EB Kurs - Magazin der EB Zürich Frühling 2007

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INTERVIEW: ANDREAS THIEL, SPRACHARTIST Magazin der EB Zürich Kantonale Berufsschule für Weiterbildung Nr. 13 März bis Juni 2007 THEMA: ILLETTRISTEN SIND NICHT DUMM e

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Illettristen sind nicht dumm

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INTERVIEW: ANDREAS THIEL, SPRACHARTIST

Magazin der EB ZürichKantonale Berufsschule für WeiterbildungNr. 13März bis Juni 2007

THEMA: ILLETTRISTEN SIND NICHT DUMM

e

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Vormerken!

Nächste Veranstaltungen

im Lernfoyer (Auswahl)

Controlling – fi nanzielle Führung

Dienstag, 6. März 2007,

18.00–19.00 Uhr

Tonaufnahmen ohne

Nebengeräusche

Mittwoch, 7. März 2007,

17.00–18.00 Uhr

Ein Tag im Leben von...

Dienstag, 13. März 2007,

17.00–18.00 Uhr

Zeitmanagement

Dienstag, 17. April 2007,

17.00–17.45 Uhr

Die Teilnahme an diesen

Veranstaltungen ist kostenlos.

Weitere Veranstaltungen unter

www.lernfoyer.ch

Informatik-Führerschein

Freie Fahrt. Wer die European Computer

Driving Licence (ECDL) besitzt, weist sich

über standardisierte Anwendungskenntnisse

aus. Neu können die Prüfungen auch an der

EB Zürich abgelegt werden.

Agenda

Die ECDL ist Standard in vielen Ländern.

EB AUF KURS

Aktuell

Eine gute Schulung am Computer ist Gold wert, mit oder ohne Zertifi kat. Manchmal aber fragen Personal-chefi nnen und -chefs nach einem Ausweis. Da profi tiert, wer einen vorweisen kann.

ECDL setzt sich durch. Die European Computer Driving Licence hat sich mit vier Millionen Teilnehmenden welt-weit als der führende Standard durchgesetzt. Sie gilt in 138 Ländern und wird in 32 Sprachen ausgestellt. Inzwi-schen empfi ehlt auch die Europäische Kommission die ECDL als Ausbildungsstandard für die EU.Verschiedene Stufen. Die ECDL ist konsequent modu-lar organisiert. Die Modulprüfungen können in belie-biger Reihenfolge abgelegt werden. Das erlaubt ein selbst bestimmtes Lernen mit einem eigenen Rhythmus. Wer sich nur über ganz bestimmte Kompetenzen ausweisen will, kann mit «ECDL Start» anfangen. Wer fortgeschrit-tene Fertigkeiten am PC belegen möchte, strebt die «ECDL Advanced» an.Prüfungen an der EB Zürich. Die EB Zürich gehört neu zu den autorisierten Zentren, welche die ECDL-Prü-fungen abnehmen dürfen. Zum Angebot gehören selbst-verständlich auch Vorbereitungskurse und individuelle Unterstützung im Lernfoyer. Damit werden gute Grund-lagen für einen Prüfungserfolg gelegt.

«Wir sind überzeugt, dass die ECDL eine

gute Sache ist, auch wenn wir nicht

nur auf Zertifi kate setzen», sagt Felix Ritter,

Bereichsleiter Informatik an der EB Zürich.

«Es ist uns ein Anliegen, für Interessen-

tinnen und Interessenten möglichst ein

breites und qualitativ gutes Angebot

bereitzustellen.»

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Fehlendes Puzzleteilchen

Das Problem ist bekannt: Zu viele

Menschen in der Schweiz können nicht

richtig lesen oder schreiben. Jüngste

Studien sprechen von 800 000 Per-

sonen. Fachleute bezeichnen diese

Tatsache mit Illettrismus. Wer genau

hinschaut, entdeckt hinter diesem

abstrakten Wort Frauen und Männer,

die sich aus unterschiedlichen Gründen

schwer tun mit Lesen und Schreiben.

Ein Formular auszufüllen wird zur

Riesenaufgabe, den Behördenbrief zu

verstehen, fast unmöglich. Im Artikel

ab Seite 6 geht es darum, wie dieses

Problem entschärft werden kann.

Illettrismus darf kein Tabuthema sein.

Wer eine Lese- und Schreibschwäche

hat, ist nicht dumm. Oft ist nur ein

Puzzleteilchen verloren gegangen, das

sich leicht wieder fi ndet. – Die Bilder

zum Thema machte der Fotograf Fritz

Franz Vogel: Was heisst es, nicht alles

lesen zu können? Schauen Sie selbst.

Serge Schwarzenbach,

Herausgeber

Editorial Inhalt

• IMPRESSUM • EB KURS NR. 13 / MÄRZ BIS JUNI 2007

MAGAZIN DER EB ZÜRICH • KANTONALE BERUFSSCHULE FÜR WEITER-

BILDUNG ZÜRICH • BIZE • RIESBACHSTRASSE 11 • 8090 ZÜRICH

• TELEFON 0842 843 844 • FAX 044 385 83 29

• INTERNET WWW.EB-ZUERICH.CH • E-MAIL [email protected]

• AUFLAGE 33 000

• HERAUSGEBER (FÜR DIE GESCHÄFTSLEITUNG:) SERGE SCHWARZENBACH

• REDAKTION CHRISTIAN KAISER, FRITZ KELLER, SILBENSILBER, ZÜRICH

• GESTALTUNG ATELIER VERSAL, PETER SCHUPPISSER TSCHIRREN, ZÜRICH

• TEXTE ANJA EIGENMANN, ANOUK HOLTHUIZEN, FRITZ KELLER

• FOTOS LUC-FRANÇOIS GEORGI, RETO SCHLATTER, FRITZ FRANZ VOGEL

• ILLUSTRATIONEN EVA KLÄUI, RUEDI WIDMER

• DRUCK GENOSSENSCHAFT ROPRESS ZÜRICH

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5 Versteigerung Der Hausrat im Online-Geschäft.

6 Illettrismus Wenn Lesen und Schreiben nicht

so gut klappen.

14 Wörtersee Ivar Breitenmoser ist

(R)auch Sprachkünstler.

16 Büffeln für die BMS Das Lernen geht weiter.

18 Wortkaskaden Andreas Thiel im Gespräch.

21 Galerie Silvia Voser stellt aus.

Standards02 EB auf Kurs

03 Editorial

04 Bemerkenswert

13 Tipps und Tricks

22 Kultur: Lesen, hören, sehen

23 Comic

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EDITORIAL – INHALT

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Gesehen, GehörtPHILOSOPHIEREN SIE GERNE?Die Zukunft ist ethisch – oder gar nicht. So lautet der Titel des neuen Buches, das EB-Zürich-Kursleiter Thomas Gröbly zusammen mit dem Philosophen Hans Ruh geschrieben hat. Ethik bekomme für die Zukunft einen besonderen Stellenwert, sagen die beiden Autoren. Sie zeigen dies an aktuellen Problemen wie Umweltzerstörung, Gewalt, Arbeitslosigkeit, Armut, ungerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen. Sie prangern aber nicht nur an, sondern stellen Lösungs-ansätze vor. Dabei dient ihnen die Ethik als Leitprinzip, mit dem sich eine lebenswerte Gesellschaft für die Zukunft entwickeln lässt. (Wald-gut Verlag, Frauenfeld, Fr. 38.–)

KÖNNEN SIE SINGEN?Music Star. Es ist zwar schon einige Zeit her, dass die Sekundarschüle-rin Börni Höhn an der EB Zürich einen Videokurs in Montage und Nachbearbeitung besuchte. Aber schon damals zeigte die junge Frau aus Wollishofen viel Engagement, wie Kursleiter Thomas Geser berich-tet. Nun setzt Börni Höhn ihre ganze Energie ein, um Music Star zu werden. Sie schaffte es nämlich mit ihrer kräftigen Stimme in den Final der zehn besten Kandidatinnen und Kandidaten und ist für viele die Geheimfavoritin. Falls sie es nicht schafft, «gross herauszukommen», wie sie sich das in einem Interview gewünscht hat, will sie trotzdem weitermachen. Gut so.

