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1.1 Ziel und Bedeutung der Kritik der reinen Vernunft Kants Kritik der reinen Vernunft ist das bedeutendste philoso- phische Werk deutscher Sprache. In ihr laufen philosophische Entwicklungslinien zusammen, die bis in die Antike zurückrei- chen, sie ist Ausgangs- und Bezugspunkt des Deutschen Idealis- mus Fichtes, Schellings und Hegels, und sie hat die weitere Entwicklung der Philosophie bis in die Gegenwart tiefgreifend beeinflußt. Ihr zentraler Gedanke betrifft das Verhältnis von Erkenntnis und Gegenstand, das mit der sogenannten „koper- nikanischen Wende“ grundlegend neu bestimmt wird: Die Be- dingungen der Erkenntnis eines Gegenstands sind zugleich die Bedingungen des Gegenstands der Erkenntnis. Doch die Kritik der reinen Vernunft ist nicht nur Pflichtlektüre für Universitätsphilosophen, sondern zugleich ein Hauptwerk der neueren abendländischen Kultur. Als solches hat sie weit über die Philosophie hinaus gewirkt. Zwei Punkte sind hier besonders hervorzuheben. Erstens entlarvt die Kritik der reinen Vernunft zentrale Lehrsätze der traditionellen Metaphysik als dogmatisches Scheinwissen. Vor allem Kants Kritik an den sei- nerzeit gängigen Versuchen, die Existenz Gottes und die Un- sterblichkeit der Seele zu beweisen, hat nachhaltig Wirkung gezeigt. Der „alles zermalmende“ Kant, wie Moses Mendels- sohn ihn nennt, erschüttert das theologisch-metaphysische Fun- dament der überkommenen Weltanschauung. Die Kritik der Georg Mohr/ Marcus Willaschek Einleitung: Kants Kritik der reinen Vernunft 1 Bereitgestellt von | Universitaetsbibliothek Frankf Angemeldet Heruntergeladen am | 22.12.15 12:45

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1.1 Ziel und Bedeutung der Kritikder reinen Vernunft

Kants Kritik der reinen Vernunft ist das bedeutendste philoso-phische Werk deutscher Sprache. In ihr laufen philosophischeEntwicklungslinien zusammen, die bis in die Antike zurückrei-chen, sie ist Ausgangs- und Bezugspunkt des Deutschen Idealis-mus Fichtes, Schellings und Hegels, und sie hat die weitereEntwicklung der Philosophie bis in die Gegenwart tiefgreifendbeeinflußt. Ihr zentraler Gedanke betrifft das Verhältnis vonErkenntnis und Gegenstand, das mit der sogenannten „koper-nikanischen Wende“ grundlegend neu bestimmt wird: Die Be-dingungen der Erkenntnis eines Gegenstands sind zugleich dieBedingungen des Gegenstands der Erkenntnis.

Doch die Kritik der reinen Vernunft ist nicht nur Pflichtlektürefür Universitätsphilosophen, sondern zugleich ein Hauptwerkder neueren abendländischen Kultur. Als solches hat sie weitüber die Philosophie hinaus gewirkt. Zwei Punkte sind hierbesonders hervorzuheben. Erstens entlarvt die Kritik der reinenVernunft zentrale Lehrsätze der traditionellen Metaphysik alsdogmatisches Scheinwissen. Vor allem Kants Kritik an den sei-nerzeit gängigen Versuchen, die Existenz Gottes und die Un-sterblichkeit der Seele zu beweisen, hat nachhaltig Wirkunggezeigt. Der „alles zermalmende“ Kant, wie Moses Mendels-sohn ihn nennt, erschüttert das theologisch-metaphysische Fun-dament der überkommenen Weltanschauung. Die Kritik der

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reinen Vernunft ist daher als eindrucksvolles Plädoyer für einedurch Kritik aufgeklärte „allgemeine Menschenvernunft“ auf-genommen worden. Die Kritik, der „sich alles unterwerfenmuß“, dringt auf „freie und öffentliche Prüfung“ und machtauch vor Religion und Gesetzgebung nicht halt (vgl. A xi Anm.).Zweitens entwickelt die Kritik der reinen Vernunft wesentlicheVoraussetzungen für ein Verständnis von Freiheit und Autono-mie menschlicher Personen qua vernünftiger Wesen, das fürdas moralische und rechtliche Selbstverständnis moderner libe-raler Gesellschaften bis heute grundlegend ist. (Kant selbst hatdie rechts- und moralphilosophischen Implikationen der Kritikder reinen Vernunft in seinen späteren Werken ausführlich ent-wickelt.)

Im Vordergrund der Kritik der reinen Vernunft steht jedochdie erkenntniskritische Frage „Was kann ich wissen?“ (vgl. A805/B833; vgl. auch IX 25, XI 429). Ihre Aufgabe ist es, Quellen,Umfang und Grenzen menschlicher Erkenntnis zu bestimmen(vgl. A xii). Damit greift Kant das Programm auf, das JohnLocke am Anfang seines Essay Concerning Human Understanding(I, 1, 2) formuliert: „to enquire into the Original, Certainty, andExtent of humane Knowledge“. Dabei wird nicht nach be-stimmten Ergebnissen oder einem bestimmten faktischen Wis-sensstand, sondern nach der Möglichkeit von Wissen und derenBedingungen gefragt. Kennen wir die Bedingungen, unter de-nen unsere Meinungen als Wissen gelten können, so kennenwir damit auch die Grenzen des Wissens. Nur innerhalb dieserGrenzen ist Wissen (im strikten Sinne begründeter wahrer Mei-nung) möglich.

Kant geht es insbesondere um die Möglichkeit nicht-empiri-schen Wissens, denn auf solchem beruht die Metaphysik. Dieseverliert im ausgehenden 18. Jahrhundert, vor allem im Ver-gleich zu den Naturwissenschaften, zunehmend an Ansehen.Dennoch ist die Metaphysik, so Kants Einsicht, unverzichtbar,weil sich die Grundsätze der Moral und des Rechts nicht reinempirisch begründen lassen, sondern einer metaphysischenGrundlegung bedürfen. Dafür, so Kant, müssen wir zunächstfeststellen, wie weit unser Wissen überhaupt reichen kann.

Eine Untersuchung der Möglichkeit nicht-empirischen Wis-sens macht also eine Untersuchung der Bedingungen mensch-licher Erkenntnis insgesamt erforderlich. Die Kritik der reinen

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Vernunft enthält daher eine Theorie sowohl empirischen alsauch nicht-empirischen Wissens, sie ist sowohl eine „Metaphy-sik der Erfahrung“ (Paton 1936) als auch eine „Metaphysik vonder Metaphysik“ (Kants Brief an Marcus Herz vom 11. Mai1781, X 269). Sie zieht die Grenze zwischen den beiden Wis-sensformen und bestimmt auf diesem Wege die Grenzenmenschlichen Wissens überhaupt. Dabei stellt sich heraus, daßjedes Wissen nicht-empirische Bedingungen hat. Diese sind als im-plizit mitgewußtes nicht-empirisches Wissen auch für Erfah-rungswissen konstitutiv und können in einem reflexiven Verfah-ren, das Kant als „transzendentale Kritik“ bezeichnet (A12/B26), explizit gemacht werden.

Im Nachweis und in der Formulierung nicht-empirischerBedingungen der Erkenntnis besteht die wesentliche konstruk-tive Leistung der Kritik der reinen Vernunft. Da diese Bedingun-gen zugleich die Grenzen der Erkenntnis definieren, ergibt sichauch eine destruktive Konsequenz: Metaphysische Theorien, dieErkenntnis jenseits der von Kant aufgezeigten Grenzen bean-spruchen, sind zum Scheitern verurteilt. Da alle bis dahin ent-wickelten metaphysischen Theorien diese Grenzen mißachtethaben, ist das destruktive Ergebnis der Kritik der reinen Vernunftnichts Geringeres als das Ende der traditionellen Metaphysik.

Kant ist nicht der erste, der die „dogmatische“ Metaphysikkritisiert. Die Kritik der reinen Vernunft bietet jedoch erstmalseine schlüssige Diagnose für die Mängel der Metaphysik, diederen Ursachen nicht in kontingenten Unzulänglichkeiten ein-zelner Philosophen sucht, sondern systematisch auf Gründe zu-rückführt, die in der menschlichen Vernunft selbst liegen. Kanterkennt dabei das metaphysische Interesse der Vernunft durchausan, bestreitet aber, daß die „reine“, erfahrungsfreie Vernunftmetaphysisches Wissen hervorbringen kann. Was die etablierteMetaphysik für theoretische Lehrsätze über Gott, Freiheit undUnsterblichkeit hielt, sind nach Kant „Postulate der praktischenVernunft“ – notwendige Glaubensartikel, die sich aus dem ratio-nalen Selbstverständnis von Personen ergeben, die unter mora-lischen Verpflichtungen stehen. Kants Einschränkung theoreti-scher Wissensansprüche geht daher mit einer Aufwertung prak-tischer Rationalität einher: Das metaphysische Interesse unsererVernunft ist, recht verstanden, darauf gerichtet, unserem Han-deln eine rationale Orientierung zu geben.

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Die Kritik der reinen Vernunft ist nicht zuletzt deshalb von sofundamentaler und weitreichender Bedeutung, weil sie Proble-me der Erkenntnistheorie, der Logik und der Metaphysik inden Rahmen einer umfassenden Konzeption der menschlichenVernunft stellt. Die Resultate der Kritik der reinen Vernunfterstrecken sich auf alle Bereiche der Philosophie, wie Kantselbst in den nach ihr erscheinenden Werken zur Ethik undRechtsphilosophie, zur Naturphilosophie und Ästhetik, zur po-litischen Philosophie, Religionsphilosophie und Geschichtsphi-losophie zeigt.

1.2 Vorgeschichte, Entstehung und Titelder Kritik der reinen Vernunft

1.2.1 Die Fragestellung der Kritik der reinen Vernunftund ihre Vorgeschichte

In der Frage, ob es nicht-empirisches Wissen gibt, stehen sichzwei widerstreitende Positionen gegenüber: Apriorismus undEmpirismus. Apriorismus ist die These, daß wir über Begriffeverfügen, die nicht aus der Erfahrung abgeleitet werden kön-nen, und daß solche „Begriffe a priori“ zugleich die Vorausset-zungen empirischer Erkenntnis enthalten. Der Empirismus hin-gegen vertritt die Auffassung, alles Wissen gehe auf (sinnliche)Erfahrung zurück und habe nur für Gegenstände der ErfahrungGeltung. Nicht-empirisches Wissen könne es nicht geben.

