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Wir schreiben das Jahr 1 (343. Die Niederlande kämpfen ge-gen die spanische Krone, in Deutschland wütet der Dreißig-jährige Krieg. In Frankreich herrscht der Absolutismus. DieEpoche des europäischen Barock, das Zeitalter der Aufklä-rung hat begonnen, und die Erde ist nicht mehr Zentrum desUniversums. — Mitten in dieser turbulenten Zeit ist Robertode La Grive, ein junger Pietnontese, in geheimer Missionund in allerhöchstem Auftrag unterwegs. Er ist nach einerabenteuerlichen Jugend nach Paris gekommen und dort inantiklerikale Kreise geraten. Jetzt wird er von Kardinal Ma-zarin persönlich vor die Wahl gestellt: Entweder verliert erKopf und Kragen, oder er muß als Spion im Dienste Frank-reichs einem Geheimnis, auf die Spur kommen, das zuenträtseln sich die seefahrenden Großmächte verzweifeltbemühen — dem Geheimnis des Festen Punktes, der dieLängengrade bestimmt .. .

Umberto Eco wurde am S. Januar 1932 in Alessandria(Piemont) geboren, ist Ordinarius für Semiotik an der Uni-versität Bologna und verfaßte zahlreiche Schriften zur Theo-rie und Praxis der Zeichen, der Literatur, der Kunst undnicht zuletzt der Ästhetik des Mittelalters.

Umberto Eco

Die Insel des vorigen TagesRoman

Aus dem Italienischen vonBurkhart Kroeber

Deutscher Taschenbuch Verlag

Ungekürzte AusgabeApril 1997

g. Auflage September 2004Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,

Münchenwww.dtv.de

O 1994 R. C. S. Libri 8& Grandi Opere S. p. A., MailandTitel der italienischen Originalausgabe:

>L'isola del giorno prima< (Bompiani, Mailand 1 994)Lizenzausgabe mit Genehmigung des Carl Hanser Verlags

O 199 S der deutschsprachigen Ausgabe:Carl Hanser Verlag, München • Wien

Umschlagkonzept: Balk & BrumshagenUmschlagbild: G Marco J. Ventura, Milano

Gesetzt aus der Gar2.mond 10/, „ S • (Linotron 202)

Gesamtherstellung: Druckerei C. H. Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany • ISBN 3-423-I2335-4

Is the Pacifique Sea my Home?

John Donne, Hymne to God my God

Stolto! a cui parlo? Misero! Che tento?Racconto il dolor mioa 1'insensata rivaa la mutola selce, al sordo vento .. .Ahi, ch'altro non rispondeche il mormorar de 1'onde!°

Giambattista Marino, »Eco «, La Lira, 3, XIX

Tor! Zu wem spreche ich? Elender! Was versuche ich?

Ich erzähle mein Leid

der gefühllosen Küste

dem stummen Stein, dem tauben Wind ...Ach, und es antwortet nichts

als das Murmeln der Wellen!

DAPHNE

Und doch erfüllt mich meine Demütigung mit Stolz, und dazu solchem Privilegio verdammt, erfreue ich mich nun gleich-sam einer verabscheuten Rettung: Ich glaube, ich bin seitMenschengedenken das einzige Wesen unsrer Gattung, dasschiffbrüchig ward geworfen auf ein verlassenes Schiff.

So, in unverbesserlichem Manierismus, Roberto de La Grive,vermutlich im Juli oder August 1643.

Seit wie vielen Tagen war er auf den Wellen getrieben, anein Brett gebunden, tagsüber mit dem Gesicht nach unten, umnicht von der Sonne geblendet zu werden, den Hals unnatür-lich verrenkt, um kein Wasser in den Mund zu bekommen,verätzt von der Salzlauge, sicherlich fiebernd? Die Briefe las-sen es nicht erkennen, sie lassen an eine Ewigkeit denken, aberes kann sich um höchstens zwei Tage gehandelt haben, sonsthätte er nicht überlebt unter der Peitsche des sengenden Phö-bus (wie er bilderreich klagt) — er, der sich als so kränklich be-schreibt, ein Nachttier aus angeborener Schwäche.

Er war nicht imstande, die Zeit zu messen, aber ich glaube,das Meer hatte sich nach dem heftigen Sturm, der ihn vonBord der Amarilli gefegt hatte, recht bald wieder beruhigt,und das als Rettungsfloß dienende Brett, das ihm der Matrosemaßgeschneidert hatte, dürfte ihn, von den Passatwindenüber ein heiteres Meer getrieben in einer Jahreszeit, in dersüdlich des Äquators ein äußerst milder Winter herrscht,nicht allzuweit gebracht haben, ehe die Strömung es in dieBucht trieb.