SPRECHEN SIE UBUNTU?Offene Quellen. Noch nie war das Umsteigen simpler und schonender für das Budget: Immer mehr Open-Source Programme präsentieren sich als ebenbürtige und kostenlose Alternative zu teurer Software. Paradebeispiel ist das unabhängige Betriebssystem Linux. Wie leicht die Umstellung auf Linux ist, zeigte der Open-Source-Förde-rer Matthias Stürmer Ende Januar in einer Präsentation im Lernfoyer am Beispiel von Ubuntu, der derzeit populärsten Linux-Distribution. Die Botschaft: Ubuntu beherrscht man schnell. Das Wort stammt aus Xhosa und Zulu und bedeutet sinngemäss: «Ich bin – weil ihr seid» und nimmt so die Open-Source-Idee des Teilens auf.

MÖGEN SIE HÜTE?Hauptsachen. Die Kopfbedeckung – Schutzfunktion, Mode und Machtdemonstration, heisst eine Ausstellung im Rätischen

Museum Chur, in welcher sich alles um Hüte dreht. Alte und neue. Die Kuratorin Anna Barbara Müller-Fulda hat dafür

zusammen mit dem Journalisten Michael T. Ganz einen Dokumentarfi lm realisiert: In «Eugen Fiebiger-Hüte und Mützen» zeigt ein Churer Hutmacher wie ein Hut

entsteht; Fiebiger betreibt an der Oberen Gasse in der Altstadt das letzte Churer Hutgeschäft – mit 86 Jahren. Hut ab! Das Video- und Dokumentierhandwerk haben Müller-Fulda und Ganz an der EB Zürich gelernt. Die Ausstellung wurde bis 9. April verlängert.

BEMERKENSWERT

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Sie: Auf jeden Fall! Unsere Schränke sind voll mit Dingen, die wir loswerden wollen. Zum Beispiel chinesische Nippes sowie Dekorationsartikel und Liebhabergeräte zum Thema Wein.Er: Im Keller lagern ausserdem 100 Kochbücher. Wir wollen auch Wein für einen Franken verstei-gern. Das Wertvollste am Online-Auktions-Kurs war für mich, dass ich das Umfeld kennen gelernt habe. Jetzt kann ich die Geschäfte professionell abwickeln. Wir haben uns eine Strategie für die Versteigerungen erarbeitet. Der Account bei Ricardo ist bereits eingerichtet. Sie: Mit den Auktionen begonnen haben wir aber noch nicht. Wir werden das Schritt für Schritt anpacken. Schliesslich müssen wir die Dinge erst noch fotografi eren. Aber neben meinem kaufmän-nischen Job bei der Swiss Life mache ich auch noch die Buchhaltung für unser Weingeschäft.Er: Und ich stehe im Winter drei Monate auf den Skiern. Dieses Jahr allerdings wurde ich an der Achsel operiert, nun bin ich im Büro einer Skischule. Im Sommer bin ich mit dem Camper unterwegs: Zuerst ist die Vinexpo in Bordeaux, da kriegt man meist kein Hotelzimmer mehr. Danach fahre ich nach Spanien und besuche die Produzenten.Sie: Campieren ist unser Hobby. Gerade über Neujahr waren wir in Willerzell am Sihlsee.

Er: Wir sind ziemlich häufi g an der EB Zürich.Sie (zu ihm): Du häufi ger als ich. Abgesehen von den Online-Auktionen habe ich nur noch einen Photoshop-Kurs besucht.Er: Meiner Frau ermöglicht auch ihr Arbeitgeber Weiterbildung. Ich hingegen bin selbständig in der Weinvermittlung tätig. Ich bilde mich ständig weiter, seit 2000 an der EB Zürich. Meist besuche ich Computerkurse. Der komplexeste Brocken war der Offi ce Supporter SIZ.Sie: Bezüglich der Online-Auktionen dachten wir, «learning by doing» ist zwar gut, aber wir haben die Informationen schneller, kompakter und ak tueller beisammen, wenn wir einen Samstag lang zur Schule gehen.Er: Wenn wir etwas machen, machen wir es richtig. Zum Beispiel habe ich mit Hilfe eines Coachings an der EB Zürich ein Weindegustationsprogramm entwickelt. Damit kann ein Weindegustator seine Notizen abspeichern. So etwas hat bisher nicht existiert. – Viele sagen, ich hätte doch keinen Online-Auktionskurs nötig gehabt, ich hätte selber heraus-gefunden, wie das funktioniert.

Aber auch wenn man kochen kann, geht man gerne mal ins Restaurant. Ich fi nde, der Kursbesuch hat sich gelohnt und ich habe doch einiges profi -tiert.

Wenn die Schränke überquellen

Unterm Hammer. Hansueli (57) und Luzia (55) Lüdi aus Au bei Wädenswil haben

gemein sam an einem eintägigen Kurs über Online-Auktionen an der EB Zürich teil-

genommen. Sie wollen Wein, chinesische Nippes und hundert Kochbücher übers

Internet versteigern. Von Anja Eigenmann. Bild: Luc-François Georgi.

Hansueli und Luzia Lüdi planenden Einstieg ins Online-Geschäft.

PORTRÄT

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Illettrismus. Gemäss der jüngsten Studie können in der

Schweiz 800 000 Erwachsene weder richtig schreiben noch lesen.

Um diesen Missstand zu beheben, braucht es Anstrengungen auf

verschiedenen Ebenen. Von Fritz Keller. Bilder: Fritz Franz Vogel.

Was steht da geschrieben?

ILLETRISMUS6

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«Am ersten Abend im Kurs brach für mich eine Welt zusammen. Es war das Eingeständnis, dass ich tatsächlich eine Lese- und Schreib-schwäche hatte. Zum Glück wur-den diese Gefühle im Kurs gut auf-gefangen, das hat mir geholfen.»Sandra G.* (Name von der Redaktion geändert) ist ausgebildete Klein-kindererzieherin. Inzwischen ist die 46-Jährige froh, dass sie den Schritt in einen Lesen-und-Schreiben-Kurs gemacht hat. Nach eindreiviertel Jahren fühlt sie sich deutlich siche-rer. «Auch wenn ich im Beruf nicht so viel schreiben muss, ich will es für mich können.»

Der 52-jährige Fredi Z. stand schon immer zu seiner Lese- und Schreibschwäche. Zwar wollte er bereits vor längerer Zeit das Pro-blem anpacken, mit Familie und Beruf aber fehlte die Musse. Nach-dem die Kinder grösser geworden waren, brachte eine Sendung im Fernsehen den entscheidenden Kick. «Jetzt ist der Moment gekom-men, sagte ich mir. Als Klärmeister einer Abwasserreinigungsanlage muss ich hin und wieder etwas auf-schreiben. Irgendwie ging es immer, aber mir fehlte die Sicherheit.»

Was heisst Illettrismus? So wie Sandra G. und Fredi Z. geht es vie-len. Sie wissen um ihre Lese- und Schreibschwächen, haben aber gelernt, damit umzugehen. In Beruf und Alltag haben sie es sich so gut wie möglich eingerichtet. Sie holen sich wenn nötig Hilfe bei Freunden und Bekannten, vertrauen auf ver-ständnisvolle Kolleginnen und Kol-legen und Vorgesetzte. So funktio-nieren sie bestens, verkaufen sich und ihre Anliegen so, dass andere nichts von ihrer Lese- und Schreib-schwäche wissen. Nur in den Betrof-fenen selber zehrt die mangelnde Sicherheit im Lesen und vor allem beim Schreiben. Die Wissenschaft bezeichnet dieses Phänomen als Illettrismus. Dieser unterscheidet sich vom Analphabetismus; letzte-rer betrifft Personen, die nie eine Schule besucht haben und also nie die Gelegenheit gehabt haben,

lesen, schreiben und rechnen zu ler-nen. Illettristen konnten das, haben es aber irgendwie «verlernt».

Unterstützungsangebote. Auch wenn die meisten Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten integriert sind und eine Arbeit und eine Familie haben, so ist es für sie doch schwierig, mit ihren Bildungs-lücken zu leben. Deshalb brauchen sie Unterstützung. In erster Linie ist hier der Staat gefordert. Als Antwort auf eine Petition mit dem Titel «Lesen und Schreiben: ein Recht!» (1999) beauftragte denn auch der Bundesrat das Bundesamt für Kul-tur (BAK), den Kampf gegen den Illettrismus als vorrangig ins Pfl ich-tenheft aufzunehmen. Das BAK koordiniert seither verschiedene Initiativen und Massnahmen und sorgt für fi nanzielle Unterstützung. Sichtbarer Ausdruck dieser Vernet-zungsarbeit ist das Webportal www.lesenlireleggere.ch.

