Einsichts-Dialog · 2017. 3. 28. · Einsichts-Dialog nach Gregory Kramer, zusammengefasst von...

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1 Einsichts-Dialog nach Gregory Kramer, zusammengefasst von Michael Seibt Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Da treffen wir uns. Rumi Die sechs Aspekte des Einsichts-Dialogs: 1. Innehalten Achtsamkeit in der Beziehung entwickeln 2. Den Körper entspannen, im Geist sein lassen Körperliche Anspannung loslassen, Reaktionen annehmen 3. Öffnen In der Beziehung zugänglich sein 4. Dem Entstehen vertrauen Flexibilität und Loslassen 5. Tief zuhören Empfänglich und feinfühlig sein 6. Die Wahrheit sagen Integrität und Fürsorge 1. Innehalten heißt, eine Bewegung zu unterbrechen, aus dem gewohnheitsmäßigen Vorwärtsstürmen und Weitermachen aussteigen. Man unterbricht das Greifen des Geistes nach dem, was man sieht, hört und denkt. Die Reaktionen des Festhaltens (Angenehmes), Verdrängens (Unangenehmes) und Ignorierens (Neutrales, Uninteressantes) werden unterbrochen. Da- mit etwas Neues geschehen kann, müssen konditionierte Muster des Denkens, der Emotio- nen und des Verhaltens angehalten werden. Innehalten ist eine Einladung, aus unseren Re- aktionen und den Identifikationen mit unseren Geschichten auszusteigen. Es ist dieselbe Bewegung wie das Zurückkommen zum Atem bei der Meditation. Die Einladung ist, einen Moment bei der unmittelbaren Erfahrung zu verweilen, statt sich in innere Geschichten und Interpretationen zu verlieren. Man kann sich die Fragen stellen: Was spüre ich gerade in meinem Körper? Wie ist meine Stimmung? Was fühle ich? Welche Gedanken tauchen auf? Meditationsanleitung: Bemerke, was gerade in dir vorgeht, während du im Kontakt mit einem anderen Menschen bist: Reaktionen, Geschichten, Bewertungen, automatische Gewohnheiten. Du kannst den

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Einsichts-Dialog

nach Gregory Kramer, zusammengefasst von Michael Seibt

Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Da treffen wir uns. Rumi

Die sechs Aspekte des Einsichts-Dialogs:

1. Innehalten

Achtsamkeit in der Beziehung entwickeln

2. Den Körper entspannen, im Geist sein lassen

Körperliche Anspannung loslassen, Reaktionen annehmen

3. Öffnen

In der Beziehung zugänglich sein

4. Dem Entstehen vertrauen

Flexibilität und Loslassen

5. Tief zuhören

Empfänglich und feinfühlig sein

6. Die Wahrheit sagen

Integrität und Fürsorge

1. Innehalten

heißt, eine Bewegung zu unterbrechen, aus dem gewohnheitsmäßigen Vorwärtsstürmen

und Weitermachen aussteigen. Man unterbricht das Greifen des Geistes nach dem, was

man sieht, hört und denkt. Die Reaktionen des Festhaltens (Angenehmes), Verdrängens

(Unangenehmes) und Ignorierens (Neutrales, Uninteressantes) werden unterbrochen. Da-

mit etwas Neues geschehen kann, müssen konditionierte Muster des Denkens, der Emotio-

nen und des Verhaltens angehalten werden. Innehalten ist eine Einladung, aus unseren Re-

aktionen und den Identifikationen mit unseren Geschichten auszusteigen. Es ist dieselbe

Bewegung wie das Zurückkommen zum Atem bei der Meditation. Die Einladung ist, einen

Moment bei der unmittelbaren Erfahrung zu verweilen, statt sich in innere Geschichten und

Interpretationen zu verlieren.

Man kann sich die Fragen stellen: Was spüre ich gerade in meinem Körper? Wie ist meine

Stimmung? Was fühle ich? Welche Gedanken tauchen auf?

Meditationsanleitung:

Bemerke, was gerade in dir vorgeht, während du im Kontakt mit einem anderen Menschen

bist: Reaktionen, Geschichten, Bewertungen, automatische Gewohnheiten. Du kannst den

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klammernden Griff an solche Reaktionen lockern und erleben, wie er sich löst. Fühle, was

dann geschieht. Wenn du innehältst, bemerkst du eine gewisse Frische in den Dingen und

Begegnungen. Es ist nicht wie immer. Du bemerkst vielleicht auch neue Gedanken, die dir

noch gar nicht gekommen sind.

Bevor du etwas sagst, halte kurz inne. Darin steckt ein stilles Staunen: „Was entfaltet sich in

diesem Moment?“ Halte auch nach dem Sprechen kurz inne und bemerke, was der Geist tut,

vielleicht wie er darüber nachdenkt, was er als Nächstes sagen möchte, oder wie er in einer

emotionalen Reaktion auf die Äußerung des anderen gefangen ist. Du kannst auch innehal-

ten, während du sprichst. Du musst nicht aufhören zu sprechen, obwohl das helfen kann.

