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Deutschland und Polen im Spiegel amerikanischer Geheimdokumente, Teil 1+Teil 2 Dr. Alfred Schickel Durch den provozierenden Papst-Besuch im deutschen Schlesien ist das deutsch-polnische Verhältnis, an dem sich der Zweite Weltkrieg entzündete, erneut in den Vordergrund der Diskussion gerückt. Unser Mitarbeiter, der sich als zeitgeschichtlicher Wahrheitsforscher in den letzten Jahren einen Namen gemacht hat, stieß bei einem kürzlichen Studienaufenthalt in den USA »auf neues Quellenmaterial, welches das überlieferte Bild von der Vergangenheit ergänzen oder auch korrigieren kann«, wie er uns zu dem nachfolgenden Beitrag schrieb. Wir sehen in Schickels Forschungsergebnis weit mehr: die Bestätigung für die von Hamilton Fish in seinem sensationellen Buch »Der zerbrochene Mythos« angeprangerte Kriegstreiberei Roosevelts. Dazu gehört, wie dieser US-Präsident durch einen seiner engsten und wichtigsten Vertrauten, William C. Bullitt, den er zu seinem ersten Botschafter bei Stalin gemacht hatte, die guten deutsch-polnischen Vorkriegsbeziehungen, deren Fortbestehen den Zweiten Weltkrieg unmöglich gemacht hätte, torpedieren ließ. Ein Mittelstaat wie die Republik Polen sah vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Botschaftern, Senatoren oder Abgeordneten bereits bedeutsame politische Figuren. Das wurde beispielsweise beim »Privatbesuch« des Botschafters William C. Bullitt in Warschau deutlich. Da berichteten die polnischen Zeitungen ausführlich über Ankunft, Aufenthaltsdauer und Aktivitäten des amerikanischen Besuchers und stellten ihn auch als Privatmann ihren Lesern vor. Schließlich »war er der vierte prominente Amerikaner, der nach Gouverneur Earle, Senator Guffey und Kongreßmann Lambeth Warschau in letzter Zeit besucht hat«, wie die Warschauer Zeitung »Express Poranny« am 14. November 1937 schrieb - obwohl er seine Visite lediglich als persönlicher Freund des USA-Botschafters in Polen, Drexel Biddle, machte und keinerlei offizielle Funktion an der Weichsel wahrzunehmen hatte. Seine frühere Stellung als Sekretär des Präsidenten Woodrow Wilson wie auch seine aktuelle Position als amerikanischer Botschafter in Paris reichte in den Augen der Polen hin, um ihn mit solcher Aufmerksamkeit zu bedenken und auch zu vermelden, »daß Botschafter Bullitt Witwer ist und eine 15 Jahre alte Tochter hat, die für ihre Schönheit und Intelligenz gleichermaßen bekannt ist«. Daß auch das regierungsamtliche Polen den amerikanischen Gast aus Paris offiziell zur Kenntnis nahm, schien daher fast selbstverständlich und drückte sich in einem Gespräch mit dem polnischen Außenminister Jozef Beck am 16. November 1937 aus, dem dann noch ein Dinner »in honor of Mr. Bullitt« folgte. So kann es der Zeitgeschichtsforscher bei der Durchsicht der einschlägigen Geheimberichte der US-Botschaft in Warschau vom November 1937 lesen. Er erfährt aus ihnen auch, daß Bullitt als ein Freund Präsident Roosevelts galt und den Ruf »einer der hervorragendsten Fachleute in Außenpolitik« genoß, der auch US-Außenminister Cordell Hull eng verbunden war. In der Tat gehörte der aus Philadelphia gebürtige, von französischen Einwanderern abstammende William Christian Bullitt, dem im Herbst 1937 gerade die Ehrenbürgerschaft von Nimes verliehen worden war, zu den persönlichen Freunden und Beratern Roosevelts, der ihn gern mit »My dear Bill Buddha« anredete, er verwaltete im diplomatischen Dienst der Vereinigten Staaten bislang ebenso exponierte wie wichtige Botschafterposten. Dazu gehörte auch seine Entsendung als erster Missionschef der USA (nach Aufnahme der diplomatischen

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Deutschland und Polen

im Spiegel amerikanischer Geheimdokumente, Teil 1+Teil 2

Dr. Alfred Schickel

Durch den provozierenden Papst-Besuch im deutschen Schlesien ist das deutsch-polnische

Verhältnis, an dem sich der Zweite Weltkrieg entzündete, erneut in den Vordergrund der

Diskussion gerückt. Unser Mitarbeiter, der sich als zeitgeschichtlicher Wahrheitsforscher in

den letzten Jahren einen Namen gemacht hat, stieß bei einem kürzlichen Studienaufenthalt in

den USA »auf neues Quellenmaterial, welches das überlieferte Bild von der Vergangenheit

ergänzen oder auch korrigieren kann«, wie er uns zu dem nachfolgenden Beitrag schrieb. Wir

sehen in Schickels Forschungsergebnis weit mehr: die Bestätigung für die von Hamilton Fish

in seinem sensationellen Buch »Der zerbrochene Mythos« angeprangerte Kriegstreiberei

Roosevelts. Dazu gehört, wie dieser US-Präsident durch einen seiner engsten und wichtigsten

Vertrauten, William C. Bullitt, den er zu seinem ersten Botschafter bei Stalin gemacht hatte,

die guten deutsch-polnischen Vorkriegsbeziehungen, deren Fortbestehen den Zweiten

Weltkrieg unmöglich gemacht hätte, torpedieren ließ.

Ein Mittelstaat wie die Republik Polen sah vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in

Botschaftern, Senatoren oder Abgeordneten bereits bedeutsame politische Figuren. Das wurde

beispielsweise beim »Privatbesuch« des Botschafters William C. Bullitt in Warschau deutlich.

Da berichteten die polnischen Zeitungen ausführlich über Ankunft, Aufenthaltsdauer und

Aktivitäten des amerikanischen Besuchers und stellten ihn auch als Privatmann ihren Lesern

vor. Schließlich »war er der vierte prominente Amerikaner, der nach Gouverneur Earle,

Senator Guffey und Kongreßmann Lambeth Warschau in letzter Zeit besucht hat«, wie die

Warschauer Zeitung »Express Poranny« am 14. November 1937 schrieb - obwohl er seine

Visite lediglich als persönlicher Freund des USA-Botschafters in Polen, Drexel Biddle,

machte und keinerlei offizielle Funktion an der Weichsel wahrzunehmen hatte. Seine frühere

Stellung als Sekretär des Präsidenten Woodrow Wilson wie auch seine aktuelle Position als

amerikanischer Botschafter in Paris reichte in den Augen der Polen hin, um ihn mit solcher

Aufmerksamkeit zu bedenken und auch zu vermelden, »daß Botschafter Bullitt Witwer ist

und eine 15 Jahre alte Tochter hat, die für ihre Schönheit und Intelligenz gleichermaßen

bekannt ist«.

Daß auch das regierungsamtliche Polen den amerikanischen Gast aus Paris offiziell zur

Kenntnis nahm, schien daher fast selbstverständlich und drückte sich in einem Gespräch mit

dem polnischen Außenminister Jozef Beck am 16. November 1937 aus, dem dann noch ein

Dinner »in honor of Mr. Bullitt« folgte.

So kann es der Zeitgeschichtsforscher bei der Durchsicht der einschlägigen Geheimberichte

der US-Botschaft in Warschau vom November 1937 lesen. Er erfährt aus ihnen auch, daß

Bullitt als ein Freund Präsident Roosevelts galt und den Ruf »einer der hervorragendsten

Fachleute in Außenpolitik« genoß, der auch US-Außenminister Cordell Hull eng verbunden

war.

In der Tat gehörte der aus Philadelphia gebürtige, von französischen Einwanderern

abstammende William Christian Bullitt, dem im Herbst 1937 gerade die Ehrenbürgerschaft

von Nimes verliehen worden war, zu den persönlichen Freunden und Beratern Roosevelts, der

ihn gern mit »My dear Bill Buddha« anredete, er verwaltete im diplomatischen Dienst der

Vereinigten Staaten bislang ebenso exponierte wie wichtige Botschafterposten. Dazu gehörte

auch seine Entsendung als erster Missionschef der USA (nach Aufnahme der diplomatischen

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Beziehungen) in die sowjetische Hauptstadt im Spätherbst 1933. Seit 1936 leitete er die USA-

Botschaft in Paris und sollte diesen Posten bis 1941 beibehalten.

Seine Besuche und Auftritte erregten immer Aufmerksamkeit und hatten letztlich nie bloß

»streng privaten Charakter«, wie er sie gern in der Öffentlichkeit herabzuspielen suchte. Das

zeigte sich auch bei seinem halbwöchigen Besuch Mitte November 1937 in Warschau. Nicht

umsonst traf sich der polnische Außenminister Beck dreimal mit dem »Privatgast« aus Paris

und führte auch ein Vieraugengespräch mit ihm, wie der amerikanische Botschaftsbericht

vom 17. November 1937 ausweist. Darunter war im übrigen eine unprotokollarische

»Selbsteinladung« des polnischen Außenministers zu einem »Kotelett-Essen« in der

amerikanischen Botschaft am 17. November 1937, die nach dem Bericht Drexel Biddles »eine

reizende und interessante Gelegenheit mit freimütiger und vertraulicher Unterhaltung«

gewesen ist.

Die Quintessenz der von Bullitt geführten Gespräche schlug sich schließlich in vier

vertraulichen Memoranden nieder, die US-Botschafter Biddle mit seinem

zusammenfassenden Bericht vom 26. November 1937 »streng vertraulich« an Außenminister

Hull sandte.

1937: Polen auf Hitlers Seite

Das »Memorandum A« beschäftigte sich mit der Entwicklung in Sowjetrußland und den von

Stalin gerade durchgeführten »Säuberungen«. Der ehemalige US-Botschafter in Moskau,

William Christian Bullitt, unterhielt sich über dieses Thema mit dem neuernannten

japanischen Missionschef in Warschau, Sako, und kam dabei zu der Erkenntnis, daß die

stalinistischen Verfolgungen die Sowjetunion momentan weitgehend inaktiv machten. Eine

Einschätzung, die Bullitt auch ein Jahr später noch vertreten wird und deretwegen er Moskau

vorläufig außerhalb einer Anti-Hitler-Koalition sah.

In »Memorandum B« geht es neben einer allgemeinen »Tour d'horizon« der politischen Lage

in Großbritannien, Frankreich und in der Sowjetunion besonders um das deutsch-tschechische

Verhältnis und um den Antisemitismus in Mittelosteuropa. Danach hat der polnische

Außenminister Beck der Auffassung Bullitts, daß Frankreich bei einem deutschen Angriff auf

die Tschechoslowakei »marschieren würde«, entschieden widersprochen, und zwar

»hauptsächlich wegen seiner innenpolitischen Lage«. Seiner Meinung nach hat Frankreich

bereits 1936 mit der ausgebliebenen Reaktion auf Hitlers Rheinland-Besetzung Schwäche

gezeigt und damit seine Haltung gegenüber ähnlichen Vorkommnissen angedeutet.

Entsprechend gedachte dann auch Polen sein Verhältnis zum Deutschen Reich zu gestalten;

das hieß: wenn Deutschland für seine Volksangehörigen in der Tschechoslowakei Autonomie

forderte, wollte dies Polen auch für seine Minderheit im Gebiet Teschen reklamieren.