Konkrete Angebote sind in der föderalistischen Schweiz Aufgabe der Kantone. Im Kanton Zürich ist es die EB Zürich, die zweijährige Lesen-und-Schreiben-Kurse anbie-tet. Parallel werden pro Semester fünf bis sechs Kurse geführt mit circa 60 bis 70 Teilnehmenden. Worauf gilt es bei der Arbeit mit lese- und schreibschwachen Erwach-senen besonders zu achten? «Wich-

tig ist es, die Teilnehmenden davor zu bewahren, dass sie traumatisie-rende Schulerfahrungen nochmals erleben müssen», sagt Adrian Tuch-schmid, der zusammen mit seiner Kollegin Silvia Herdeg, ein Fach-buch (siehe Kasten S. 11) zum Thema geschrieben hat. «Der Unterricht muss unbedingt an den Alltagser-fahrungen der Teilnehmenden anknüpfen. Aus der Schule be -kannte Bewertungsmuster haben da keinen Platz.» Deshalb ist es auch wichtig, dass die Teilnehmen den ihre Leistungen und Lernfort-schritte selber beurteilen können.

Selbstvertrauen stärken. Es geht also nicht hauptsächlich da-rum, zum x-ten Mal Rechtschreibre-geln und Grammatik zu vermitteln. Bevor überhaupt Neues – oder Altes neu – aufgenommen werden kann, müssen oftmals negative Lernerfah-rungen aufgearbeitet werden. Dazu gehört jenes Verfahren, das Herdeg und Tuchschmid entwickelt haben, um diese unerfreulichen Erlebnisse in früheren Lernphasen zu verarbei-ten. (siehe Kasten S. 11). Oftmals mangelt es auch nur am Selbstver-trauen. Um auch diesen «ausser-sprachlichen» Problemen genügend Raum zu geben, werden die Kurse an der EB Zürich immer mit zwei Lehrpersonen durchgeführt, im Ideal fall von einem Mann und einer

ILLETTRISMUS

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fenen daran teil. «Das ist unsere grosse Schwierigkeit, die Leute dazu zu bringen, etwas an ihrer Situation zu ändern», sagt Hans-Peter Hauser, Rektor der EB Zürich. Vor kurzem ist er in den Vor stand des Ende letz-ten Jahres neu gegründeten Schwei-zer Dachverbandes Lesen und Schreiben gewählt worden. «Es gehört zu unseren Prioritäten, eine umfassende Sensibilisierungskam-pagne zu lancieren. Lese- und Schreibschwäche darf kein Tabu-thema sein. Wer einen Lese-und-Schreiben-Kurs besucht, darf nicht diskriminiert werden.»

Tatsache ist, dass oft Jahre ver gehen, bis Betroffene ihre Lese- und Schreibschwäche an gehen. Die Teilnahme an einem Kurs führt praktisch immer über Umwege. Viele wissen gar nicht, dass es ein solches Angebot gibt und müssen von Freundinnen oder Bekannten darauf hingewiesen wer-den. Auch bei Sandra G. war es ein befreundeter Arzt, der sie motiviert hat. Bis sie sich tatsächlich an meldete, musste sie nochmals eine innere Barriere überwinden. Wer nicht lesen und schreiben kann, wird schnell einmal als dumm abge-stempelt. Verständlich, wenn Ein-zelne sich nicht trauen, in ihrem Umfeld vom Besuch des Lese- und Schreiben-Kurses zu erzählen.

Frau. Die eine Person deckt eher den methodisch-didaktischen Teil ab, die andere den psychologischen Teil.

Ziel ist es nicht, dass die Teil-nehmenden fehlerfrei schreiben können. Aber sie sollen Vertrauen fassen, um sich schriftlich aus-zudrücken. Und diese Sicherheit er öffnet neue Horizonte. «Span-nend ist es, wenn die Teilneh-menden durch positive Lernerfah-rungen sich dann auch in andern Bereichen neue Ziele setzen», sagt die erfahrene Kursleiterin Ursula Bänninger. «Plötzlich traut sich jemand zu, die Autofahrprüfung zu machen oder gar eine Ausbildung zu beginnen.» Es müssen aber nicht immer die grossen Lernschritte sein. «Wenn einer der Teilnehmenden den andern ein Buch vorstellt, das er gelesen hat, dann ist das sehr ermu-tigend», meint Bänninger. Zu solch eigenständigen Aktivitäten möchte sie ihre Teilnehmenden führen.

Öffentlichkeitsarbeit. Wer also einen Kurs besucht, hat alle Chan-cen, seine Lese-und-Schreib-Pro-bleme in den Griff zu bekommen. Genau besehen sind diese Kurse jedoch nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Gemessen an der Zahl von lese- und schreibschwa chen Per-sonen in der Schweiz, nimmt nur ein kleiner Bruchteil der Betrof-

Einmal las ich

ein Inserat in der Zeitung…

Einmal las ich ein Inserat in

der Zeitung von einer Stelle

in einer Brockenstube. Ich

rief an, hoppla, eine Bewer-

bung schreiben. Scheisse,

das kann ich nicht. Blitz-

schnell kombinierte ich und

sagte, ich hätte den rechten

Arm gebrochen und könne

nicht schreiben, ob ich

nicht einmal vorbeikommen

könnte. Ich könne vorbei

gehen, hörte ich aus dem

Hörer. So, was nun? Den Arm

brechen? Ich holte schnell

Gips und Verbandsstoff und

gipste mir den Arm ein. Die

Stelle habe ich bekommen.

Aus dem Buch:

Der Direktor gibt der Sekretärin den Auf-

trag, einen Rolls Royce zu kaufen.

Lesen und Schreiben für Erwachsene.

Erschienen im Verlag mit dem Pfeil im Auge,

Einsiedlerstrasse 34, 8820 Wädenswil.

ILLETTRISMUS

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Bündelung der Kräfte. Aufklä-rungsarbeit ist also vonnöten. Das betont auch die Bildungsforscherin Silvia Grossenbacher, die sich als Mitglied des Schweizerischen Komi-tees zur Bekämpfung des Illettris-mus für dieses Ziel einsetzt. «In einer modernen Wissensgesellschaft wie der unseren werden die Men-schen stark über ihre Sprachfähig-keiten, übers Lesen und Schreiben defi niert», betont Grossenbacher, «wer da nicht mithalten kann ent-wickelt schnell einmal Schamge-fühle.» Das Komitee versuche insbe-sondere aufzuzeigen, dass die Risiken des Illettrismus auf die ganze Lebensspanne verteilt sind. «Wichtig ist deshalb, dass die betei-ligten Organisationen und Instituti-onen zusammenarbeiten, um dieses Problem in den Griff zu bekom-men», fügt Grossenbacher hinzu.

Neben der Notwendigkeit von Aufklärung und Prävention besteht aber ohne Zweifel kon-kreter Handlungsbedarf. Das zeigt auch die sogenannte ALL-Studie (Adult Literacy an Life Skills Sur-vey), die 2003 in verschiedenen Län-dern startete, gewissermassen als «Pisa-Test» für Erwachsene. Gemäss dieser Studie können in der Schweiz 800 000 Erwachsene weder richtig lesen noch schreiben. Wenig überra-schend sind viele Immigrantinnen

Arbeit an der Lernbiografi e

In fünf Sequenzen wird versucht, einschneidende Schul-

erlebnisse zu integrieren, gewissermassen mit ihnen

ins Reine zu kommen. Was hier etwas verkürzt wiederge geben

wird, ist in der Praxis ein Prozess, für den einige Zeit auf-

gewendet wird.

1. Sequenz: Text erstellenDie Teilnehmenden erinnern sich an ein eigenes, negativ belastetes Ereignis und bringen dies zu Papier. Beispieltext:

In der Schule musste ich manchmal vorlesen. Das konnte ich nicht gut. Dann lachten die Schüler. Ich fühlte mich ganz schlecht. Der Lehrer sagte nichts.

