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Einführung in die Wissenschaftstheorie Martin Kusch <[email protected]>

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Einführung in die Wissenschaftstheorie

Martin Kusch

<[email protected]>

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9. Philosophie der Wissenschaftspolitik

… Am Beispiel der

Sozialwissenschaften

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Die Funktionen der Sozialwissenschaften in der liberalen Demokratie:

Eine Kritik an Kitcher und Turner

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Einleitung: Politischer Kontextualismus These: Es gibt keine politisch neutrale, a-historische oder kontextfreie

Antwort auf die Frage nach den Funktionen der SW-en in der LD. Jede Antwort muss / sollte bestimmt sein durch Konzeptionen …

der liberalen Demokratie im Allgemeinen;

einer konkreten Form der liberalen Demokratie; und

dessen, was die Sozialwissenschaften erreichen sollten.

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Einleitung: Politischer Kontextualismus (Forts.) Zwei Gegner des politischen Kontextualismus:

Philip Kitchers liberal-demokratische Auffassung von Wissenschafts-politik, und

Stephen Turners Sicht der Funktion der Soziologie in der liberalen Demokratie.

John Rawls Ansichten sind wichtig für Kitcher und Turner; meine

Kritik orientiert sich an Raymond Geuss und Chantal Mouffe.

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1. Die Sozialwissenschaften im kalten Krieg in den U.S.A.

2. John Rawls über Methode und Pluralismus

3. Raymond Geuss und Chantalle Mouffe gegen Rawls

4. Philip Kitchers “Well-Ordered Science”

5. Kritik an Kitcher

6. Michael Burawoy und Stephen Turner zur “Public Sociology”

7. Kritik an Burawoy und Turner

8. Einige Schlussfolgerungen

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1. Die Sozialwissenschaften im kalten Krieg in den U.S.A.

2. John Rawls über Methode und Pluralismus

3. Raymond Geuss und Chantalle Mouffe gegen Rawls

4. Philip Kitchers “Well-Ordered Science”

5. Kritik an Kitcher

6. Michael Burawoy und Stephen Turner zur “Public Sociology”

7. Kritik an Burawoy und Turner

8. Einige Schlussfolgerungen

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Ein Beispiel

… der Funktionen der Sozialwissen-

schaften (= SW-en) in einer histo-risch wichtigen „liberalen Demokra-tie“ (= LD).

Es finden sich Zusammenhänge zwi-schen der Ideologie des Kalten Krie-ges und der Gegnerschaft zum poli-tischen Kontextualismus.

2012

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Wichtige Wachstumsperiode

Vgl. die Mitgliedschaft in der American Sociological Association:

1920: 1,021

1940: 1,034

1950: 3,241

1960: 6,875

1970: 14,156

1980: 13,304 (Solovey k207)

2010: 13,708

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Wichtige Institutionen

Defence Department, Army, Navy, Air Force

Militärische “think tanks”, esp. RAND Corporation

Geheimdienste, insbes. CIA

Department of Agriculture

Department of Health, Education and Welfare

National Science Foundation

National Institute of Mental Health

Council of Economic Advisors

Psychological Strategy Board

Ford Foundation, Rockefeller Foundation, Carnegie Corporation

(Solovey k215-218)

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Das „Harvard Refugee Interview Project” in Harvard (1950-1954)

Finanziert von der Air Force. Interviews mit tausenden von Flücht-lingen aus der UdSSR.

Ziel: “prepare basic social-psychological guides to air attack on the Soviet Union” (quoted in Engerman k764).

Kapitel betreffen zentrale Institutionen des “social system” (Par-sons): Familie, Arbeit, Partei, Berufsgruppen.

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Die Erforschung von sozialen Beziehungen in Harvard

Ziel: das Aufstellen eines “exhaustive system of categories” um Kulturen und Interaktionstypen zu verstehen. (k2142)

Erforschung von Kleingruppen: jede Gruppe ist eine unabhängige und einzigartige Kultur: Verallgemeinerungen sind leicht zu testen.

Zentral für Parsons’ General Theory of Action (k1951)

Betonung auf wertneutralen empirischen Daten und Beobachtung

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Theorien des Entscheidens

Sorge: AmerikanerInnen machen irrationale Entscheidungen. Dies gefährdet die US-amerikanische Demokratie. (k2326)

Dieser Pessimismus wurde gedämpft durch den Optimismus bzgl.

neuer “intellectual technologies”: z.B. Algorithmen (k2444-54).