Es war Nacht, er war eingenickt und hatte nicht bemerkt,daß er auf das Schiff zutrieb, bis das Brett mit einem leichtenErzittern an den Bug der Daphne gestoßen war.

Doch als er dann im Licht des Vollmonds erkannte, daß erunter einem Bugspriet dümpelte, direkt unter einem Vorder-kastell, von welchem unweit der Ankerkette eine Strickleiterhing (die Jakobsleiter! hätte Pater Caspar gesagt), waren alleseine Lebensgeister sofort wieder da. Es muß die Kraft derVerzweiflung gewesen sein: Er überlegte, ob er noch Atemgenug hatte, um zu schreien (aber seine Kehle war ein einzigestrocknes Brennen) oder sich von den Stricken zu befreien, dieihn mit bläulichen Striemen gezeichnet hatten, und den Auf-stieg zu versuchen. Ich glaube, in solchen Momenten kann einSterbender zu einem Herkules werden, der die Schlangen inder Wiege erwürgt. Robertos Aufzeichnung des Geschehensist unklar, aber da er am Ende auf dem Vorschiff war, muß ersich irgendwie die Leiter hinaufgequält haben. Vielleichthatte er sie Stück für Stück erklommen, nach jeder Sprosse er-schöpft innehaltend, hatte sich dann über die Bordwand fal-len lassen, war über die Taue gekrochen, hatte die Tür zumVorderkastell offen gefunden ... Und der Instinkt muß ihnim Dunkeln an jenes Faß geführt haben, zu dessen Rand ersich dann hinaufzog, um eine Tasse an einer kleinen Kette zufinden. Er hatte getrunken, soviel er konnte, und war gesättigtzu Boden gesunken, vielleicht gesättigt im vollen Wortsinne,denn jenes Wasser mußte so viele ertrunkene Insekten enthal-ten haben, daß es ihm Trank und Speise in einem lieferte.

Danach muß er vierundzwanzig Stunden geschlafen haben,denn es war Nacht, als er wieder erwachte, doch nun wie neu-geboren. Es war also wieder Nacht und nicht noch.

Er aber dachte gewiß, daß es noch dieselbe Nacht war, an-dernfalls hätte ihn, wenn inzwischen ein ganzer Tag vergan-gen wäre, doch irgendwer finden müssen. Das Mondlicht, dasvom Deck her eindrang, beleuchtete den Raum so hell, daß erjetzt klar zu erkennen war als die Kombüse des Schiffs mit ih-rem über dem Herd aufgehängten Kessel.

Es gab zwei Türen, eine zum Bugspriet und eine nach hin-ten zum Deck. Roberto trat an die zweite und erblickte aufdem fast taghell erleuchteten Deck die sauber zusammengerollten Taue, die Ankerwinde, die Masten mit den eingeroll-

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ten Segeln, einige Kanonen an den Geschützpforten und dieSilhouette des Achterkastells. Er rief etwas, aber keine le-bende Seele antwortete. Er blickte über die Bordkante undsah an Steuerbord, etwa eine Meile entfernt, das Profil einerInsel mit Palmen am Ufer, die sich im Wind bewegten.

Die Küste bildete eine Bucht, ein Halbrund zwischen zweikleinen Vorgebirgen, gesäumt von einem weißen Sandstrand,der in der bleichen Dunkelheit glänzte, aber wie jeder Schiff-brüchige hätte Roberto nicht sagen können, ob es eine Inseloder Festland war.

Er wankte zur anderen Bordwand hinüber und sah — aberdiesmal weit entfernt, fast am Horizont — die Gipfel eines an-deren Profils, das ebenfalls von zwei Vorgebirgen begrenztwar. Sonst überall Meer, so daß man den Eindruck gewinnenkonnte, das Schiff sei auf einer Reede vor Anker gegangen, zuder es durch eine breite Meerenge gelangt war, welche die bei-den Küsten trennte. Roberto kam zu dem Schluß, daß es sich,wenn nicht um zwei Inseln, sicher um eine Insel vor einer grö-ßeren Landmasse handelte. Ich glaube nicht, daß er noch an-dere Hypothesen erwog, da er noch nie von Buchten gehörthatte, die so groß waren, daß man in ihnen den Eindruck ge-winnen konnte, sich zwischen zwei Zwillingsfestländern zubefinden. So hatte er, da er nichts von riesigen Kontinentenwußte, ins Schwarze getroffen.