Nach Kant läßt sich die Geschichte des Streits zwischen die-sen beiden Positionen bis in die Antike zurückverfolgen. Mitder Kritik des Aristoteles an der Ideenlehre Platons findet dieseKontroverse in der Antike ihren ersten Höhepunkt. In derNeuzeit nehmen René Descartes und Gottfried Wilhelm Leib-niz die Position des Apriorismus, John Locke und David Humedie des Empirismus ein (vgl. A852/B880–A856/B884). DieseKlassifizierungen, von denen Kant auch in seinen Vorlesungenregelmäßig Gebrauch macht, mögen den historischen Positio-nen der genannten Philosophen nicht in allen Einzelheiten ge-recht werden. Sie erlauben aber doch, einige wesentlicheGrundzüge ihrer Theorien, vor allem im Hinblick auf KantsProblemstellungen, pointiert herauszustellen.

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Kant selbst charakterisiert seine „kritische“ Philosophie alsÜberwindung der alten Kontroverse zwischen Apriorismus undEmpirismus. (Die Bezeichnung „Empirismus“ ist von Kant indie philosophische Terminologie eingeführt worden.) Auf einenkurzen Nenner gebracht, lautet Kants These: Beide Positionentreffen etwas partiell Richtiges, ziehen daraus aber falsche Fol-gerungen. So ist die Feststellung des Apriorismus, sinnlicheWahrnehmung sei keine hinreichende Basis für Wissen, zwarrichtig. Daraus folgt aber nicht, daß Begriffe a priori allein undunabhängig von Erfahrung Grundlage von Erkenntnis sein kön-nen. Ebenso ist zwar die Feststellung des Empirismus richtig,daß es von raum-zeitlichen Gegenständen Wissen nur in demMaße geben kann, wie von ihnen Erfahrung möglich ist. Darausfolgt aber nicht, daß Begriffen a priori keine grundlegende Be-deutung für unser Wissen und sogar für Erfahrungswissen zu-käme.

Die fehlerhaften Folgerungen beruhen darauf, daß zwischen„sinnlich – begrifflich“ einerseits und „empirisch – a priori“andererseits nicht klar unterschieden wird. Sie machen zweifalsche Voraussetzungen: (1) Sinnliche Anschauungen könntennur empirisch sein; (2) Begriffe könnten auch unabhängig vonBedingungen der Sinnlichkeit von Gegenständen gelten. Kantsieht es als eine seiner grundlegenden Entdeckungen an, daßwir nicht nur seitens des Verstandes, sondern auch seitens derSinnlichkeit über nicht-empirische Vorstellungen verfügen. Ne-ben Begriffen a priori („reinen Verstandesbegriffen“) gibt esauch sinnliche Anschauungen a priori (Raum und Zeit als „reineFormen der Anschauung“). Kants zentrale These ist nun: Solchenicht-empirischen Anschauungen und Begriffe sind notwendigeBedingungen sowohl für empirisches als auch für nicht-empiri-sches Wissen; zugleich ist letzteres auf den Bereich der Gegen-stände möglicher Erfahrung beschränkt.

Kant entwickelt seine kritische Transzendentalphilosophie inReaktion auf vielfältige historische und zeitgenössische Einflüs-se. Dies zeigt sich weniger an Kants expliziten Verweisen, dierecht spärlich sind, als am sachlichen Gehalt der Argumenteund an impliziten Bezugnahmen. Abgesehen von den antikenKlassikern (insbesondere Platon, Aristoteles, Epikur, die Stoaund die Skeptiker) sind hier vor allem zu nennen: der metho-dische Zweifel und die Fundierung der Philosophie im Selbst-

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bewußtsein des „cogito sum“ bei René Descartes; die erfah-rungstheoretischen Analysen John Lockes, insbesondere seineUnterscheidung zwischen „sensation“ (äußere Wahrnehmung)und „reflection“ (innere Wahrnehmung); die von Locke beein-flußte, aber darüber hinausgehende Theorie des Selbstbewußt-seins von Johann Nicolas Tetens; George Berkeleys Idealismus(„esse est percipi“); David Humes Skepsis gegenüber der empi-rischen Begründbarkeit des Kausalbegriffs; die Monaden-Me-taphysik und die Apperzeptionstheorie von Gottfried WilhelmLeibniz; die Systematik der daran anschließenden Schulmeta-physik bei Christian Wolff und seinen Schülern (vor allemGeorg Friedrich Meier und Alexander Baumgarten); Jean-Jacques Rousseaus Theorie des Ich als einheitskonstituierendesMoment im Urteil. Unter Kants Zeitgenossen haben seinetheoretische Philosophie vor allem Christian August Crusius,Moses Mendelssohn, Johann Heinrich Lambert und sein Kö-nigsberger Lehrer Martin Knutzen beeinflußt.

Ein angemessenes Verständnis der Philosophie Kants mußdiese Einflüsse berücksichtigen. Dabei darf man jedoch nichtübersehen, daß Kants kritische Philosophie über eine syntheti-sierende Verarbeitung historischer Einflüsse weit hinausgeht.Mit der Kritik der reinen Vernunft beginnt ein neues Kapitel derPhilosophiegeschichte.

1.2.2 Die Entstehung der Kritik der reinen Vernunft

Die „Methode der Metaphysik“ steht seit den 1760er Jahrenexplizit im Mittelpunkt der philosophischen Interessen Kants.Bereits ein Aufsatz, den Kant 1764 als Antwort auf eine Preis-frage der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlinveröffentlicht, befaßt sich mit ihr (Deutlichkeit der Grundsätze).Ein Jahr darauf kündigt Kant eine „Kritik und Vorschrift dergesamten Weltweisheit als eines Ganzen“ an (Nachricht, II 310)und nennt dieses Unternehmen bereits eine „Kritik der Vernunft“(II 311). Laut Paul Natorp handelt es sich um die „frühste deutli-che Ankündigung des kritischen Unternehmens“ (V 489). Aller-dings soll die „Kritik“ hier noch die Stelle einer Methodenlehreeinnehmen und so ans Ende eines ausgeführten philosophi-schen Systems gestellt werden. Dieses System soll die theoreti-

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sche und die praktische „Weltweisheit“, also Metaphysik, Lo-gik, Ethik und Ästhetik, umfassen. Am 31. Dezember 1765 teiltKant Johann Heinrich Lambert brieflich mit, er habe eineSchrift über die „eigenthümliche Methode der Metaphysickund vermittelst derselben auch der gesammten Philosophie“ inArbeit (X 56; vgl. dazu auch Vaihinger 1881/92, Bd. 1, 155).

Statt gleich an die Ausarbeitung des Systems zu gehen, zudem die „Kritik der Vernunft“ als Methodenlehre im Anhangdienen würde, rückt die „Kritik der Vernunft“ zunehmend inden Mittelpunkt des Unternehmens. Kant gelangt zu der Auf-fassung, daß genau hierin das wichtigste Desiderat der Philoso-phie besteht. Im nachhinein benennt Kant zwei entscheidendeAnstöße für diese Einsicht. Zum einen ist er um 1770 auf Paarewidersprüchlicher metaphysischer Sätze (die sogenannten „An-tinomien“) gestoßen, bei denen sich scheinbar beide Seiten lo-gisch zwingend beweisen lassen (vgl. den Brief an Garve vom21. September 1798, XII 257). Ein unkritischer Gebrauch derreinen Vernunft führt also zwangsläufig in Widersprüche. Zumanderen, so Kant in den Prolegomena, habe ihn die skeptischePhilosophie David Humes aus seinem „dogmatischen Schlum-mer“ geweckt (IV 260). Der genaue Zeitpunkt und die Bezie-hung zwischen diesen beiden Wendepunkten auf dem Weg zurKritik der reinen Vernunft sind jedoch umstritten. 1770 legt Kanteine Dissertation zum Antritt seiner Königsberger Professurfür Logik und Metaphysik vor (De mundi), die bereits einigewichtige inhaltliche Thesen der Kritik der reinen Vernunft vor-wegnimmt, in anderen Punkten sowie in der methodischen An-lage jedoch noch „vorkritisch“ ist. Kurz darauf aber stellt Kantsein Unternehmen unter den Titel „Die Grentzen der Sinn-lichkeit und der Vernunft“ (Brief an Marcus Herz vom 7. Juni1771, X 123); bereits 1769 hatte er notiert, die Metaphysik seieine „Kritik der reinen Vernunft“, keine Doktrin (vgl. R 3964,XVII 368). Doch scheint Kant hier noch nicht daran zu denken,seinem Unternehmen als ganzem diesen Titel zu geben.

Dies geschieht erst in dem berühmt gewordenen Brief anMarcus Herz vom 21. Februar 1772, in dem er mitteilt, nun inder Lage zu sein, eine „Critick der reinen Vernunft, welche dieNatur der theoretischen so wohl als practischen Erkentnis, sofern sie blos intellectual ist, enthält vorzulegen wovon ich denersten Theil, der die Quellen der Metaphysic, ihre Methode

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u. Grentzen enthält, zuerst und darauf die reinen principien derSittlichkeit ausarbeiten und was den erstern betrift binnen etwa3 Monathen herausgeben werde“ (X 132). Dieser Brief ist einesder wichtigsten werkgeschichtlichen Dokumente für die Ent-stehung der „kritischen Philosophie“. Was Kants Erläuterun-gen zu dem dort angekündigten „ersten Teil“ betrifft, der die„Quellen der Metaphysic, ihre Methode u. Grentzen“ enthal-ten soll, so kann der Brief als die „eigentliche Geburtsstundeder ‚Kritik der reinen Vernunft‘“ bezeichnet werden (vgl. Cassi-rer 1918 [21921], 135). Hier wird erstmals prägnant die neueProblemstellung auf eine Weise formuliert, in der die Kritik derreinen Vernunft sie bearbeiten wird. Die Grenzziehung der Wis-sensansprüche der menschlichen Vernunft, die auf der Grund-lage einer präzisen Unterscheidung zwischen Sinnlichkeit undVerstand/Vernunft und zwischen Empirischem und Nicht-Em-pirischem erfolgen soll, wird hier auf die entscheidende Fragebezogen: „auf welchem Grunde beruhet die Beziehung desieni-gen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand?“Diese Frage sei bis dahin „aus der Acht gelassen“ worden,obwohl sie, wie er jetzt bemerke, „in der That den Schlüßel zudem gantzen Geheimnisse, der bis dahin sich selbst noch ver-borgenen Metaphys:, ausmacht“ (X 130). In den folgenden Jah-ren widmet sich Kant ganz dieser Frage. Die Ausführung er-fährt bis 1781 jedoch noch zahlreiche und tiefgreifende Modifi-kationen und Ergänzungen, wie man an den Reflexionen (vgl.XVII und XVIII) nachvollziehen kann. Erst nach einem elfjäh-rigen „Schweigen“ legt Kant mit der Kritik der reinen Vernunftdas Ergebnis seiner Arbeit vor.