Diese sollten vor allem ExpertInnenentscheidungen im Militär, im Management und der Administration verbessern (k2357).

Office of Naval Research, RAND und die Ford Foundation waren die

wichtigsten Geldgeber. (k2505, k2521)

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Theorien des Entscheidens (Forts.) Futures Studies (Tolon 2012) eng geknüpft an die “Delphi Method” als Mittel der Konsensbildung der ExpertInnen. Creativity Research (Bycroft 2012): Sorge bzgl. irrationaler Entscheidungen: “regulate the irregular”. (k4334-40) Kontrolle der Ingenieure (Jones-Imhotep 2012): The “Relia- bility Crisis”: Ingenieurpsychologie als Lösung?

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Linguistik

Linguistik wurde die vorbildhafte SW, weil sie formale Methoden benutzt und programmierbar scheint. (k1545)

Finanziert durch das Militär (z.B. the MIT Gruppe um Chomsky).

Sorge um Schwächen im U.S. Erziehungssystem und angebliche “machine translation” Erfolge in der UdSSR. (k1745)

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“Special Operations Research Office”

Finanziert durch das Militär, aber in der American University

“Soronists” verstanden sich als “policy scientists”. (k3168)

Sie hatten einen “exceptionalist view” der U.S. LD. Allein die einzigartigen Bedingungen der U.S.A. erlauben die Existenz einer stabilen Demokratie. (ibid.)

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Persönlichkeit und Mutterschaft

Die nationale Kultur schafft stabile Persönlichkeitstypen. Wichtig für die ökonomische Entwicklung. (k2925-29)

Modernisierung der Persönlichkeit der Eliten in der dritten Welt

“… a nexus between maternal love, emotional maturity, and a democratic order” … (k5174) Zu viel “momism” (k5237).

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Neo-evolutionistische Anthropologie

Einige AnthropologInnen untersuchten soziale Evolution.

Sie wandten sich gegen das psychologisch-ökonomische Theore- tisieren über die Moderne (s.o.). (k3460) Sie attackierten andere SW-sche Programme als ideologisch und

kolonialistisch. (k3497) Sie betonten globale und transnationale Perspektiven. (k3501)

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Einige Lehren

Politiker und SW-er sahen die Funktionen der SW-en in der U.S. LD

der Zeit wie folgt:

Stärken der U.S.A. in ihrem „Krieg” gegen den Kommunismus Verstehen des Erfolges der U.S.A. Lösen des „Problems“ der weitverbreiteten Irrationalität Stärken der U.S. Wirtschaft

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Einige Lehren (Forts.)

Diese Auffassungen über die Funktionen der Sw-en waren gebun- den an ein ganz bestimmten Verständnis von LD. Es überrascht, dass dies in der Anthologie nicht erwähnt wird.

Eine klare Formulierung dieses „ganz bestimmten Verständnisses” findet sich bei …

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Einige Lehren (Forts.)

Joseph A. Schumpeter (1883-1950), Har- vard Professor für Wirtschaftswissenschaf- ten (1932-1950):

Capitalism, Socialism & Democracy (1943)

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Einige Lehren (Forts.)

Demokratie bedeutet nicht, dass die Wähler wichtige Fragen entscheiden; sie bedeutet, dass die Wähler dieses Recht an ihre gewählten Vertreter abtreten:

“… the democratic method is that institutional arrangement for arriving at political decisions in which individuals acquire the power to decide by means of a competitive struggle for the people’s vote.” (1943/2005: p269)

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Einige Lehren (Forts.)

Gewöhnliche Bürger sind zu irrational um politische Fragen zu entscheiden: “… the typical citizen drops down to a lower level of mental performance as soon as he enters the political field. … in- fantile … primitive …” (p262) Der einzige Link zwischen Freiheit und Demokratie ist, dass

“… everyone is free to compete for political leadership …”

(p271-2)

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Einige Lehren (Forts.) Unsere Bewertung hängt von unseren eigenen politischen An- sichten ab, und unserer Einschätzung dieser Projekte. Cass Sunstein (2002, 2005) teilt die Sorge bzgl. der Irrationalität und verteidigt daher Paternalismus und Expertentum. AutorInnen der Linken sehen diese Projekte als ideologisch & als Mittel der Absicherung von U.S. Kapitalismus und Imperialismus.