Du kannst auch innehalten, während du zuhörst. Trete einfach aus der Identifikation mit der

Geschichte oder dem Thema heraus und komme hier und jetzt an. Sei dir deines Körpers be-

wusst. Stelle fest, dass dich das Zuhören in diesem Moment verankert statt in einem Ge-

spinst über das, was gesagt wird.

Wenn starke Reaktionen auftauchen, kann Innehalten eine gewisse Zeit brauchen. Körper

und Geist brauchen eine gewisse Zeit, um sich wieder in der inneren Stille zu verankern.

Achte auch die Leichtigkeit, die das Innehalten und Loslassen begleitet.

Beim Innehalten geht es nicht um die Zeit, sondern um die Achtsamkeit. Je nach Situation

kann es kurz oder lang sein. Bei starken Emotionen brauchen wir wohl ein längeres Innehal-

ten – wir schlafen z.B. eine Nacht drüber.

Ist die Achtsamkeit gewohnt und etabliert, benötigt das Innehalten im Grunde gar keine

Zeit. Der Geist steht sozusagen auf der Schwelle des Augenblicks und die kleinste Erinne-

rung ermöglicht es, die Verwicklung in innere Geschichten loszulassen. Der Geist landet

leicht und wach in der Gegenwart, während sich die Begegnung oder das Gespräch entfal-

tet.

Würden wir in täglichen Begegnungen viel Zeit für das Innehalten benötigen, würde unser

Gegenüber vielleicht meinen, wir seien wortkarg oder nicht anwesend.

Du kannst das Innehalten mit einem Freund, einer Freundin oder mit dem Partner, der Part-

nerin üben. Du kannst vereinbaren, dass jede/r über das spricht, was ihm/ihr gerade wich-

tig ist, und dass jeder vor dem Sprechen innehält, um Achtsamkeit aufzubauen.

Stille, Nicht-Wissen und Schweigen lösen oft erst einmal beklommene Gefühle aus. Wir füh-

len uns oft verpflichtet, einen leeren Raum auszufüllen.

Was wir Spontaneität nennen, ist oft nur ein automatischer Reflex. Innehalten öffnet die

Tür zu echter Spontaneität. In dem wir aus automatischen Reaktionen heraustreten, treten

wir frisch in den Moment ein.

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Meditationsanleitung:

Wenn du innehältst, bemerke, wie es sich anfühlt, das Festhalten und automatische Reagie-

ren loszulassen. Wenn das Denken immer noch brummt, mache dir keine Sorgen. Das ist na-

türlich. Lass es denken. Nur glaube deinen Gedanken nicht. Erlebe die Qualität deiner Ge-

danken und Reaktionen, ohne dich mit ihnen zu identifizieren. Die Reaktionen werden unter-

brochen, nun kann etwas Neues geschehen. Auch ein Rückfall in gewohnte Gedanken ist nur

wie ein kurzer Ausflug. Vielleicht bemerkst du die Stille, während der jemand spricht oder ein

Gedanke in dir aufsteigt. Die Stille ist immer da. Indem wir aus den Gedankenstürmen her-

austreten, die uns oft überwältigen, stellen wir fest, dass die Stille, aus der alles kommt, im-

mer da ist. In der formellen Meditation, im Retreat, im täglichen Leben. Immer.

Wenn wir das Innehalten üben, wird es immer wahrscheinlicher, dass wir das nächste Mal,

wenn jemand unsere Knöpfe drückt, ganz natürlich in die Achtsamkeit hinein innehalten,

ohne willentliche Anstrengung.

Stille an sich ist nicht das Ziel von Innehalten. Wir wollen vielmehr die Dinge erkennen, wie

sie wirklich sind. Es gibt weder Vergangenheit noch Zukunft, weder mein noch dein. Wir er-

kennen die konstruierende Natur des Geistes. Genau jetzt gibt es nur das nackte Erleben

des Moments. Gedanken steigen auf und vergehen. Emotionen brechen sich wie Wellen am

Strand und ziehen sich wieder zurück.

Hinweis auf den Unterschied von Gedanken und Gefühlen: „Ich fühle mich nicht verstan-

den“ – das ist ein Gedanke, kein Gefühl. Richtig müsste es heißen: „Ich denke, dass ich nicht

verstanden werde.“ „Ich fühle mich verlassen.“ – auch kein Gefühl, richtig: „Ich denke, dass

ich verlassen bin.“ Eine Gefühlsäußerung wäre: „Ich bin traurig.“ „Ich habe Angst, z.B. davor

einsam zu sein.“

Frage zum Erforschen:

Was taucht gerade in deinem Bewusstsein auf?

Welche Körperempfindungen spürst du gerade? 2x zwei Minuten, mit Gong dazwischen,

dann Wechsel

Welche Gedanken tauchen auf? 2x zwei Minuten, mit Gong dazwischen, dann Wechsel

Was fühlst du? 2x zwei Minuten, mit Gong dazwischen, dann Wechsel

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2. Den Körper entspannen, im Geist sein lassen

Beim Innehalten begegnen wir dem eigenen Erleben. Wir erkennen rein gewohnheitsmä-

ßige Gedanken und Reaktionen. Wir sind erregt, in Unruhe wegen einem vorangegangenen

Wortwechsel und erleben den Ansturm der Gedanken. Wenn wir diesem Erleben nicht be-

wusst und geschickt begegnen, fallen wir zurück in unachtsames und identifiziertes Verhal-

ten. Die Wachheit des Innehaltens wird dann nur kurz gewesen sein.