2. Sequenz: Brief an verletztes KindDie Teilnehmenden werden aufgefordert, sich in das Kind von damals einzu-fühlen und zu fragen, was es braucht bzw. was ihm gut tun würde. Das soll in einem Text festgehalten werden. Beispieltext:

Liebe kleine RegulaIch weiss, dass du dich geschämt hast. Du musst dich nicht schämen. Du wirst später noch lernen. Es ist nie zu spät.Viele Grüsse von Regula

3. Sequenz: Brief an verletzende PersonDie Teilnehmenden schreiben als heutige Erwachsene einen anwalt-schaftlichen Brief für das kleine Kind. Beispieltext:

Sehr geehrter Herr WeberWenn mich die Schüler auslachten, weil ich nicht gut lesen konnte, haben Sie nichts gesagt. Sie hätten sagen sollen: «Lacht nicht!» Das hätte mir gut getan.Mit freundlichen Grüssen Regula Berger

4. Sequenz: Brief von verletzender PersonDie Teilnehmenden sollen aus Sicht der verletzenden Person einen Brief schreiben. Beispieltext:

Sehr geehrte Frau BergerEs tut mir Leid, dass ich nichts gesagt habe. Ich hatte nicht genügend Verständnis damals. Ich entschuldige mich.Gustav Weber

5. Sequenz: AbschlussritualDie Teilnehmenden scheiden ihre einzelnen Texte aus und kleben sie auf ein grosses, farbiges Papier. Somit liegt die über einen längeren Zeitraum verteilte Arbeit als Ganzes überschaubar vor. Mit einem Versöhnungsritual wird die Arbeit zu einem Abschluss geführt.

Beispiel aus dem Buch: Lesen und Schreiben für Erwachsene, Silvia Herdeg und Adrian Tuchschmid, Bern 2003, Fr. 39.–

ILLETTRISMUS

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schwäche führen. «Wir konzentrie-ren uns auf die biografi sche Hypo-these. Konkrete Resultate können wir aber im Moment noch nicht vorweisen», sagt Notter.

Sind die Ursachen des Illettris-mus dereinst bekannt, so kann noch gezielter etwas dagegen getan werden. Sicher muss das Pro-blem von verschiedenen Seiten her angegangen und mit verschiedenen, koordinierten Ansätzen im ganzen Bildungsbereich bekämpft werden. Das beginnt in der Primarschule, wo laut neuster Pisa-Studie erste Erfolge zu verzeichnen sind. Hans-Peter Hauser zeigt sich auch zuver-sichtlich, was die Arbeit mit Erwach-senen anbelangt: «Wichtig ist es, dass wir uns intensiv und professio-nell um Lösungen bemühen und lese- und schreibschwache Personen nicht einfach ausgrenzen. Was sie brauchen, ist Unterstützung, damit sie zu ihrer eigenständigen Sprache fi nden.»

Mittwochabend. Konzentriert schreiben Sandra G. und Fredi Z. und ihre Kolleginnen und Kollegen die Sätze auf, die sie gemeinsam ent-wickelt haben und sich nun gegen-seitig diktieren. Nun schreiben alle die Sätze der andern auch noch auf. Bevor die Teilnehmenden die Sätze selber korrigieren, machen sie für sich noch eine Fehlerprognose. Das

und Immigranten darunter. Doch zu glauben, die hohe Zahl von lese- und schreibschwachen Menschen setze sich nur aus Ausländerinnen und Ausländern aus bildungsfernen Schichten zusammen, ist falsch. Zwei Drittel dieser Personen sind Schweizerinnen und Schweizer, die durchaus Zugang zum Schulsystem hatten. Bemerkenswert ist, dass die Lese- und Schreibkompetenzen mit zunehmendem Alter eher abneh-men.

Wo liegen die Ursachen? Als Projektleiter ist Philipp Notter vom Institut für Bildungs evaluation in Zürich daran, den Ursachen des Illettrismus im mittleren Erwachse-nenalter nachzuforschen. «Grund-sätzlich gibt es drei Hypothesen: eine schulische, eine historische und eine biografi sche», sagt der For-scher. Bei der ersten, so wird ange-nommen, läuft in der Schule einiges falsch, so dass viele Personen in eine Lese- und Schreibschwäche hinein-rutschen. Bei der historischen Hypo-these wird angenommen, dass die Ausbildung zu bestimmten Zeiten nicht optimal war, zum Beispiel nach dem Krieg, so dass vor allem Vertreterinnen und Vertreter einer bestimmten Generation betroffen sind. Die biografi sche Hypothese geht von individuellen Gründen aus, die zu einer Lese- und Schreib-

ist spielerisch wie beim Differenz-ler: «Null angesagt und null ge macht» oder «Drei angesagt und fünf gemacht». Die Selbsteinschät-zung hilft, das Resultat, so wie es ist, zu akzeptieren.

Sandra G. und Fredi Z. sind sich einig. Der Lese-und-Schreiben-Kurs hat sie vorangebracht. Genos-sen haben beide, dass sie in einer Gruppe mit andern an ihrem Pro-blem arbeiten konnten. Und posi-tive Rückmeldungen sind da. «Mein Chef hat mir gesagt, dass er die Fort-schritte merke, das hat mich sehr gefreut», sagt Fredi Z. und seine Augen leuchten. Sandra G. ist ein wenig zurückhaltender: «Ganz so weit, wie ich gerne möchte, bin ich leider nicht. Wie gut ich schreibe, hängt stark davon ab, wie ich mich fühle. Aber ich mache weiter, denn jedes Mal, wenn ich am Mittwocha-bend den Kursraum verlasse, mache ich das mit einem guten Gefühl.

Illettrismus oder Illetrismus?

Ist das die Ironie der Recht-schreibung, dass gerade bei diesem Wort, das eine Schreib-schwäche bezeichnet, nie-mand im deutschsprachigen Raum ganz sicher ist, wie es sich schreibt. Der Duden gibt die Version mit einem t vor, wer googelt fi ndet rund 20 000 Ein-träge mit zwei t und nur 1700 mit einem t. Wer kann das er klären? Wir haben uns für die Version mit zwei t entschie-den; sie ist in der Schweiz üblicher.

ILLETRISMUS

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Kurse aus dem Bereich

Informatik:

Schutz vor Gefahren

aus dem Internet

Treffen Sie die richtigen

Vorsichtsmass nahmen.

Einführung ins E-Banking

Richtig ver schlüsselt

besteht keine Gefahr.

Weitere Infos und

Anmeldung unter

www.eb-zuerich.ch

Illustration:

Eva Kläui

Nicht lustig. Der Boom des Internets in den vergangenen Jahren

führte dazu, dass sich elektronische Schädlinge rasant in der

ganzen Welt ver breiteten. Was als Jugendspass begann, kostet

die Wirtschaft mittlerweile Millionen.

Viren und Co. grassieren immer noch im Netz. Aber heutige

Cyber kriminelle haben es nicht unbedingt auf Zerstörung abge-

sehen. Sie entwickeln immer raffi niertere Methoden, um an

vertrauliche Daten von Internetnutzern zu gelangen. Sie wollen

Bankkunden dazu bringen, ihre sensiblen Kontodaten auf ge-

fälschten Servern einzugeben. Tätigt der Kunde dann eine Über-

weisung, so gibt er seine Zugangsdaten zu seinem Konto direkt

an die Hacker weiter. Für die ist es dann ein Leichtes, die Daten

zu ihrer fi nanziellen Bereicherung zu nutzen.

Auch hinter der Flut von unerwünschten und zeitraubenden

Werbemails (SPAM) steckt mittlerweile ein kriminelles Millio-

nengeschäft. Spammer und Hacker arbeiten dabei zusammen,

um E-Mail-Systeme nach Schwachstellen abzusuchen und über

Hintertüren in private PCs einzudringen. Einmal eingenistet,

merken sich Programme die Passwörter für On line-Auktionen,

Zugangsdaten zu Konten oder Kreditkartennummern und leiten

diese automatisch an ihre «Auftraggeber» weiter.

Wie schützen? Die folgende Checkliste zeigt, welche Sicher-

heitsvorkehrungen auf dem eigenen PC zu treffen sind :

1. Antivirensoftware installieren und regelmässig

aktualisieren

2. Software- oder Hardware-Firewall korrekt einrichten

3. Anti-Spy-Software installieren

4. SPAM-Filtersoftware installieren

5. Automatische Windows-Updates herunterladen

6. Einstellungen im Betriebssystem, Browser und

E-Mail-Programm restriktiv handhaben

7. Risikoarmes Verhalten im Internet pfl egen und

verdächtige Websites meiden

Viren, Würmer, Trojaner

TIPPS UND TRICKS

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«Goethe schrieb: Das Rauchen macht dumm, es macht unfähig zum Denken und Dichten.» Ivar Breitenmoser zün-det sich eine Davidoff Tubos No. 2 an. Er zieht daran, bläst aus und sagt: «Was für ein Schwachsinn. Freud, Einstein, Brecht und die ganze Denk- und Künstlerszene – sie alle haben Zigarren geraucht. Zigarren-, Pfeifen- und Zigaret-tenrauch sind mit grossen Kulturleistungen verbunden.» Rauchen, spricht Breitenmoser durch die Wölkchen, sei ein bedeutender Brennstoff der Kultur.