Es war keine schlechte Lage für einen Schiffbrüchigen: dieFüße auf festem Boden und Land in Reichweite. Aber Ro-berto konnte nicht schwimmen, er sollte bald feststellen, daßes auf dem Schiff kein Beiboot gab, und das Brett, auf dem ergekommen war, hatte die Strömung längst fortgetrieben. Da-her mischte sich in seine Erleichterung, daß er dem Tod ent-gangen war, die Bestürzung über die dreifache Einsamkeit:des Meeres, der nahen Insel und des Schiffes. »He, niemand

an Bord?« muß er versucht haben in allen ihm bekanntenSprachen zu rufen, wobei ihm aufging, wie schwach er war.Stille. Als ob an Bord alles tot wäre, schrieb er. Und nie hatteer sich — er, der so großzügig mit Gleichnissen war — so unver-blümt ausgedrückt. Oder quasi, aber dieses Quasi ist es, wo-von ich sprechen möchte, und ich weiß nicht, wo ich anfangensoll.

Dabei habe ich ja schon angefangen. Ein Mann treibt ent-kräftet auf dem Ozean, und die nachsichtigen Wellen werfenihn auf ein Schiff, das verlassen scheint. Verlassen, als wäre dieMannschaft erst kürzlich von Bord gegangen, denn als Ro-berto sich in die Kombüse zurückschleppt, findet er eineLampe und Zündzeug, als hätte sie der Koch dort bereitge-stellt, ehe er schlafen ging. Aber die beiden Kojen, die sicheine über der anderen neben dem Kamin befinden, sind leer.Roberto zündet die Lampe an, schaut sich um und entdecktgroße Mengen von Lebensmitteln: getrockneten Fisch undZwieback mit nur wenig Schimmel, der sich leicht abschabenläßt. Der Fisch sehr salzig, aber Wasser gibt es nach Belieben.

Er muß bald wieder zu Kräften gekommen sein, jedenfallswar er gut bei Kräften, als er darüber schrieb, denn er verbrei-tet sich — hochliterarisch — über die Wonnen seines Festmahls,nie habe Olymp dergleichen bei seinen Gelagen genossen,süße Ambrosia für mich aus den Tiefen des Meeres, das Un-geheuer, des Tod mir nun Leben geworden ... Dies aberschrieb Roberto an die Dame seines Herzens:

Sonne meines Schattens, Licht meiner Nächte,warum hat der Himmel mich nicht zermalmt in jenem

Sturme, den er so wütend entfacht? Wozu dem gefräßigenMeere diesen meinen Leib entreißen, wenn meine Seele dannin dieser geizigen und dazu trostlosen Einsamkeit auf gräßli-che Weise Schiffbruch erleiden sollte?

Vielleicht, wenn der barmherzige Himmel mir keine Hilfesendet, werdet Ihr nie diesen Brief lesen, den itzo ich schreibe,und verbrannt wie eine Fackel vom Licht dieser Meere werde

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ich mich vor Euren Augen verdunkeln, denn eine Selene, dieach! zuviel vom Licht ihrer Sonne genossen, während sie ihreReise hinter der letzten Krümmung unseres Planeten vollen-det, beraubt der Hilfe durch die Strahlen des sie beherrschen-den Astrums, verdünnt sich erst zum Bildnis der Sichel, dieden Lebensfaden abschneidet, und löst sich alsdann, eine mat-ter und matter werdende Leuchte, zur Gänze in jenem großenwächsernen Himmelsschild auf, in dem die ingeniöse Naturheroische Devisen und rätselhafte Embleme ihrer Geheim-nisse bildet. Eures Blickes beraubt, bin ich blind, da Ihr michnicht sehet, und stumm, da Ihr nicht zu mir redet, und ohneGedächtnis, da Ihr nicht meiner gedenket.

Und ich lebe nur, brennende Trübnis und düstere Flamme,als vages Phantasma, welches mein Geist, immer gleich gestal-tend in diesem widrigen Streit der Gegensätze, so gern demEuren darbieten würde. Mein Leben rettend in dieser hölzer-nen Burg, in dieser schwimmenden Festung, in diesem Ge-fängnis des Meeres, das vor dem Meer mich bewahrt, bestraftvon des Himmels Gnade, verborgen in diesem tiefunterstenSarkophage, der offen für alle Sonnen, in diesem unterirdi-schen Luftschiff, in diesem unüberwindlichen Kerker, dermich allseits zur Flucht ermuntert, verliere ich langsam dieHoffnung, Euch eines Tages wiederzusehen.