Darum lautet der zweite Teil der Anweisung in zwischenmenschlicher Meditation:

Entspannen, Sein-Lassen

Wir halten inne und entspannen Körper und Geist. Entspannen ist kein aktives Tun, eher ein

Lassen und sich der Anspannung zuwenden. Wir lassen die Anspannung sein und schenken

ihr Aufmerksamkeit. Das ist alles. Wir lenken Aufmerksamkeit auf die Regionen des Körpers,

in denen wir dazu neigen, Anspannung aufzubauen. Wir lassen die Schultern locker, lösen

Muskeln, die wir nicht brauchen und lassen Spannungen abfließen. Bewegungs- und Kör-

perübungen helfen dabei. Wir erlauben uns, in das eigene Erleben zu fallen, darin einzutau-

chen und es geschehen zu lassen.

Wir erkennen die Anspannung und wählen Gelöstheit. Wieder und wieder die Gelöstheit zu

wählen, das ist die Praxis. Dazu dient uns die einfach Anweisung: „entspannen“, „Sein-las-

sen“.

Meditationsanleitung:

Wenn du innehältst, was stellst du fest? Ist um die Augen eine Anspannung? Lasse sie

schmelzen. Sind die Lippen oder der Kiefer verkrampft? Wie geht es Nacken und Hals? Ist der

Bauch angespannt? Bemerke es. Wende dich deiner Anspannung freundlich zu.

Wenn du dich in den Moment hinein entspannst, wirst du deines Körpers vielleicht noch be-

wusster. Du spürst subtiles Unbehagen viel genauer. Lade den Körper ein, in die Anspannung

hinein loszulassen, nichts zu bekämpfen, nicht zu widerstehen, sondern weich zu werden,

nachzugeben, zu schmelzen.

Wenn du einem anderen Menschen begegnest und es schwierig in der Beziehung wird, ist es

normal, dass der Geist aufgeregt ist oder der Körper sich anspannt. Wenn du das bemerkst,

kannst du einen Moment innehalten und dir Zeit nehmen, zu entspannen, sein zu lassen. All-

mählich kommt das Herz zur Ruhe und wird friedlich, auch wenn es um schwierige Themen

in der Beziehung geht.

Wir können unser Leben nicht kontrollieren und wissen nicht, was uns im nächsten Augen-

blick begegnet. Indem du innehältst und dich entspannst, löst sich die Macht von Konditio-

nierungen auf.

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Die Präsenz, die wir in der stillen Meditation einzeln für uns üben, mag tief sein, ist aber oft

zu unbeständig, um in zwischenmenschlichen Beziehungen aufrechterhalten werden zu

können. In der zwischenmenschlichen Meditation praktizieren wir gelassene, entspannte

Präsenz in Beziehungen.

Wenn wir in unseren Beziehungen keinen Frieden finden, wie können wir zu einer friedli-

chen Gesellschaft beitragen?

Es wäre nett, wir könnten unserem Körper sagen: „Entspann dich!“ Aber so einfach läuft es

nicht. Unsere Gedanken sind so aufgewühlt und die Emotionen kochen hoch, dass wir gar

nicht merken, dass wir bereits der Achtsamkeit entglitten sind.

Die Impulsivität unserer Reaktionen hat bereits eine Flut von Neurotransmittern und Hor-

monen durch unseren Körper geschickt. Verspannte Muskeln brauchen Zeit, sich zu lösen.

Adrenalin braucht eine Weile, bis es wieder abgebaut ist. Der Befehl „Entspann dich!“ kann

von unserem Körper nicht sofort erledigt werden, trotz bester Absichten. Geduld und prak-

tische Übung sind nötig.

In der Nacht im tiefen Schlaf halten wir inne und entspannen. Die frische Perspektive des

Morgens ist deshalb ein besonderer Moment. Übungen zur Körperwahrnehmung wie acht-

sames Bewegen, Körperreise oder progressive Muskelentspannung können uns helfen die

Muster der Anspannung zu erkennen. Das alles kann uns zur Unterstützung der Anweisung

„entspannen“ dienen.

Meditationsanleitung:

Empfange die Dinge so, wie sie dir entgegen kommen, mit einem nachgiebigen Denken und

Herzen. Welche Empfindungen, Gedanken und Gefühle auch aufsteigen, empfange sie ein-

fach. Bemühe dich nicht, sie zu verändern oder loszuwerden. Gib den Widerstand auf und

entspanne, lasse sein.

Wenn du deine Körperhaltung bemerkst, nimm sie bewusst wahr und lasse sie so sein. Wenn

du bemerkst, dass deine Gedanken rasen, nimm es wahr und akzeptiere die Gedankenflut.

