehen und nachTante Berta zu sehen. Sie lag noch immer neben der Tür. Als siesie aufgehoben und im Wohnzimmer aufs Sofa gelegt hatten, sahJutta gleich, daß Tante Berta tot war.

Herbert Strittich

Pommern, März 1945Jemand hatte ihn an der Schulter gerüttelt, und wie aus weiterEntfernung hatte er Reicherts Stimme gehört: »Herr Leutnant!Aufstehn, Herr Leutnant, Viertel nach vier!« Er war hochgefah-ren, und, noch blind vor Müdigkeit, hatte er sich die Stiefel ange-zogen, die Reichert ihm hinhielt, das Koppel umgeschnallt und,

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seine schmerzenden Augen offenhaltend, den Stahlhelm ergrif-fen. Dann war er durch die niedrigen Türen des Bauernhauseshinausgeschwankt in die kalte Finsternis des frühen Morgens.

Draußen hatte der Lastwagen schon gestanden. FeldwebelWeller war mürrisch aus dem Führerhaus gestiegen, sein schläf-riges Guten Morgen, Herr Leutnant! hatte Strittich für einenAugenblick mit blindem Haß erfüllt. »Los, haun Sie schon ab!«hatte er dem Fahrer zugerufen, und der war losgefahren, Strittichwar auf der Stelle wieder eingeschlafen, ein paarmal hochge-schreckt, bis der Wagen von dem löcherigen Weg auf die Chaus-see gekommen, und erst, als sie mit einem Ruck hielten, der Fah-rer den Motor gedrosselt, endlich abgestellt und gesagt hatte Wirsind da, Herr Leutnant war er endgültig aufgewacht.

Er raffte sich auf und kletterte hinaus, aber als er nun auf demkahlen Dorfplatz stand, dem kalten Wind ausgesetzt, der denkörnigen Staub aufwehte, und seine Männer hörte, die auf demWagenkasten polterten, endlich absprangen und sich die Armeum den Leib schlugen, kostete es Strittich Mühe, sich darüberklarzuwerden, was ihn hierhergeführt hatte und was er nun würdezu tun haben.

Er ging quer über den Platz auf das Spritzenhaus zu und über-legte, ob der Mann, den zu holen er gekommen war, den Lastwa-gen gehört hatte, und versuchte sich vorzustellen, wie es ihm,Strittich, zumute sein würde, wenn er den Wagen gehört hätteund wüßte, daß er abgeholt würde, um erschossen zu werden.Die Tür war nicht verschlossen, sie schwang knarrend nachinnen, als er sie aufstieß. Strittich sah in den finsteren Flur hin-ein. Im gleichen Augenblick wurde eine Tür, rechts vom Haus-eingang, geöffnet, und der Mann, der in der hellen Öffnungstand, fragte: »Sind Sie schon da?«

Er trat zurück und ließ Strittich eintreten. Ein kahler, weiß-getünchter Raum. An den Längswänden Betten, insgesamt dreiPaar, jeweils zwei Betten übereinander. Auf zweien konnte Strit-tich schlafende Gestalten sehen, auf einem dritten saß ein Mannin Zivilkleidung, vornübergebeugt, so daß Strittich sein Gesichtnicht erkennen konnte.

Der Mann, der ihn eingelassen hatte, ein jüngerer Kerl mit

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einem schmalen, blassen Gesicht und kurzgeschnittenen, blon-den Haaren, ein Feldwebel der Feldgendarmerie, dessen Uni-formrock weit offen stand, daß das Unterhemd zu sehen war,nickte gähnend zu einem der Hocker, setzte sich selbst, nahmeine Meldetasche vom Boden auf und begann darin zu suchen.

»Wenn's nach mir ginge, Herr Leutnant«, sagte er ohne aufzu-sehen, »hätten Sie nicht so früh aufzustehen brauchen. Das hät-ten wir alleine erledigen können.«

»Sind Sie bald fertig?«Der Mann sah auf. Strittich wußte nicht, ob er wirklich lä-

chelte, aber im Licht der Petroleumlampe sah es aus, als bleckteer seine Zähne.

»Ganz wie Sie wünschen, Herr Leutnant«, sagte er langsam,jedes einzelne Wort betonend, »holen Sie ihn ruhig schon. Un-terschreiben können Sie nachher«, und nach einer Pause, »untenim Keller.«

Strittich ging hinaus. Er rief zwei seiner Leute, ließ sie an derHaustür warten, leuchtete sich selbst mit seiner Taschenlampeden Weg zur Treppe und stieg allein in den Keller hinab. Eine Pe-troleumlampe beleuchtete nur trübe den Gang, an dessen Ende,vor einer verriegelten Tür, ein Posten saß, den Karabiner zwi-schen den Knien. Er fuhr hoch, als er Strittichs Schritte hörte.

»Hier drin?» Der Posten nickte.Strittich schob den Riegel zurück und trat ein. Der Mann saß

auf einer Gartenbank, der Tür gegenüber, und hatte den Kopf indie Hände gestützt, so daß Strittich nur sein dunkles, saubergekämmtes Haar sehen konnte, und die geplatzten Nähte aufden Schultern seines Uniformrockes, dort, wo man ihm dieSchulterklappen abgerissen hatte. Dann blickte der Mann aufund sah Strittich aufmerksam an, als wolle er sich sein Gesichteinprägen. Er sah so anders aus als das Bild, das sich Strittich voneinem Deserteur gemacht hatte, anders als die Männer, denen et-eine Fahnenflucht zutraute, anders als alle Leute, die ihm wäh-rend der letzten Wochen davongelaufen waren, daß er nacheinem kurzen Augenblick tiefer Verwunderung wütend und er-bittert dachte: Warum bist du desertiert? Warum mußtest ausge-rechnet du desertieren?