Die erste Auflage (A) der Kritik der reinen Vernunft erscheintzur Ostermesse 1781. Nach eigener Auskunft hat Kant sie inder zweiten Hälfte des Jahres 1780 niedergeschrieben (vgl. dieplausible Rekonstruktion in Adickes 1895, 181f.). Laut einerbrieflichen Mitteilung an Moses Mendelssohn vom 16. August1783 (X 345) bringt Kant „das Produkt des Nachdenkens voneinem Zeitraume von wenigstens zwölf Jahren […] innerhalbetwa 4 bis 5 Monathen, gleichsam im Fluge, […] zu Stande“(vgl. auch den Brief an Christian Garve vom 7. August 1783,X 338). Dem Druck liegt eine Abschrift zugrunde. Kants Manu-skript ist verlorengegangen. Aufgrund der – angesichts des Text-umfangs – extrem kurzen Entstehungszeit hat man vermutet,

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daß Kant den Text der Kritik der reinen Vernunft zum Teil ausälteren Vorentwürfen zusammengesetzt hat, die bis weit in die1770er Jahre zurückdatieren (zu dieser „Patchwork“-Hypo-these vgl. Kemp Smith 1918 [21923], xix ff.).

Im Laufe des Jahres 1786 ist die Kritik der reinen Vernunftvergriffen. Auf die Bitte des Verlegers Hartknoch hin machtsich Kant an die Überarbeitung für eine zweite Auflage (B).Bereits am 7. April 1786 schreibt Kant an den Marburger Phi-losophie-Professor Johann Bering: „Aenderungen im Wesent-lichen werde ich nicht zu machen haben, weil ich die Sachenlange genug durchgedacht hatte, ehe ich sie zu Papier brachte,auch seitdem alle Sätze, die zum System gehören, wiederho-lentlich gesichtet und geprüft, jederzeit aber für sich und inihrer Beziehung zum Ganzen bewährt gefunden habe“ (X 441).Vermutlich von Kant selbst stammt die Charakterisierung aufdem Titelblatt der zweiten Auflage als „hin und wieder verbes-serte“. Angesichts der tatsächlichen Änderungen (siehe unten,1.3.6) ist diese Charakterisierung irreführend. Die Vorrede zurzweiten Auflage ist auf den 23. April 1787 datiert. Der größteTeil des Textes der zweiten Auflage ist zu diesem Zeitpunktbereits gesetzt. Aus einem Brief Kants an Chr. G. Schütz vom25. Juni 1787 (X 489) geht hervor, daß das Buch frühestens imMai, wahrscheinlich aber im Juni 1787 erschienen ist.

1.2.3 Der Titel der Kritik der reinen Vernunft

Jedes Wort des Titels der Kritik der reinen Vernunft ist erläute-rungsbedürftig. Zunächst der Ausdruck „Kritik“. Er leitet sichab aus dem griechischen Wort „krinein“, was soviel bedeutetwie „unterscheiden“, „prüfen“, „beurteilen“. Der Ausdruck„Kritik“ ist im Zusammenhang mit Kants Projekt einer „Me-thode der Metaphysik“ zu sehen. Bevor Systeme entworfen undmetaphysische Aussagen gemacht werden dürfen, muß zunächstgeklärt werden, aufgrund welcher methodischen Voraussetzun-gen solche Aussagen überhaupt getroffen werden können. ImFehlen einer solchen Methodenreflexion sieht Kant den Haupt-grund für die Mißstände in der Metaphysik seiner Zeit undihrer Spekulationen über Gott, die Welt und die Seele desMenschen. So kommt Kant zu der bis heute wirksam gebliebe-

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nen Einsicht, alle Philosophie müsse zunächst Kritik, insbeson-dere Selbstkritik sein: Überprüfung ihrer eigenen Vorausset-zungen und Kompetenzen.

„Vernunft“, wie sie im Titel angesprochen wird, steht für dasgesamte „obere Erkenntnisvermögen“. Die Vernunft in diesemweiteren Sinne umfaßt Verstand, Urteilskraft und Vernunft imengeren Sinne. Letztere ist das Vermögen zu schließen, imUnterschied zum Verstand als dem Vermögen zu urteilen. Ver-nunft im weiteren Sinne umfaßt also auch die im philosophi-schen Denken zur Anwendung kommende Vernunft.

Der im Titel gebrauchte Genitiv („Kritik der Vernunft“) istdoppeldeutig: Versteht man ihn als genitivus objectivus, so istdie Vernunft dasjenige, was der Kritik unterzogen wird („Kritikan der Vernunft“). Unterstellt man einen genitivus subjectivus,so ist die Vernunft dasjenige, was die Kritik übt („Kritik durchdie Vernunft“). Kant intendiert seinen Buchtitel in beiden Be-deutungen: Die Kritik der reinen Vernunft ist eine Kritik an derund durch die Vernunft. Es gibt keine andere, höherstehendeInstanz, von der aus die Vernunft kritisiert werden könnte, alsdie Vernunft selbst. Sie verfügt nach Kant zudem über alleMittel, eine solche Prüfung durchzuführen und deren Ergeb-nisse umzusetzen. Es handelt sich um eine Selbstkritik der Ver-nunft. Kant faßt dies in die Metapher vom „Gerichtshof derVernunft“ (vgl. z. B. A751/B779), wo die Vernunft Richter undAngeklagter zugleich ist.

Im Titel ist nun im besonderen von einer Kritik der „reinen“Vernunft die Rede. Es geht also nicht primär um den Gebrauchder Vernunft, z. B. in der Systematisierung empirischen Wis-sens oder im Schlußfolgern aus empirischen Prämissen, son-dern um den Versuch, durch die Vernunft allein, ohne Rückgriffauf Erfahrung, zu inhaltlichem Wissen über die Welt zu gelan-gen. Tatsächlich unterstellt Kant, daß Erfahrungserkenntnisseunproblematisch sind, solange sie ihren Wissensanspruch aufdie jeweils gemachte Erfahrung begrenzen, denn diese ist beisolchen Erkenntnissen eine leicht zugängliche Kontrollinstanz.Für „reine“, d. h. erfahrungsunabhängige Erkenntnisse dage-gen scheint es außer den Gesetzen der Logik überhaupt keineKontrollinstanz zu geben. Die aber garantieren nur formaleWiderspruchsfreiheit, nicht inhaltliche Richtigkeit. Die Gefahrist deshalb groß, daß die Spekulationen der reinen Vernunft sich

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verselbständigen: Auf dem scheinbar sicheren Weg logischenSchließens gelangen wir zu metaphysischen Thesen, die wir fürwahr halten, obwohl die verfügbaren Mittel für ihre Begrün-dung nicht ausreichen. Dieser Gefahr kann man Kant zufolgenur mit einer Kritik der reinen Vernunft begegnen: einer Über-prüfung des menschlichen Erkenntnisvermögens im allgemei-nen und der Reichweite erfahrungsunabhängigen Denkens imbesonderen.

In der Vorrede zur Kritik der Urteilskraft (1790) liefert Kanteine prägnante Erläuterung des Titels der Kritik der reinen Ver-nunft nach: „Man kann das Vermögen der Erkenntnis aus Prin-zipien a priori die reine Vernunft und die Untersuchung derMöglichkeit und Grenzen derselben überhaupt die Kritik derreinen Vernunft nennen“ (V 167).

1.3 Die Kritik der reinen Vernunft im Überblick

1.3.1 Synthetische Urteile a priori

Die Kritik soll aufzeigen, ob und unter welchen BedingungenMetaphysik als Wissenschaft möglich ist. Deren besondere Pro-blematik liegt Kant zufolge darin, daß sie im wesentlichen aussynthetischen Urteilen a priori besteht. Daher lautet für ihn dieentscheidende Frage: „Wie sind synthetische Urteile a priorimöglich?“ (B19). Kant unterscheidet zwischen analytischen undsynthetischen Urteilen sowie zwischen Urteilen a priori undUrteilen a posteriori. Ein Urteil ist analytisch, wenn seine Wahr-heit oder Falschheit sich allein aus den darin enthaltenen Be-griffen (und den Regeln der Logik) ergibt. Synthetisch ist einUrteil, wenn Semantik und Logik allein zur Bestimmung desWahrheitswerts nicht hinreichen, weil seine Wahrheit nicht nurvon den in ihm enthaltenen Begriffen abhängt. Ein Urteil ista posteriori, wenn über seinen Wahrheitswert nicht ohne Rekursauf empirische Daten (sinnliche Wahrnehmung) entschiedenwerden kann; es ist a priori, wenn wir unabhängig von allerErfahrung wissen können, ob es wahr oder falsch ist. (Vgl. zudiesen Unterscheidungen die Einleitung, A7–10/B10–14.)

Alle analytischen Urteile sind a priori, da sie lediglich Begriffs-erläuterungen enthalten und nicht auf Erfahrung rekurrieren.

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Alle Urteile a posteriori sind synthetisch, weil sie in ihrem Bezugauf Erfahrung über den semantischen Gehalt der in ihnen ent-haltenen Begriffe hinausgehen. Metaphysische Sätze nun sindKant zufolge einerseits synthetisch, andererseits aber a priori. Soist das Prinzip „Alles, was geschieht, hat einen zureichendenGrund“ nach Kant synthetisch (nicht analytisch, wie Leibnizglaubte), weil im Begriff des Geschehens der des zureichendenGrundes nicht analytisch enthalten ist. Der Satz ist keine Be-griffsexplikation, sondern soll etwas über die Beschaffenheit derWelt aussagen. Außerdem handelt es sich um einen All-Satz, dernicht durch Erfahrung (induktiv) bewiesen werden kann, da wirin der Erfahrung immer nur auf (endlich viele) Einzelfälle tref-fen. Das Prinzip des zureichenden Grundes kann kein empiri-scher Satz, sondern nur ein Satz a priori sein. Bei metaphysischenSätzen handelt es sich demnach um synthetische Urteile a priori.Die zentrale Frage lautet also: „Wie sind synthetische Urteilea priori möglich?“ (B19). Mit anderen Worten: Wie können wirzu erfahrungsunabhängigem Wissen über die Welt gelangen?