Signora, ich schreibe Euch, um Euch, als unwertes Zeichender Huldigung, die welke Rose meiner Trostlosigkeit anzu-bieten. Und doch erfüllt mich meine Demütigung mit Stolz,und da zu solchem Privilegio verdammt, erfreue ich mich nungleichsam einer verabscheuten Rettung: Ich glaube, ich binseit Menschengedenken das einzige Wesen unsrer Gattung,das schiffbrüchig ward geworfen auf ein verlassenes Schiff.

Aber ist das überhaupt möglich? Nach dem Datum auf die-sem ersten Brief zu schließen, müßte Roberto sich gleich nachseiner Ankunft ans Schreiben gemacht haben, kaum daß erPapier und Feder in der Kapitänskajüte gefunden hatte. Dabeimuß es doch einige Zeit gedauert haben, bis er wieder zu

Kräften kam, denn er war geschwächt wie ein verwundetesTier. Oder ist es vielleicht eine kleine Liebeslist: Zuerst ver-sucht er sich klarzumachen, wohin er geraten ist, dannschreibt er und tut so, als wäre es vorher. Warum aber, wo erdoch weiß, vermutet, fürchtet, daß seine Briefe nie ankom-men werden, und sie nur schreibt, um sich zu quälen (um sichqualvoll zu trösten, würde er sagen, aber wir wollen versu-chen, uns nicht von ihm die Hand führen zu lassen)? Es istschon schwierig genug, die Taten und Gefühle eines Men-schen zu rekonstruieren, der zwar sicher vor echter Liebebrennt, aber bei dem man nie weiß, ob er das ausdrückt, waser empfindet, oder das, was die Regeln des Liebesdiskursesihm vorschreiben — doch was wissen wir schon vom Unter-schied zwischen empfundener und ausgedrückter Leiden-schaft, und welche der beiden vorausgeht? Also sagen wir, erschrieb für sich, es war nicht Literatur, er saß wirklich da undschrieb wie ein Jüngling, der einem unmöglichen Traumnachhängt, die Seite mit Tränen tränkend, aber nicht wegender Abwesenheit der geliebten Person, die schon als Anwe-sende reines Bild für ihn war, sondern aus Gerührtheit übersich selbst, verliebt in die Liebe ...

Das könnte schon einen Roman ergeben, aber noch einmal,wo beginnen?

Ich denke, er hat diesen ersten Brief erst später geschriebenund sich zunächst umgesehen — und was er dabei entdeckt hat,wird er in späteren Briefen. schildern. Aber auch hier wieder,wie übersetzt man das Tagebuch eines Menschen, der durchtreffende Metaphern sichtbar machen will, was er schlechtsieht, während er nachts mit leidenden Augen umhergeht?

Roberto wird sagen, daß er sein Augenleiden seit jenemTag hatte, als er während der Belagerung von Casale denStreifschuß an der Schläfe abbekam. Und das kann auch so ge-wesen sein, aber an anderer Stelle legt er nahe, daß seine Au-gen wegen der Pest immer schlechter geworden seien. Er warsicherlich von zarter Konstitution und auch etwas hypochon-drisch, wenngleich mit Verstand; die Hälfte seiner Lichtscheu

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muß an schwarzer Galle gelegen haben und die andere Hälftean einer Form von Reizung, die womöglich durch die Präpa-rate des Herrn d'Igby noch verschärft worden war.

Es scheint gesichert, daß er die Reise auf der Amarilli nurunter Deck zurückgelegt hatte, wenn man bedenkt, daß dieRolle des Lichtscheuen, wenn nicht ohnehin seine Natur, sodoch zumindest diejenige war, die er spielen mußte, um dieMachenschaften im Kielraum verfolgen zu können. MehrereMonate lang im Dunkeln oder im Licht einer Kerze — unddann die Zeit auf dem Brett, geblendet von der fast äquatoria-len Tropensonne. Als er auf der Daphne landet, muß er, obkrank oder nicht, das Licht gehaßt haben, er verbringt die er-ste Nacht in der Kombüse, erholt sich ein bißchen und nimmtin der zweiten Nacht eine erste Inspektion der Örtlichkeitvor, danach geht alles Weitere fast wie von selbst. Das Tages-licht macht ihm angst, nicht nur seine Augen ertragen esnicht, auch die Verbrennungen, die er auf dem Rücken gehabthaben muß, machen es ihm unerträglich, und so verkriecht ersich im Dunkeln. Der schöne Mond, den er in jenen Nächtenbeschreibt, gibt ihm wieder Mut, tagsüber ist der Himmel wieüberall, nachts entdeckt er an ihm neue Sternbilder (heroischeDevisen und rätselhafte Embleme), und es ist wie im Theater:Roberto gelangt zu der Überzeugung, daß dies für lange Zeitsein Leben sein wird, vielleicht bis zum Tod, er schafft sichschreibend seine Signora neu, um sie nicht zu verlieren, und erweiß, daß er nicht viel mehr verloren hat, als was er schonhatte.