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1. Die Sozialwissenschaften im kalten Krieg in den U.S.A.

2. John Rawls über Methode und Pluralismus

3. Raymond Geuss und Chantalle Mouffe gegen Rawls

4. Philip Kitchers “Well-Ordered Science”

5. Kritik an Kitcher

6. Michael Burawoy und Stephen Turner zur “Public Sociology”

7. Kritik an Burawoy und Turner

8. Einige Schlussfolgerungen

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1971 1993

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Rawls I: Idealisierte Entscheidungsmethoden “Original Position” / “Veil of Ignorance”:

“… no one knows his place in society, his class position or social status, nor does anyone know his fortune in the distribution of natural assets and abilities … … I shall even assume that the parties do not know their concep- tions of the good or their special psychological propensities. The principles of justice are chosen behind a veil of ignorance." (p12) Die Parteien verwenden “Maximin” and optieren für “Justice as Fairness” …

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Rawls I : Justice as Fairness “ … each person is to have an equal right to the most extensive basic liberty compatible with a similar liberty for others.” (p60) “Social and economic inequalities are to be arranged so that

(a) they are to be of the greatest benefit of the least-advantaged members of society, consistent with the just savings principle; (b) offices and positions must be open to everyone under condi- tions of fair equality of opportunity.” (p302)

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Rawls II: Politischer Liberalismus

Der “fact of pluralism”: eine Pluralität von “conceptions of the good” (1987: p425) “A political conception of justice”: eine Konzeption frei von Bin- dungen an “general and comprehensive doctrines” (ibid., p426) Intuitionen: “… the political culture of a reasonably stable demo- cratic society normally contains, at least implicitly, certain funda- mental intuitive ideas from which it is possible to work up a poli- tical conception of justice suitable for a constitutional regime.” (1989: 475)

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Rawls II: “Overlapping Consensus”

Eine politische Konzeption kann gestützt sein durch einen “over- lapping consensus” unter den “reasonable”. (1993: 50) “Reasonable persons … desire … a social world in which they, as

free and equal, can cooperate with others on terms all can accept. They insist that reciprocity should hold …” (1993: 50; cf. 1997: 578)

“Reasonable people” wählen “justice as fairness” (Rawls 1971).

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1. Die Sozialwissenschaften im kalten Krieg in den U.S.A.

2. John Rawls über Methode und Pluralismus

3. Raymond Geuss und Chantalle Mouffe gegen Rawls

4. Philip Kitchers “Well-Ordered Science”

5. Kritik an Kitcher

6. Michael Burawoy und Stephen Turner zur “Public Sociology”

7. Kritik an Burawoy und Turner

8. Einige Schlussfolgerungen

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Geuss: Gegen Rawls

(1) Es ist nicht klar, dass Rawls Recht hat, wenn er Gerechtigkeit eine derart zentrale Position in der politischen Philosophie einräumt; unse- re Intuitionen sind hier unklar. (k670) Was ist mit “welfare, efficiency, democratic choice, transparency, dignity, international competitiveness, or freedom …” (ibid.)

2008

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Geuss: Gegen Rawls (Forts.)

(2) Zur “Original Position”: “How can ‘I’ … be said to choose,

if I have been specifically deprived of knowledge of most of what gives me grounds or reasons for making a choice …?” (k680)

(3) Rawls’ Position ist ideologisch u.a. deshalb, weil er nie prüft, ob nicht seine Intuitionen ideologisch sind. (K876)

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Geuss: Gegen Rawls (Forts.) (4) Der Mangel eines Vorschlags, wie das Ideal zu implementieren wäre, ist ideologisch und ein fatales Problem. (k905) (5) “To the extent … to which Rawls draws attention away from the

phenomenon of power … his work is ideological.” (k870)

Rawls versucht “to reconcile Americans to an idealised version of their own social order …” (k861)

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Rawls, der Kalte Krieg, SW-en und Schumpeter Rawls’ Maschinerie von Idealisierungen und Entscheidungsmetho- den verdankt sich den SW-en des Kalten Krieges. Verwundert es da, dass Rawls nichts dazu sagt, wie sich sein Ideal in realen politischen Verhältnissen approximieren lässt? Seine Arbeit legt nahe, dass wir es policy experts überlassen soll- ten, die Konzeption der Gerechtigkeit zu wählen. Cf. Schumpeter. Gibt es einen Link zwischen einer a-historischen, kontext-freien Idee von Entscheidung und der Ideologie des Kalten Kriegs?