Zur Beantwortung dieser Frage bezieht sich Kant häufig aufdie Mathematik und die reine Naturwissenschaft. Er geht davonaus, daß diese Wissenschaften synthetische Urteile a priori ent-halten und daß eine Klärung, wie diese synthetischen Urteilea priori möglich sind, zugleich zeigt, unter welchen Bedingun-gen Metaphysik als Wissenschaft möglich ist.

1.3.2 Die „transzendentale“ Fragestellungund die „kopernikanische Wende“

Die Frage nach der Möglichkeit einer Art von Urteilen hat zweiAspekte. Der eine betrifft die psychologisch-kognitiven Bedin-gungen, die es uns Menschen erlauben, solche Urteile über-haupt zu bilden, der andere betrifft die Gültigkeit der so gebil-deten Urteile. Beide Aspekte, Genesis und Geltung, sind Ge-genstand einer philosophischen Erkenntnistheorie, müssen aberstets unterschieden werden. Kant macht selbst darauf aufmerk-sam, daß die Transzendentalphilosophie nicht auf das „Entste-hen der Erfahrung“, sondern auf das, „was in ihr liegt“, abzielt(Prolegomena, § 21a, IV 304). Das schließt nicht aus, daß auchdie empirische Psychologie einen Beitrag zur Beantwortung

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erkenntnistheoretischer Fragen leisten kann. Doch wenn Kantsubjektive Erkenntnisbedingungen für die Möglichkeit der objek-tiven Gültigkeit bestimmter Urteilstypen namhaft macht, sostützt er sich nicht auf empirisch-psychologische Daten, son-dern auf die Ergebnisse einer „transzendentalen“ Analyse der„Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung“.

Kant bezeichnet eine Untersuchung als „transzendental“,wenn sie die Möglichkeit von nicht-empirischer Erkenntnis,vor allem die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori, be-trifft (vgl. B25). Sie hat insbesondere zu klären, wie sich An-schauungen und Begriffe, über die wir a priori verfügen, den-noch auf Gegenstände der Erfahrung beziehen können (vgl.A56/B80f.). Nach Kant gelangen wir zu synthetischen Urtei-len a priori, indem wir nach den notwendigen subjektivenBedingungen fragen, unter denen Erkenntnis überhaupt mög-lich ist. Nicht-empirisches Wissen, so Kant, ist Wissen überdie formale Grundstruktur einer jeden für uns erkennbarenWirklichkeit, denn den „Bedingungen der Möglichkeit vonErfahrung“ muß jeder Gegenstand notwendigerweise ent-sprechen, sofern es sich um einen Gegenstand unserer Erfah-rungserkenntnis handelt.

Nicht-empirisches Wissen ist Kant zufolge also kein Wissenvon erfahrungstranszendenten Gegenständen. Es ist vielmehrein Wissen von den allgemeinsten Gesetzen, unter denen Ge-genstände möglicher Erfahrung stehen, sofern diese Gesetzedurch die subjektiven Erkenntnisbedingungen a priori festge-legt sind. Gestützt auf Anschauungen und Begriffe a priori kön-nen wir synthetische Urteile bilden, die a priori für alle Gegen-stände möglicher Erfahrung gültig sind.

Einen Rückbezug auf das Subjekt und seine epistemischenLeistungen als erkenntnistheoretische Methode finden wir be-reits bei Descartes, der die Gewißheit des Selbstbewußtseinszum Maßstab allen Wissens macht, sowie bei Locke, der eineTheorie der elementaren Inhalte und Verfahrensweisen desmenschlichen Verstandes entwickelt. Kant knüpft an Descartesund Locke an, geht jedoch über beide hinaus. Kant zufolgeerweisen sich die Bedingungen der Erkenntnis zugleich als Be-dingungen der Gegenstände der Erkenntnis: Nicht die Erkennt-nis richtet sich nach ihren Gegenständen, sondern die Gegen-stände (sofern wir sie erkennen können) richten sich nach (den

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Bedingungen) der Erkenntnis (vgl. B xvi). Diesen Schrittbezeichnet Kant selbst als eine „Revolution der Denkart“(B xiii f.), die er mit dem von Kopernikus eingeleiteten Über-gang vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild ver-gleicht. Wir können die allgemeinen gesetzmäßigen Zusam-menhänge der Wirklichkeit gerade deshalb a priori erkennen,so Kants „kopernikanische Wende“, weil wir sie selbst in dieDinge „hineinlegen“. Das erkennende Subjekt, der Mensch,wird so zum Gesetzgeber der Natur – in der Tat eine „Umwäl-zung“ im Verständnis des Zusammenhangs von Erkenntnis underkennbarer Wirklichkeit.

1.3.3 Transzendentalphilosophie

Das Ziel, die Metaphysik auf eine sichere Grundlage zu stellen,läßt sich nun auch so formulieren: Wir benötigen ein Systemtranszendentaler Begriffe und Urteile im Sinne einer umfassen-den und vollständigen Theorie über die Möglichkeit nicht-empirischen Wissens (Erkenntnis a priori). Ein solches System,zu dem auch ein Inventar aller synthetischen Urteile a priorigehören würde, bezeichnet Kant als „Transzendentalphiloso-phie“ (A12/B25). Über deren genauen Umfang, insbesondereüber ihr Verhältnis zum Projekt einer „Kritik der reinen Ver-nunft“ einerseits und zur Metaphysik andererseits, hat Kantsich an verschiedenen Stellen unterschiedlich geäußert. Unklarist zum einen, ob die Kritik der reinen Vernunft bereits Teile derzukünftigen Transzendentalphilosophie umfaßt (nur eben nochnicht das „vollständige System“; vgl. A12/B25f., A13/B27) oderob sie nur eine „Vorübung“ darstellt, auf die das gesamte Systemerst noch folgen muß (vgl. A841/B869). Unklar ist zum anderen,ob die Transzendentalphilosophie nur ein Teilbereich der Meta-physik ist (so A845/B873) oder ob letztlich nicht alle MetaphysikTranszendentalphilosophie sein muß (vgl. z. B. A480/B508).Wenn die Transzendentalphilosophie alle synthetischen Urteilea priori enthält (A12/B25), warum umfaßt sie dann nicht dieMathematik (vgl. A480/B508), sondern muß nur deren „Mög-lichkeit“ erklären (A733/B761)? Und ist dann nicht auch die„Metaphysik der Sitten“, also die Moral- und Rechtsphilosophie,zur Transzendentalphilosophie zu rechnen? Festzuhalten ist je-

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denfalls, daß die Transzendentalphilosophie bei Kant zur meta-physischen Fundamentaldisziplin wird. Diese beruht ihrerseitsauf einer Kritik der reinen Vernunft, über die sie jedoch zumin-dest in der Ausführlichkeit der Ausarbeitung hinausgeht.

1.3.4 Die Erkenntnisvermögen

Während für Empiristen wie Locke und Hume Erkenntnissevon raum-zeitlichen Gegenständen und Ereignissen nur dannGeltung besitzen, wenn alle in ihnen enthaltenen Begriffe aufsinnliche Eindrücke zurückgeführt werden können, ist für Ra-tionalisten wie Descartes und Leibniz sinnliche Wahrnehmunglediglich eine verworrene Erkenntnis dessen, was sich klar unddeutlich nur durch Begriffe erkennen läßt. Kant geht über dieseAlternative in zweifacher Weise hinaus. Zum einen unterschei-det er zwischen Sinnlichkeit und Verstand als zwei irreduziblenGrundquellen der Erkenntnis (B30) und dementsprechend zwi-schen zwei Grundarten von Vorstellungen. Die Sinnlichkeit istRezeptivität. Durch Reizungen unserer Sinne werden nicht nurphysiologische Reaktionen, sondern auch mentale Zuständeerzeugt. Auf diese Weise werden uns sinnliche Vorstellungen„gegeben“, die Kant als Anschauungen bezeichnet. Im Verstandhingegen kommt die Spontaneität des Erkenntnissubjekts zumAusdruck. Die durch den Verstand „gemachten“ Vorstellungensind Begriffe. Während Anschauungen immer auf Einzelnes ge-richtet sind (z. B. ein Stück Blei), handelt es sich bei Begriffen(z. B. dem der Schwere) um Allgemeinvorstellungen, die aufmehrere Dinge zutreffen können (hier: auf alle schweren Dinge).

Zum anderen werden die beiden „Erkenntnisstämme“ vonKant nicht nur voneinander unterschieden, sondern auch auf-einander bezogen. Anschauungen ohne Begriffe – so Kantsberühmte Formel – sind blind; (begriffliche) Gedanken ohne(anschaulichen) Inhalt sind leer (vgl. A51/B75). Nur durch dieVerbindung von Anschauung und Begriff kommt Erkenntniszustande. Kants zentrale erkenntnistheoretische These besagt,daß der Realitätsbezug unserer Begriffe und Urteile stets durchAnschauungen vermittelt ist.

Aufgrund der Verschiedenartigkeit von Anschauung und Be-griff können Anschauungen nicht ohne weiteres auf Begriffe

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gebracht werden. Dazu ist nach Kant die produktive Einbildungs-kraft erforderlich, die anschaulich gegebene Vorstellungen zusynthetischen Einheiten verbindet. Als das Vermögen, auf An-schauungskomplexe Begriffe anzuwenden, tritt die Urteilskrafthinzu, die Kant als das Vermögen, unter Regeln zu subsumie-ren, definiert. Auch in diesen beiden Vermögen kommt dieSpontaneität des Begriffe bildenden und anwendenden Verstan-des zum Ausdruck.

Die Urteile des Verstandes in einen systematischen Zusam-menhang zu stellen, ist nach Kant die wesentliche Aufgabeeines weiteren Vermögens: der Vernunft im engeren Sinne. Sieist die Fähigkeit, von gegebenen Urteilen folgerichtig auf neueUrteile zu schließen. Dazu gehören auch solche Schlüsse, die denBereich der Erfahrung übersteigen und auf die allgemeinstenEigenschaften und ersten Ursachen der Welt abzielen. Es istdiese reine, nicht auf Erfahrung gestützte Vernunft, die in derKritik der reinen Vernunft auf dem Prüfstand steht.