Auch wenn das, was gerade auftaucht, heftig ist, z.B. große Traurigkeit oder Angst oder

Sorge, begegne allem sein lassend, annehmend, freundlich.

In der Begegnung, entspanne dich und lasse mit derselben Empfänglichkeit an dich heran,

was andere sagen. Akzeptiere ihre Worte und jede Reaktion, die aufkommt. Noch bist du

nicht bei der Antwort, die kommt später (6. „Das Wahre sagen“). Nimm deine inneren Reak-

tion auf das was du hörst und siehst an. Lade dich ein, die in den Augenblick hinein zu ent-

spannen, so wie er ist.

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Wenn wir entspannen, können wir uns selbst und andere so sein lassen, wie sie sind und

wie ich bin. Die innere Stille („Innehalten“) lässt dich aus der impulsiven Reaktion heraus-

treten. Annehmen und sein lassen ist für den Geist das, was für den Körper entspannen ist.

Annehmen und sein lassen ist die Art, wie sich der Geist entspannt. Die Bewusstheit ist

nachgiebig, akzeptierend, sie sträubt sich nicht.

Eine entspannte und stabile Bewusstheit kann zutiefst vertraut sein mit dem gegenwärtigen

Moment, ohne nach ihm greifen oder vor ihm fliehen zu wollen. Du rennst nicht weg vor

Unangenehmem, Verwirrung, Angst, Unzufriedenheit, Konflikt.

In dieser Haltung wird die alte Gewohnheit, mit Anspannung und Widerstand zu reagieren,

ersetzt durch die neue Gewohnheit der Gelöstheit und des Annehmens. Der Geist, der An-

nehmen kann, ist stabiler als der, der festhält oder wegschiebt.

Entspannen macht das Innehalten stabil. Während der zwischenmenschlichen Begegnung

kommen laufend Reize, aber der innehaltende Geist identifiziert sich nicht mit ihnen.

Kann sich der Körper entspannen, kommt auch der Geist zur Ruhe.

Diese Bewusstheit ist nachgiebig und anpassungsfähig, daher wird es immer unwahrschein-

licher, dass wir in eine impulsive Reaktivität zurückfallen, obwohl das natürlich immer mög-

lich bleibt.

Die Wurzel von Innehalten und Entspannen ist liebende Güte. Es ist eine zutiefst freundli-

che Haltung gegenüber allem, was das Leben für uns bereithält.

Meditationsanleitung:

Lasse den Geist, das Herz ganz empfänglich werden für das Erleben, wie es ist. Jede Aver-

sion, jede Ablehnung wird einfach als Anspannung erkannt, die so sein darf. Während der

Geist sanfter wird, erlebe das natürliche Entstehen liebevoller Güte. Begegne jedem Gedan-

ken mit Güte und Offenheit. Sie bereit für alles. Es ist nicht nötig, Liebe künstlich herzustel-

len. Im Innehalten und Entspannen erscheint sie von alleine. Empfange einfach den Mo-

ment, freundlich und annehmend.

Wenn du einem anderen Menschen begegnest, sprechend oder schweigend, so empfange

alle Eindrücke von diesem Menschen wie auch dein eigenes inneres Erleben, deine Gedanken

und Gefühle. Eure Blicke berühren sich, die Stimmen berühren dein Ohr, die Worte berühren

deinen Geist und es entsteht Begegnung ohne Angst und ohne Widerstand. Wenn die Ge-

wohnheit der Angst und des Rückzugs aufkommt, begegne auch dem mit Güte und Freund-

lichkeit. Es ist eine tief konditionierte Reaktion und du kannst ihr einfach freundlich begeg-

nen. Wieder begegnest du dem Moment mit der Beziehung entspannt und sein lassend.

Ganz natürlich kommt Liebe auf.

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Akzeptieren ist frei von Aversion. Vollständiges Annehmen und Sein-Lassen ist die Grund-

lage von Liebe. Das ist keine gefühlsbetonte Liebe, die auf Sympathie beruht, sondern liebe-

volle Güte.

Im Einsichts-Dialog wird liebevolle Güte als Energie des Herzens erlebt. Durch das Entspan-

nen und Sein-Lassen werden Gefühle nicht beurteilt und deshalb hören sie auf, sich vor

dem Bewusstsein zu verstecken. Du bist mit deinem Erleben vertraut. Das macht dich zu-

gänglich für andere.

Beim Innehalten trifft Impulsivität auf Stille.

Beim Entspannen trifft Leiden auf Liebe.

Wenn das geschieht, ereignet sich Heilung. Liebevolle Bewusstheit erfüllt dein Herz und die

schützende und abwehrende Haltung löst sich.

Wenn das Herz nachgiebig wird, lassen die Mangelgefühle nach. Das Vakuum der Wünsche

braucht nicht mehr gefüllt zu werden; die Scham beharrt nicht mehr darauf, sich zu verste-

cken; die Wut bekommt keine Nahrung.

In der Beziehung kann die Impulsivität der einen Person von der Stille der anderen empfan-

gen werden. Das Leiden in einem selbst kann der seinlassenden und entspannten Liebe ei-

nes anderen oder einer Gruppe begegnen.