Und weiter: «Durch das Rauchen bekommt der Mensch Distanz zum Geschehen, sagt Brecht.» Auch Ivar Breitenmo-ser – der selbstverständlich für Nichtraucher- und Jugend-schutz ist – gewinnt Abstand und Übersicht, wenn er sich daheim beim Arbeiten eine Zigarre anzündet. Und das nicht erst, seit er an einem Essay über die «Liaison zwischen Tabak-genuss und Schöpferkraft» schreibt. Nein, die Zigarren gehören zu seinem Leben wie die Wörter. Beide sind für ihn ein «Triebstoff».Wörter im Ruhestand. Doch zuerst zu den Wörtern, die in Ruhe gelassen werden wollen. Es sind diejenigen Wörter, die Ivar Breitenmoser nicht verfremden darf, weil er sonst seine fremdsprachigen Schülerinnen und Schüler verwirren würde: Seit 32 Jahren erläutert Ivar Breitenmoser im Kurs Deutsch für Fremdsprachige der EB Zürich die wichtigsten Wörter für den Schweizer Alltag. So hat er bereits sein Germanistik- und Geschichtsstudium fi nanziert. Zu unterrichten ist bis heute ein geliebtes und starkes Standbein geblieben.

Genauso wie Zürich seine Heimat geblieben ist. 1972 zog er aus der «beengenden Kartonschachtel» des Kantons Glarus in die Zwinglistadt. Seither hat er die Stadt nie für längere Zeit verlassen. Zwar wäre er gern einmal für eine Weile ins Ausland gezogen. Doch er wollte seine Familie in Zürich verwurzeln und scheute die fi nanzielle Unsicherheit, die das Aufgeben seiner Anstellung mit sich gebracht hätte. Der Mann mit dem Wikinger Vor- und dem Urschweizer Nachnamen harrte aus, wo er war. Dafür kam die Welt mit ihren bunten Gesichtern in seinen Kursraum. Wörter gegen das Schweigen. Und dann gibt es noch die anderen Wörter, mit denen Ivar Breitenmoser als wortver-drehender Lyriker und Plakatkünstler bekannt wurde. Die knappe Frage «Schweigz?» prangte auf Fahnen in der Ost-schweiz und auf Plakatständern im Vorfeld der Abstimmung über den Beitritt der Schweiz zur UNO. Sie verlangte Antwort

Von Flüchtigkeit und Erdung.

Ivar Breitenmoser vermittelt Fremdsprachigen

an der EB Zürich die Bedeutung wichtiger Wör-

ter. Privat liebt er es, Wörter zu verfremden.

Als Plakatkünstler regt er eilige Passanten zum

Nachdenken an. Von Anouk Holthuizen. Bilder: Reto Schlatter.

Flüchtiger Rauch und

PERSÖNLICH

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auf die Frage: Will die Schweiz mitreden oder draussen bleiben? Breitenmosers «künstlerischer Einwurf für eine Schweiz in der UNO» wurde von Privaten fi nanziert.

Die Tatsache des (Ver)Schweigens benutzte Breitenmoser auch als Motiv für die Kampagne gegen Steuerhinterziehung der Nichtregierungsorganisation Erklärung von Bern im Jahr 2004. Dieses Mal wies er mit der Abbildung eines geschlossenen Mundes, der sich beim Vorbeigehen öffnete, darauf hin, dass Stummheit bei gewissen Themen nicht erwünscht ist. Für dieses animierte Bild arbeitete Breitenmoser mit der Lentikulartech-nik.Findige Tochter. Subtiler war sein grosses, blaues «Zzart», welches er über die letzte Seite des Stadtzürcher Telefonbuchs druckte. Das Sujet hing im Grossformat in der ganzen Stadt und in den VBZ. Inspiriert hatte ihn seine 10-jährige Tochter, die im allerletzten Namen des Telefonbuches, Zzart, ein z zu viel fand. Breitenmoser erkannte in dem sonderbaren Namen den Gegen-entwurf zum kühlen, unzarten, vom Z (wie Zaster?) dominierten Zürich und konfrontierte die Stadtzürcher Öffentlichkeit ent-sprechend mit seiner Plakatlyrik.Lyrik multimedial. Seine Plakataktionen sind für Breitenmoser «engagierte Poesie, die den rasanten Schritt des Passanten abbremsen will». Plakatlyrik sieht er als seine Erfi ndung. Einige seiner Gedankenanschübe werden von Firmen und Organisati-onen getragen oder in Auftrag gegeben. Andere fi nanziert die Allgemeine Plakatgesellschaft APG, die normalerweise für kom-merzielle Unternehmen wirbt. Andere Künstler sind inzwischen auf diesen Zug aufgesprungen. Und für noch eine Darbietungs-art der Poesie beansprucht der Mann mit der charakteristischen Glatze Urheberschaft: der Poesie-Clip, ein computeranimiertes Gedicht. Sein Lyrikprojekt «Zürich tanzt Bolero» etwa ist ein Mix aus Wörtern, Bildern und Tönen – eine Einladung zu einer City Tour in Buch- und DVD-Form. Bodenständiger Künstler. In der Verdichtung von Sprache kann Breitenmoser Gefühle und Gedanken «erden». «Erst wenn ich sie sprachlich erfasst habe, ruhen sie in mir. Unausgespro-chenes befi ndet sich in fl irrendem Schwebezustand. Eine sprach-lich geglückte Formulierung ist für mich ein Glücksmoment.» Und weil er gerne erdet, fühlt sich Ivar Breitenmoser heute auch zu Naturwissenschaften hingezogen, die Erden studieren, die eigene (Geologie) oder fremde (Astronomie). Etwas, das ihn während seiner Studienzeit nicht interessierte.

Als typischen Künstler sieht sich Ivar Breitenmoser jedenfalls nicht. «Ich habe drei Kinder, fahre gerne Töff-Cruiser und gehe drei Mal die Woche ins Fitnesscenter». So etwas sei in der Künst-lerszene verpönt. «Das einzige, was ich mit Künstlern gemeinsam habe, ist meine Liebe für gutes Essen und Saufen.» Sagts und zündet sich die zweite Zigarre an.

Für Ivar Breitenmoser ist blauer Dunst Treibstoff für seine Kreativität.

nd bleibende Wörter

PERSÖNLICH

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Ihre Köpfe rauchen für die

Durch die grosse Halle der Berufsmaturitätsschule (BMS) an der Lagerstrasse in Zürich tönt zart Sirtaki-Musik. Ansonsten ist es still. Nur ganz oben im vierten Stock ist leises Gemurmel aus vier Klassenzimmern zu hören. In einem sitzen achtzehn junge Frauen und Männer lauschen ihrem Lehrer Martin Waldmann – und dabei ist ihnen ganz und gar nicht nach griechischem Tanz zumute. Das Thema Zinsrech-nungen verursacht Stirnrunzeln und zusammengekniffene Augen. «Ich chume überhaupt nöd druus», stöhnt Sabrina Looser. Sie ist im letzten Jahr ihrer Lehre als Dentalassistentin. Die letzte Mathematikstunde liegt drei Jahre zurück, und schon damals bestand keine enge Freundschaft zum Fach. Immerhin hat sich die Bezie-hung dank des Intensiv-Vorberei-tungskurses für die Aufnahme in die Berufsmittelschule verbessert. Wenn es zeitlich drin liegt, löst sie jeweils die freiwilligen Aufgaben für die nächste Lektion. Zehn Lek-tionen à 135 Minuten sind bereits hinter ihr, die letzten acht will sie auch schaffen. Unbedingt. Denn sie möchte nicht länger als Den-talassistentin arbeiten, sondern als Hebamme oder Physiothera-peutin. Und für die Ausbildung an der Fachhochschule braucht sie die Berufsmatur. Im März und Mai sind die Aufnahmeprüfungen. Immer mehr Frauen. Als Frau ist Sabrina Looser im Kurs in der Mehrheit. Frauen, die den gesund-

Die Berufsmatura lässt

sich auch nach einer

Lehre noch nachholen.

Der Zugang zur Berufs-

maturitätsschule führt

über eine Aufnahme-

prüfung. Um diese zu

bestehen, frischen jun ge

Frauen und Männer

ihre Kenntnisse auf.