Kant spricht von den „Erkenntnisvermögen“ oder „Erkennt-niskräften“ häufig wie von eigenständigen Akteuren, deren Tä-tigkeiten unser Denken ausmachen. Doch das ist nicht mehr alseine bildliche Redeweise. Es handelt sich Kant zufolge um spezi-fische Fähigkeiten (eben um „Vermögen“), die wir Menschendadurch unter Beweis stellen, daß wir bestimmte Leistungenerbringen, also etwa Urteile fällen oder Schlüsse ziehen. KantsErkenntnistheorie ist über weite Strecken ein Versuch, empi-risches wie nicht-empirisches Wissen über die Welt aus demZusammenwirken elementarerer Fähigkeiten (Sinnlichkeit, Ver-stand usw.) zu erklären.

1.3.5 Aufbau und Inhalt der Kritik der reinen Vernunft

In ihrem formalen Gesamtaufbau folgt die Kritik der reinenVernunft weitgehend dem Aufbau der Logik-Lehrbücher, wiesie im 18. Jahrhundert in der deutsch-aristotelischen Traditionals Vorlesungstexte dienten. Auch Kant hat sie benutzt (vgl.XVII, XVIII, XXIV). Die Kritik ist zunächst in eine Elementar-lehre und eine Methodenlehre unterteilt. Zur Charakterisierungdieser beiden Hauptteile verwendet Kant (vgl. A707/B735) dasBild vom Inbegriff aller Erkenntnis der reinen Vernunft als

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einem Gebäude, zu dem die Elementarlehre die „Materialien“(Anschauungen, Begriffe, Schemata, Grundsätze, Ideen), dieMethodenlehre den „Plan“ (für ein „vollständiges System derreinen Vernunft“) bereitstellt. Die Elementarlehre gliedert sich,gemäß der Unterscheidung zwischen den beiden Erkenntnis-stämmen, in eine Transzendentale Ästhetik als der Lehre von derSinnlichkeit und eine Transzendentale Logik als der Lehre vomVerstand und von der Vernunft.

1.3.5.1 Die Transzendentale Ästhetik (von griech.: aisthesis – Wahr-nehmung) untersucht, ob die Sinnlichkeit über nicht-empirischeAnschauungen verfügt, welche dies sind und inwiefern sie alsBedingungen empirischen und nicht-empirischen Wissens fun-gieren. Kants These lautet, daß es „zwei reine Formen sinn-licher Anschauung, als Prinzipien der Erkenntnis a priori, gebe,nämlich Raum und Zeit“ (A22/B36). Diese sind nach Kantweder selbständige Dinge noch Eigenschaften einer vom Sub-jekt unabhängigen Wirklichkeit. Die Gegenstände, wie sie un-abhängig von unseren sinnlichen Erkenntnisbedingungen seinmögen, die „Dinge an sich“, haben weder räumliche noch zeitli-che Eigenschaften. Die raum-zeitlichen Gegenstände unsererErfahrung hingegen sind bloße „Erscheinungen“, d. h. Gegen-stände, die uns in Raum und Zeit erscheinen. Dies ist die für allesweitere entscheidende These des „transzendentalen Idealis-mus“. Als Formen der Erscheinungen und nur als solche habenRaum und Zeit „empirische Realität“. Ohne unsere subjektivenErkenntnisbedingungen gibt es Raum und Zeit nicht; das be-zeichnet Kant als ihre „transzendentale Idealität“. Hat Kantnachgewiesen, daß es sich bei Raum und Zeit um Anschauungs-formen a priori handelt, so hat er zugleich die Frage beantwor-tet, wie die synthetischen Urteile a priori der Mathematik mög-lich sind: Die Mathematik beschreibt die Strukturen des Rau-mes (Geometrie) und der Zeit (Arithmetik), ist also zwar aufAnschauung, nicht aber auf Erfahrung angewiesen. Gültigkeithat sie dennoch lediglich für Gegenstände möglicher Erfah-rung.

1.3.5.2 Der zweite Teil der Elementarlehre, die TranszendentaleLogik, hat wiederum zwei Teile. Die Transzendentale Analytikuntersucht, ob der Verstand als das Vermögen zu denken über

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nicht-empirische Begriffe verfügt, welche dies sind und inwie-fern es sich dabei um Bedingungen empirischen und nicht-empirischen Wissens handelt. Die Transzendentale Dialektik un-tersucht die Vernunft als das Vermögen zu schließen und stelltdie Diagnose, daß jeglicher Gebrauch von Vernunftschlüssen,der über die Bedingungen möglicher Erfahrung hinausführt, intrügerisches Scheinwissen mündet.

Die Analytik zerfällt ihrerseits in eine Analytik der Begriffeund eine Analytik der Grundsätze. Erstere soll nachweisen, daßes zwölf Grundbegriffe a priori des Verstandes („Kategorien“)gibt, die sich trotz ihres nicht-empirischen Charakters auf Ge-genstände der Erfahrung anwenden lassen. Hier finden sicheinige der schwierigsten und meistinterpretierten Textstückeder Kritik, allen voran die „transzendentale Deduktion“ derKategorien.

Kant beginnt mit einer Tafel von vier mal drei „logischenFunktionen des Verstandes in Urteilen“ (der sog. „Urteils-tafel“). Jeder dieser „Urteilsformen“, so Kant, entspricht eineKategorie. Er gelangt so zu einer ebenfalls zwölfteiligen „Ka-tegorientafel“. Diese Herleitung der Kategorien bezeichnetKant (in B) als deren metaphysische Deduktion. Auf sie folgt dietranszendentale Deduktion, die zeigen soll, wie Begriffe, dieallein unserem Verstand „entspringen“ und insofern etwasrein Subjektives sind, dennoch objektive Gültigkeit, d. h. Gel-tung von Gegenständen, haben können. Diese im einzelnenschwer nachzuvollziehende und in beiden Auflagen unter-schiedlich ausgestaltete Deduktion beruht auf folgendemGrundgedanken: Die Bedingungen, unter denen man sich sei-ner selbst als im Zeitablauf identisches Subjekt bewußt wer-den kann, und die Bedingungen, unter denen man von Ge-genständen Erfahrung haben kann, verweisen wechselseitigaufeinander: ohne durchgängiges Selbstbewußtsein keine Er-fahrung, ohne zusammenhängende Erfahrung kein Selbstbe-wußtsein. Doch von einer Wirklichkeit, in der die Kategorienunseres Verstandes keine Anwendung finden, könnte mankeine zusammenhängende Erfahrung haben, da sich die ein-zelnen Vorstellungen von einer solchen Wirklichkeit nicht zueinem einheitlichen Bewußtsein zusammenfügen ließen. DieKategorien erweisen sich so als Bedingungen der Möglichkeitvon Erfahrung. Damit ist ihre Anwendbarkeit auf Gegenstän-

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de sichergestellt und gleichzeitig ihre Geltung auf Gegen-stände möglicher Erfahrung beschränkt.

Die Analytik der Grundsätze, von Kant auch als Transzenden-tale Doktrin der Urteilskraft bezeichnet, beginnt mit dem schwie-rigen Abschnitt über den Schematismus der reinen Verstandes-begriffe. Dabei geht es um die Frage, wie Kategorien auf Ge-genstände der Erfahrung angewendet werden. Wenn z. B. dieKategorie der Substanz nicht aus der Erfahrung gewonnen wer-den kann, woran erkennt man dann, wann man es in der Erfah-rung mit einer Substanz zu tun hat? Zwischen Anschauungenund Kategorien, so Kants Antwort, vermitteln „transzendentaleSchemata“ – Muster in der zeitlichen Struktur des anschaulichGegebenen, die den einzelnen Kategorien entsprechen und soihre Anwendung ermöglichen.

Im nächsten Schritt stellt Kant das System der Grundsätze desreinen Verstandes vor, das er ausgehend von der Kategorientafelund ihren vier Titeln entwickelt. Es handelt sich bei diesenGrundsätzen um synthetische Urteile a priori, die als Bedin-gungen der Naturerkenntnis und damit zugleich als Fundamen-talgesetze der Natur selbst fungieren. Kant definiert „Naturüberhaupt“ als „Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raumund Zeit“ (B165). Das Prinzip der Axiome der Anschauung be-sagt, daß alle Anschauungen extensive, d. h. zählbare Größensind. Der Grundsatz der Antizipationen der Wahrnehmung lau-tet, daß jede Wahrnehmung eine graduell bestimmte Intensitäthat. Unter das Prinzip der Analogien der Erfahrung fallen dreispeziellere Grundsätze: derjenige der Beharrlichkeit der Sub-stanz, das Kausalprinzip („Alle Veränderungen geschehen nachdem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung“) undder Grundsatz, daß alle zugleich existierenden Substanzen inWechselwirkung stehen. Die drei Postulate des empirischen Den-kens schließlich beziehen die Begriffe der Möglichkeit, Wirk-lichkeit und Notwendigkeit auf Gegenstände der Erfahrung.Zwischen das zweite und dritte Postulat schaltet Kant in derzweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft eine Widerlegungdes Idealismus. Dort wendet er sich gegen Berkeleys „dogmati-schen“, vor allem aber gegen Descartes’ „problematischen“Idealismus und präsentiert seinen eigenen „transzendentalen“Idealismus als Lösung des Problems, wie wir von der Existenzder Außenwelt sicheres Wissen haben können.

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Ästhetik und Analytik zusammen machen den „konstruktiven“Teil der Elementarlehre aus. Ihr auf den ersten Blick paradoxesErgebnis faßt Kant im Abschnitt über Phaenomena und Noumenanoch einmal zusammen: Erkenntnis a priori können wir nurvon Gegenständen möglicher Erfahrung haben. Das aber be-deutet, daß auch die metaphysische Grunddisziplin der Ontolo-gie (Lehre vom Seienden) auf den Bereich möglicher Erfah-rung beschränkt bleibt. Da die Grenzen dieses Bereichs sichnicht aus den Dingen selbst, sondern aus dem menschlichenVerstand ergeben, wird aus der Ontologie eine bloße „Analytikdes Verstandes“. Im Anhang über die Amphibolie der Reflexions-begriffe, der die Analytik beschließt, kritisiert Kant die Leibniz-sche Ontologie, da sie diese Grenzen nicht beachtet.