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Mouffe: Kritik an Rawls II

2005

2000

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Mouffe: Kritik an Rawls II (Forts.)

Rawls übersieht “the dimension of the political”: “Relations of power and antagonisms are erased and we are left with the typical liberal illusion of a pluralism without antagonism.” (s20) Rawls lässt aus: Macht, Gewalt, Antagonismus, Repression, Ideologie, Ausschließung, und “undecidability”. (s31) Rawls‘ Pluralismus ist einseitig: er versucht “to relegate plu- ralism to the sphere of the private.” (s19)

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Mouffe: Kritik an Rawls II (Forts.) Rawls’ “reasonable person” ist die Person, die mit seiner Version

des Liberalismus konform geht. (s24) Rawls’ hat Recht, die “anti-liberals” auszuschließen – aber für ihn

ist dies eine Angelegenheit der Moral, vor der Politik. Falsch! (s25) Nur wenn wir das Ausschließen als politische Handlung sehen,

wird es eine Handlung, die man in Frage stellen kann. (s28)

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Mouffe: Kritik an Rawls II (Forts.) Rawls will Kontext-unabhängige Argumente für die LD. Aber es gibt kein “vor” dem “Politischen”. (s25, s64) Es gibt nicht “a rational definite solution to the question of jus- tice in a democratic society” (s32). Und es kann keinen voll-rationalen Konsensus geben, “one that would not be based on any form of exclusion.” (s32)

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Mouffe, Rawls, und der Kalte Krieg Der Traum von der “rational definite solution” in Fragen der Politik ist die Ideologie derjenigen, die Angst haben, die politischen Ent- scheidungen der “irrationalen vulgären” Wählerschaft zu überlassen. Eben dies ist zentral in der Ideologie des Kalten Krieges und SW-en in

ihrem Sinne.

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1. Die Sozialwissenschaften im kalten Krieg in den U.S.A.

2. John Rawls über Methode und Pluralismus

3. Raymond Geuss und Chantalle Mouffe gegen Rawls

4. Philip Kitchers “Well-Ordered Science”

5. Kritik an Kitcher

6. Michael Burawoy und Stephen Turner zur “Public Sociology”

7. Kritik an Burawoy und Turner

8. Einige Schlussfolgerungen

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Philip Kitcher (2001, 2011a, b): ideale Deliberation über Wissenschaftspolitik

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Kitcher: “Well-Ordered Social Science” Ich lese dies als ein Programm, wie Wissenschaftspolitik für die SW-en – ihre Funktionen – aussehen soll. “… science is well-ordered when its specification of the problems to be pursued would be endorsed by an ideal conversation, embo- dying all human points of view, under conditions of mutual engage- ment.” (2011a: p106)

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Kitcher: Well-Ordered Social Science (Forts.) Epistemische Bedingungen: keine falschen Ü-en, korrekte Einschät-

zungen der Handlungsfolgen und der Wünsche anderer. (s51) Affektive Bedingungen: Den angenommenen Verlangen anderer wird soviel Gewicht gegeben, wie den eigenen. (s51) Im Falle von Spannungen zwischen Verlangen, streben alle Teilneh-

merInnen die “best balance” zwischen “ethically permissible and factually well-grounded desires present in the population” an. (s52)

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Kitcher: Well-Ordered Social Science (Forts.) (Phase 1) RepräsentantInnen (=R) versch. Perspektiven treffen sich. (Phase 2) Unterricht durch WissenschaftlerInnen: was ist möglich. (Phase 3) Die R-en formulieren ihre Präferenzen, und modifizieren sie in Antwort auf anderer R-en. (Phase 4) ExpertInnen evaluieren die möglichen Ergebnisse der ge- wünschten Forschungsprojekte. (Phase 5) Wenn sich nicht ohnehin alle einig sind, wird abgestimmt. (s114-5)

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Kitcher: Well-Ordered Social Science (Forts.) Die fragliche Gesellschaft umfasst alle Menschen. (s117)

Wir wissen z.Z. nicht, welche Prozeduren das Ideal am besten approximieren. (s125)

Vielleicht “citizen juries” oder “deliberative polling”? (s223)

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Kitcher: Well-Ordered Social Science (Forts.) Wir brauchen “an atlas of research possibilities” für 2. (s173, 127)

Wir brauchen “an index of human needs” für 3. (“… tutoring to clear away common misapprehensions …”) (s129)

Wir brauchen “scientifically literate citizenry” … “happy consumers” der Bücher von Gould, Sagan or Dawkins. (s192)

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1. Die Sozialwissenschaften im kalten Krieg in den U.S.A.