Von Anouk Holthuizen.

Bilder: Reto Schlatter.

KURSFENSTER

heitlich-sozialen Sektor zahlenmässig dominieren, haben im Fach Mathematik grössere Lücken als die Lehrenden in technischen und gewerblichen Berufen, die mehrheitlich männlich sind. Erstere haben viel weniger Mathematik in der Ausbil-dung. In den letzten Jahren hat die Zahl der Frauen in den BMS-Vorbereitungskursen noch zugenommen. Grund dafür ist die seit 2002 neu bestehende Ausbildung zur Fachangestellten Gesundheit. Sie ist beliebt – doch viele stellen während der Lehre fest, dass die Möglichkeiten für eine berufl iche Weiterentwicklung gering sind. Türöffner. Die Schranken des Arbeitsmarktes zu überwinden ist für alle Teilneh-menden des BMS-Vorbereitungskurses Mathematik die Motivation, in ihrer Freizeit zu büffeln. Die 18-jährige Katharina Müller zum Beispiel kommt direkt von der Arbeit in den Kurs, das Abendessen nimmt sie im Bus ein. Die Lehre als Landschafts-gärtnerin entfachte in ihr kein Feuer. Einen konkreten Berufswunsch hegt sie zwar nicht, aber: «Ich möchte, dass mir mehr Türen offen stehen als jetzt», sagt sie, «irgendwas im Bereich Architektur kann ich mir vorstellen.» Mit der Mathematik hat sie bisher kaum Probleme.

Auch für Leo Dietrich war eine unbefriedigende Lehre der Antrieb, die BMS-Vor-bereitungskurse zu besuchen. Als Medien-Dokumentalist fühlt er sich unterfordert – der Sektor gefällt ihm aber. An der Uni möchte er gerne Kommunikationswissen-schaften studieren. Anders als Katharina fi ndet er den Mathe-Kurs schwierig. «Ich bin eher der Sprachen-Typ», sagt er. Um sich gut für die BMS vorbereiten zu können, hat er sein Arbeitspensum extra auf vierzig Prozent reduziert. Seinen Versuch im letzten Jahr, die kantonale Maturität für Erwachsene (KME) berufsbegleitend zu absolvieren, musste er aufgeben: «Zu stressig!» Jetzt geht er den Weg via BMS und anschliessender einjähriger Passerelle.

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Lieber Fachhochschule als Uni. Wer die Berufsmatur absolviert, ist danach an einer Fachhochschule zugelassen, ebenfalls zur verkürzten Ausbildung an der KME und eben für eine Passerelle. Letztere dauert nochmals zwei bis drei Seme-ster und eröffnet die Teilnahme an der Aufnahmeprüfung für die Universität oder die ETH. Doch laut Martin Waldmann ist ein universitärer Abschluss für die wenigsten Kursteilnehmenden ein Thema. «Sie haben alle eine Berufsausbildung und möchten in der Praxis bleiben. Sie erhoffen sich mit der Berufsmatur ganz allgemein auf dem Arbeitsmarkt bessere Chancen.»

Im BMS-Vorbereitungskurs Mathematik wird der ganze Sekundarschulstoff in achtzehn Lektionen durchgenommen. «Die Mehrheit der Kursabsolventen erzielt gute Resultate bei der BMS-Aufnahmeprüfung», erzählt Waldmann. Und das, obwohl die Teilnehmenden oft seit Jahren wenig bis keine Mathematik angewandt hätten. Freiwillig können sie zu Hause Aufgaben lösen, laut Waldmann umfasst der wöchentliche Arbeitsaufwand zirka zweieinhalb Stunden. «Viele der Teilnehmenden sagen, dass sie gerne mehr üben würden, aber sie sind zu stark in den Arbeitsprozess eingebunden und bringen keine Energie auf.» Dennoch spüre er eine hohe Motivation. Waldmann legt den Kurs so, dass auch mitkommt, wer die Hausaufgaben nicht gelöst hat. Wichtig ist das Ziel, die Prüfung zu beste-hen. Der Weg dahin ist bisweilen verschieden. Wie fi nanzieren? Rund die Hälfte der Kursteilnehmenden befi ndet sich noch in der Lehre, die andere Hälfte hat sie abgeschlossen. Mit 27 Jahren ist Kilian Marty der älteste. Er liebäugelt mit dem Beruf Physiotherapeut, obwohl er aus einer ganz anderen Ecke kommt. Der gelernte Automechaniker und Detailhandelsspe-zialist kam auf unkonventionellem Weg zu seinem Traumberuf: Der leidenschaft-

liche Snöber lernte durch seine vielen Unfälle die Arbeit der Phy-siotherapeuten kennen. Während er sich auf einer langen Reise Gedanken über die berufl iche Zukunft machte, kam ihm die Erleuchtung. Mit seinen Erspar-nissen will er sich die nächsten Jahre an der BMS und der Fach-hochschule fi nanzieren. Auch darin unterscheidet sich Kilian von seinen Mitschülern: Er, der seit Jahren alleine lebt und berufstätig war, muss alleine für die Weiter-bildung aufkommen, während die meisten der restlichen Teilneh-menden noch bei den Eltern woh-nen und von diesen auch fi nanzi-ell unterstützt werden.

Nicht auf viel Unterstützung kann Olivier Mächler zählen. Auch er muss dazuverdienen.Der Hochbauzeichner im dritten Lehrjahr träumt von einem Beruf im Bereich Design. Doch er wartet nicht nur ab. Der 19-Jährige ist am Aufbau einer Uhren- und Kleider-marke. «In zwei Jahren möchte ich damit Geld verdienen. Wenns gut läuft, bezahle ich damit die BMS. Sonst muss ich jobben gehen.» Die Aufnahmeprüfung für die BMS macht er im März extra ein Jahr vor seiner Lehrabschlussprüfung. «Damit es keinen Stress gibt.» Den Kurs fi ndet er einfach. «Ich bin wohl einer der wenigen, die draus-kommen», sagt er selbstbewusst. Die anderen haben ja auch noch zwei Monate Zeit.

e Zukunft

Konzentration ist angesagt, die Aufnah me-prüfung in Mathematik motiviert.

KURSFENSTER

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Im Gespräch. Als scharfzüngig,

arrogant und teufl isch provokativ

gilt der Satiriker Andreas Thiel.

Kaum jemand vermutet, dass der

36-Jährige für Gottes Lohn vor

katholischen Ordensschwestern und

-brüdern in Taiwan spielt.

Und dass es ihm als Privatmann

zuweilen die Sprache verschlägt.

Von Anja Eigenmann. Bilder: Bruno Alder, Vinzenz Wyser.

INTERVIEW

Ein eloquenter

EB Kurs: Man hört, du seist ein Dandy mit scharferZunge und gefährlichen Gedankengängen, der Intellektsei deine erogene Zone, die Sprache dein Laufsteg. Was stimmt von diesen Aussagen?Andreas Thiel: In jeder Bühnenfi gur steckt ein Teil des Schauspielers drin. Du nimmst deine entsprechenden Charakterzüge und blähst sie auf. Meine Figur ist arrogant. Darin kommt meine eigene Arroganz zum Zug. Daneben bin ich – wie viele Komiker – ein eher ernsthafter Mensch. Ich kann dasitzen, zuschauen. Ich bin Pessimist, was das Weltgeschehen betrifft. Wenn man die Zeitung liest, begegnen einem Mord und Totschlag und Vergewaltigung – grausam! Im Grunde kann man sich gleich die Kugel geben. Mein Umgang damit ist der Galgenhumor. Den bringe ich auf die Bühne. Ich reisse dem Teufel die Maske vom Gesicht und lasse die Leute das Böse auslachen. Also steckt hinter deiner Satire ein sehr pessimistisches Weltbild?Sagen wir: ein gemischtes. Ich glaube beispielsweise nicht daran, dass der Mensch grundsätzlich gut und alles eine Frage der Erziehung und des gesellschaftlichen Umfeldes ist. Ich glaube, dass jeder für sich verantwortlich ist, egal, wie er erzogen wurde. Wenn jemand einen anderen umbringt – auch im Affekt – hat er sich dazu ent-schieden. Und das kann man mit nichts entschuldigen. Ich glaube, dass es immer Krieg, Mord und Tot-schlag geben wird.