1.3.5.3 Von der Ontologie oder metaphysica generalis unterschiedman vor Kant die drei Bereiche der metaphysica specialis: Psycho-logie, Kosmologie, Theologie. Ihnen wendet sich Kant in derTranszendentalen Dialektik zu. Zunächst erläutert Kant in derEinleitung und im ersten Buch der Dialektik die strukturellenBedingungen, die dazu führen, daß unsere Vernunft unvermeid-lich einem „transzendentalen Schein“ erliegt, aus dem sich alleweiteren Fehler der metaphysica specialis ergeben: Sie schließtnämlich von der Tatsache, daß etwas Bedingtes gegeben ist (zumBeispiel eine Veränderung), auf die Existenz der Bedingung(etwa einer Ursache). Doch diese Bedingung ist selbst wieder-um durch etwas weiteres bedingt, so daß sich ein Regreß ergibt,der die Vernunft schließlich auf den Begriff einer unbedingtenBedingung führt. In der Erfahrung können wir etwas absolutUnbedingtes aber nicht auffinden, denn hier ist jedes Vor-kommnis selbst wieder (räumlich, zeitlich, kausal) bedingt. DieVorstellungen von etwas Unbedingtem, die wir uns aufgrundder Eigendynamik unserer Vernunft zwangsläufig machen, sindalso reine Vernunftbegriffe. Kant bezeichnet sie als transzenden-tale Ideen. Sie fallen in drei Klassen: Die Ideen der rationalen(d. h. metaphysischen) Psychologie betreffen den Begriff derSeele, diejenigen der rationalen Kosmologie den Begriff derWelt und die der rationalen Theologie den Begriff Gottes.

Kant bezieht diese drei Klassen von transzendentalen Ideennun auf die drei grundlegenden Schlußformen (kategorisch,hypothetisch, disjunktiv). Zum transzendentalen Schein kommt

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es, wenn Eigenschaften der Seele, der Welt oder Gottes formalkorrekt aus Prämissen erschlossen werden, die scheinbara priori gültig sind, die jedoch in Wirklichkeit Fehler enthalten,welche nur mit den Mitteln einer transzendentalen Erkenntnis-kritik aufgedeckt werden können.

Die erste Gruppe dieser dialektischen Fehlschlüsse sind dievier Paralogismen der reinen Vernunft. Ihre Konklusionen besa-gen: (1) Die Seele ist eine Substanz. (2) Sie ist ihrer Qualitätnach einfach. (3) Sie ist eine (im Zeitablauf identische) Person.(4) Sie ist von der Existenz körperlicher Dinge unabhängig. –Jeder dieser Schlüsse wäre ein Beweis für die Unsterblichkeitder Seele. Doch Kant weist in jedem von ihnen eine Zweideu-tigkeit nach, an welcher der Schluß scheitert. Der Sache nachhandelt es sich um eine vernichtende Kritik an einer rationa-listischen Psychologie, die aus dem bloßen Bewußtsein seinerselbst (dem „Ich denke“) metaphysisch gehaltvolle Konsequen-zen ziehen will. Kants Argumente laufen auf das Eingeständnishinaus, daß die Frage, ob wir über eine unsterbliche Seele ver-fügen oder nicht, die Grenzen unserer Erkenntnis übersteigt.

Die nächste Gruppe von Fehlschlüssen sind die vier Antino-mien oder Widerstreite der reinen Vernunft. Sie bestehen jeweilsaus zwei einander widersprechenden Aussagen, die scheinbarbeide beweisbar sind. Sie betreffen die Fragen, ob (1) die Aus-dehnung der Welt und (2) die Anzahl ihrer Teile endlich oderunendlich ist und ob es (3) freie Handlungen und (4) ein not-wendiges Wesen gibt oder nicht. Es handelt sich um vier klassi-sche Konflikte, die Kant der metaphysischen Kosmologiezuordnet und von denen er zeigen will, daß sie auf bloßenMißverständnissen beruhen – genauer: auf einer Mißachtungder Unterscheidung zwischen Dingen an sich und Gegenstän-den der Erfahrung (Erscheinungen). Die ersten beiden Antino-mien löst Kant auf, indem er zeigt, daß Thesis und Antithesisbeide falsch sind, da die raum-zeitliche Welt unserer Erfahrungweder endlich noch unendlich ist. Thesis und Antithesis derbeiden letzten Antinomien dagegen können jeweils beide wahrsein, da sich Kant zufolge die Thesis auf den Bereich der Dingean sich, die Antithesis auf den der Erfahrung (der Erscheinun-gen) bezieht.

Schließlich wendet sich Kant dem Ideal der reinen Vernunft zu.Darunter versteht er den Begriff eines durchgängig positiv be-

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stimmten Wesens (eines ens realissimum), das einfach, selbstge-nügsam, ewig und vollkommen ist. Dies sind in der traditionel-len philosophischen Theologie Prädikate Gottes. Die Annah-me, ein solches Wesen (Gott) existiere notwendigerweise, be-ruht Kant zufolge jedoch auf einer „natürlichen Illusion“. Allebislang dafür gehaltenen Beweise für die Existenz Gottes wider-legt Kant: zunächst den sogenannten „ontologischen Gottesbe-weis“, dann den „kosmologischen“ und schließlich den „teleolo-gischen“ bzw. „physikotheologischen“ Gottesbeweis. Am Endesteht die für viele Zeitgenossen Kants ernüchternde Einsicht,daß man an Gott zwar glauben kann, daß seine Existenz sichaber nicht beweisen läßt.

Im Anhang zur transzendentalen Dialektik ergänzt Kant dasvernichtende Ergebnis der Vernunftkritik um einen wichtigenpositiven Aspekt. Auch wenn wir über die Gegenstände dertranszendentalen Ideen kein Wissen erlangen können, habendiese dennoch eine wichtige regulative Funktion. Sie könnenunserem Forschen eine Richtung geben und uns helfen, unserWissen in eine systematische Form zu bringen.

1.3.5.4 Es folgt der „zweite Hauptteil“ der Kritik, die Methoden-lehre. In ihr beschreibt Kant die Verfahrensweisen zur Aufstel-lung des vollständigen Systems der Transzendentalphilosophie.Da die reine Vernunft die Tendenz hat, die Grenzen ihrer sinn-vollen Anwendung zu überschreiten, bedarf sie zunächst einermethodischen Disziplinierung. Deren Grundzüge umreißt Kantim ersten Hauptstück, der Disziplin der reinen Vernunft, undunterscheidet dabei vier Verwendungsweisen der reinen Ver-nunft. Im dogmatischen Gebrauch der Vernunft muß man ver-meiden, die Methoden der Mathematik auf die Philosophie zuübertragen. Im polemischen Gebrauch darf man bei der Zurück-weisung dogmatischer Behauptungen nicht einfach in die Be-hauptung des Gegenteils verfallen. Der Gebrauch von Hypothe-sen der reinen Vernunft darf nicht Erklärungszwecken dienen,sondern muß sich ebenfalls auf die Abwehr „transzendenterAnmaßungen“ beschränken. Transzendentale Beweise der rei-nen Vernunft schließlich dürfen nur „ostensiv“ (direkt) geführtwerden (und nicht via negationis).

Auf diese Einschränkungen folgen nun im Kanon der reinenVernunft die positiven Regeln und Ziele für den reinen Ver-

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nunftgebrauch. Kant betont vor allem, daß die Aufgabe unsererVernunft, und sei sie noch so erfahrungsfern, letztlich immer imBereich der Praxis liegt. Nur durch vernünftiges Denken kön-nen wir unserem Handeln eine verläßliche Orientierung geben.Dazu bedürfen wir des Ideals eines höchsten Gutes – einesZustandes der Welt, in dem Glück und Sittlichkeit einandergenau angemessen sind. Um diesen Zustand zumindest für mög-lich zu halten, müssen wir Kant zufolge an die Existenz Gottes,die Freiheit unseres Handelns und die Unsterblichkeit der Seeleglauben, wenn wir auch aus den zuvor entwickelten Gründenkeine theoretische Gewißheit hierüber erlangen können. So fin-den die klassischen Begriffe der Metaphysik – Gott, Freiheit,Unsterblichkeit der Seele – in der Kritik der reinen Vernunftdoch noch ihren Platz. Sie sind, wie Kant später in der Kritik derpraktischen Vernunft ausführt, „Postulate der reinen praktischenVernunft“ (vgl. V 122 ff.).

Daran schließt sich die Architektonik der reinen Vernunft an, inder Kant ein Einteilungsschema aller „Vernunfterkenntnis“ ent-wickelt. Hier geht es um den Grundriß des zukünftigen Systemsder Transzendentalphilosophie und ihr Verhältnis zu den ande-ren „reinen“ (synthetische Urteile a priori enthaltenden) Wis-senschaften. Diese „architektonischen“ Überlegungen sind fürKant von größter Wichtigkeit. Nur wenn jedes Element vonvornherein seinen festen Platz hat, ist die Vollständigkeit undAbgeschlossenheit gewährleistet, die für ein System des Wissenserforderlich ist.

Den Abschluß des Buches bildet die kurze Geschichte der rei-nen Vernunft, in der Kant die Geschichte der Philosophie alseine Entwicklung auf drei Ebenen beschreibt, an deren Endejeweils die Kritik der reinen Vernunft steht: „Der kritische Wegist allein noch offen.“ Auf diesem Weg, so Kant abschließend,sei bald zu erreichen, „was viele Jahrhunderte nicht leistenkonnten [...]: nämlich, die menschliche Vernunft in dem, wasihre Wißbegierde jederzeit, bisher aber vergeblich, beschäftigthat, zur völligen Befriedigung zu bringen“ (A856/B884).

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1.3.6 Abweichungen in der zweiten Auflage

Zwei Jahre nach dem Erscheinen der ersten Auflage der Kritikder reinen Vernunft veröffentlicht Kant, als einen „Plan nachvollendetem Werke“ (IV 263), die Prolegomena – eine Art Kurz-fassung der Kritik, in der Kant sich insbesondere bemüht, denVorwurf des Berkeleyschen Idealismus zurückzuweisen. Hierbringt Kant die leitende Frage seiner Theorie zum ersten Malauf die Formulierung: „Wie sind synthetische Urteil a priorimöglich?“

Für die zweite Auflage von 1787 überarbeitet Kant die Kritik.Er schreibt eine neue Vorrede; die Einleitung wird modifiziertund – unter Rückgriff auf Passagen aus den Prolegomena – starkerweitert. Die Transzendentale Ästhetik erhält eine durchgehen-de Paragraphenzählung, der Text wird neu strukturiert, zumTeil überarbeitet und um längere Abschnitte ergänzt. Auch indie Analytik der Begriffe fügt Kant neue Abschnitte ein. Die wohlwichtigste Veränderung betrifft die Transzendentale Deduktionder Kategorien, die Kant völlig neu schreibt. Die neue Fassungder Deduktion weicht nicht nur im Argumentationsgang, son-dern auch in der Gewichtung zentraler Begriffe von der erstenFassung ab. In der Analytik der Grundsätze stellt Kant den Be-weisen der Axiome, Antizipationen und Analogien jeweils eineKurzfassung der Beweisidee voran. Die Postulate werden umdie Widerlegung des Idealismus ergänzt, einige Passagen im Ab-schnitt Phaenomena und Noumena werden modifiziert. Inhaltlichkommt in diesen Änderungen, neben dem Bemühen um eineklarere und verständlichere Darstellung, immer wieder die Ab-grenzung vom „empirischen“ Idealismus Berkeleys zum Aus-druck. Bei diesen Änderungen stellt sich häufig die Frage, ob siewirklich (wie Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage behaup-tet) nur die Darstellungsform oder nicht auch den Inhalt derTheorie modifizieren.