Diese Liebe, so erkennen wir, war immer da. Das Hintergrundrauschen der Anspannung war

so groß, dass wir die liebevolle Güte nicht wahrnehmen konnten.

Diese Meditationsanweisung vollendet sich im Entspannen – Annehmen – Sein-Lassen –

Lieben – Losbinden. Christlich gesprochen: Vergeben. Nur: es geht dabei nicht um Schuld.

Es geht um Anspannung, Verwirrung, innere Verkrampfung und Verengung.

Wenn das Selbstkonzept losgelassen wird, werden Angst, Hass, Schmerz und Selbstschutz

weich und lösen sich auf. Wir fangen an, die Dinge zu sehen, wie sie tatsächlich sind.

Zum Erforschen:

Stühle in Zweiergruppen herrichten. Dann einen Ort im Raum suchen, wo du jetzt sein möch-

test. Du kannst stehen, sitzen oder liegen.

Vergegenwärtige dir eine Beziehung, die du als schwierig oder belastend erlebst. Das kann

eine gegenwärtige Beziehung sein oder auch eine Erinnerung an eine frühere Beziehung.

Lasse diese Beziehung in deinem Erleben auftauchen und spüre, was du im Körper erlebst

und welche Gefühle du fühlst und welche Gedanken du denkst. Jetzt. Verweile mit allem,

was auftaucht, während du dir diese Beziehung vergegenwärtigst.

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In Zweiergruppen:

Sprich aus deiner Erfahrung heraus – ohne die genauen Umstände zu erläutern. Höre ein-

fach zu. Was erlebst du in dieser Beziehung? – Rollenwechsel

Bewegungsübung nach C. Meyer:

Jetzt suche dir wieder einen Ort im Raum, an den du sein kannst, mit etwas Platz um dich

herum. Erlaube dir, die körperliche Anspannung und Energie, die du in dir spürst, wenn du

an die schwierige Beziehung denkst, abfließen zu lassen.

Kannst du spüren, wo sich die körperliche Anspannung besonders zeigt: Gesicht, Brustkorb,

Schultern, …?

Stelle dich in den Raum, wo du ein wenig Platz hast. Du kannst ein paarmal tief in den Bauch

atmen, den Kiefer lockern, die Schultern loslassen, die Gesichtszüge entspannen. Den Mund

ganz leicht geöffnet lassen, damit der Atem fließen kann wie er möchte durch Mund und

Nase. Die Bewegung des Atems ist bereits die erste Bewegung, die von alleine entsteht und

einfach geschieht. Jetzt warte ab, bis sich Bewegung einstellen. Du kannst auch die Augen

schließen dabei, wenn du am Platz bleibst. Überlasse dich den Bewegungen, die geschehen

wollen.

Wenn du dich hinlegen oder hinsetzen willst, dann folge dem Impuls. Achte darauf, dass es

nur Bewegungen sind, die der Körper von alleine macht. Du lässt sie einfach geschehen.

Achte darauf, dass du gelöst und weich bleibst.

Wenn du dir unsicher bist, ob du eine Bewegung machst oder ob sie von alleine entsteht,

dann tritt lieber noch zurück und halte inne. Nimm wahr, ob der Körper die Bewegung von

alleine weitermachen will.

Spüre sehr genau hin, manchmal entstehen rhythmische Bewegungen, von denen man beim

Nachspüren wahrnimmt, dass da viel Machen beteiligt ist.

Öffne dich für die Erfahrung, dass mehr geschieht, wenn du weniger tust. Öffne dich für die

Erfahrung, bewegt zu werden, statt zu bewegen. Sei der Körper und seine Bewegung.

Wenn es ausklingt, nimm dir im Stehen, Liegen oder Sitzen einige Minuten Zeit, in denen du

nichts tust, in denen der Körper ganz still wird. Du kannst jetzt die ganze innere Bewegtheit,

das Strömen und Vibrieren der Energie in dir wahrnehmen.

Austausch in der ganzen Gruppe:

Was hast du beim Gespräch über die belastende Beziehung erlebt? Was hat sich während

der Bewegung gezeigt? Was hat sich im Geist abgespielt?

Was heißt Entspannen und Sein-Lassen für dich?

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3. Öffnen

Im Innehalten treten wir aus den Gewohnheiten heraus und begegnen dem Moment frisch.

Im Entspannen begegnen wir allem, was sich uns zeigt, mit Annahme und Akzeptanz.

Im Öffnen weitet sich die Bewusstheit auf die Welt um uns herum. Die akzeptierende Acht-

samkeit, die durch Innehalten und Entspannen, entwickelt wurde, dehnt sich aus zur Welt

um uns herum.

Wir begegnen anderen Menschen mit demselben Innehalten und Entspannen, mit dem wir

auch unserem eigenen inneren Erleben begegnen.

Öffnen heißt, wir lassen uns auf andere Menschen ein. In der persönlichen Meditation blei-

ben wir allein. Wir wenden uns ab von der Begegnung mit anderen Menschen, um leichter

zur Ruhe zu kommen.