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Strittich stand in dem engen, dumpfen, nach faulen Kartoffelnriechenden Keller, dessen niedrige Decke ihn bedrückte, undsagte: »Wir müssen gehen.« Er hob den Arm und deutete miteiner ungewollten Gebärde auf seine Uhr, als müsse er erklären,warum es nun soweit war und daß er darauf keinen Einfluß mehr

habe.Der Mann stand auf, leicht, ohne zu zögern, als habe er lange

darauf gewartet, endlich aufstehen zu dürfen, und sah Strittichimmer noch in die Augen.

»Übrigens«, sagte Strittich, »oben wartet ein Pfarrer.«»Nein«, sagte der Mann, »vielen Dank.«Strittich zögerte ein letztes Mal, ehe er zur Tür trat und seine

Männer rief. Aber während ihre Stiefel schon auf den steinernenTreppenstufen klappten, fragte er: »Ich kann nichts für Sie tun?«

»Vielen Dank, Herr Leutnant.«»Nehmen Sie ihn in die Mitte«, befahl Strittich, »und bringen

Sie ihn zum Wagen. Feldwebel Weller setzt sich nach vorn zumFahrer. Ich komme hinten mit rauf.«

Der Pfarrer wartete im Flur. Strittich sah ihn nicht an undzuckte die Achseln. »Ich weiß schon«, sagte der Pfarrer, »siebrauchen uns nicht.« Er deutete auf die Gruppe der Männer, diemit kurzen Schritten über den Platz marschierte. »Sie meinen,sie könnten den Heiland bis zur letzten Sekunde betrügen. Siesind am bedauernswertesten.« Und als Strittich sich zum Gehenwandte: »Muß das denn sein, Leutnant?«

»Ja«, sagte Strittich schroff, »... es muß sein.«Die Tür zur Wachstube wurde aufgerissen. »Herr Leutnant«,

rief der Feldwebel, »Sie müssen mir noch die Übergabe bestäti-gen.« Er folgte dem Feldgendarmen in die Stube. Der Mann amOfen hatte das Feuer in Gang gebracht, es fauchte und knisterteunter der Platte. Der Feldwebel schob die Kochgeschirre, dieBrote, die Wurst von einer Ecke des Tisches zurück und legteStrittich das Formular hin.

»Hier«, sagte er und tippte mit dem Finger auf das Papier,»sonst glaubt's mir keiner. Und ich habe schon Pferde kotzensehen.«

»Direkt vor der Apotheke«, ergänzte der Mann am Ofen.

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»Geben Sie schon her.« Und während er seine Unterschriftunter das Schriftstück setzte, las Strittich den Namen des Man-nes: Werner Plaht.

Der Fahrer hatte den Motor schon angelassen, im Leerlaufsurrte er ruhig und gleichmäßig. Strittich trat zum Führerstandund nickte, als Feldwebel Weller das Fenster herunterkurbelte.»Ich bleibe hinten.« Er ging am Wagen entlang und grüßte denPfarrer, indem er den rechten Arm ausstreckte. Er schwang sichmit einem Satz über die Klappe des Wagenkastens und setztesich neben den Mann auf den Boden. Ihm gegenüber, verdros-sene Gesichter unter den Stahlhelmen, saßen seine vier Leute.Strittich war froh, daß er den Pfarrer nun nicht mehr sehenkonnte, die Klappe war zu hoch.

»Los«, rief Strittich nach vorn.Er zog sein Zigarettenetui aus der Brusttasche und hielt es

dem Mann hin. Der nahm sich eine der beiden Zigaretten, ohneaufzusehen, und Strittich steckte sich die zweite zwischen dieLippen. Dann reichte er dem andern auch das Feuerzeug mit derzuckenden Flamme. Der Mann nahm ein paar hastige Züge undrief: »Vielen Dank, Herr Leutnant!«

Sie waren aus dem Dorf heraus und auf die Landstraße ge-kommen. Nach dem Gerüttel auf dem Kopfsteinpflaster glitt derWagen nun weich und scheinbar mühelos dahin. In weiten Kur-ven wand sich die Chaussee durch die wellige Landschaft, dieKuppen aller Erhebungen meidend. Es wurde merklich lichter,allerdings war der Himmel vollständig bewölkt. Im Osten, hartam Horizont, erschien ein schmaler Streifen rosigen Lichts. DerMann fröstelte. Die Zigarette zwischen seinen Fingern zittertestark.

Bald schob sich der Wald an die Straße heran. Zuerst nur dreioder vier einzelne Kiefern, dann ein Grüppchen windgebeugterStämme, endlich säumte dichtes Gehölz die Straße, und Strittichwußte, daß es nicht mehr lange dauern konnte. Die Zigaretteschmeckte ihm nicht mehr, er schnickte sie fort.

Strittich sah auf seine Uhr, es war fünf Minuten vor fünf. Erreckte sich hoch und sah über den Rand des Wagenkastens, alssie den Regimentsgefechtsstand passierten.

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