In der Dialektik betreffen die Änderungen vor allem die Para-logismen, die Kant stark strafft, aber dann um die Widerlegungeines von Mendelssohn vorgeschlagenen Beweises für die Un-sterblichkeit der Seele ergänzt. Im restlichen Text der Kritik,immerhin mehr als der Hälfte des ursprünglichen Werks, nimmtKant nur noch kleinste Änderungen vor. Bemerkenswert ist ins-besondere, daß auch der Kanon mit seinen moralphilosophischen

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Thesen fast unverändert bleibt, obwohl Kants Position sich, wiedie Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785 belegt, in-zwischen weiterentwickelt hat.

Zu Kants Lebzeiten erscheinen drei weitere Ausgaben derKritik (1790, 1794, 1799), die jedoch von der zweiten Auflagenur unwesentlich abweichen.

1.4 Weiterentwicklung, Rezeptionund Wirkungsgeschichte

der Kritik der reinen Vernunft

1.4.1 Der Ausbau der kritischen Philosophie

Obwohl Kant zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der erstenAuflage der Kritik der reinen Vernunft noch nicht plant, eineKritik der praktischen Vernunft (1788) und eine Kritik der Urteils-kraft (1790) zu schreiben, verweisen zentrale Thesen und Ar-gumentationsgänge der ersten Kritik, zumindest aus der Retro-spektive, auf weiterführende Überlegungen, die den Rahmender Kritik der reinen Vernunft verlassen und in die Problemstel-lungen der späteren Kritiken münden. Einige wesentliche seienhier genannt.

Der „negative“ Freiheitsbeweis der ersten Kritik (A532 ff./B560 ff.) wird in der Kritik der praktischen Vernunft um einepositive Freiheitstheorie ergänzt. Die Kritik der reinen Vernunftkonnte lediglich die Möglichkeit von Freiheit durch den Nach-weis der widerspruchsfreien Vereinbarkeit intelligibler Freiheit(„Kausalität durch Freiheit“) mit Naturkausalität („Kausalitätnach Gesetzen der Natur“) sichern. Eine positive Begründungder Wirklichkeit von Freiheit unternimmt Kant erst in der Kritikder praktischen Vernunft unter Hinweis auf das von ihm als ein„Faktum der Vernunft“ bezeichnete Bewußtsein moralischerVerpflichtung.

Die anderen beiden Ideen der Metaphysik, das Dasein Gottesund die Unsterblichkeit der Seele, denen Kant in der transzen-dentalen Dialektik der ersten Kritik ebenfalls den Status vonGegenständen theoretischer Erkenntnis abspricht, werden inder Kritik der praktischen Vernunft als „Postulate der praktischen

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Vernunft“ bestimmt, die sich aus der moralischen Verpflichtungvernünftiger Sinnenwesen ergeben. Kant greift damit Überle-gungen auf, die er in gedrängter Form bereits im Kanon derKritik der reinen Vernunft entwickelt hatte. In den letzten Para-graphen der Kritik der Urteilskraft (§§ 86ff.) wird diese Argu-mentationslinie im Rahmen eines teleologischen Naturbegriffsfortgeführt und durch einen „moralischen Gottesbeweis“ er-gänzt. Die Kritik der Urteilskraft stellt noch in einer weiterenHinsicht eine wesentliche Ergänzung zur Kritik der reinen Ver-nunft dar. Die Ausführungen der transzendentalen Ästhetik in derersten Kritik sind auf Anschauungen beschränkt, sofern diesezur Erkenntnis raum-zeitlicher Gegenstände dienen. In derKritik der Urteilskraft entwickelt Kant eine Ästhetik im Sinneeiner Theorie des Schönen und Erhabenen.

1.4.2 Einige Schwierigkeiten

Bereits die ersten Reaktionen auf die Kritik der reinen Vernunfthaben auf grundlegende Schwierigkeiten der in ihr vorgetrage-nen Theorie aufmerksam gemacht. So ist gegen die transzen-dentale Ästhetik eingewandt worden, sie liefere keinen schlüssi-gen Beweis für die These, daß Raum und Zeit ausschließlichsubjektive Formen der reinen Anschauung und nicht auch ob-jektive Formen der Gegenstände bzw. der Realität selbst sind(die sogenannte „Trendelenburgsche Lücke“). Des weiteren isthäufig die grundlegende transzendentalphilosophische Unter-scheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung in Fragegestellt worden. Schon Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819)muß gestehen, daß er „unaufhörlich darüber irre wurde“, ohnedie Voraussetzung von Dingen an sich nicht in das System derVernunftkritik hineinzukommen, mit dieser Voraussetzung abernicht darin bleiben zu können. Kants Vernunftkritik, so Jacobi,setze einerseits die Wahrnehmbarkeit und Bestimmbarkeit derDinge an sich voraus, andererseits verwerfe sein transzenden-taler Idealismus aber diese Voraussetzung explizit. Schwierig-keiten bereitet auch der Begriff der Affektion (Wirkung einesGegenstands auf die Sinnlichkeit des Erkenntnissubjekts). Zumeinen scheint damit die Kategorie der Kausalität entgegen derKantischen Lehre, daß Kategorien nur auf Erscheinungen an-

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zuwenden sind, auf einen Gegenstand bezogen zu werden, derper definitionem noch keine Erscheinung ist, da die Affektion jaerst den „Stoff“ zur Bestimmung empirischer Gegenstände alsErscheinungen liefert. Zum anderen suggeriert der Affektions-begriff einen Vorgang in der Zeit. Diese ist nach Kant aber einebloße Form der Anschauung, so daß zwar die durch die Affek-tion gegebenen Sinnesempfindungen in der Zeit erscheinen,ohne daß diese jedoch in einer zeitlichen Relation zu den affi-zierenden Dingen an sich stünden.

Einwände gegen Kants Theorie des Selbstbewußtseins ma-chen geltend, daß der Kantische Dualismus von Anschauungund Begriff in Verbindung mit der Ablehnung einer intel-lektuellen Anschauung bei dem Versuch der Erklärung vonmenschlichem Selbstbewußtsein in Aporien führt (hier setzenFichte und der frühe Schelling an). Gravierende Bedenken sindauch gegen die für Kants Projekt entscheidende Argumenta-tionsform, die transzendentale Deduktion, vorgebracht wor-den. Sie sind vor allem neueren Datums (Körner 1969, Rorty1970) und stellen die Möglichkeit einer transzendentalen De-duktion prinzipiell in Frage. Es wird eingewandt, daß von denBedingungen von Erfahrung nicht auf die Beschaffenheit derGegenstände der Erfahrung geschlossen werden könne. Quinehält eine stringente Unterscheidung zwischen „analytisch“ und„synthetisch“ sowie zwischen „a priori“ und „empirisch“ fürunmöglich und macht damit schon die Kantische Problemstel-lung fraglich (vgl. Quine 1953). – In allen drei Punkten hatKant allerdings auch Verteidiger gefunden. Die Diskussion umdie Leistungsfähigkeit der Kantischen Theorie dauert bis heutean.

1.4.3 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

Die Kritik der reinen Vernunft ist in der philosophischen Öf-fentlichkeit zunächst auf Unverständnis gestoßen. BeredtesBeispiel hierfür ist die erste Rezension, die von Christian Gar-ve (1742–1798) verfaßt wird und in einer von Johann GeorgHeinrich Feder (1740–1821) veränderten Fassung am 19. Ja-nuar 1782 in den Göttingischen Anzeigen von Gelehrten Sachenanonym erscheint. Der Tenor der Rezension lautet, Kants

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Theorie sei ein bloßer Neuaufguß des Idealismus Berkeleys.Wie dieser verwandle Kant die Welt in eine Reihe von subjek-tiven Vorstellungen. Der von Kant verehrte Moses Mendels-sohn (1729–1786) legt das „Nervensaftverzehrende Werk“(Brief an Kant vom 10. April 1783, X 308) zunächst beiseite.Nach dem Erscheinen der Prolegomena (1783) jedoch ändertsich die Situation allmählich, und es setzt eine lebhafte Rezep-tion ein, die Kants kritischer Philosophie seit Ende der 1780erJahre manche Gegner, vor allem aber eine immer größer wer-dende Anhängerschaft in ganz Deutschland und dem übrigenEuropa einbringt.

Zu diesem Erfolg haben nicht zuletzt zahlreiche kommen-tierende Erläuterungen und „Auszüge“ zur Kritik der reinenVernunft beigetragen, die schon bald erscheinen. Der vonKant geschätzte Königsberger Hofprediger und Mathematik-Professor Johann Schultz (1739–1805) veröffentlicht 1784 Er-läuterungen über des Herrn Professor Kant Kritik der reinenVernunft (2. Aufl. 1791). 1789 folgt Schultz’ Prüfung der Kan-tischen Kritik der reinen Vernunft (2. Aufl. 1792). Einen wichti-gen Beitrag zur Verbreitung Kantischen Gedankenguts leistenKarl Leonhard Reinholds (1757–1823) Briefe über die Kanti-sche Philosophie, die seit 1786 in mehreren Folgen im Deut-schen Merkur erscheinen. Weitere frühe Hilfsmittel sind CarlChristian Erhard Schmids (1761–1812) Critik der reinen Ver-nunft im Grundrisse zu Vorlesungen nebst einem Wörterbuchezum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften (1786), JakobSigismund Becks (1761–1840) dreibändiger Erläuternder Auszugaus den kritischen Schriften des Herrn Prof. Kant (1793–1796)und das sechsbändige Encyclopädische Wörterbuch der kritischenPhilosophie (1797–1804) von Georg Samuel Albert Mellin(1755–1825).

Kritik an Kant kommt erwartungsgemäß zunächst vor allemvon Philosophen, die die Leibniz-Wolffsche Metaphysik ge-gen die „Anmaßungen der Kritik“ verteidigen wollen. Hierzugehören der seinerseits von Kant kritisierte Moses Mendels-sohn sowie Johann August Eberhard (1738–1809), auf denKant 1790 in einem ausführlichen Aufsatz (Über eine Entdek-kung) reagiert.