Die ein Jahr später, im Oktober 1938, gemeinsame Vorgehensweise von Deutschland und

Polen gegen die ÜSR wurde demnach hier bereits anvisiert und damit Washington rechtzeitig

genug über die wahrscheinliche Lösung der nachmaligen Sudetenkrise ins Bild gesetzt.

Zumindest war nach diesem Gedankenaustausch zwischen Beck und Bullitt klar, daß sich

Warschau den jeweiligen Schritten Berlins anschließen werde. Das bedeutete, daß eine

etwaige Abtrennung der sudetendeutschen Gebiete von der Tschechoslowakei und eine

Einverleibung in das Deutsche Reich folgerichtig auch eine polnische Annexion des

Teschener Landes durch Polen nach sich ziehen würde, wie dies dann auch mit Vollzug des

Münchener Abkommens geschehen ist. Die Warschauer Außenpolitik verfolgte also in jenen

Monaten eine parallele Linie zur Berliner Tschechenpolitik.

Deutsch-polnische Übereinstimmung in der Judenfrage

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Ähnlichkeiten wies die polnische Politik zur Praxis der deutschen auch auf dem Felde der

Judenbehandlung auf. Dabei ging es schlicht um das Bestreben der deutschen wie der

polnischen Regierung, möglichst viele Juden zur Emigration zu bewegen. Freilich lebten in

Polen damals auch fast sechsmal mehr jüdische Einwohner als im Deutschen Reich, nämlich

knapp drei Millionen. Sie machten rund zehn Prozent der Gesamtbevölkerung aus, während

die fünfhunderttausend deutschen Juden nicht einmal ein Prozent der Einwohnerschaft

Deutschlands darstellten.

Nach dem »streng vertraulichen« Memorandum B der US-Botschaft in Warschau waren sich

Beck und Bullitt darin einig, die prozentual überzähligen Juden nicht in ein einziges Land

umzusiedeln, sondern »weitverbreitet« ins Ausland zu bringen.

Im »streng vertraulichen Memorandum C« gibt die amerikanische Botschaft im wesentlichen

die Lagebeurteilung des polnischen Marschalls Rydz-Smigly wieder, die dieser beim Vierer-

Gespräch mit Außenminister Beck, Botschafter Bullitt und Botschafter Biddle abgegeben

hatte. Sie gipfelte in der Feststellung, daß weder die Franzosen noch die Sowjets im

Augenblick in der Lage seien, eine militärische Intervention durchzuführen, womit sich Rydz-

Smigly in völliger Übereinstimmung mit seinem Außenminister befand. Botschafter Biddle

vermerkte dies auch in seiner Niederschrift.

Im vierten Memorandum (»Memorandum D«) hielten Bullitt und Biddle das polnische

Großmachtstreben fest und beschrieben Warschaus - beziehungsweise Außenminister Becks -

Vorstellungen von der möglichen Rolle Polens in Europa.

Als »Drittes Europa« im Osten des Kontinents wollte es sich nicht nur als Großmacht

etablieren und die Region von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer beherrschen, sondern sich

auch auf selbstbewußte Distanz zur Sowjetunion und zum Deutschen Reich halten; eine

Politik, die Washingtons Interesse und Beifall finden mußte, da sie sowohl der

bolschewistischen Diktatur als auch dem NS-Regime die Stirn bot - und darauf legte die

Rooseveltsche Europa-Politik großes Gewicht. Die im November 1938 und zu Anfang 1939

zwischen Bullitt und polnischen Diplomaten geführten Gespräche in Paris und in Washington

verdeutlichten dann noch die Absicht Roosevelts, Polen jede mögliche Hilfestellung gegen

eine etwaige deutsche Bedrohung zuzusichern, um damit ein weiteres Ausgreifen des NS-

Reiches auf Osteuropa zu verhindern.

Beiderseitige Entspannungsbemühungen

Zur Zeit des Bullitt-Besuches erschienen freilich die deutsch-polnischen Beziehungen weder

feindselig noch gespannt; vielmehr hatten Berlin und Warschau wenige Tage vor Eintreffen

des amerikanischen Spitzendiplomaten an der Weichsel ein Minderheiten-Abkommen

geschlossen, das die bisherigen Belastungen des beiderseitigen Verhältnisses abzubauen

geeignet war. Im Zusammenhang mit dieser Vereinbarung empfingen synchron am gleichen

Tage, dem 5. November 1937, Reichskanzler Hitler in Berlin Vertreter des »Bundes der Polen

in Deutschland« und der polnische Staatspräsident Moscicki eine Abordnung der deutschen

Minderheit in Polen zur Demonstration der beiderseitigen Verständigung.

Und was die Haltung Warschaus zu den deutsch-tschechischen Spannungen betraf, so hegte

man an der Weichsel kaum freundlichere Gefühle gegenüber Prag, nachdem Anfang 1937 ein

Buch des tschechoslowakischen Gesandten in Bukarest, Jan Seba, erschienen war (»Rußland

und die Kleine Entente«), in welchem sich der Autor für eine gemeinsame Grenze zwischen

der und der Sowjetunion einsetzte - und zwar - wie man in Warschau feststellte, auf

Kosten Polens. Nach Meinung polnischer Kreise, die Marschall Rydz-Smigly nahestanden,

stellte dieses Buch, dem der amtierende tschechische Außenminister Krofta ein Vorwort

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gewidmet hatte, einen weiteren Schritt Prags zu seiner Rolle als »Vorhut der Sowjetunion im

Kriegsfalle« dar. Bekanntlich wird Berlin ein Jahr später denselben Verdacht gegen die

Tschechoslowakei hegen und von einem bewußten Zusammengehen Prags mit Moskau

sprechen. Das geht neben anderen Quellen auch aus den amerikanischen Botschaftsberichten

aus Berlin während der sogenannten Sudetenkrise im Sommer 1938 hervor.

Die Zeit guter Nachbarschaft zwischen Deutschland und Polen setzte sich auch im folgenden

Jahr fort. Da hielt sich Anfang Januar 1938 der polnische Außenminister für einige Tage in

Berlin auf und wurde sowohl von Hitler als auch vom Reichsaußenminister und »weiteren

führenden deutschen Staatsmännern« zu Gesprächen empfangen. Und als im März 1938, im

Zuge der Angliederung Österreichs an Deutschland (»Anschluß«), die ausländischen

Missionen in Wien geschlossen wurden, hat Polen nicht das Beispiel Bulgariens oder der

Schweiz übernommen und seine bisherige Gesandtschaft in ein Generalkonsulat

umgewandelt, sondern seine diplomatische Mission ohne Ersatz aufgelöst, was den deutschen

Wünschen am meisten entsprach. In der sich immer deutlicher abzeichnenden Sudetenkrise

bewahrte Warschau weiterhin wohlwollende Neutralität gegenüber Berlin und zeigte sich

zuweilen ausgesprochen germanophil, obwohl sich der einstige Ministerpräsident und frühere

Heeresminister, General Ladislaus Sikorski, laut amerikanischem Botschaftsbericht vom 4.

November 1937 in einem vielbeachteten Aufsatz für den Kurs »Weder mit Deutschland noch

mit Rußland« ausgesprochen hatte und sich in Armeekreisen ein antideutsches Gefühl zu

regen begann.

Warschau verständigt sich mit Berlin

So verdächtigte die polnische Regierung die Tschechoslowakei nach wie vor latenter

Sympathien für den Kommunismus und richtete am 30. März 1938 eine Protestnote an Prag

gegen die antipolnische Tätigkeit von Angehörigen der Komintern und der Kommunistischen

Partei im Grenzgebiet zu Polen und zeigte sich von der tschechischen Antwortnote nicht ganz

befriedigt. Desgleichen bemängelte die polnische Öffentlichkeit die Minderheitenpolitik der

Prager Regierung und forderte für die polnische Minorität in der Autonomie und

»Entschädigung für die Verluste, welche die polnische Bevölkerung seit 1918 erlitten hat« -

ähnlich den Erwartungen, die man in Berlin gegenüber der tschechischen Staatsführung in

jenen Monaten hegte. Auch auf militärischem Gebiet lebten Prag und Warschau in

Spannungen - wie dies von Berlin und der bekannt ist. Polen und Tschechen warfen sich

gegenseitig aggressiv orientierte Truppenkonzentrationen an der Grenze vor, wobei Prag seine

Truppenbewegungen im Grenzgebiet mit »innerpolitischen Notwendigkeiten« begründete.

Diese bestanden in der Absicht, die für den 22. Mai 1938 vorgesehenen Kommunalwahlen in

den deutsch besiedelten Gegenden durch Demonstration von Staatsmacht im Sinne der

tschechischen Regierung zu beeinflussen. Als im Mai 1938 die Frage diskutiert wurde, ob

Frankreich seinem Bündnispartner Tschechoslowakei bei einem etwaigen Konflikt mit

Deutschland militärisch beistehen müsse, stellte Warschau unverblümt klar, daß es sich in

einem solchen Falle nicht verpflichtet fühle, auf der Seite Frankreichs für die zu Felde

zu ziehen.

Damit nicht genug: während das Deutsche Reich wegen der sich zuspitzenden Sudetenkrise in

Gegensatz zu Frankreich und Großbritannien zu geraten drohte und die Sowjetunion ihre

Bereitschaft zu einer Hilfe für die signalisierte, verständigte sich die Warschauer

Regierung mit Berlin über eine einheitliche Geschichtsdarstellung in den Schulbüchern und

vereinbarte am 1. Juli 1938 mit der Reichsregierung, daß »jene Zeitabschnitte, in denen die

beiden Länder in einem Gegensatz zueinander standen, sachlich und leidenschaftslos«

darzustellen seien, und daß »insbesondere alle Ausdrücke und Wendungen vermieden werden

sollen, die für das andere Land beleidigend oder herabsetzend wirken können«.

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Schulbuchempfehlungen schon 1938

Mit diesen »Schulbuchempfehlungen« wollten Berlin und Warschau ein Signal für ähnliche

Abmachungen mit anderen Staaten setzen und sie auch auf die Lehrbücher der übrigen

UnterrichtsdisziPlinen ausdehnen. Die nach dem Zweiten Weltkrieg ausgehandelten

Schulbuchempfehlungen hatten also bereits ein Vorgängerunternehmen im Jahre 1938.

Fast im Gleichklang mit der Berliner Tschechenpolitik beschuldigte die Warschauer

Regierung die Prager Staatsführung immer wieder zu weitgehender Toleranz gegenüber

kommunistischen Umtrieben und übermittelte ihr beispielsweise am 23. Juli 1938 eine

weitere Protestnote »gegen antipolnische Tätigkeit kommunistischer Elemente in der

Tschechoslowakei«.

Und als im Herbst die Sudetenkrise ihrem kritischen Höhepunkt zustrebte, kommentierte das

offizielle Polen am 13. September 1938 die Hitler-Rede vom Vortag mit folgenden

Feststellungen:

»l. Die Rede des Kanzlers, die die internationale Lage klar darstellte, unterstreicht den Willen

Deutschlands zur Erhaltung des Friedens und zu seiner Stabilisierung mit einer Ausnahme,

nämlich der Tschecho-Slowakei, wo alles von der Regelung der sudetendeutschen Frage

abhängig gemacht wurde.

2. Die Rede unterstreicht die Bedeutung des Abkommens Deutschlands mit Polen aus dem

Jahre 1934 für die Sache des Friedens. Durch dieses Abkommen ist Polen in das System der

Stabilisierung der deutschen Grenzen als ein grundsätzliches Element für den Frieden

einbeschlossen worden. Diese Auffassung wurde in Polen mit voller Anerkennung

aufgenommen.