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Und wo bleibt in diesem Weltbild das Positive?Ich fi nde, in der Welt herrscht ein erstaunliches Gleichge-wicht zwischen Gut und Böse. Deswegen bin ich gegen die Todesstrafe. Ich habe das Gefühl, wenn man einen Mörder hinrichtet, wird bereits der nächste geboren, weil es wieder Platz hat für einen. Ich bin ein gläubiger Christ. Ich glaube an Reinkarnation, sehe das Leben als eine Art Bewährungsprobe. Ich denke, es wird immer so viel Gutes geben, dass das Leben auszuhalten ist. Man erlebt dich immer als eloquent und treffsicher. Gibt esauch Situationen, in denen es dir die Sprache verschlägt?Natürlich bin ich auf der Bühne treffsicher, weil ich gut auswendig gelernt habe. Im Alltag bin ich fast ein bisschen Legastheniker, ich stottere leicht. Ich weiss oft nicht, was sagen. Aber im Hinterkopf beschäftige ich mich damit. Nach einem langen Prozess kommen mir Gedanken dazu, und daraus entstehen dann Kolumnen oder Texte für die Bühne. Dies meist in Form von Satire. Aber das ist ein gefähr-liches Metier, denn Satire wird oft falsch aufgenommen. Denkst du, du wirst vom Publikum verstanden?Meine Satire richtet sich eher an ein gebildetes Publikum. Menschen, welche politisch nicht gebildet sind oder keine zwei Stunden Text an einem Abend aufnehmen können, sind bei mir falsch, deswegen spiele ich lediglich in Klein-theatern. Nur, weil die meisten Leute den «Blick» lesen, muss man ja nicht die «NZZ» abschaffen. Ich versuche, meine Auftritte so zu gestalten, dass ich mindestens 70 Prozent des Publikums erreiche. 10 bis 30 Prozent sind immer dabei, denen eine Darbietung nicht gefällt.Auf älteren Fotos hast du geschorene Haare, eine rundeBrille, Bart – du warst der Intellektuelle. Jetzt mit denlangen Locken bist du eher der Mafi oso, der Dandy. Ist das nur eine Wandlung der Bühnenfi gur oder stecktauch eine Persönlichkeitsveränderung dahinter?Da steckt Verschiedenes dahinter. Ich war 25, als ich zusammen mit Jean-Claude Sassine mit literarischem Kabarett begann. Damals hatte ich so lange Haare wie heute. Mein Regisseur, Paul Weilenmann, sagte, das geht so nicht, du siehst zu jung aus für deine Figur, du musst so alt und elitär wie möglich wirken. Also schnitt ich mir eine Glatze und liess mir einen Schnauz wachsen. Plötzlich kam die Mode, alle hatten Glatzen. Folglich liess ich die Haare wachsen. Ausserdem wollte ich nicht mein Leben lang zusammen mit Sassine «die zwei Glatzen» sein.Und mit den langen Locken hast du eine neue Bühnenfi gur erschaffen?Sie hat eine Kurve gemacht. Zuerst war sie der harte Ober-lehrer, der Böse. Jetzt ist sie der sophisticated Geniesser, der Dandy mit dem Champagner in der Hand, der sich herablassend über die Welt äussert und ein bisschen über Gott philosophiert. Aber im Grunde trägt er einfach nur schöne Kleider. Die Figur hat weiche Züge bekommen, ist aber noch immer elitär.

Als diese Figur hast du Auftritte am HumorfestivalArosa, in Burgdorf, Zürich, auch im Ausland. Du schreibst Kolumnen für den Nebelspalter und dieBerner Zeitung. Du moderierst die Sendung «Comedyim Casino». Du tanzt auf vielen Hochzeiten. Ist das nicht stressig?Ich fühle mich sicher ein- bis zweimal pro Jahr überlastet. Aber im Gegensatz zu Stress in einem Bürojob sind die Spitzenzeiten im Theater verbunden mit einer grossartigen Abwechslung: Mehr verschiedene Orte, mehr Reisen, mehr neue Erlebnisse, mehr neue Leute. Im Theater ist alles überdimensioniert: Wenn etwas schlecht ist, ist es grässlich schlecht. Eine missglückte Vorführung bedeutet nicht nur, dass du ein schlechtes Resultat abgeliefert hast. Das ganze Publikum sieht es, du spürst es am Applaus. Auf der anderen Seite kann ein gutes Resultat viel befriedi-gender sein, als wenn dir der Chef anerkennend auf die Schulter klopft.Du hast 2004 und 2005 ziemlich Preise abgeräumt.Angefangen hat es 1999 mit dem «Salzburger Stier».Steigt dir das nicht langsam zu Kopfe?Es ist lustig mit diesen Preisen: 1997 gingen Sassine und ich zusammen auf die Bühne. 1998 wurde entschieden, dass wir den Stier bekommen. Wir waren total überrum-pelt. Mit der Zeit merkten wir: Es gibt Preise wie Sand am Meer – und die müssen immer jemandem verliehen wer-den. Das heisst, früher oder später muss man jeden Preis mal bekommen. Das ist gut, das ist Gratiswerbung. Deine Waffe ist ja hauptsächlich die Sprache. Und du warst mehrmals im asiatischen Raum auf Tournee, vorwiegend in Taiwan. Dort greift diese Waffe gar nicht. Bist du vor Ausland-schweizern und -deutschen auf getreten?Ich habe auf diesen Tourneen ganz viel Verschiedenes gemacht. Unter anderem Auftritte, die von Goethe-Insti-

«Ich bin Pessimist, was das Welt-

geschehen betrifft. Mein Umgang damit

ist der Galgenhumor. Den bringe ich auf

die Bühne. Ich reisse dem Teufel die

Maske vom Gesicht und lasse die Leute

das Böse aus lachen. »

INTERVIEW

r Stotterer

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tuten für Deutschsprachige organisiert wurden. Zudem habe ich meine Texte auf Englisch übersetzt für Auftritte in American Clubs, Business Chambers und dergleichen. Zu den Aufführungen kamen jeweils auch deutsch- und englischsprachige Asiaten, aber sie haben oft die Pointen verpasst. Man hat gegenüber einer Fremdsprache so eine Unsicherheit, dass man die Ironie nicht vermutet. Bei der letzten Tournee habe ich begonnen, mit einer englisch-sprachigen Dolmetscherin die Texte vom Englischen ins Chinesische zu übersetzen. Dann habe ich vor einheimi-schem Publikum mit chinesischen Untertiteln gespielt. Untertitel – wie geht das?Die Schriftzeichen werden mit Powerpoint riesig an die Wand hinter mir und der Klavierbegleitung proji-ziert.Und wie hat das Publikum die Übersetzungen goutiert?Der Erfolg war riesengross! Wenn die Chinesen die Texte in ihren Schriftzeichen sehen, ist das ein grosses Entge-genkommen, und das wird sehr geschätzt. Sonst sind die Einheimischen der Teil des Publikums, der einfach lacht, wenn die anderen auch lachen. Mit der chinesischen Bearbeitung wurde es anders: Wenn ich einen englischen Satz mit zwei Nebensätzen sagte, standen auf der Leinwand nur zwei Schriftzeichen. So hatten die Chinesen die Pointe schneller als die Europäer. Die Chinesen lachten zuerst, und das gab die schönere Stimmung.Haben dich die anderen asiatischen Länder weniger interessiert, dass du vorwiegend durch Taiwan getourt bist? Ich habe gemerkt: In China kann ich höchstens etwas für kleine, elitäre Veranstaltungen an Goethe-Instituten machen. Nur eine dünne Eliteschicht verfolgt dort die Politik. Thailand ist eine Plakatdemokratie. Die Leute interessieren sich nicht für Politik. Gut fürs Geschäft sind nur Japan, teilweise Hongkong und am meisten Taiwan, dort kann jeder seine Meinung frei äussern, jeder versteht Betrachtungen über Kriege. So setze ich jetzt immer mehr den Fokus auf Taiwan.Was bedeutet das konkret?Unterdessen halte ich dort Vorlesungen für Theaterwis-senschafter und -wissenschafterinnen an der Uni, gebe Pekingoper-Studierenden Workshops in europäischem Theaterstil – alles mit Dolmetschern. In Taitung spiele ich für Immensee-Missions-Ordensschwestern und -brü-der, die schon seit 30, 40 Jahren da leben und inzwischen besser Chinesisch als Schweizerdeutsch sprechen. Die fallen um, wenn bei ihnen ein Schweizer Cabaret vorbei-kommt. Ich trete dort gegen Kost und Logie auf. Es ist lustig, nachher mit den Ordensschwestern und -brüdern ein Bier zu trinken. Dann kommt jeweils einer von der Botschaft vorbei und bringt eine Flasche Kirsch mit.Schweizer Kirsch? Dein Name lässt an deutsche Vorfahren denken.Mein Opa kam tatsächlich als Kind aus Berlin in die Schweiz. Leider konnte ich nicht von deutschen Wurzeln profi tieren, um das Bühnendeutsch zu erlernen. Ich brauchte zwei Jahre intensives Training, bis ich es drin hatte. Ich mag diese Sprache nicht! Es ist eine grossartige Arbeitssprache, für die Satire fantastisch! Sie passt zu