2. John Rawls über Methode und Pluralismus

3. Raymond Geuss und Chantalle Mouffe gegen Rawls

4. Philip Kitchers “Well-Ordered Science”

5. Kritik an Kitcher

6. Michael Burawoy und Stephen Turner zur “Public Sociology”

7. Kritik an Burawoy und Turner

8. Einige Schlussfolgerungen

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Gegen Kitcher (1) Die zwei Listen Hoffnung auf Konsensus bzgl. “atlas of scientific significance” oder “index of human needs” ist naiv im Lichte wiss. Kontro- versen und der Rolle von Werten in der Wissenschaft. Diese sind nicht jenseits “the political”, sie sind seine Teile.

Es gibt also nicht die Möglichkeit auf diese Weise die Funk- tionen der SW-en konsensuell festzulegen.

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Gegen Kitcher (Forts.) (2) Noch einmal der Kalte Krieg Welche Listen hätten wohl die SW-er der Zeit präsentiert?

Kitcher hat nichts, wodurch er sie in Frage stellen könnte.

Kitcher teilt das Misstrauen der Kalten Krieger gegenüber den gewöhnlichen BürgerInnen: Sie müssen erst “happy consumers” von Dawkins werden, bevor sie mitreden dür- fen.

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Gegen Kitcher (Forts.) (3) Approximationen? Kitcher betont, uns fehle das SW-sche Wissen um das Ideal zu approximieren. Problem der Kalibrierung. Es ist schwer zu sagen, was die ide- ale Deliberation für unsere LD ergeben würde. Wie bei Rawls beruht alles auf Intuitionen. Ideologisch?

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Schlussfolgerung These: Es gibt keine politisch neutrale, a-historische oder kontext- freie Antwort auf die Eingangsfrage. Kitchers Philosophie der Wissenschaftspolitik ist festgelegt auf neu-

trale und a-historische und Kontext-freie Antworten. Aber diese Festlegung beruht auf “wishful thinking” bzgl. Konsen- sus in der Wissenschaft, Expertentum und ein unreflektives Sich- verlassen auf Intuitionen.

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1. Die Sozialwissenschaften im kalten Krieg in den U.S.A.

2. John Rawls über Methode und Pluralismus

3. Raymond Geuss und Chantalle Mouffe gegen Rawls

4. Philip Kitchers “Well-Ordered Science”

5. Kritik an Kitcher

6. Michael Burawoy und Stephen Turner zur “Public Sociology”

7. Kritik an Burawoy und Turner

8. Einige Schlussfolgerungen

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Burawoy: “Organic Public Sociology” Public sociology ≠ policy sociology

die letztere hat einen Kunden, der die Agenda bestimmt;

die erstere involviert Dialog, durch den die Agenden der SoziologIn und der Öffentlichkeit aufeinander abgestimmt werden. (2005a: s267)

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Burawoy: Organic Public Sociology (Forts.) Public sociology ≠ professional sociology

die letztere entwickelt Methoden und begriffl. Rahmen;

sie hat viele research programmes. (2005a: 267)

Die beiden sollten sein: “like Siamese twins”. (2005a: 275)

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Burawoy: Organic Public Sociology (Forts.) Public sociology ≠ critical sociology

die letztere prüft die Grundlagen der professional sociology (vgl. Z.B. die feministische Kritik an dem “mainstream” in der Soziologie) (2005a: 268) Er verlangt: “critically disposed public sociology”. (2005a: p289)

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Burawoy: Organic Public Sociology (Forts.) „Organic public sociology” tritt in einen Dialog ein mit verschie-

denen „Öffentlichkeiten“ (publics) (2005a: 263)

Sie „works in close connection with a visible, thick, active, local and often counter-public”. (2005a: 264)

Sie kann auch „define human categories—[e.g] people with AIDS … if we do so with their collaboration we create publics.” (265)