So flüchtet er sich in seine Nachtwachen wie in einen Mut-terschoß und beschließt, nun erst recht die Sonne zu meiden.Vielleicht hatte er von jenen Auferstandenen aus Ungarn,Livland oder der Walachei gelesen, die von Sonnenuntergangbis zur Morgendämmerung ruhelos umgehen, um sich beimersten Hahnenschrei wieder in ihre Gräber zu legen — eineRolle, die ihn reizen könnte ...

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Roberto muß seine Inspektion des Schiffes in der zweitenNacht begonnen haben. Er hatte nun lange genug gerufen, umsicher zu sein, daß sich außer ihm niemand an Bord befand.Aber er hätte, und das fürchtete er, Tote finden können, ir-gendwelche Zeichen, die das Fehlen von Lebenden zu erklä-ren vermochten. So bewegte er sich mit Vorsicht voran, undaus den Briefen geht nicht recht hervor, in welche Richtung,denn er benennt das Schiff, seine Teile und die Gegenständean Bord nur ungenau. Einige sind ihm vertraut, denn er hatihre Namen von den Ma -:rosen der Amarilli gehört, anderesind ihm unbekannt, und er beschreibt sie so, wie sie ihm er-scheinen. Aber auch die bekannten Dinge muß er vom einenfranzösisch, vom anderen holländisch, vom dritten englischbenannt gehört haben — was dafür spricht, daß die Besatzungder Amarilli aus Abenteurern der sieben Meere zusammenge-würfelt war. So nennt er den Höhenmesser gelegentlichstaffe, wie er es wohl von IDoktor Byrd gehört hatte; man ver-steht nur mit Mühe, wie er sich einmal auf dem Achterkastelloder dem hinteren Aufbau befinden kann und ein andermalauf dem hinteren gagliar -do, was von französisch galliardkommt und dasselbe heiß:; die Geschützpforten nennt er sa-bordi, von französisch sabords, was ich ihm gern erlaubenwill, denn es erinnert mich an die Seefahrergeschichten, dieich als Kind gelesen habe; er spricht von einem parrocchetto,was für uns ein Segel am Fockmast, also ein Vormarssegelwäre, aber da für die Franzosen perruche das Besansegel ist,das sich hinten am Besanmast befindet, weiß man nicht genau,was er meint, wenn er schreibt, er sei »unter der parrucchetta«gewesen. Ganz zu schweigen, daß er den Besanmast zuweilennach Art der Franzosen arimone nennt, womit sich die Frageerhebt, was er dann meinen mag, wenn er mizzana schreibt,was für die Franzosen der Fockmast ist (nicht aber für dieEngländer, deren rnizzeninast, genau wie unsere mezzana,eben der Besanmast ist). Und wenn er von einer grondaspricht, meint er sicherlich keine Dachtraufe, sondern wahr-scheinlich das, was die Seeleute ein »Speigatt« nennen, das

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heißt ein Abflußloch in der Bordwand. Deshalb treffe ichhiermit eine Entscheidung: Ich werde herauszufinden versu-chen, was er gemeint hat, und werde dann die uns geläufigstenAusdrücke nehmen. Und wenn ich mich dabei einmal irre, istes nicht schlimm: An der Geschichte ändert sich nichts.

Nach diesen Prämissen halten wir also fest, daß Roberto in je-ner zweiten Nacht, nachdem er einen Vorrat an Lebensmit-teln in der Kombüse gefunden hatte, sich im Mondlicht an dieÜberquerung des Mitteldecks machte.