Bei der Öffnung für andere kommt alles bei uns an, was andere Menschen in uns auslösen.

Man erlebt z.B. Sympathie und wünscht sich, mit diesem Menschen öfter zusammen zu

sein. Oder man erlebt Antipathie und ist froh, wenn die Begegnung zu Ende geht.

Man erlebt, wie man sich an einen Menschen klammert oder ihn von sich wegstößt. Beim

Öffnen erlebst du alle diese inneren Reaktionen.

In menschlichen Beziehungen tauchen oft Abneigungen und Vorlieben auf.

Ich bin z.B. mit einem Menschen zusammen und bemerke, dass seine Art bei mir ein unbe-

hagliches Gefühl auslöst. Öffnen heißt dann, dass ich mich genau diesem Unbehagen öffne.

Damit ist noch nicht gesagt, dass ich es auch ausdrücke. Zunächst geht es darum, dieses Un-

behagen in einer Beziehung zu bemerken und annehmend zu erleben.

Es kann sein, dass ich Angst habe, mich diesem Unbehagen zu öffnen. Ich weiß nicht, wohin

das führt.

Oder ich bin mit einem Menschen zusammen und fühle mich stark zu ihm hingezogen. Ich

würde am liebsten viel Zeit mit ihm oder ihr verbringen. Die Gegenwart dieses Menschen

ist sehr angenehm. Öffnen heißt dann, dass ich mich dieser anziehenden Ausstrahlung die-

ses Menschen öffne. Damit ist noch nicht gesagt, dass ich das auch ausdrücke und gleich

eine Liebeserklärung abgebe. Zunächst geht es nur darum, diese Anziehung in der Begeg-

nung zu bemerken und es annehmend zu erleben.

Es kann sein, dass ich Angst habe, mich dieser Anziehung gegenüber zu öffnen. Ich weiß ja

nicht, wohin das führen wird.

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Wenn wir uns in der Begegnung öffnen, kommen wir mit zwischenmenschlichen Hungerge-

fühlen in Kontakt. Wir spüren ein Verlangen nach Beziehung. Oder wir kommen mit zwi-

schenmenschlicher Überforderung in Kontakt. Wir erleben, dass die Beziehung uns belastet

und wir sie eigentlich beenden möchten.

In beiden Fällen kann es schwierig werden. Fühlt es sich angenehm an, baut sich vielleicht

ein Erwartungsdruck auf. Wir möchten mehr von dieser Beziehung. Fühlt es sich unange-

nehm an, baut sich ein Vermeidungsdruck auf. Wir möchten weniger von dieser Beziehung.

Erwartung und Vermeidung können Beziehungen belasten.

Während des Öffnens bemerkst du, wie Gedanken und Kommentare zu der Beziehung und

zum anderen Menschen in uns aufsteigen. Du bemerkst auch Körperempfindungen. Du öff-

nest dich in der Beziehung gegenüber deinen emotionalen Reaktionen. Das ist eine Einla-

dung, uns frei im offenen Raum unseres Bewusstseins zu bewegen und zu erleben, was da

auftaucht.

Die Aufmerksamkeit wechselt zwischen innen und außen. Du erlebst einen Menschen und

du erlebst zugleich die Reaktionen in dir. Für beides bist du zugleich aufmerksam. Das ist

ein sehr beweglicher Geisteszustand.

Beim Zuhören verlagert sich die Aufmerksamkeit z.B. stark nach außen. Wenn wir dann auf

etwas anspringen, was der andere erzählt, kann uns das in eine innere Reaktion hineinzie-

hen. Wir öffnen uns dafür. Du kannst dann zugleich zuhören und deine inneren Reaktionen

erleben.

Wir erkennen, wie alles im offenen Raum unseres Bewusstseins fließt. Der andere Mensch

fließt und mein eigenes Erleben fließt. Es gibt kein festes Ich-Zentrum, das von einem festen

Standpunkt oder Standort aus in Beziehung tritt, sondern ein offenes sich Nähern und sich

Entfernen.

Beim Öffnen entwickeln wir die Fähigkeit, uns leicht zwischen innerer und äußerer Bewusst-

heit hin- und her zu bewegen.

Man kann Öffnen auch als ein Nicht-Festhalten verstehen. Der nicht-festhaltende Geist

braucht nichts, woran er sich festhält. Er hält sich nicht an Sympathien und nicht an Antipa-

thien fest.

Das Öffnen verlangt eine gewisse Stabilität und Ruhe, wenn wir nicht gleich aufgeregt und

impulsiv reagieren wollen. Das ist der Grund, warum eine eigene Praxis des Schweigens und

der Stille so wichtig für den Einsichts-Dialog ist. Bei der persönlichen Praxis entwickelt sich

die Ruhe und Stabilität des Geistes im Umgang mit allen Phänomenen, die auftauchen.

Beim Einsichts-Dialog übertragen wir das auf die Erfahrungen, die in einer Beziehung auf-

tauchen. Wir bleiben geerdet und gelöst, während sich unser Erleben in der Beziehung lau-

fend ändert.