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Burawoy: Organic Public Sociology (Forts.) “… no intrinsic normative valence” (2005a: 266). “… the standpoint of sociology is civil society ... In times of mar- ket tyranny and state despotism, sociology—and in particular its public face—defends the interests of humanity.” (2005a: p287)

“… promoting … participatory democracy.” (2005b: 325) “knitting together a global civil society [on the basis of] alter-

native values …” (2013: 525)

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Burawoy: Organic Public Sociology (Forts.) “Public sociologies march to the tune of dialogic engagement rather than a correspondence theory of truth, norms of relevance rather than norms of science, accountable to publics rather than peers.” (2009: 466)

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Turner, „Public Sociology and Democratic Theory” (2009) Die klassische LD-Theorie besteht darauf, der Staat müsse neutral gegenüber versch. politischen Meinungen sein. Aber zugleich muss der Staat die Entdeckung und Lehre von Fakten unterstützen. Die SW-en sind hier problematisch: offerieren sie bloß Meinungen, dann sollten sie nicht durch den Staat finanziert werden. Offerieren sie hingegen Fakten, dann ersetzen sie potenziell den politischen Pro- zess. (167-8)

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Turner, „Public Sociology and Democratic Theory” (Forts.) Das Problem kann auch in Rawls‘ Begriffen gefasst werden:

“What status do sociological claims have? Are these claims merely another contribution to the debate that makes up ‘public reason’? Or are they properly understood as claims that serve to take issues out of the realm of the public discussion and into the category of fact or expertise proper?” (p173)

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Turner, „Public Sociology and Democratic Theory” (Forts.) Burawoy hat die Lösung:

“… a novel approach to the problem of neutrality. … there is ‘no in- trinsic normative valence’ to the idea of public sociology.” (173) (nach Burawoy 2005a: 266) Einzelne SoziologInnen verbinden sich mit Öffentlichkeiten ihrer Wahl. Soziologie als Disziplin „is neutral between the kinds of com- mitments that individual sociologists choose to make.” (176)

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Turner, “Public Sociology and Democratic Theory” (Forts.) “… the task of providing the self-understanding … no longer for so- ciety as whole, but for a society made up of different standpoints.” (174-5) “The central political implication involves the place of sociology in relation to liberal democracy. The kind of sociological scholar- ship that Buroway is legitimating … is advocacy scholarship …” (175) “This kind of scholarship is … a means of improving the quality of

public discussion through the subsidization of opinion diversity.” (176)

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Turner, „Public Sociology and Democratic Theory” (Forts.) Burawoy Vorschlag ist bereits die dominante Zugangsweise in den U.S.A. „Women’s Studies“ zeigen dies z.B. (175)

Wissenschaftliche Standards sind nicht gefährdet:

„The advocacy studies … are valuable only if they are … up to professional standards.” (p176)

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1. Die Sozialwissenschaften im kalten Krieg in den U.S.A.

2. John Rawls über Methode und Pluralismus

3. Raymond Geuss und Chantalle Mouffe gegen Rawls

4. Philip Kitchers “Well-Ordered Science”

5. Kritik an Kitcher

6. Michael Burawoy und Stephen Turner zur “Public Sociology”

7. Kritik an Burawoy und Turner

8. Einige Schlussfolgerungen

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Struktur meiner Kritik

Ich will zeigen, dass … (1) Es Gründe gibt bzgl. Burawoys Vorschlag skeptisch zu sein;

(2) Turners Lesart von Burawoys Position ist fehlerhaft;

(3) Turners Ansicht der Funktion der Soziologie ist zweifelhaft; und

(4) Burawoy versteht Soziologie und Politik besser als Turner.

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Rawls, Burawoy, Turner Sie teilen die Betonung auf dem „fact of pluralism”.

Turners Auffassung von der problematischen Position der SW- en als zwischen public and private reason ist Rawlsianisch. Für Turner ist die Soziologie als Disziplin neutral im gleichen Sinn wie der Staat und public reason bei Rawls.

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Gegen Burawoy (1) Neutralität? Pluralismus? Das „no intrinsic normative valence” widerspricht zahlreichen anderen Behauptungen bei Burawoy. Aber diese Ansicht ist auch so zweifelhaft. Was ist mit „undemocractic, pro-market, antichoice, white supremacist, heterosexist, promilitary interventionist publics”?