An den Bug und die nach oben gewölbten Seiten denkend,die er undeutlich in der vorigen Nacht gesehen hatte, dasschlanke Deck, die Form des Achterkastells und das schmaleRundheck mit denen der Amarilli vergleichend, kam Robertozu dem Schluß, daß auch die Daphne eine holländische Fleuteoder Fluite war, auch Fluyt, Flüte, Fliete, Flyboat oder Fite-bote genannt, also eines jener Handelsschiffe mittlerer Größe,die für gewöhnlich mit etwa zehn Kanonen bestückt waren,zur Entlastung des Gewissens im Falle eines Piratenangriffs,und die mit einer zwölfköpfigen Besatzung auskamen, aberdazu noch viele Passagiere aufnehmen konnten, wenn manauf die (ohnehin kargen) Bequemlichkeiten verzichtete unddie Schlafstätten so eng zusammenpferchte, daß es keinDurchkommen mehr gab — und dann großes Sterben durchMiasmen aller Art, wenn nicht genügend Eimer da waren .. .Eine Fleute also, aber größer als die Amarilli und mit einemDeck, das auf ein einziges Gitterwerk reduziert schien, alswäre der Kapitän entschlossen gewesen, bei jeder etwas grö-ßeren Sturzwelle Wasser zu fassen.

Jedenfalls war es ein Vorteil, daß die Daphne eine Fleutewar, denn so konnte Roberto sich mit einer gewissen Orts-kenntnis auf ihr bewegen. Zum Beispiel wußte er nun, daß aufdem Oberdeck die große Schaluppe hätte stehen müssen, inder die ganze Mannschaft Platz fand, und die Tatsache, daßsie nicht da war, ließ darauf schließen, daß die Mannschaft an-derswo war. Was Roberto jedoch nicht beruhigte, denn eine

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Mannschaft überläßt ihr Schiff niemals unbewacht der Gewalt des Meeres, auch wenn es mit eingerollten Segeln in ei-

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ner ruhigen Bucht vor Anker liegt.An jenem Abend war er gleich zum Achterkastell hinauf-

gestiegen und hatte die Tür mit einem gewissen Zögern ge-öffnet, als müsse er jemanden um Erlaubnis bitten ... Ne-ben der Ruderpinne befand sich der Kompaß, auf dem ersah, daß die Meerenge zwischen den beiden Küsten genauin nordsüdlicher Richtung verlief. Dahinter kam, was wirheute die Messe nennen würden, ein Raum in Form einesL, und eine weitere Tür führte in die Kapitänskajüte mit ih-rem breiten Fenster über dem Ruder und den seitlichen Tü-ren zur Galerie. Auf der Amarilli war der Kommandoraumnicht identisch mit dem Schlafraum des Kapitäns gewesen,hier aber schien es, als habe man Platz sparen wollen, umRaum für etwas anderes zu gewinnen. Und tatsächlich fandsich, während links der Messe zwei kleine Offizierskajütenlagen, rechts neben ihr ein weiterer Raum, der fast nochgrößer als der des Kapitäns war, mit einer kleinen Koch-stelle in der Ecke, aber sonst als Arbeitsraum eingerichtet.

Der Tisch war überladen mit Karten, die Roberto zahl-reicher vorkamen, als sie zur Navigation eines Schiffes ge-braucht wurden. Es schien der Arbeitsplatz eines Wissen-schaftlers zu sein: Außer den Karten gab es verschiedeneingestellte Fernrohre, ein schönes Nocturlabium aus Kup-fer, das rotgolden schimrr...erte, als wäre es eine Lichtquellein sich, eine auf der Tischplatte befestigte Armillarsphäre,weitere Papiere voller Zahlenkolonnen und ein Pergamentmit kreisförmigen Zeichnungen in Schwarz und Rot, dasRoberto, weil er Kopien davon auf der Amarilli gesehenhatte (die aber schlechter gemacht waren), als eine Repro-duktion der Mondfinsternis-Tafeln des Regiomontanus er-kannte.

Dann war er in den Kommandoraum zurückgekehrt:Wenn man auf die Galerie hinaustrat, konnte man die Inselsehen, man konnte — schrieb Roberto — mit Luchsaugen

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ihre Stille fixieren. Mit anderen Worten, die Insel war nachwie vor da.