Mit eigenständigen systematischen Ansprüchen argumen-tieren gegen die Kritik der reinen Vernunft Johann Georg

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Hamann (1730–1788) mit seiner Metakritik über den Puris-mum der reinen Vernunft (1784) und Johann Gottfried Herder(1744–1803) mit seinem Werk Verstand und Erfahrung, Ver-nunft und Sprache. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Ver-nunft (1799). Beide wenden sich gegen Kants Trennung vonSinnlichkeit und Verstand bzw. Vernunft als zwei heterogenenErkenntnisstämmen und schreiben der Sprache eine für dasDenken konstitutive Rolle zu. Mit Herder, Johann FriedrichHerbart (1776–1841) und Jakob Friedrich Fries (1773–1843)etabliert sich eine empirisch-anthropologische Kant-Interpre-tation und -Kritik, die in engem Zusammenhang mit der Ent-wicklung der empirischen Psychologie im 19. Jahrhundertsteht.

Bereits Ende der 1780er Jahre beginnt eine kritisch-pro-duktiv an Kant anschließende Diskussion, die in den Deut-schen Idealismus mündet. Zu ihren Ausgangspunkten zähltJacobis Problematisierung des Verhältnisses von Sinnlichkeitund Verstand, von Apriori und Aposteriori sowie von Er-kenntnis und Realität. Darauf reagiert Karl Leonhard Rein-holds Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungs-vermögens (1789), der die Philosophie in einem ersten Grund-satz fundieren soll. Salomon Maimon (1753–1800) kritisiertin seinem Versuch über die Transzendentalphilosophie (1790)Reinholds und Kants Theorien der erfahrungsbegründendenFunktion synthetischer Urteile a priori als zirkulär, währendGottlob Ernst Schulze (1761–1833) in Aenesidemus oder überdie Fundamente der Elementarphilosophie (1792) den Skeptizis-mus rehabilitiert und Reinhold und Kant Dogmatismus vor-wirft. Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) gesteht zu, daß dieKantische Philosophie ihrem „Buchstaben“ nach Reste desDogmatismus aufweist, will aber deren „Geist“ verteidigen:„Kant hat überhaupt die richtige Philosophie; aber nur inihren Resultaten, nicht nach ihren Gründen“ (Brief an Hein-rich Stephani vom Dezember 1793, in: Fichte, Gesamtausgabe,III/2, 28). Diese sollen in Fichtes Wissenschaftslehre (seit 1794in mehreren Fassungen) nachgeliefert werden. Friedrich Wil-helm Joseph Schelling (1775–1854) schließt sich dieser Ein-schätzung an und bemüht sich wie Fichte um eine Rekon-struktion des nach Kant „höchsten Punkts“ der Logik und derTranszendentalphilosophie. Das Ich, so heißt es in Schellings

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programmatischer Frühschrift von 1795, wird zum Prinzip derPhilosophie, dies allerdings um den Preis erheblicher Korrek-turen an Kants Theorie. Insbesondere der Dualismus vonAnschauung und Begriff muß nach Fichte und Schelling ineiner Theorie der „intellektuellen Anschauung“ überwundenwerden. Spätestens mit Georg Wilhelm Friedrich Hegels(1770–1831) Phänomenologie des Geistes von 1807 werden diesystematischen Voraussetzungen und Grundannahmen desKantischen Kritizismus aufgegeben. Innerhalb weniger Jahreführt der Weg von Kants Erkenntniskritik in die spekulativ-idealistische Systembildung Hegels und des späten Schelling.In größerer Nähe zu Kant versteht sich Arthur Schopenhauer(1788–1860), der seinem Hauptwerk Die Welt als Wille undVorstellung (1819, 1844) einen umfangreichen Anhang hinzu-fügt, der eigens der „Kritik der Kantischen Philosophie“ ge-widmet ist. (Für einen umfassenderen Überblick über dieKant-Rezeption und -Kritik bis 1838 vgl. die zeitgenössischeDarstellung in Rosenkranz 1840).

Nachdem bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Hegels Philoso-phie auch institutionell und politisch äußerst einflußreich war,setzt sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder dasInteresse an einer Aufarbeitung und kritischen Aneignung derKantischen Philosophie durch. Dabei steht vor allem Kantstheoretische Philosophie im Vordergrund. Otto Liebmann(1840–1912) bezeichnet in seiner programmatischen SchriftKant und die Epigonen (1865) die gesamte nachkantische Philo-sophie, namentlich Fichte, Schelling, Hegel, Herbart, Fries undSchopenhauer, als Epigonentum. Dagegen setzt Liebmanndie Devise: „Zurück zu Kant!“ Der mit Hermann Cohen(1842–1918) zunächst vorwiegend wissenschaftstheoretischausgerichtete Neukantianismus bemüht sich um eine an Kantorientierte Rekonstruktion der Grundlagen wissenschaftlicherErkenntnis (Kants Theorie der Erfahrung, 1871). Cohens Logikder reinen Erkenntnis (1902) knüpft daran an, verabschiedet sichaber zugleich von zwei grundlegenden Auffassungen Kants: dererkenntniskonstitutiven Funktion der sinnlichen Anschauungund der Vollständigkeit der Kategoriensystematik. Cohens wis-senschaftstheoretische Umdeutung Kants beeinflußt maßgeb-lich Paul Natorp (1854–1924) und Ernst Cassirer (1874–1945).Cassirer versucht in seinen Abhandlungen zur modernen Phy-

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sik (1921, 1936) zu zeigen, daß die Grundannahmen der Kanti-schen Erkenntnistheorie (Raum und Zeit als Formen der An-schauung, Kausalität als reiner Verstandesbegriff) durch die Er-gebnisse der Relativitätstheorie und der Quantenphysik nichtaufgehoben werden. Der auf die Theorie der Naturwissen-schaften konzentrierte Marburger Neukantianismus wird flan-kiert durch die überwiegend an der Theorie der Geisteswissen-schaften (insbesondere Kultur- und Geschichtswissenschaften)interessierte Südwestdeutsche Schule des Neukantianismus, diedurch Wilhelm Windelband (1848–1915) und Heinrich Rickert(1863–1936; Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbil-dung¸ 1896/1902) vertreten wird. Seit den 1920er Jahren be-müht sich auch Cassirer mit seiner Philosophie der symbolischenFormen (1923ff.) um eine Überführung der „Kritik der Ver-nunft“ in eine „Kritik der Kultur“.

Die Bedeutung von Kants kritischer Philosophie zeigt sichkeineswegs nur an einer lang anhaltenden Tradition von Kan-tianismen, sondern ebenso daran, in welchem Maße auch alter-native Theoriekonzeptionen Kantisches Gedankengut in sichaufnehmen und sich konzeptionell durch ihre Stellung zur Kan-tischen Philosophie definieren. Dies gilt für die sich explizitgegen den Neukantianismus wendende Phänomenologie, so-wohl für die transzendentale Phänomenologie Edmund Hus-serls (1859–1931; Ideen zu einer reinen Phänomenologie, 1913;Cartesianische Meditationen, 1931) als auch für die Existenzial-ontologie Martin Heideggers (1889–1976; Sein und Zeit, 1927;Kant und das Problem der Metaphysik, 1929). Es gilt auch für dasTheorieparadigma der sprachanalytischen Philosophie. Peter F.Strawson bringt in seinem Werk Individuals (1959) Transzen-dentalphilosophie und analytische Philosophie in ein produkti-ves Wechselverhältnis (vgl. auch Bennett 1966, 1974; Sellars1963, 1974; sowie Strawson 1966). Der von Karl R. Poppervertretene „kritische Rationalismus“ macht Grundeinsichtenvon Kants Erkenntnistheorie und Metaphysikkritik für die mo-derne Wissenschaftstheorie fruchtbar (vgl. Logik der Forschung,1934). Daß Kants Konzeption nicht nur von historischem, son-dern auch von systematischem Interesse für die gegenwärtigeTheoriebildung ist, belegt nicht zuletzt das SelbstverständnisHilary Putnams, sein „interner Realismus“ sei als ein modernertranszendentaler Idealismus zu verstehen (vgl. Putnam 1980).

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Literatur

Adickes, Erich 1895: „Über die Abfassungszeit der Kritik der reinen Vernunft“,in: Kant-Studien, 167 ff.

Bennett, Jonathan 1966: Kant’s Analytic, CambridgeBennett, Jonathan 1974: Kant’s Dialectic, CambridgeCassirer, Ernst 1918: Kants Leben und Lehre, Berlin (21921)Cassirer, Ernst 1921: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheore-

tische Betrachtungen, in: Cassirer 1957 (71994), 1–125Cassirer, Ernst 1936: Determinismus und Indeterminismus in der modernen Phy-

sik. Historische und systematische Studien zum Kausalproblem, in: Cassirer1957 (71994), 127–397

Cassirer, Ernst 1957 (71994): Zur modernen Physik, DarmstadtKemp Smith, Norman 1918: A Commentary to Kant’s „Critique of Pure Reason,“

(21923)Körner, Stephan 1969: „The Impossibility of Transcendental Deductions“, in:

L. W. Beck (Hg.), Kant Studies Today, La Salle, 230–244Paton, Herbert J. 1936: Kant’s Metaphysic of Experience. A Commentary on the

First Half of the Kritik der reinen Vernunft, 2 Bde., London/New YorkPutnam, Hilary 1980: „How to Be an Internal Realist and a Transcendental

Idealist (at the Same Time)“, dt. in: ders., Von einem realistischen Standpunkt,Reinbek 1993, 156–173

Quine, Willard Van Orman 1953: „Two Dogmas of Empiricism“, dt. in: ders., Voneinem logischen Standpunkt. Neun logische Essays, Frankfurt/M. u. a. 1979,27–50

Rorty, Richard 1970: „Strawson’s Objectivity-Argument“, in: Review of Metaphy-sics 24, 207–244

Sellars, Wilfried 1963: Science, Perception, and Reality, LondonSellars, Wilfried 1974: Essays in Philosophy and Its History, DordrechtStrawson, Peter 1966: The Bounds of Sense. An Essay on Kant’s Critique of Pure

Reason, London; dt. Die Grenzen des Sinns, Frankfurt/M. 1992Vaihinger, Hans, 1881/92: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft,

2 Bände, Bd. 1: Stuttgart 1881, Bd. 2: Stuttgart/Berlin/Leipzig 1892

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