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Öffnen lädt uns dazu ein, das feste „Selbst“ oder eingeengte „Ich“ zu erleben und loszulas-

sen.

Beim Öffnen schulen wir die Anpassungsfähigkeit des Geistes. Das Erleben wechselt stän-

dig. Das konstruierte Selbst oder Ich verliert seine Ecken und Kanten. Beziehung ist dann

kein Kontakt mehr zwischen zwei abgegrenzten und definierten Subjekten. Es wird zu ei-

nem fließenden Geschehen, in dem zwei Menschen gemeinsam den Moment entdecken,

sich öffnend, sich berührend, sich öffnend.

Wenn zwei Menschen in meditativer Nähe zusammenkommen, gibt es kein Festhalten. Ha-

benwollen, Suchen, Festhalten werden nicht aktiviert. Wir bemerken, dass es auftaucht,

und indem wir es bemerken, lassen wir es auch schon los.

Wir sind eine Form von Nähe gewohnt, die um Inhalte herum konstruiert ist. Ich habe

meine Meinung und du hast deine Meinung. Und jetzt begegnen wir uns und vielleicht ent-

steht ein Kompromiss, wenn es gut geht.

Wenn die Begegnung fließt, erleben wir keinen Austausch von Inhalten, wir erleben den

fließenden Prozess der Begegnung selbst. Menschliche Hungerfühle und Ängste trennen

uns nicht. Das Feld der Beziehung ist leer und nun kann sich das zeigen, was entstehen will.

Es ist eine Verbundenheit da, die nicht klammert. Leere Präsenz.

Die Nähe ist nicht personalisiert. Sie hängt nicht davon ab, ob ich mich zu der Person hinge-

zogen fühle oder mich von ihr abgestoßen fühle. Ich bemerke das, aber ich erkenne auch

die Verbundenheit. Diese Achtsamkeit gibt der Beziehung eine große Klarheit.

Der Widerstand gegen dieses Öffnen ist eine alte Gewohnheit, sehr verständlich. Denn wir

schützen unsere Ich-Grenzen, indem wir uns verschließen. Wir verteidigen das Selbst oder

Ich, um zu überleben als der Mensch, von dem wir glauben, dass wir es sind.

Die drei ersten Aspekte Innehalten – Entspannen – Öffnen laden uns in eine wache Ruhe

und Gelöstheit ein, mitten in unseren Begegnungen. Wir bemerken: Wo hakt das Denken

ein? Wovor schreckt das Herz zurück?

Wir erfahren, dass jeder Mensch verletzlich ist und alle zu großer Liebe fähig sind.

Jenseits von richtig und falsch ist ein Ort. Dort treffen wir uns (Rumi)

Meditationsanleitung:

Wir setzen uns kunterbunt (nicht im Kreis) einzeln auf Stühle im Raum und zwar so, dass wir

alle sehen können, also nicht in die Nischen.

Komme an deinem Platz an, spüre Körper und Atem.

Sei dir des Körpers bewusst, genau jetzt, so wie er ist.

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Sei dir der Geräusche bewusst.

Sei dir des Raumes bewusst, in dem du dich befindest.

Sei dir der Menschen im Raum bewusst.

Der Gong wird jetzt regelmäßig tönen und zwischen zwei Tönen kannst du deine Aufmerk-

samkeit einige Augenblicke bei einem anderen TN verweilen lassen. Eure Blicke müssen sich

nicht begegnen, aber sie können sich begegnen.

Du kannst dir folgende Fragen stellen:

Was sehe ich? Was nehme ich wahr?

Was löst es in mir aus? Welche Reaktionen in mir beobachte ich?

Welche Gedanken tauchen auf, während du diesen Menschen betrachtest?

Kannst du auch Gefühle bemerken?

Und dann öffne dein Herz für dein inneres Erleben in diesem Augenblick und für den Men-

schen, dem du gerade deine Aufmerksamkeit geschenkt hast.

Wenn sich eure Blicke begegnen, schau, was das auslöst. Magst du den Blick nonverbal er-

widern? Taucht eine Reaktion auf? Willst du den Blick abwenden? Lasse geschehen, was ge-

schehen möchte.

Lasse dein Bewusstsein zwischen dem inneren und äußeren Erleben hin- und her wandern.

Betrachte, was du siehst, und erlebe die inneren Reaktionen darauf. Bemerke, wie Gedanken

in dir aufsteigen, Kommentare oder Fragen. Bemerke, wie Gefühle auftauchen und vielleicht

auch wieder abflauen. Achte auch auf Kleinigkeiten und auf Veränderungen. Bewege dich

frei durch das Feld deiner Wahrnehmungen ohne etwas festzuhalten oder gegen etwas Wi-

derstand zu leisten. Und wenn Widerstand auftaucht, dann erlaube dir, auch das zu erleben.

Frage zum Erforschen (Dyade):

Sag mir, wie du dich öffnest.

Sag mir, welche Gefühle dabei auftauchen.