meinen Themen, Mord und Totschlag und Krieg, denn sie ist hart, präzise, schwarz-weiss. Schweizerdeutsch ist eher bildhaft, farbig – und lässt deswegen die scharfe Satire nicht zu: Man kann kein scharfes Messer wetzen mit Schweizerdeutsch.Spricht deine arrogante Figur deswegen Hochdeutsch?Einerseits ist Bühnendeutsch für mich die natürliche Bühnensprache, sie bringt mich genügend weit weg von mir selber. Zudem habe ich das grössere Publikum, wie wenn ich Dialekt spreche, und Bühnendeutsch verleiht der Figur etwas Elitäres, Geschliffenes.Was machst du am liebsten: Auf der Bühne stehen, Kolumnen schreiben, Karikaturen zeichnen, unter richten...Ich mag die Abwechslung. Ich möchte bei nichts das Gefühl haben, ich muss das machen. Natürlich bin ich gerne auf der Bühne. Applaus hat ein Suchtpotenzial. Jeder will im Grunde weg von der Bühne: Es belastet die Beziehung, wenn man jeden Abend weg ist. Es ist auch nervenaufrei-bend, wenn man sich jedes Mal voll ausliefert, man ist fast gezwungen, Erfolg zu haben, das Publikum erwartet zu Recht, dass die Vorstellung ihren Preis wert ist. Man ist erleichtert, wenn die Sommerpause da ist. Aber nach einer, zwei Woche wartet man darauf, wieder auf der Bühne zu stehen, den Applaus entgegenzunehmen, sich zu vernei-gen. Dann kann man ein Bier öffnen und denken: Ha, das war ein schöner Auftritt!

«Meine Satire richtet sich eher an ein gebildetes

Publikum. Menschen, welche politisch nicht gebildet

sind oder keine zwei Stunden Text an einem Abend

aufnehmen können, sind bei mir falsch, deswegen

spiele ich lediglich in Kleintheatern.»

Andreas Thiel lernte Bauzeichner und schloss 1995 die «Desmond Jones School of Mime and Phy-sical Theatre» in London ab. Ab 1997 trat er zusam-men mit Jean Claude Sassine auf, ihr erstes Pro-gramm trug den Titel «Einsames Literarisches Kabarett». Dafür wurde ihnen 1999 der «Salzburger Stier» verliehen. 2004 erhielt Thiel den Kleinkunst-preis «Goldener Thunfi sch», 2005 den «Prix Walo» und den «Prix Pantheon». Thiel war Mitbegründer und Hausmoderator des «Bösen Montags» im «Theater am Hechtplatz» in Zürich sowie Mit-gründer des «Tintensaufens» in Bern. Er war Mode-rator bei «Comedy im Casino» und ist Mitwir-kender des Rateteams in «Genial daneben» des Schweizer Fernsehens. Er schreibt regelmässig Kolumnen für die «Berner Zeitung» und den «Nebelspalter». Thiel wohnt in Bern.

INTERVIEW

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Menschen – wie du und ichDie Zürcher Fotografi n Silvia Voser hat Migrantinnen und Migranten

unterschiedlichster Herkunft sowie Schweizerinnen und Schweizer

getroffen. Bei ihren Begegnungen interessierte sie sich vor allem

für das, was Menschen über alle kulturellen Grenzen hinweg ver-

bindet. Familie, Arbeit und Tod sind für Voser solche Grundthemen,

die «im Kern alle Menschen verbinden». Deshalb hat sie alle am

Projekt Beteiligten zu diesen drei Themen interviewt und nach

dem immer gleichen Muster ins Bild gesetzt: am Arbeitsplatz und

in der guten Stube.

Was daraus entstanden ist, zeigt nicht nur ein im Benteli-Verlag

erschienener Fotoband, Vosers dritter nach zwei Russlandbüchern,

sondern auch eine sehenswerte Ausstellung an der EB Zürich:

«Menschen wie du und ich. Familie, Arbeit und Tod aus der Sicht

von Migranten und Schweizern.» Das Hin- und Herschauen zwi-

schen den Bildern und das vergleichende Lesen der dazugehörigen

Texte ermöglichen, im Fremden das Bekannte zu entdecken – oder

umgekehrt.

Galerie EB Zürich

1. März bis 2. Juni 2007

Bildungszentrum für Erwachsene,

BiZE, Riesbachstr. 11

im Zürcher Seefeld.

Der Syrer Ali Barzan bei seiner Arbeit in einer Alutafelfabrik.

GALERIE

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Suzanne Blaser, Kursleiterin Deutsch

Alex CapusReisen im Licht der Sterne2005

Kursleitende und Mitarbeitende der EB Zürich geben Tipps

zu interessanten Büchern, CDs und Videos.

LesenRobert Louis Stevensons Aben-

teuerroman «Die Schatzinsel»

aus dem Jahr 1881 ist weltbe-

rühmt. Und wer hat nicht auch

schon davon geträumt, den uner-

messlichen Schatz zu bergen? –

Alex Capus hat den Sommer

2004 auf Samoa verbracht, um

zu beweisen, dass es Stevensons

legendäre «Schatzinsel» gibt,

aber woanders als Heerscharen

von Schatzsuchern gesucht

haben und dass der lungenkran-

ke Stevenson einzig und allein

deshalb die letzten fünf Jahre

seines Lebens, 1889–1894, auf

der Südseeinsel verbrachte.

Capus ist ein herrlich feinsin-

niger Roman gelungen über ei-

nen aussergewöhnlichen Schatz-

sucher, Schriftsteller und Reisen-

den «im Lichte der Sterne».

HörenPippo Pollina sagt von sich,

er sei überall und nirgendwo zu

Hause. Der ehemalige Strassen-

musiker begeistert mit Stimme

und Sprachenvielfalt. Es ist für

mich immer wieder überra-

schend, dass aus so einem klei-

nen, hageren Mann eine so volle

und schöne Stimme klingt. Er

singt nicht nur auf Italienisch,

sondern auch auf Englisch, Spa-

nisch, Hochdeutsch und Schwei-

zerdeutsch. Seine Texte sind tief-

gründig und regen zum Nach-

denken und Träumen an. Das

Repertoire des sizilianischen

Cantautore geht von Liebeslie-

dern über Balladen bis zu Rock-

stücken. Pippo Pollina ist ein

Sänger für alle Stimmungslagen

und fasziniert immer wieder

von Neuem.

SehenMel Gibson schuf einen

hektischen Actionfi lm. Wer einen

Dokumentarfi lm erwartet, muss

«Apocalypto» nicht sehen.

Gut, es könnte so gewesen sein,

wie Gibson es inszeniert.

Genaueres weiss niemand

Menschen reissen anderen die

Herzen raus, essen Hoden, fol-

tern und quälen mit Lust. Tatzeit:

Untergang der Maya-Kultur. Der

im Film zentrale Gefangenen-

transport ist eindrücklich und

gut gespielt. Ansonsten huschen

für mich Gesichter und Geheim-

nisse des Waldes zu schnell über

die Leinwand, dafür mit zu vielen

Wiederholungen. Wer versucht,

sich Gedanken über die nicht

bekannten Gründe der Kultur-

Talfahrt zu machen, kann ins

Schwitzen kommen.

Christina Landolt, Mitarbeiterin Administration

Martin Enkelmann, Kursleiter Informatik

Pippo PollinaRossocuore1999

Mel GibsonApocalypto2006

KULTUR

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23WEITERBILDUNG

Comic: Ruedi Widmer

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www.eb-zuerich.ch – [email protected]

EB ZürichKantonale Berufsschule für WeiterbildungBildungszentrum für Erwachsene BiZERiesbachstrasse 118090 ZürichTelefon 0842 843 844

Weiterbildung – wie ich sie will

e