3. Die kategorische Herausstellung des Interesses Deutschlands an dem sudetendeutschen

Problem war in der gegenwärtigen Lage keine Überraschung.

4. Die Rede des Kanzlers schließt eine von den inneren Änderungen in der Tschecho-

Slowakei abhängige friedliche Regelung der sudetendeutschen Frage nicht aus.

5. Die Hervorhebung des Grundsatzes der Selbstbestimmung für die Sudetendeutschen

erfolgte vom Kanzler im Geiste der Verständigung. «

»Fast nahtlose Übereinstimmung«

Wer die aggressive Rede Hitlers auf dem NS-Parteitag in Nürnberg nachliest, kann diese

polnische Kommentierung und Interpretierung nur wohlwollend und »von freundschaftlichem

Verständnis getragen« finden. Immerhin hatte Hitler wenig Geduld gezeigt und sich nicht

dumpfer Drohungen an die Adresse Prags enthalten: »Ich habe … erklärt, daß das Reich eine

weitere Unterdrückung und Verfolgung dieser dreieinhalb Millionen Deutschen nicht mehr

hinnehmen wird, und ich bitte die ausländischen Staatsmänner, überzeugt zu sein, daß es sich

nicht um eine Phrase handelt … Wenn die Demokratien aber der Überzeugung sein sollten,

daß sie in diesem Falle, wenn notwendig, mit allen Mitteln die Unterdrückung der Deutschen

beschirmen müßten, dann wird dies schwere Folgen haben!«

Die fast nahtlose Übereinstimmung der polnischen Tschechenpolitik mit derjenigen

Deutschlands zeigte sich auch in einer Mitteilung der Warschauer Regierung an die beiden

Westmächte vom 17. September 1938, in der sie erklärte, »daß Polen ein Staat sei, der am

tschechoslowakischen Problem interessiert ist, und daß jedes Zugeständnis, das den

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Sudetendeutschen gemacht wird, auch für die polnische Volksgruppe im Teschener Gebiet

Geltung haben müsse«.

Drei Tage später, am 20. September 1938, erläuterte der polnische Botschafter in Berlin, Josef

Lipski, dem deutschen Reichskanzler auf dem Obersalzberg diese Haltung seiner Regierung

und demonstrierte auf diese Weise die Konkordanz zwischen Berlin und Warschau in der

tschechoslowakischen Frage.

Am 21. September 1938, dem Tag der tschechischen Abtretungserklärung des Sudetenlandes,

forderte die polnische Regierung in einer Note an Prag, daß sie »für das Territorium der

polnischen Volksgruppe eine analoge Regelung« erwarte, »wie sie für das Territorium mit

deutscher Bevölkerung vorgesehen sei«, nämlich die Abtretung. Gleichzeitig kündigte

Warschau die polnisch-tschechoslowakische Konvention vom Jahre 1925 über die Lage der

polnischen Bevölkerung in der ÜSR und meldete gegenüber Frankreich und Großbritannien

Protest dagegen an, daß sie in ihrer Abtretungsempfehlung vom 18./19. September 1938 die

polnische Minderheit in der Tschechoslowakei übergangen hätten,

Am 22. September 1938 stellte die polnische Regierung ein »Freikorps für die Befreiung der

Polen in der Tschechoslowakei« auf und verbat sich in einer scharfen Stellungnahme vom 23.

September 1938 jegliche Einmischung Moskaus zugunsten der Führung, wie sie der

stellvertretende sowjetische Volkskommissar für Äußeres, Wjatscheslaw Petrowitsch

Potemkin, dem polnischen Geschäftsträger gegenüber angedeutet hatte (»Die zum Schutze

des Staates notwendigen Maßnahmen gehen lediglich die polnische Regierung etwas an, die

niemandem zu Erklärungen hierüber verpflichtet ist.«)

Nutznießer der Sudetenkrise

Ähnlich wie die deutsche Reichsregierung mit einer nachmaligen Autonomie der Slowakei

rechnete, vertrat das offiziöse Polen in jenen Tagen - zum Beispiel in Verlautbarungen vom

23. September 1938 - den Gedanken einer selbständigen Slowakei, welche einen

Zusammenschluß mit einer autonomen Karpatho-Ukraine eingehen und sich Ungarn

anschließen sollte, damit Polen eine gemeinsame Grenze mit dem Magyaren-Staat erhalte.

Und da die beiden Westmächte in der Tat zunächst nur die sudetendeutschen Gebiete in ihre

Abtretungsempfehlung aufgenommen hatten, bzw. Benesch in seiner Geheimofferte (»Necas-

Papier«) lediglich von sudetendeutschen Landstrichen gesprochen hatte, sah sich Warschau

genötigt, seine territorialen Ansprüche an die Tschechoslowakei separat zu vertreten. So

forderte die polnische Regierung am 27. September 1938 in einer Note an Prag eine

umgehende Grenzrevision und erhärtete dieses Verlangen - nach einer hinhaltenden Antwort

Beneschs - am 30. September 1938 zu einem Ultimatum, dem die ÜSR dann am 1. Oktober

1938 entsprach, da mittlerweile das Münchener Abkommen unterzeichnet und die Abtretung

des Sudetenlandes praktisch in die Wege geleitet worden war. Die Vereinbarung zwischen

Warschau und Prag lehnt sich im übrigen auffallend an die Bestimmungen des Münchener

Abkommens an (z. B. Räumung des Gebietes durch die Tschechen und Besetzung durch

polnische Truppen innerhalb von zehn Tagen, Verständigung über die Prozedur einer späteren

Abstimmung, unverzügliche Entlassung aller Polen aus der tschechischen Armee und

Freilassung der politischen Gefangenen polnischer Nationalität), wie ein Vergleich der beiden

Texte deutlich macht. Analog zum Grenzziehungs-Ausschuß des Münchener Abkommens

(Artikel 6), in welchem auch ein Vertreter der Prager Regierung Sitz und Stimme hatte,

vereinbarte Warschau mit der eine »gemischte Grenzkommission« zur endgültigen

Festlegung der polnisch-tschechischen Grenze und gab ihr zur Erledigung dieser Aufgabe bis

zum 15. bzw. 30. November 1938 Zeit.

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Der »Internationale Ausschuß« des Münchener Abkommens beendete seine Grenzfestlegung

am 20. November 1938. Die Grenzregelung zwischen Warschau und Prag sah vor, daß nach

der Abtretung der Kreisbezirke von Teschen und Freistadt (= Olsagebiet) Anfang Oktober

1938 noch die Region nördlich von Cadca (Czacza) und die nördliche Hohe Tatra zu Polen

kamen. Ähnlich wie der deutsche Reichskanzler in seiner Berliner Sportpalast-Rede am 26.

September 1938 ausführte, »daß es - wenn dieses Problem gelöst ist - für Deutschland in

Europa kein territoriales Problem mehr gibt«, erklärte die polnische Regierung nach

Festlegung dieser endgültigen Grenzlinie, »keine weiteren territorialen Ansprüche gegen die

Tschechoslowakei zu haben«. Ein Grenzzwischenfall am 26. und 27. November 1938, bei

welchem nach Warschauer Darstellung zwei polnische Funktionäre verwundet worden waren,

veranlaßte die polnische Regierung dann am 28. November zur vorzeitigen Besetzung der

Polen zugesprochenen Landstriche an der Hohen Tatra.

Diese sich verzögernde Regelung des polnischen Minderheitenproblems in der

Tschechoslowakei - wie auch die noch ausstehende Beilegung der ungarischen Ansprüche -

fand dann in Zusatzerklärungen Chamberlains, Daladiers, Hitlers und Mussolinis in München

Berücksichtigung. Darin wurde festgestellt:

»Die Regierungschefs der vier Mächte erklärten, daß das Problem der polnischen und

ungarischen Minderheiten in der Tschechoslowakei, sofern es nicht innerhalb von drei

Monaten durch eine Vereinbarung unter den betreffenden Regierungen geregelt wird,

Gegenstand einer weiteren Zusammenkunft der hier anwesenden Regierungschefs der vier

Mächte bilden wird.« Und: »Seiner Majestät Regierung im Vereinigten Königreich und die

Französische Regierung haben sich dem vorstehenden Abkommen angeschlossen auf der

Grundlage, daß sie zu dem Angebot stehen, welches in Paragraph 6 der englisch-

französischen Vorschläge vom 19. September enthalten ist, betreffend eine internationale

Garantie der neuen Grenze des tschechoslowakischen Staates gegen einen unprovozierten

Angriff.

Sobald die Frage der polnischen und ungarischen Minderheiten in der Tschechoslowakei

geregelt ist, werden Deutschland und Italien ihrerseits der Tschechoslowakei eine Garantie

geben.«

So hatte Polen nicht nur sein »München« betrieben und erreicht, sondern auch Anschluß an

das Viermächte-Abkommen vom 29. September gefunden; und das weitgehend im Einklang

mit der Berliner Tschechenpolitik und oft streckenweise mit gleichem Vorgehen.

Erste Querschüsse aus Washington

Die USA-Regierung sah diese Analogie zwischen Warschau und Berlin mit zunehmendem

Unbehagen und reagierte auf doppelte Weise.

Sie gab in Ergänzung zu den Ausführungen Roosevelts auf einer Pressekonferenz am 30.

September 1938 und den Äußerungen Staatssekretär Hulls vom gleichen Tage auf

diplomatischem Wege den beiden Westmächten zu verstehen, daß sie »München« als eine

»Kapitulation der demokratischen Staaten« und als ein »Zeichen ihrer Schwäche gegenüber

dem Deutschen Reiche« betrachte - und sie stärkte Polen durch die gleichen

geheimdiplomatischen Kanäle nunmehr den Rücken gegen etwaige nachfolgende deutsche

Forderungen an die Adresse Warschaus.

So traf sich am 19. November 1938 William Christian Bullitt mit dem polnischen Botschafter

in Washington, Graf Jerzy Potocki, zu einem ausführlichen Gespräch über die aktuelle Lage

in Europa und konnte bei dieser Gelegenheit gleichsam den Gedankenaustausch von

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Warschau vor Jahresfrist fortsetzen, zumal Potocki durch seinen Verwandten Joseph Potocki,

den Leiter der angelsächsischen Abteilung im polnischen Außenministerium, umfassend über

den Bullitt-Besuch im November 1937 in Warschau informiert worden war. Nach seinem

Geheimbericht an den polnischen Außenminister vom 21. November 1938 sprach Bullitt

»über Deutschland und den Kanzler Hitler mit größter Vehemenz und starkem Haß« und

davon, »daß nur Gewalt, schließlich ein Krieg der wahnsinnigen Expansion Deutschlands in

Zukunft ein Ende machen kann«. Auf Potockis Frage, wie sich Bullitt einen künftigen Krieg

gegen Deutschland vorstelle, gab dieser zur Antwort, »daß vor allem die Vereinigten Staaten,

Frankreich und England gewaltig aufrüsten müßten, um der deutschen Macht die Stirn bieten

zu können«.

Weiter führte Bullitt nach dem Bericht Botschafter Potockis aus, »daß die demokratischen

Staaten absolut noch zwei Jahre bis zur vollständigen Aufrüstung brauchten. In dieser

Zwischenzeit würde Deutschland vermutlich mit seiner Expansion in Östlicher Richtung

vorwärtsschreiten. Es würde der Wunsch der demokratischen Staaten sein, daß es dort im

Osten zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem Deutschen Reich und Rußland

komme«. Nach Ausbruch dieses Krieges, vermutete Bullitt, »könne es sein, daß sich

Deutschland zu weit von seiner Basis entferne und zu einem langen und schwächenden Krieg

verurteilt werde. Dann erst würden die demokratischen Staaten Deutschland attackieren und

es zu einer Kapitulation zwingen«.