Er mußte fast nackt auf das Schiff gelangt sein; ich denke, erwird sich als erstes, verklebt vom Salzwasser, wie er war, inder Kombüse gewaschen haben, ohne sich zu fragen, ob dasdort befindliche Wasser das einzige an Bord war, danach wirder in einer Truhe einen schönen Rock des Kapitäns gefundenhaben, vielleicht den, der für den Tag der Rückkehr aufbewahrt worden war. Vielleicht hat er sich auch ein wenig auf-

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geplustert in seinem Kommandantenrock, und in Stiefel zuschlüpfen muß ihm das Gefühl gegeben haben, wieder ganz inseinem Element zu sein. Nur in diesem Zustand kann ein gut-gekleideter Mann von Welt — und nicht ein ausgemergelterSchiffbrüchiger — offiziell von einem verlassenen Schiff Besitzergreifen und das, was Roberto nun tat, nicht als einen Über-griff, sondern als ein Recht betrachten: Er suchte auf demTisch und fand, aufgeschlagen und wie unverrichteter Dingeliegengelassen, neben Gänsekiel und Tintenfaß, das Logbuch.Auf der ersten Seite las er sofort den Namen des Schiffes, aberdas weitere war eine unverständliche Folge von Wörtern wieanker, passer, sterre-kyker, roer, und es half ihm wenig zuwissen, daß der Kapitän ein Flame war. Immerhin enthielt dieletzte Zeile ein Datum, das nur wenige Wochen zurücklag,und nach ein paar unverständlichen Worten stand da unter-strichen in gutem Latein: quae dicitur pestis bubonica.

Endlich eine Spur, ein Ansatz zu einer Erklärung: Auf demSchiff war eine Epidemie ausgebrochen! Roberto war darübernicht weiter beunruhigt: Er hatte seine Pest vor dreizehn Jah-ren gehabt, und wie jeder weiß, hat jemand, der die Krankheiteinmal überstanden hat, eine Art Gnade erworben, als ob esdiese Schlange nicht wagte, ein zweites Mal in die Lenden des-sen zu fahren, der sie einmal gebändigt hat.

Andererseits erklärte dieser Hinweis nicht viel und ließRaum für andere Beunruhigungen. Es konnte zwar sein, daßalle an der Epidemie gestorben waren, aber dann hätte mandoch, verstreut auf dem Deck, die Leichen der letzten finden

müssen, wenn anzunehmen war, daß sie den vorher Gestor-benen ein frommes Seemannsbegräbnis hatten zuteil werdenlassen.

Allerdings fehlte ja auch die Schaluppe: Demnach könntendie letzten, oder auch alle., davongefahren sein. Was macht einSchiff mit Pestkranken zu einem so bedrohlichen Ort, daßman ihn nur noch fliehen kann? Ratten vielleicht? Es schienRoberto, als könne er in der schwer lesbaren Schrift des Kapi-täns ein Wort wie rottenest (Rattennest?) entziffern — und so-fort war er herumgefahren und hatte die Lampe hochgehaltenin der Erwartung, etwas an den Wänden huschen zu sehenund jenes Quieken zu hören, das ihm auf der Amarilli dasBlut hatte gefrieren lassen. Mit Schaudern erinnerte er sich,wie er einmal nachts aus dem Schlaf gefahren war, weil ihmein pelziges Wesen das Gesicht gestreift hatte, was ihn so ent-setzt hatte aufschreien lassen, daß Doktor Byrd herbeige-stürzt war. Alle hatten sich hinterher über ihn lustig gemacht:Auch ohne Pest gibt es auf einem Schiff so viele Ratten wieVögel in einem Wald, und daran muß sich gewöhnen, wer zurSee fahren will.

Aber hier gab es keine Spur von Ratten, jedenfalls nicht imAchterkastell. Vielleicht hatten sie sich allesamt in der Bilgeversammelt, unten im Schiffsbauch, und warteten dort mit ih-ren roten Augen im Dunkeln auf frisches Menschenfleisch?Roberto beschloß, der Frage sofort nachzugehen. Wenn esnormale Ratten in normaler Anzahl waren, würde er mit ih-nen leben können. Und was sonst sollten sie auch sein — fragteer sich und wollte sich's nicht beantworten.

Er fand eine Büchse, ein Schwert und ein Jagdmesser. Erwar Soldat gewesen: Die Büchse war eine leichte Muskete,eine von jenen calivers, wie die Engländer sagten, die manohne Stützgabel anlegen konnte; er vergewisserte sich, daßSchloß und Pfanne in Ordnung waren, mehr um sicherzuge-hen als um sich daranzumachen, eine Rattenhorde mit Kugelnniederzustrecken, außerdem schob er sich auch das Messer inden Gürtel, das gegen Ratten nicht viel hilft.

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Sodann beschloß er, den ganzen Schiffsrumpf von vornebis hinten zu untersuchen. Aufs Vorschiff zurückgekehrt,stieg er über eine schmale Treppe, die am Ansatz des Bug-spriets hinunterführte, in die Speisekammer, wo er genügendLebensmittel für eine lange Reise vorfand. Und da sie sich un-möglich über die ganze Dauer der bisherigen Reise so gut hät-ten halten können, mußte die Mannschaft sie erst vor kurzemin einem gastlichen Hafen an Bord genommen haben.