(Goldberg and van den Berg 2009)

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Gegen Burawoy (Forts.) (2) Relevanz? Burawoys Ruf nach Relevanz trifft sich mit Forderungen von Geld- gebern nach “societal benefits” or "dissemination strategies”. (Goldberg and van den Berg 2009) Aber wenn staatliche Institutionen dies ohnehin fordern, wo liegt das Radikale von Burawoys Forderungen?

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Gegen Burawoy (Forts.) (3) Wahrheit, Relevanz, Fürsprache Soziologie hat bisher nicht die Vorhersagen geliefert, die die pub- lic sociology verspricht. (Smith-Lovin 2007; Stinchcombe 2007). Der politische Einfluss der SW-en war zumeist dann am größten, wernn ihre Studien nicht als «advocacy» galten. (Massey 2007) Burawoy stellt die Arbeit der policy sociology falsch da: sie ist oft kritisch – auch ihren Auftragsgebern gegenüber. (Patterson 2007)

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Gegen Burawoy (Forts.) (3) Wahrheit, Relevanz, Fürsprache (Forts.) “Public sociologies march to the tune of dialogic engagement rather than a correspondence theory of truth, norms of relevance rather than norms of science, accountable to publics rather than peers.” (Burawoy 2009: 466)

Es ist schwer zu sehen, wie solches Wissen in der politischen Arena besonders Gewicht bekommen kann.

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Gegen Turner (1) Neutralität? Pluralismus? Für Turner verhält sich die Soziologie (qua Disziplin) zu den ein- zelnen SoziologInnen wie für Rawls der Staat zum Bürger. Aber er sagt uns nicht, wie die Soziologie diese Neutralität be- wahren kann im Rekrutieren, Ausbilden, … von SoziologInnen.

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Gegen Turner (Forts.) (1) Neutralität? Pluralismus? (Forts.) Das “no intrinsic normative valence” passt mit vielen anderen Aussagen nicht zusammen: z.B. Soziologie kämpft gegen: “the erosion of civil liberties, the violation of human rights, the degradation of the environment, the impoverishment of wor- king classes …” (Burawoy et al. 2004: 125)

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Gegen Turner (Forts.) (1) Neutralität? Pluralismus? (Forts.) Turners Position kohäriert nicht mit Burawoys eigenen Aus- sagen und Handlungen. Z.B. setzte sich Burawoy für eine Resolution der ASA gegen den Irak-Krieg ein. Die politische Kontroverse um Burawoys Ansatz untergräbt die Hoffnung auf eine politisch neutrale Disziplin der S-wen.

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Gegen Turner (Forts.) (2) “…. pluralism without antagonism” Turner sucht das agonistische Element in der sw-schaftlichen Wissenschaftspolitik zu vermeiden: jeder Bewegung ihre eige- ne Soziologin; kein Kampf um Ressourcen. The “typical liberal illusion of a pluralism without antagonism”.

Politisch naiv.

Der Ruf nach politischer Neutralität ist nicht immer neutral!

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Gegen Turner (Forts.) (2) “…. pluralism without antagonism” (Forts.) Turner will eine SW-schaft die “improv[es] the quality of public discussion through the subsidization of opinion diversity”. Aber warum ist dies ein sinnvolles Ziel?

Zunächst einmal ist dies nur eine vage liberale Intuition.

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Gegen Turner (Forts.) (3) Wahrheit und Standards

Turner: “… advocacy studies … are valuable only if they are … up to professional standards.” (176) Vgl. Burawoy:

“Public sociologies march to the tune of dialogic engagement rather than a correspondence theory of truth, norms of relevance rather than norms of science, accountable to publics rather than peers.” (2009: 466)

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1. Die Sozialwissenschaften im kalten Krieg in den U.S.A.

2. John Rawls über Methode und Pluralismus

3. Raymond Geuss und Chantalle Mouffe gegen Rawls

4. Philip Kitchers “Well-Ordered Science”

5. Kritik an Kitcher

6. Michael Burawoy und Stephen Turner zur “Public Sociology”

7. Kritik an Burawoy und Turner

8. Einige Schlussfolgerungen

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Noch einmal: Politischer Kontextualismus These: Es gibt keine politisch neutrale, a-historische oder kontextfreie

Antwort auf die Frage nach den Funktionen der SW-en in der LD. Jede Antwort muss bestimmte politische Werte wiederspiegeln und historisch spezifisch sein. Rawls, Kitcher und Turner unterscheiden sind. Aber ihre Ansichten sind

allesamt problematisch.

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