Bullitt verspricht Kriegsteilnahme

Im übrigen sei die »Stimmung in den Vereinigten Staaten gegenüber dem Nazismus und

Hitlerismus so gespannt, daß schon heute unter den Amerikanern eine ähnliche Psychose

herrscht wie vor der Kriegserklärung der USA an Deutschland im Jahre 1917«. Auf Potockis

Zwischenfrage, ob die USA an einem solchen Krieg gegen Deutschland teilnehmen würden,

habe Bullitt geantwortet: »Zweifellos ja, aber erst dann, wenn England und Frankreich zuerst

losschlagen! « Zur Lage und Rolle Polens führte der US-Spitzendiplomat aus, »daß Polen

noch ein Staat ist, der mit Waffen in den Kampf schreiten würde, wenn Deutschland seine

Grenzen überschritte«, was zweifellos über ein Kompliment hinaus eine Ermunterung sein

sollte. Die Bemerkungen Bullitts über Warschaus Streben, eine gemeinsame Grenze mit

Ungarn zu erhalten: »Ich verstehe die Frage einer gemeinsamen Grenze mit Ungarn gut. Die

Ungarn sind gleichfalls ein tüchtiges Volk. Eine gemeinsame Verteidigungslinie mit

Jugoslawien würde es gegenüber der deutschen Expansion erheblich leichter haben«, gingen

in dieselbe Richtung und erreichten schließlich mit den Ausführungen über deutsche

Absichten in der Ukraine ihren offenkundigen Aufmunterungs-Charakter, wenn Bullitt

meinte, »daß Deutschland einen vollständig ukrainischen Stab habe, der in Zukunft die

Regierung der Ukraine übernehmen und dort einen unabhängigen ukrainischen Staat unter

deutschem Einfluß gründen solle«.

Unverblümt sagte Bullitt - nach dem Bericht Potockis - dazu wörtlich: »Eine solche Ukraine

würde natürlich für Sie sehr gefährlich sein, da dies unmittelbar auf die Ukrainer im Östlichen

Klein-Polen einwirken würde. «

Da bekannt war - und von Botschafter Potocki auch im Geheimbericht eingangs vermerkt

wurde -, daß Bullitt zu den persönlichen und einflußreichsten Freunden Roosevelts zählte,

kam diesen Mitteilungen entsprechend große Bedeutung zu; sie konnten als Gedanken des

Präsidenten gelten. Dies um so mehr, als derselbe Bullitt im Februar 1939 dem polnischen

Botschafter in Paris, Graf Juliusz Lukasiewicz, in gleicher Weise zuredete und Polen Mut

gegen Deutschland machte.

Roosevelts Scharfmacher

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Diese Einreden der USA-Regierung gegen die bisherige Politik der europäischen Großmächte

und ihr massives Einwirken auf die Warschauer Staatsführung könnten den Hintergrund für

die sich fast schlagartig ändernde polnische Haltung gegenüber Deutschland abgeben. Denn

schon knapp zehn Tage nach Eintreffen des Geheimberichts Botschafter Potockis aus

Washington verlautete am 1. Dezember 1938 aus Warschau, daß man in Polen »im Falle des

Weiterbestandes eines autonomen Karpatho-Rußlands Rückwirkungen auf seine ukrainische

Bevölkerungsgruppe« befürchte - genau wie es am 19. November 1938 William Bullitt

Botschafter Potocki in Washington nahegebracht hatte.

Deutschland und Polen

im Spiegel amerikanischer Geheimdokumente, Teil 2

Dr. Alfred Schickel

Zum 1. Teil

Nachdem unser Mitarbeiter im ersten Teil seines Beitrages im letzten Heft die

Entspannungsbemühungen der Regierungen in Warschau und Berlin während der Mitte der

dreißiger Jahre beschrieben hatte, schilderte er noch die zunehmenden »Querschüsse aus

Washington« und den Beginn der Interventionspolitik Roosevelts und seines Pariser

Botschafters Bullitt. Mit der anschließenden Verschärfung der politischen Lage zwischen

Deutschland und Polen ab Winter 1938/1939 befaßt sich die folgende Fortsetzung dieser

Untersuchung.

Die deutsche Außenpolitik hatte sich seit Oktober 1938 dem Danzig-Problem zugewandt und

sich in zwei Treffen zwischen Außenminister Ribbentrop und dem polnischen Botschafter

Lipski geäußert. Danach sollte der vom Völkerbund verwaltete Freistaat in den deutschen

Staatsverband zurückkehren, Polen jedoch zum Ausgleich bestimmte Rechte in Danzig und

seinem Hafen erhalten, Daneben wünschte Berlin durch den Korridor »eine exterritoriale,

Deutschland gehörige Reichsautobahn und eine ebenso exterritoriale mehrgleisige

Eisenbahn« zwischen Pommern und Ostpreußen. Die polnische Seite konnte sich aber nicht

zur Annahme dieser reichsdeutschen Vorschläge verstehen. Weder vermochte Hitler bei

seinem Gespräch mit Beck noch Ribbentrop bei seinem Staatsbesuch in Warschau am 26./27,

Januar 1939 eine Zusage der polnischen Regierung zu erhalten, Polen hielt die bisherige

Danzig-Regelung offenbar nicht für verhandlungsfähig und machte auch nicht die leiseste

Andeutung einer Gesprächsbereitschaft in dieser Frage. Es liegt nahe, diese

Kompromißlosigkeit mit den Bullitt-Gesprächen in Washington und Paris in Zusammenhang

zu bringen.

Daß die polnischen Politiker, insonderheit der als »deutschfreundlich« geltende

Außenminister Josef Beck, bereits im Winter 1938/39 eine andere Sprache über Hitler und

seine Regierung sprachen als wenige Monate zuvor, erhellt aus amerikanischen Geheimakten

jener Tage.

Da teilte der US-Botschafter in Warschau, Biddle, unter dem Datum des 10. Januar 1939

»strictly confidential for the President and the Secretary‹‹ nach Washington mit, was ihm der

polnische Außenamtschef über seine Unterredungen mit Hitler und Ribbentrop am 5, und 6.

Januar 1939 in Berchtesgaden berichtete. Danach habe der deutsche Reichskanzler während

seiner allgemeinen »Tour d'horizon« eine »prahlerische Rückschau« auf seine Erfolge im

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vergangenen Jahr gehalten und sich ziemlich verärgert über Präsident Roosevelts Botschaft an

den Kongreß vom 4. Januar 1939 gezeigt.

Die für Hitler ärgerliche Passage der Kongreß-Botschaft Roosevelts lautete: »Worte können

wertlos sein, aber der Krieg ist nicht das einzige Mittel, um der Auffassung der

Menschlichkeit die gemäße Achtung zu verschaffen. Es gibt viele Methoden, auch abgesehen

vom Krieg, die viel stärker und wirksamer sind als bloße Redensarten. Es gibt viele

Methoden, um den Angreifer-Regierungen die unseren Völkern gemeinsamen Gefühle

verständlich zu machen. Das wenigste, was wir tun können, ist, jede Handlung und jede

Unterlassung zu vermeiden, die einen Angreifer ermutigen, helfen oder stärken könnte. «

Nach dem Geheimbericht Biddles waren Beck und seine Regierung von diesen Ausführungen

tief beeindruckt und zogen daraus die Folgerung, daß sich Polen und Frankreich alsbald über

ihre Position gegenüber Deutschland einigen und schlüssig werden sollten, da man schließlich

im gleichen Boot sitze. Näheres wollten Beck und der amerikanische Botschafter »in aller

Ruhe« am Abend mit dem polnischen Generalstabschef besprechen. Aus den Bullitt-

Darlegungen vom 19. November 1938 in Washington hatten sich also schon konkrete

Regierungsvorstellungen über die künftige Haltung gegenüber Deutschland entwickelt.

Bei dem vertraulichen Abendgespräch zwischen Beck, Biddle und dem polnischen

Generalstabschef am 10. Januar 1939 in Warschau dürfte auch die antideutsche Stimmung

unter dem polnischen Offizierskorps nicht unbeachtet geblieben sein, die sich in den

nachfolgenden Wochen noch bemerkenswert steigerte. Sie fand der US-Botschafter immerhin

so wichtig, daß er sie in einem ausführlichen Kabel vom 20. Februar 1939 gleichfalls »strictly

confidential« nach Washington meldete. Gewährsleute seiner Mitteilung waren der

amerikanische Militär-Attaché in Warschau, Major Colbern, und der rumänische Botschafter

in Polen. Die gerade zu beobachtende Beruhigung in den deutsch-polnischen Beziehungen

betrachteten die polnischen Offizierskreise nach Mitteilung Biddles und seiner Informanten

als eine vorübergehende Atempause, der auf kurz oder lang neue deutsche Anschläge folgen

würden, die unter Umständen zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen Polen und

Deutschland führen könnten.

Aus einem anderen Vorkommnis, von dem Biddle »in strictly confidence« erfahren hatte,

ging darüber hinaus hervor, daß auch die polnische Regierung von wachsender Antipathie

gegenüber Deutschland erfüllt war. Lediglich der polnische Justizminister Grabowski galt

noch als deutschfreundlich. Außenminister Beck, von dem vielfach behauptet wurde, daß er

Deutschland gegenüber keine ablehnenden Gefühle habe, war jedenfalls nach dieser Quelle

kein Sympathisant Berlins, wenn er sich auch vor sechs Wochen Hitler und Ribbentrop

gegenüber freundlich gezeigt hatte.

Antideutsche Demonstrationen

Die »increasing anti-German feeling in Army circles and preponderant anti-German feeling

in inner Government circles«, von denen in Botschafter Biddles Depesche No. 962 vom 20.

Februar 1939 die Rede war, schienen sich auch auf den Straßen Warschaus und Posens zu

verbreiten. Das bezeugt ein weiteres Geheimkabel der US-Botschaft in Warschau, In ihm

berichtete Biddle von antideutschen Studentendemonstrationen vor dem Kriegsministerium in

Warschau und dem deutschen Generalkonsulat in Posen. Sie wurden durch ein Schild

ausgelöst, das nationalistische deutsche Studenten an dem Eingang der Danziger

»Polytechnischen Hochschule« angebracht hatten und das die Aufschrift trug: »Für Hunde

und Polen Zutritt verboten!« Die daraufhin von polnischen Studenten gefaßte Resolution mit

der Forderung, Deutschland »wirtschaftlich, kulturell und sozial zu boykottieren«, schien

ihren Kommilitonen in Warschau und Posen nicht zu genügen, so daß sie sich zu eigenen

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Protestzügen zusammenfanden, In der Hauptstadt sollen es nach Angaben des US-

Botschaftsberichtes rund 500 Studenten gewesen sein, die vor dem Kriegsministerium

»Nieder mit Hitler!« und »Nieder mit Becks prodeutscher Politik!« riefen, Danach riefen sie

nach Marschall Rydz-Smigly und forderten ihn auf, Truppen nach Danzig marschieren zu

lassen, Die Warschauer Polizei machte keinerlei Anstalten einzuschreiten, wodurch klar

wurde, »daß die Regierung Sympathie mit der Demonstration hegte«. Versuche, die deutsche

Botschaft zu erreichen, waren freilich vergebens, Laut amerikanischem Botschaftskabel

trugen die polnischen Studenten in Posen die gleichen Forderungen vor und konnten eine

Reihe von Fensterscheiben in der deutschen Bibliothek und den Büros einer deutschen

Zeitung einschlagen.