Es gab Körbe mit frisch geräucherten Fischen, Pyramidenvon Kokosnüssen und Fässer mit fremdartig geformten, abereßbar aussehenden Knollen, die sich offenbar über lange Zeitaufbewahren ließen. Dazu Früchte von jener Art, wie sie Ro-berto nach den ersten Landungen in tropischen Häfen anBord der Amarilli hatte auftauchen sehen, auch sie wider-standsfähig gegen den Zahn der Zeit, schuppig und stachelig,aber mit einem scharfen Geruch, der gut geschütztes Fleischund zuckersüße verborgene Säfte versprach. Und aus irgend-welchen Produkten der Inseln mußte auch jenes in Säcken ge-lagerte graue, nach Tuffstein riechende Mehl gewonnen wor-den sein, mit dem wahrscheinlich das Brot gebacken war, des-sen Geschmack an jene faden Knollen erinnerte, welche dieIndianer der Neuen Welt Kartoffeln nannten.

An der Rückwand entdeckte er auch ein knappes DutzendFäßchen mit Zapfhahn. Er probierte ein wenig vom ersten,und es war frisches Wasser, das erst kürzlich abgefüllt und mitSchwefel versetzt worden war, damit es länger trinkbar blieb.Es war nicht sehr viel, aber wenn man bedachte, daß auch dieFrüchte seinen Durst stillen konnten, würde Roberto ziem-lich lange auf dem Schiff bleiben können. Dennoch steigertendiese Entdeckungen, die ihn lehrten, daß er auf dem Schiff je-denfalls nicht Hungers sterben würde, seine Unruhe nur nochmehr — wie es melancholischen Gemütern ja häufig ergeht, fürdie jedes Anzeichen von Glück nur Vorzeichen schlimmsterFolgen ist.

Als Schiffbrüchiger auf einem verlassenen Schiff zu landenist schon recht unnatürlich, aber wenn das Schiff dann wenig-

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stens richtig verlassen wäre, verlassen von Gott und den Men-schen als ein unbrauchbares Wrack ohne alle natürlichen oderkünstlichen Gegenstände, die es zu einer annehmbaren Be-hausung machen, dann Wäre das noch in der Ordnung derDinge und der Seefahrerchroniken; jedoch es so vorzufinden,so hergerichtet wie zum Empfang eines willkommenen underwarteten Gastes, fast wie ein verlockendes Angebot — dasschmeckte allmählich nach Schwefel, sehr viel mehr als dasWasser. Roberto fielen gewisse Märchen ein, die ihm seineGroßmutter erzählt hatte, und andere in eleganterer Prosa,die er in den Pariser Salons hatte vorlesen hören, Märchen, indenen Prinzessinnen, die sich im Wald verirrt haben, in einSchloß kommen und reich möblierte Zimmer mit Himmel-betten und Schränken voll prächtiger Kleider vorfinden, odersogar Speisesäle mit gedeckten Tischen ... Und man weiß ja,im letzten Saal erwartet sie dann die schweflige Offenbarungdes bösen Geistes, der seine Fallstricke ausgelegt hat.

Versehentlich stieß er an eine Kokosnuß im Unterbau derPyramide, das Gebäude geriet aus dem Gleichgewicht, unddie borstigen Früchte stürzten ihm lawinenartig entgegen wieRatten, die still am Boden gelauert hatten (oder wie Fleder-mäuse, die sich kopfunter an die Balken einer Decke hängen),bereit, an ihm emporzuspringen und sein schweißüberström-tes Gesicht zu beschnuppern.

Er mußte sich vergewissern, daß keine Zauberei im Spielwar: Auf der Reise hatte er gelernt, was man mit den übersee-ischen Früchten macht. Das Messer wie ein Beil benutzend,öffnete er mit einem Hieb °ine Nuß, trank den Saft, zerbrachdie Schale und nagte das Manna ab, das sich an der Innenseiteverbarg. Es schmeckte so wunderbar süß, daß sich der Ein-druck eines Hinterhalts noch verstärkte. Vielleicht, sagte ersich, war er schon der Illusion erlegen und schon in die Fallegegangen: Er labte sich an den Kokosnüssen und biß mit Na-gezähnen hinein, schon war er dabei, die Eigenschaften derNager zu übernehmen, bald würden seine Hände dünn undkrumm und krallenbewehrt geworden sein, sein Leib würde

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