Weitere, ungleich größere Demonstrationen waren für den nachfolgenden Sonntag geplant,

unterblieben aber wegen des Eintreffens des italienischen Außenministers in der polnischen

Hauptstadt. Am 27. Februar 1939, also zwei Tage nach diesem amerikanischen

Botschaftsbericht, brachte die polnische Regierung dem deutschen Botschafter ihr Bedauern

über diese Vorkommnisse zum Ausdruck und sagte strenge Bestrafung der Schuldigen zu.

Nicht ausgeschlossen, daß die Anwesenheit Graf Cianos (vom 25. Februar bis 1, März) diese

Entschuldigung mit befördert hat, war doch Italien dem Deutschen Reich ideologisch und

durch die »Achse Berlin-Rom« mehrfach verbunden. Der sich vom 4, bis zum 6, März 1939

anschließende Besuch des rumänischen Außenministers Gafencu kam dagegen wieder dem

Selbstverständnis Polens als aufsteigender Großmacht entgegen, wurden doch dabei erneut

die Gedanken eines »dritten Europa« zwischen Ostsee und Schwarzem Meer - es war sogar

von der Ägäis die Rede! - erörtert und einschlägige politische und wirtschaftliche Fragen

besprochen.

Das polnische Großmachtstreben wurde am 11. März 1939 mit der Forderung der offiziösen

»Nationalen Einigung« nach Erwerb von Kolonien unterstrichen. Mit dem Erwerb geeigneter

Landstriche wollte man auch der freien Auswanderung »in Länder, in denen das Polenblut

entnationalisiert wird«, entgegenwirken und seine Volkssubstanz erhalten.

Die deutsche Besetzung der Rest-Tschechei am 15. März 1939 nahm das offizielle Warschau

zunächst gelassen hin und sprach schon am 16. März der nunmehr selbständigen Slowakei

seine diplomatische Anerkennung aus. Dagegen verurteilte bekanntlich die amerikanische

Regierung mit scharfen Worten das Vorgehen Deutschlands und weigerte sich, die de-facto-

Übernahme der Verwaltung Böhmens und Mährens durch Deutschland als legal

anzuerkennen. Unterstaatssekretär Sumner Welles erklärte am 18. März 1939 vor

Pressevertretern sein Bedauern über das Vorgehen Deutschlands, »das den vorübergehenden

Untergang der Freiheiten eines unabhängigen und freien Volkes zur Folge habe, mit welchem

das amerikanische Volk besonders enge und freundschaftliche Beziehungen unterhalten

habe«, und sprach in diesem Zusammenhang von »bewaffnetem Angriff« und

»Willkürakten«. Die Formulierung vom »vorübergehenden Untergang« dürfte besonders für

die Ohren des in Washington wohlgelittenen Expräsidenten Benesch gewählt worden

sein; sie könnte freilich auch schon als eine versteckte Zielangabe künftiger amerikanischer

Interventionspolitik verstanden werden. Der entschiedene Ton der Erklärung ist jedenfalls

nicht zu überhören und fand alsbald auch in Warschau sein Echo.

Kein Nachgeben Polens

Das bestätigt auch Botschafter Biddles »strictly confidential« Geheimtelegramm vom 29.

März 1939 an den »Secretary of State«. Darin gab er den wesentlichen Inhalt seines

Gesprächs mit Außenminister Beck vom 28. März wieder. Es drehte sich in der Hauptsache

um die deutsch-polnischen Beziehungen und die Entschlossenheit Warschaus, keinerlei Druck

seitens des Reiches nachzugeben. Dafür stünde auch Polens wehrhafte Abwehrbereitschaft als

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»würdige, höfliche aber auch feste Antwort« auf bestimmte Ansinnen Berlins. Polen sei zwar

für jede Verständigung auf der Ebene der Gleichberechtigung, jedoch nicht zugänglich für

eine Lösung, die ihm durch Einschüchterung aufgenötigt werde. Daher wollte es einstweilen

den gegenwärtigen Stand der Mobilmachung beibehalten, bis die gegenwärtige internationale

Gefahr gewichen sei. Nach Auffassung Botschafter Biddles war Berlin in jenen Wochen

»machttrunken« und nicht gewohnt, auf Widerstand zu stoßen; vielmehr würden deutsche

politische Extremisten Hitler bedrängen, eine möglichst schnelle Annexion von Danzig

durchzusetzen und auch die Ansprüche auf Durchfahrtsrechte durch den Korridor zu

verwirklichen, Laut Biddles Bericht ist Marschall Rydz-Smigly damals davon überzeugt

gewesen, daß Berlin darauf aus war, einen Krieg mit Polen zu provozieren; doch erfreue sich

die feste Haltung der polnischen Regierung der geschlossenen Unterstützung durch das Volk,

Und würde sie, etwa im Falle Danzigs, nachgeben, wäre das nicht nur ein Zeichen von

Defaitismus, sondern würde auch zum Sturz der Regierung und damit auch Becks führen,

Nach Meinung Biddles wäre der seinerzeitige deutsch-polnische Gegensatz nur beizulegen

gewesen, wenn sich Berlin und Warschau auf eine klare Veränderung des Status von Danzig

hätten einigen können und Berlin sich mit einem Wegerecht durch den Korridor - aber nicht

einem exterritorialem Zugang - zufrieden gegeben und darüber hinaus auf weitere Streitfragen

verzichtet hätte, wobei das Nachlassen der entstandenen schweren Spannungen zwischen

beiden Ländern eine weitere Voraussetzung gewesen wäre.

Auf einen solchen Kompromiß einigten sich aber bekanntlich Polen und Deutschland nicht;

und die USA schienen auch nicht gewillt zu sein, ihn durch eine entsprechende Empfehlung

zu fördern, Freilich dürfte die polnische Führung solchen Ratschlägen gegenüber auch wenig

empfänglich gewesen sein. Das geht zumindest aus einem geheimen Diplomatenbericht

zweier britischer Emissäre hervor, die im Mai 1939 im Auftrag ihrer Regierung eine

Informationsreise durch Polen unternahmen und bei dieser Gelegenheit mit maßgeblichen

Warschauer Politikern und Militärs konferierten. Da gaben ihnen die polnischen

Gesprächspartner unmißverständlich zu verstehen, daß es für sie »hinsichtlich Danzigs

bestimmte Konzessionen gäbe, die kein Pole freiwillig mache«, und daß sie nicht begreifen

könnten, daß Engländer von »der Rechtmäßigkeit der Ansprüche Herrn Hitlers« sprächen;

dabei müßten sie fragen, »was die Deutschen eigentlich in Prag täten«. Schließlich wüßten

sie, die Polen, »mit den Deutschen besser umzugehen« als die Engländer.

Mit dem Hinweis auf den deutschen Einmarsch in die Rest-Tschechei ist der maßgebliche

Hintergrund für das polnische Verhalten aufgehellt.

Die Polen wollten nicht das nächste Opfer deutscher Revisions- und Expansionspolitik sein,

sondern Hitlers diesbezüglichen Ansprüchen gleich von Anfang an militant entgegentreten.

Die von Bullitt wiederholt zugesagte Unterstützung Polens durch die USA ermunterte

Warschau zweifellos noch zusätzlich zu seiner kompromißlosen Haltung.

Englands Garantieerklärung

Zwei Tage nach Absenden des amerikanischen Botschaftsberichts erklärte dann der britische

Premierminister Chamberlain am 31, März 1939 im Londoner Unterhaus, »daß die britische

Regierung sich verpflichtet fühlt, Polen alle in ihrer Macht liegende Unterstützung zu leihen,

wenn es … angegriffen werden sollte, namentlich wenn es klar wäre, daß der Angriff auf die

Vernichtung der polnischen Unabhängigkeit abzielte, so daß der polnischen Regierung nichts

anderes übrig bliebe, als sich mit ihren sämtlichen nationalen Mitteln zur Wehr zu setzen. Wir

haben der polnischen Regierung entsprechende Zusicherungen gegeben«.

Damit war diese bislang einzigartige britische Beistandsgarantie gegeben, die in den

Augusttagen dann noch bekräftigt wurde und schließlich am 1. bzw. 3. September 1939 zum

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Eintritt Englands in den Krieg gegen Deutschland führen sollte, nachdem deutsche Truppen

am Morgen des ersten September-Tages nach Polen eingedrungen waren.

Einen ersten Schritt zur Mobilisierung seiner nationalen Wehrkraft hatte Polen im übrigen

bereits am 28, März 1939 getan, als es die Emission einer Landesverteidigungsanleihe zum

Zwecke des Ausbaus des Luftschutzes und der Luftstreitkräfte in einer Gesamthöhe von 1,2

Milliarden Zloty beschloß und General Skwarczynski am gleichen Tage erklärte, daß

Deutschland durch seinen Einmarsch in die Rest-Tschechei ein fait accompli geschaffen habe,

»wodurch Polen ohne Zweifel in eine schwere Lage« gebracht worden sei.

Nicht besser wurde die Lage Polens durch die Erklärung des faschistischen »Giornale d'Italia«

vom 4. April, in welcher Warschau an die von England und Frankreich nicht eingehaltenen

Garantien für die ÜSR erinnert wurde, und durch die Klarstellung Moskaus vom gleichen

Tage, wonach sich die Sowjetunion in keiner Weise verpflichtet fühle, Polen im Kriegsfall

mit Kriegsmaterial zu versorgen und seine Rohstoffquellen für Deutschland zu sperren. Der

Kreml signalisierte mit dieser Erklärung seine Bereitschaft, mit Berlin in näheren Kontakt zu

treten, falls dies von deutscher Seite gewünscht werde.

Am 6, April 1939 schloß Außenminister Beck seinen Staatsbesuch in London ab und konnte

zusammen mit Premierminister Chamberlain und Außenminister Lord Halifax ein

gegenseitiges Hilfeleistungsabkommen zwischen Polen und Großbritannien in Aussicht

stellen.

Der »Völkische Beobachter« Hitlers nannte dieses einen »gefährlichen Schritt« und zugleich

ein Verlassen der vom polnischen Nationalhelden, Marschall Pilsudski, »vorgezeichneten

klugen Bahn«, das zu einem »europäischen Brandstiftungsversuch« führen könnte. In diesem

Zusammenhang kritisierte das Zentralorgan der NSDAP auch die Teilmobilmachung der

polnischen Armee an der Grenze zu Deutschland und nannte sie eine »Herausforderung«.

Pilsudskis Weg verlassen

Im Schatten dieser hochpolitischen Ereignisse auf diplomatischer und publizistischer Ebene

ereigneten sich auch einige Vorkommnisse, die von der Nachwelt kaum registriert wurden. Zu

ihnen gehören der Selbstmord des früheren polnischen Ministerpräsidenten und engen

Mitarbeiters Marschall Pilsudskis, Oberst Walery Slawek, am 4. April 1939 und die durch

Strafaufschub ermöglichte Rückkehr des bisher im Exil lebenden Führers der polnischen

Bauernpartei Witos samt seinen anderen oppositionellen Gesinnungsfreunden am 11. April

1939. Kann dem Freitod des Pilsudski-Vertrauten Slawek das Motiv einer Verzweiflung über

den eingeschlagenen Kurs unterstellt werden, so ist es nicht ausgeschlossen, daß mit der

Heimkehr der bisher in Polen unerwünschten Bauernführer ein Zeichen der »nationalen

Konzentration« gesetzt werden sollte.

Unbestritten ist dagegen die Maßnahme des Warschauer Parlaments vom 11. April 1939 ein

weiterer Schritt zur Konfrontationsbereitschaft gewesen, als beschlossen wurde, »im Falle der

Mobilisierung oder bei sonstiger dringender Notwendigkeit« jedes im Privatbesitz befindliche

Verkehrsmittel der Nationalverteidigung zur Verfügung zu stellen und die Bauern im gleichen

Falle zu landwirtschaftlicher Kollektivarbeit zu verpflichten. Die Wehrbereitschaft Polens

sollte durch diese Verfügungen erneut nachdrücklich unter Beweis gestellt werden.

Am 25. April 1939 stellte die polnische Presse fest, daß sich die Beziehung zwischen Moskau

und Warschau angeblich in letzter Zeit »auf der Grundlage eines gutnachbarlichen

Verhältnisses entwickele und daß nunmehr seitens der Sowjetunion ein besseres Verständnis

für die polnischen Interessen zu bemerken« sei. Diese von Warschau mehr gewünschte als

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tatsächlich zu beobachtende Entspannung zwischen der Sowjetunion und Polen sollte Berlin

andeuten, daß man immer größere Rückenfreiheit gewinne und sich nicht als eingekreistes

Land erpreßbar fühlen müsse. In Wahrheit hatte sich der Kreml bereits insgeheim auf eine

deutsch-sowjetische Annäherung eingestellt und stand der prowestlich ausgerichtete

Außenminister Litwinow kurz vor seinem Rücktritt, der am 4. Mai 1939 dann auch

offenkundig wurde. Im gleichen Ausmaße, wie das wohlwollende Interesse des Kremls an

Deutschland stieg, fielen die Sympathien der Sowjetführung für Polen.

Lediglich Großbritannien bestärkte den polnischen Abwehrwillen, indem die Londoner

Regierung am 26. April 1939 einen Gesetzentwurf über die Mobilisierung einbrachte, welcher

die Einberufung der Reserven und Hilfskräfte in Zukunft wesentlich erleichtern sollte. In

einem zweiten Gesetzentwurf war die Einführung einer beschränkten Dienstpflicht

vorgesehen.

Beide Vorlagen sollten für den Zeitraum der nächsten drei Jahre Gültigkeit haben. Damit

schien der Erwartung, daß in dieser Zeit ein militärischer Konflikt wahrscheinlich sein dürfte,

weitgehend entsprochen.

Hitlers Antwort

Hitler reagierte auf diese polnischen und britischen Mobilisierungsvorkehrungen mit einer

Rede vor dem Deutschen Reichstag, in welcher er am 28, April 1939 neben der Kündigung

des deutsch-englischen Flottenabkommens von 1935 auch den deutsch-polnischen Vertrag

vom Januar 1934 aufkündigte, was der Warschauer Regierung durch die Überreichung eines

Memorandums noch förmlich zur Kenntnis gegeben wurde. Damit schien zwischen Polen und

dem Deutschen Reich endgültig der Konfrontationskurs eingeschlagen, Dies wurde auch nach

der Rede des polnischen Außenministers Beck vor dem Warschauer Abgeordnetenhaus am 5.

Mai deutlich, als er auf das gegenseitige Hilfeleistungsabkommen mit England und die

»Verstärkung« der Abmachungen mit Frankreich hinwies und zugleich Hitlers Anregung,

neue Verhandlungen über einen künftigen deutsch-polnischen Vertrag einzuleiten, nur mit

Vorbehalten aufnahm, bzw. Bedingungen an sie knüpfte. Wörtlich meinte der polnische

Außenamtschef: »Unsere von Kriegen mit Blut getränkte Generation verdient gewiß eine

Periode des Friedens. Aber der Friede hat einen hohen, wenn auch bestimmbaren Preis. Für

uns Polen gibt es den Begriff des Friedens um jeden Preis nicht. Es gibt im Leben der

Menschen, der Völker und der Staaten nur ein Ding, das nicht bezahlt werden kann: die Ehre,

«

Damit stellte Beck klar, daß für sein Land weder ein zweites »München« noch gar eine

»Protektorats-Lösung« in Frage komme, sondern die Toleranzschwelle gegenüber den

deutschen Forderungen erreicht war.

Dies bekamen auch die Volksdeutschen in Polen immer schmerzlicher zu spüren. Mit ihnen

und ihrer Lage befaßte sich die amerikanische Botschaft in ihrem Telegramm Nr. 1023 vom

6. April 1939, Danach hatten zwischen 1919 und 1926 insgesamt 990000 Volksdeutsche

Polen verlassen, um sich in Deutschland niederzulassen, wobei der Anteil der städtischen

Bevölkerung, der Lehrer und Öffentlich Bediensteten aus den nun westpolnischen Distrikten

am größten war. Ausweislich der letzten Volkszählung in Polen betrug die Zahl der

Volksdeutschen in Polen - laut US-Botschaftsbericht vom 6. April 1939 - 741000 Personen,

was einen Anteil an der Gesamtbevölkerung von 2,3 Prozent ausmachte. Nach derselben

Quelle lebten 1931 insgesamt 31915800 Menschen in der Republik Polen. Die zahlenmäßig

stärksten deutschen Minderheiten lebten in den Provinzen Posen (193100), Lodsch (155300)

und »Pomorze« (105400). Diese - deutsche - Minderheit hatte neben den Juden in Polen am

stärksten die polnische »Staatshand« zu spüren und einschlägige Restriktionen der Regierung

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hinzunehmen. Mit dem Erstarken des Deutschen Reiches und der »Heimkehr« der Deutsch-

Österreicher wie auch der Sudetendeutschen und der Memelländer erwachte auch bei den

Volksdeutschen in Polen ein stärkeres Selbstbewußtsein, dem die Polen und ihre Behörden

wiederum mit gesteigerten Amtsanmaßungen und Auflagen begegneten; eine

Vorgehensweise, die bereits Reichsaußenminister Stresemann in den zwanziger Jahren scharf

kritisiert und vor das Tribunal des Genfer Völkerbundes gebracht hatte, Mit den sich

verschlechternden politischen und diplomatischen Beziehungen zwischen Berlin und

Warschau gingen auch Verständigungsbereitschaft und Verträglichkeit unter Deutschen und

Polen in der Republik merklich zurück.

Diese Entwicklung beschleunigte sich noch, als Mitte Mai 1939 Agentenmeldungen in

Warschau eingingen, die von einem unmittelbar bevorstehenden deutschen Überfall auf Polen

meldeten. US-Botschafter Biddle berichtete davon »strictly confidential for the President and

the Secretary« am 15, Mai 1939. Danach wollte Hitler seine Weltmachtpläne mit einem

Angriff auf Polen im Juni zu verwirklichen suchen und einen Weltkrieg für den September in

Kauf nehmen. Die Attacke auf Polen würde mit motorisierten Kräften gleichzeitig von Nord

und Süd geführt und von einer schnellen Besetzung Danzigs flankiert. Darüber hinaus plante

angeblich das deutsche Oberkommando einen konzentrierten Ausbruch aus dem

Einkreisungsring im Osten und Südosten Deutschlands, bei gleichzeitigem Überrennen der

»Siegfried- und Maginot-Linie« im Westen und einer erwarteten Bindung französischer

Kräfte durch die Spanier im Pyrenäen-Gebiet sowie einem Einsatz großer Teile der deutschen

Luftwaffe gegen England.

In einem zweiten Telegramm vom gleichen Tage (dem 15. Mai 1939) gab Botschafter Biddle

die Einschätzung der aktuellen Lage und der Persönlichkeit Hitlers durch den polnischen

Außenminister Beck wieder und meldete nach Washington, daß man in Warschau Hitler in

der Defensive und ratlos sehe, da es deutsche - wie Österreichische - Mentalität sei, in der

Offensive stark, in der Defensive dagegen verstört zu sein. Beck sah Hitlers inneres

Gleichgewicht durch den englisch-polnischen Pakt, die Botschaft Präsident Roosevelts (vom

15. April 1939) an Hitler und Mussolini, den englisch-türkischen Pakt (vom 12. Mai 1939),

Becks Gespräche mit dem stellvertretenden Sowjetaußenminister Potemkin und die

Weigerung der skandinavischen Staaten, mit Deutschland einen Nichtangriffspakt abschließen

zu wollen, gestört und meinte, daß eine Fortsetzung solcher Niederlagen den deutschen

Diktator am ehesten in seine Schranken weisen dürfte. Nach Angaben Biddles war sich Beck

des Ernstes der Lage bewußt und schloß sogar einen Krieg für die nächsten Tage nicht aus,

Dennoch setzte er darauf, daß sich Hitler noch einen Rest von Vernunft bewahrt habe, um das

Äußerste zu vermeiden, Gleichwohl sei aber der Zeitpunkt gekommen, um den

Widerstandswillen unmißverständlich und Öffentlich zu bekunden. In diesem Zusammenhang

äußerte sich Beck nochmals sehr befriedigt über den englisch-polnischen Pakt, welcher nach

seiner Meinung das geeignete Mittel sei, um mit Diktatoren vom Schlage Hitlers

wesensgemäß umzugehen und ihre aggressive Politik entsprechend zu beantworten.

Zwischenfall in Danzig

Wenige Tage nach diesem Botschaftsbericht kam es in der Nacht zum 21. Mai in Danzig zu

einem Zwischenfall, bei welchem ein Danziger Bürger von einem polnischen

Staatsangehörigen, nämlich dem Chauffeur eines Kraftwagens, in welchem der polnische

Legationsrat Terkofwski saß, erschossen wurde, Nach polnischer Darstellung war die Tat des

Chauffeurs Notwehr, da er Ziel eines provokatorischen Überfalls gewesen sei; das heißt, die

Schuld an diesem Zwischenfall wiesen sich die deutsche und die polnische Seite gegenseitig

zu. Zwei Tage später beschloß das sogenannte Dreierkomitee des Völkerbundes für Danzig,

dem je ein Vertreter Englands, Frankreichs und Schwedens angehörten, in Übereinstimmung

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mit der polnischen Regierung, an dem Statut der Freien Stadt Danzig keine Änderung

vorzunehmen und gleichzeitig den Hochkommissar des Völkerbunds für Danzig zu ersuchen,

sich baldigst wieder in die Stadt zu begeben und einen Bericht über die dortige Lage zu

verfassen. Am 24. Mai 1939 kam es zu einem scharfen Notenwechsel zwischen dem

polnischen Generalkommissär in Danzig und der Danziger NS-Regierung über die

Verantwortung für den blutigen Zwischenfall vom 21. Mai.

Am 31. Mai erhielt Polen eine indirekte Rückenstärkung durch Molotow, der in einer Rede

vor den beiden Kammern des Obersten Sowjets von einer Besserung der Beziehung zwischen

Moskau und Warschau sprach und im gleichen Zusammenhang die Politik Berlins gegenüber

der und gegenüber dem Memelland scharf verurteilte. Es steht dahin, ob diese

unfreundliche Rede des sowjetischen Ministerpräsidenten und Außenministers eine bewußte

Provokation Berlins sein sollte oder die Antwort auf die geheime Anweisung aus dem

Auswärtigen Amt war, vorläufig keine weiteren Anstrengungen für eine deutsch-russische

Annäherung zu machen. Nach einem vertraulichen Botschaftsbericht Steinhardts aus Moskau

vom 25. Mai 1939, soll der reichsdeutsche Missionschef, Graf von der Schulenburg,

entsprechend instruiert worden sein, da sich offenbar Japan dadurch beunruhigt fühlte. Schon

vierzehn Tage später hatte aber US-Botschafter Steinhardt »confidential« nach Washington zu

melden, daß die deutsche und die sowjetische Regierung dennoch weiteren Kontakt

miteinander halten. Drei Tage später, am 12. Juni 1939, berichtete der amerikanische

Botschafter in Warschau, A. J. Drexel Biddle, über ein Gespräch, das er mit dem

einflußreichen polnischen Handelsrat im Warschauer Außenministerium, Jan Wszelaki,

geführt hatte, und teilte »strictly confidential« dem »Secretary of State« mit, daß nach

Meinung seines Gesprächspartners die Polen bereit wären, für ihren Staat das Leben

einzusetzen. Vor allem würde die polnische Armee einer Aggression widerstehen, zumal

dabei auch noch auf die Hilfe rumänischer Truppen gezählt werden könnte. Auf alle Fälle

würden sich die Polen anders verhalten als die Tschechen und den aggressiven Deutschen die

Stirn bieten. Diese Entschlossenheit der Polen nahm man offenbar in Berlin immer noch nicht

gebührend ernst. Anders scheint die Rede Joseph Goebbels' am 17. Juni 1939 in Danzig kaum

erklärbar. Da qualifizierte Hitlers Propagandaminister die Ansprüche Warschaus und ihre

Vertreter als »polnische Scharfmacher« ab und bezeichnete sie als »polnische

Großsprechereien«, die man im Reich nicht sonderlich ernst nehme.

Die von Goebbels in seiner Ansprache erwähnten Bestrebungen Polens, Ostpreußen und

Schlesien zu annektieren, die Oder als Grenzfluß zu erhalten und die Deutschen bei einem

etwaigen Krieg »in einer kommenden Schlacht bei Berlin zusammenzuhauen«, sind freilich

nicht neu. Sie wurden schon von den beiden britischen Diplomaten, William Strang und

Gladwyn Jebb, in ihrem geheimen Reisebericht vermerkt und hatten insofern einen realen

Hintergrund - ganz davon abgesehen, daß sich diese polnischen Wünsche dann 1945 zu

erfüllen schienen.

Am 29. Juni 1939 unterstrich die polnische Führung wiederum den unerschütterlichen

Selbstbehauptungswillen ihres Landes, indem Staatspräsident Moscicki anläßlich des »Tages

des Meeres« eine Rede hielt, in welcher er feststellte: »Je mehr sich die außenpolitischen

Verhältnisse zuspitzen, um so größer ist die Entschlossenheit der polnischen Nation zur

Behauptung dieses Küstenstrichs an der Ostsee … Wir leben zwar in einer Zeit des

Rüstungswettlaufs. Wir sind entschlossen, am polnischen Ufer der Ostsee den Frieden

aufrechtzuerhalten; aber diese Absicht zwingt uns, die polnischen Streitkräfte zur See zu

vermehren. Mächtig auf der Erde und in der Luft, wollen wir auch auf dem Meer stark werden

zur Sicherstellung der Seemission der polnischen Nation.« .

Erklärungen Frankreichs und Englands

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Im gleichen Zusammenhang gab die polnische Regierung bekannt, daß ihr von der

Organisation eines deutschen Freikorps in Danzig zuverlässige Information vorliege, was die

Krise um die Freistadt noch verschärfe. Der französische Außenminister Bonnet sah sich am

2. Juli veranlaßt zu erklären, daß Frankreich ebenso wie England getreu den übernommenen

Verpflichtungen fest entschlossen sei, nicht zu dulden, daß der Status quo in Danzig oder im

polnischen Korridor geändert werde, »sei es durch eine einseitige Aktion von innen, sei es

durch eine Gewalthandlung von außen«.

Hintergrund dieser Verlautbarung waren verbreitete Gerüchte, nach welchen Hitler angeblich

nach Danzig kommen wollte, um dort den Anschluß Danzigs an das Deutsche Reich zu

proklamieren.

Dies unterstellte auch Chamberlain, als er am 10. Juli 1939 vor dem britischen Unterhaus

erklärte:

»Die jüngsten Vorkommnisse in Danzig haben unvermeidlich Anlaß zu Befürchtungen

gegeben, daß beabsichtigt sei, den künftigen Status der Stadt durch eine einseitige, mit

verborgenen Methoden organisierte Aktion zu regeln und auf diese Weise Polen und andere

Mächte vor eine vollendete Tatsache zu stellen … Wir haben garantiert, daß wir Polen

unseren Beistand geben im Falle einer klaren Bedrohung seiner Unabhängigkeit, der mit

seinen nationalen Streitkräften Widerstand zu leisten es als lebenswichtig betrachtet, und wir

sind fest entschlossen, diese Verpflichtung auszuführen.« Die Anwesenheit des NS-Gauleiters

von Danzig, Forster, in Berchtesgaden und sein Gespräch mit Hitler auf dem Berghof am 13.

Juli verdichteten ausländische Zeitungen zu dem Gerücht, daß die Danziger

Nationalsozialisten Hitler zum Präsidenten der Freien Stadt Danzig wählen und auf diese

Weise durch Personalunion die Stadt mit dem Deutschen Reich vereinen wollten. Die

polnische Regierung reagierte auf diese Vermutungen mit der amtlichen Mitteilung vom 24.

Juli 1939, in welcher es hieß:

»Ohne Rücksicht auf die Art, in welcher Deutschland die Freie Stadt Danzig dem Reiche

einzugliedern wünscht, erklären die polnischen politischen Kreise, daß schon die Tatsache des

Anschlusses allein eine unerlaubte Beugung des derzeitigen politischen und gesetzlichen

Standes der Dinge darstellen und deshalb auch die entsprechende Antwort nach sich ziehen

würde.«

Mit diesen Erklärungen von britischer, französischer und polnischer Seite sollte in Berlin

nunmehr hinlänglich klar geworden sein, daß ein weiteres Rütteln am Status von Danzig zu

einer militärischen Auseinandersetzung führen müßte und sich mithin ein »Münchener

Abkommen« oder ein März 1939 nicht wiederholen dürfte. Warschau erklärte den

überkommenen Status quo Danzigs zum Ehrenpunkt, der nicht verhandlungsfähig sei, und die

verbündeten Westmächte bestärkten Polen in seiner Haltung nachdrücklich.

Die Meinung polnischer Militärs

Im Sinne der Beckschen psychologischen Strategie gegenüber Hitler, nämlich der

Demonstration von Entschlossenheit und Stärke, meldeten sich in den nachfolgenden Tagen

und Wochen zunehmend mehr Militärs zu Wort.

Unter ihnen spielte naturgemäß Marschall Rydz-Smigly eine herausragende Rolle. Und so

nahm es nicht wunder, daß er auch bevorzugt von ausländischen Diplomaten um seine

Lagebeurteilung angegangen wurde. US-Botschafter Biddle gehörte zu seinen ausgewählten

Gesprächspartnern und meldete ausführlich über seine Unterhaltung nach Washington. Dabei

erscheint das Geheimtelegramm »strictly confidential« vom 26. Juli 1939 »For the President

Page 18: (eBuch - Deutsch) Alfred Schickel - Deutschland Und Polen Im Spiegel Amerikanischer Geheimdokumente (1983)

and the Secretary« besonders aufschlußreich. Es beinhaltet die neueste militärische

Lagebeurteilung des obersten polnischen Soldaten und zeugt von der schier unaufhaltsamen

Entwicklung zu einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Polen und Deutschland,

Etwa, wenn die polnische Armeeführung zwei Divisionen zusätzlich an die deutsch-polnische

Grenze verlegte, stationierten die Deutschen im Gegenzug drei Divisionen in den

Gebietsstreifen gegenüber, In den letzten Tagen, so erläuterte Rydz-Smigly dem US-

Botschafter, hätte eine Konzentration deutscher Truppen vis-à-vis von Posen stattgefunden;

und in allerjüngster Zeit im Gebiet von Breslau-Oppeln, was aber immer noch nicht sehr

alarmierend wäre, Nach Meinung des polnischen Marschalls würden die Deutschen rund zwei

Wochen benötigen, um hinreichend Kräfte für einen Schlag gegen Polen zu mobilisieren: eine

Voraussage, welche Botschafter Biddle glaubte durch eine zusätzliche Nachricht ergänzen zu

müssen.

Nach jüngsten geheimdienstlichen Erkenntnissen, so vertraute Rydz-Smigly dem

amerikanischen Botschafter an, gäbe es bei den deutschen Offizieren eine Urlaubssperre und

wären im Ernteeinsatz befindliche Reservisten für den 10. August 1939 zur militärischen

Verwendung vorgesehen. Die Wahrscheinlichkeit eines Krieges sei in letzter Zeit größer

gewesen als die Möglichkeit seiner Verhütung, doch hätte sich die Politik der Stärke und

Entschlossenheit bewährt und die Anti-Aggressions-Front an Stärke zugenommen, was zu

Lasten der Achse gegangen sei. Die Zeit arbeitete letztlich gegen Deutschland; nach einem

Jahr dürfte die militärische Stärke der Anti-Aggressions-Front (= Polen mit England und

Frankreich samt ihren Verbündeten) ziemlich sicher jene der Achse eingeholt haben und in

zwei Jahren sogar überflügeln. So seien sich Rydz-Smigly und Außenminister Beck in der

Überzeugung einig, daß nur eine feste Haltung der Anti-Aggressions-Front letztlich ein

wirksames Gegengewicht gegen Deutschlands Expansionsgelüste darstelle und daß die

Sprache der Stärke die einzige sei, die Hitler mit Erfolg zum Stehen bringen könne. Der

braune Diktator gebrauche seine Streitkräfte eigentlich mehr als Erpressungsmittel denn als

»a factor intended to come actually to grips with formidable strength«, wie Biddle die

Meinung Becks und Smigly-Rydz' zusammenfaßte. Gleichwohl würde Hitler wachsam

bleiben, um jedes Zeichen von Schwäche der Anti-Aggressions-Front für sich auszunutzen

und loszuschlagen. Im State Department hielt man dieses Telegramm Biddles für so

bemerkenswert und wichtig, daß Unterstaatssekretär Sumner Welles es zusammen mit

anderen Depeschen aus Warschau Präsident Roosevelt zur persönlichen Kenntnisnahme

zuleitete, wie eine Briefanlage ausweist. Am 17. August 1939 wandte sich Botschafter Biddle

wiederum »strictly confidential« an den Präsidenten und an den Außenminister, um von den

Massenverhaftungen Volksdeutscher zu berichten, die unter dem Vorwand der Spionage und

Agententätigkeit festgenommen worden waren. Unter den Festgenommenen befand sich auch

Rudolph Weisner, einer der prominenten Führer der deutschen Minderheit in Polen, den die

Polen nunmehr als »ehemaliges« Mitglied des Polnischen Senats bezeichneten, wie Biddle in

seinem Geheimbericht vermerkte. Hintergrund für die Verhaftungswelle war der Verdacht,

daß die Volksdeutschen als »fünfte Kolonne« für Berlin arbeiteten und auch hinter

bestimmten Grenzzwischenfällen, bei denen polnische Menschen zu Schaden gekommen

waren, steckten, Das amerikanische Botschaftstelegramm vom 17. August 1939 erwähnt

einige Beispiele, die der deutschen Minderheit angelastet wurden. Ob die Vorwürfe objektiv

zu Recht bestanden, dürfte nicht mehr feststellbar sein, Für die aufgebrachte polnische

Mehrheit genügte jedenfalls bereits der Verdacht, um die Aktion als gerechtfertigt anzusehen.

Daß möglicherweise mehr Ressentiment und Stimmungsmache hinter dem Argwohn

gegenüber den Volksdeutschen stand, erhellt aus einer Bemerkung, die der schon erwähnte

Handelsrat Wszelaki in einem Gespräch mit den britischen Diplomaten Strang und Jebb im

Mai 1939 machte. Danach befürchtete er nach dem möglichen Ausbruch eines Krieges ein

schreckliches Massaker unter den Volksdeutschen, wie es dann in den ersten September-

Tagen tatsächlich eintrat und rund fünftausend Volksdeutschen das Leben kostete.

Page 19: (eBuch - Deutsch) Alfred Schickel - Deutschland Und Polen Im Spiegel Amerikanischer Geheimdokumente (1983)

Von der emotional geladenen Stimmung der Polen hatte US-Botschafter Biddle schon am 9.

August 1939 nach Washington berichtet, als er die 25-Jahr-Feier der Gründung der Pilsudski-

Legion am 6. August in Krakau schilderte und die Rede Marschall Rydz-Smiglys wiedergab.

In ihr hatte der polnische Oberkommandierende mit markigen Worten klargestellt, daß die

Stadt Danzig Jahrhunderte hindurch mit Polen und seiner Wirtschaft verbunden gewesen sei,

daß Gewalt mit Gegengewalt beantwortet würde und daß sich die Polen an Vaterlandsliebe

nicht von den Deutschen übertreffen ließen, um dann beim Schluß seiner Ansprache aus dem

Munde der versammelten Legionäre und der über hunderttausend Zuhörer aus ganz Polen das

Gelöbnis zu hören: »Wir schwören, während eines Krieges ungebrochen bis zum Siege zu

kämpfen.« Biddle meinte, daß die in Krakau versammelte Volksmenge wohl die Stimmung

aller Polen wiedergegeben habe. Im übrigen habe Rydz-Smigly den Kern seiner Krakauer

Ausführungen auch schon in einem Interview mit der amerikanischen Journalistin Mary

Heaton Vorse zum Ausdruck gebracht. Biddle übermittelte dessen Wortlaut in einer Anlage

zu einem Geheimtelegramm vom 9. August. Danach sagte der Marschall seiner

Gesprächspartnerin, daß Polen entschlossen sei zu kämpfen, falls Deutschland seine

Anschlußpläne mit Danzig weiter verfolge. Darin seien sich im übrigen alle Polen einig, da

Danzig für Polen absolut notwendig sei. Im übrigen lerne schon jeder polnische Junge

gleichsam mit dem Gebet, daß er ein guter Soldat werden soll, um sein Vaterland verteidigen

zu können.

Quintessenz der Biddleschen Meldungen aus Warschau war, daß Marschall Rydz-Smigly -

wie Außenminister Beck - die Memung vertrat, »that durable peace could not be secured by

the granting of further territorial concessions in Eastern and Central Europe to Hitler«, also

mit weiteren Zugeständnissen an Hitler letztlich doch kein dauerhafter Friede aufrechterhalten

lasse.

Damit war der polnische Standpunkt oft und deutlich genug dem potentiellen Kontrahenten

im Westen klargemacht und eigentlich jeder Zweifel über seine Ernsthaftigkeit beseitigt. Die

deutsche Seite antwortete auf die zahlreichen Entschlossenheitsbekundungen Warschaus nur

in Reden untergeordneter Personen, etwa des Danziger Gauleiters Forster oder eines

beamteten Regierungssprechers.

Deutsch-sowjetische Verbindungen

Auf höchster Ebene enthielt man sich in Berlin auffallend einer eindeutigen Stellungnahme;

vielmehr arbeitete man dort an einem Überraschungscoup, der das ganze Bündnis- und

Beistandsgebäude, die sogenannte Anti-Aggressions-Front, zum Einsturz bringen sollte: an

einem Übereinkommen mit der Sowjetunion. Ausweislich der vertraulichen amerikanischen

Botschaftsberichte aus Moskau steuerte Berlin auf einen solchen Abschluß seit dem

Spätfrühjahr 1939 hin. Am 21. August 1939 waren die Verhandlungen dann soweit

fortgeschritten, daß sie in ein unterschriftsreifes Ergebnis mündeten und der Abschluß eines

Vertrages bekannt gemacht werden konnte.

Warschau, das man mit dieser deutsch-sowjetischen Annäherung einschüchtern wollte, zeigte

sich jedoch unbeeindruckt und ließ am 22. August erklären:

»Die Ankündigung des bevorstehenden Abschlusses des Nichtangriffspaktes zwischen

Deutschland und der Sowjetunion hat in den polnischen Kreisen keinen großen Eindruck

gemacht; denn im Grunde genommen bringt dieser Abschluß keine tatsächliche Änderung des

Gleichgewichts der Streitkräfte in Europa … Der Abschluß des Nichtangriffspaktes wird

keinen Einfluß auf die Lage und die Haltung Polens ausüben. « Man konnte an der Weichsel

kaum ahnen, daß der Nichtangriffspakt lediglich das Feigenblatt für das viel bedeutsamere

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»Geheime Zusatzprotokoll« zwischen dem Deutschen Reich und der UdSSR war, in welchem

Polen in ein künftiges deutsches und ein sowjetrussisches Einflußgebiet aufgeteilt wurde, also

seine Selbständigkeit beendet werden sollte, wie es dann im September 1939 auch geschehen

ist.

USA täuschen Polen weiterhin

Von dieser höchst bedrohlichen Absicht Hitlers und Stalins hätte freilich die polnische

Regierung Kenntnis bekommen können, wenn sich das State Department oder das Weiße

Haus in Washington entschlossen hätte, sein insgeheim erworbenes Mitwissen um diese

Diktatoren-Allianz dem befreundeten Polen weiterzugeben. Seit Einsichtnahme in das

Geheimtelegramm der US-Botschaft in Moskau vom 24. August 1939 wissen wir, daß die

amerikanische Regierung schon wenige Stunden nach Unterzeichnung des »Geheimen

Zusatzprotokolls« über seinen Inhalt benachrichtigt worden ist. Bedenkt man die

Freimütigkeit, mit der die polnische Regierung die US-Vertreter in Warschau über alle

wichtigen Vorgänge informierte, wäre eine entsprechende Vertraulichkeit gegenüber Polen

seitens der amerikanischen Regierung natürlich zu erwarten gewesen; und erinnert man sich

der Öffentlichen Reaktionen westlicher Regierungskreise auf vermeintliche Unternehmungen

Berlins in Sachen Danzigs, muß man sich über die Hinnahme dieser ebenso imperialistischen

wie sensationellen Interessenaufteilung des polnischen Landes wundern.

Die nach dem 23. August 1939 feststellbaren Verlautbarungen der »Anti-Aggressions-Front«

nahmen zumindest keinen Bezug auf den Inhalt des sowjetisch-deutschen »Zusatzprotokolls«

zum Hitler-Stalin-Pakt, sondern kommentierten im wesentlichen die eingetretenen Ereignisse,

bzw. reagierten gezielt und Öffentlich auf den publizierten Text des deutsch-sowjetischen

Abkommens, So unterzeichnete die britische Regierung am 25. August 1939 das englisch-

polnische gegenseitige Hilfeleistungsabkommen und betonte dabei ihre Entschlossenheit, zu

ihren Verpflichtungen gegenüber Polen zu stehen, und bekräftigte der französische

Ministerpräsident Daladier am gleichen Tage die schicksalhafte Verbundenheit seines Landes

mit dem Volke der Polen. Und US-Präsident Roosevelt richtete am 25. August 1939 eine

Botschaft an Hitler: nicht um dessen Komplizenschaft mit Stalin anzuprangern, sondern um

eine schiedlichfriedliche Lösung des deutsch-polnischen Gegensatzes anzuregen und dabei

die eigenen Dienste anzubieten. Nach Eingang der polnischen Zustimmung zu Roosevelts

Verhandlungsvorschlägen wandte sich dieser am 26. August 1939 erneut an Hitler und führte

aus: »Moscicki hat in seiner Antwort erklärt, die polnische Regierung sei geneigt, auf der in

meinen Botschaften vorgeschlagenen Grundlage die Gegensätze zwischen Polen und dem

Deutschen Reich durch unmittelbare Verhandlungen oder durch ein Schlichtungsverfahren zu

regeln. Man kann noch das Leben zahlloser Menschen retten, und wir sind noch von der

Hoffnung erfüllt, daß die Nationen der modernen Welt die Basis friedlicher und glücklicherer

Beziehungen schaffen können, wenn Sie und die Reichsregierung der von der polnischen

Regierung angenommenen friedlichen Regelung zustimmen.«

Bei Eintreffen dieser Roosevelt-Botschaft sollte die deutsche Wehrmacht nach den Plänen

Hitlers bereits in Polen einmarschiert sein, hatte doch der deutsche Kanzler schon am 25.

August 1939, um 14:50 Uhr, den Befehl erteilt, am 26. August um 4:45 Uhr den Angriff auf

Polen zu eröffnen. Diesen Vormarschbefehl ließ er dann am gleichen Tage, um 18:15 Uhr,

widerrufen, um auf die neuesten diplomatischen Interventionen Englands, Frankreichs und

der USA eingehen zu können. Die von ihm in das deutsch-sowjetische Bündnis gesetzte

Erwartung, daß sich England und Frankreich nunmehr von ihren Zusicherungen an Polen

distanzieren würden und ein Feldzug gegen Polen mithin isoliert geführt werden könnte, hatte

sich als Fehlspekulation erwiesen und veranlaßte ihn zu einem Aufschub von einigen Tagen.

In dieser Zeit bemühte sich bekanntlich Großbritannien um eine direkte Verständigung

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zwischen Berlin und Warschau und ließ Hitler (am 30. August) seinen 16-PunkteVorschlag

für eine Regelung des Danzig-Korridor-Problems sowie der deutsch-polnischen

Minderheitenfrage unterbreiten. Er sah die Rückkehr Danzigs in den deutschen Staatsverband,

im Gebiet des polnischen Korridors eine Volksabstimmung »nicht vor Ablauf von 12

Monaten« und einen danach stattfindenden Bevölkerungsaustausch vor sowie polnische

Sonderrechte im Hafen von Danzig, die Demilitarisierung der Halbinsel Hela und eine

»international zusammengesetzte Untersuchungskommission« zur Beilegung der

Minderheitenfrage. Bei Verständigung auf dieser Grundlage sollten sich Polen und

Deutschland bereit erklären, »die sofortige Demobilmachung ihrer Streitkräfte anzuordnen

und durchzuführen«. Ein Angebot, vor dem der deutsche Chefdolmetscher Paul Schmidt nach

dem Krieg berichtete, daß es von Hitler selbst nur als »Alibi« und nicht ernst gemeint

unterbreitet worden sei, wie ihm der braune Diktator »mit nicht zu übertreffender Klarheit

bestätigt« habe.

Fest steht jedenfalls, daß die polnische Regierung für den 30. August 1939 die

Generalmobilmachung angeordnet und bis zum Abend des 31. August keinen

bevollmächtigten Vertreter zur Entgegennahme der angeführten 16 Punkte nach Berlin

entsandt hatte, wie es auch aktenkundig ist, daß am 31. August 1939 um 12:40 Uhr die

Weisung an die deutsche Wehrmacht ging, am 1. September 1939, um 4:45 Uhr, die

Kampfhandlungen gegen Polen zu eröffnen.

Damit verstummten die Stimmen der Diplomaten und der Vernunft und dröhnten die Waffen -

begleitet von tönenden Deklamationen beider Seiten.

Die schlechteste aller Lösungen schien gekommen: der Krieg.

Quelle: Deutschland in Geschichte und Gegenwart 31(4) (1983), S. 18-26