Diese beiden Fragen folgen direkt aufeinander. Jeweils 8 Minuten

Sag mir, wie du dich verhältst, wenn du offen bist. Jeweils 5 Minuten

Frei durch den Raum gehen. Stehenbleiben. Kurz den Menschen neben mir wahrnehmen.

Verneigen. Weitergehen.

Austausch in der ganzen Gruppe.

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4. Dem Entstehen vertrauen

Der Kern der Praxis sind die ersten drei Haltung: Innehalten – Entspannen – Öffnen.

Wir begegnen dem Augenblick wach, liebevoll und mit dem Gefühl, Raum zu haben. Aber

was ist, wenn wir entdecken, dass sich die Begegnung in eine Richtung entwickelt, die wir

nicht kontrollieren können? Oder wenn die Beziehung sich scheinbar gar nicht verändert,

berechenbar und reine Gewohnheit ist?

Der nächste Aspekt des Einsichts-Dialogs lautet: dem entstehen vertrauen. Damit werden

wir eingeladen, der Flexibilität und ständigen Veränderung der Beziehung zu vertrauen.

Die Dinge so zu sehen, wie sie sind, heißt vor allem, zu sehen, dass sie nie so bleiben, wie

sie sind. Sie bewegen sich. Die Wirklichkeit ist dynamisch. Sie entwickelt sich. Wir sind nicht

mehr derselbe Mensch, der wir gestern waren. Und schon gar nicht mehr das Kind, das wir

einmal waren.

Ein Kirchengemeinderat sagte mir neulich, er wolle schlicht und naiv an seinem Glauben an

„Gott als Gegenüber“ festhalten. Finanzminister Schäuble hat einmal gesagt, er vertraue

dem Glauben, den er als Konfirmand kennengelernt habe. Würde er auch den mathemati-

schen Kenntnissen vertrauen, die er als 14-jähriger hatte, könnte er schwerlich Finanzminis-

ter sein.

Das Bedürfnis, stehen zu bleiben und fest zu halten, was wir kennen und haben, macht das

Leben eng und die Herzen hart. Für manche scheint die Kirche der letzte Ort zu sein, von

dem sie hoffen, dass dort alles so bleibt, wie es einmal war. Aber auch Glaube und Spiritua-

lität entwickeln und verändern sich. Auch das, was wir Gott nennen, verändert sich, jeden-

falls in unserem Bewusstsein.

„Dem Entstehen vertrauen“ – diese Haltung lädt uns ein, kopfüber in den Moment zu sprin-

gen, der nicht mehr so ist, wie der Moment, der gerade vergangen ist.

Vertrauen heißt, den Sprung ins Ungewisse zu machen. Wir tauchen in das brodelnde Meer

der Veränderung ein.

Entstehen bezieht sich auf den Prozess, aus dem die Dinge hervorgehen.

Dass dieses laufende Entstehen eine Tatsache ist, können wir in der Welt um uns herum be-

obachten. Gehen wir hinaus zum Komposthaufen, sehen wir, wie die Würmer und Bakte-

rien die Pflanzenreste zu Humus verarbeiten. Das ist die Grundlage für das Wachstum neuer

Pflanzen.

Gehen wir auf den Friedhof, sehen wir, dass unsere Körper auch wie Kompost verarbeitet

werden. Dass wir eines Tages Platz machen, ist die Voraussetzung dafür, dass neues Leben

entstehen kann.

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Schauen wir in uns hinein, erleben wir das ständige Kommen und Gehen von Gedanken und

Gefühlen. Blicken wir auf unsere Beziehungen, sehen wir, dass wir viele schon hatten, aber

jetzt nicht mehr haben; und dass eine Beziehung blüht, während die andere zu Ende geht.

„Dem Entstehen vertrauen“ bedeutet, loslassen in den Prozess der Veränderung hinein,

den wir „jetzt“ nennen und der voller unkontrollierbarer Ereignisse, Empfindungen und Er-

lebnisse ist.

Wir geben also den Gedanken auf, sesshafte Menschen zu sein. Unsere frühen Vorfahren

haben ein Wanderleben geführt. Dann begann man zu entdecken, dass es komfortabler ist,

sich Häuser, Tempel und Kirchen zu bauen. Die Veränderungen wurden dadurch allenfalls

etwas hinausgezögert, aber es gibt sie laufend.

In der Bibel ist der Exodus ein zentrales Thema. Menschen ziehen aus gesicherten Verhält-

nissen aus – weg von den „Fleischtöpfen Ägyptens“ und lassen sich auf das Experiment ein,

ein Leben an einem anderen Ort, in einer anderen Kultur, womöglich auch mit einer ande-

ren oder zumindest geänderten Religion zu führen.

Wenn wir dem Entstehen vertrauen, lassen wir unsere Neigung los, uns an etwas zu binden,

seien es Vorstellungen, Objekte, Besitztümer oder Ideale. Wir begegnen der Veränderlich-

keit mit einem offenen Herzen. Wir entspannen uns in den Wandel hinein und vertrauen

darauf, dass das Leben selbst dafür sorgen wird, dass es weitergeht, wie auch immer. Sicher

nicht immer so, wie ich mir das vorstelle und wünsche. Aber es geht weiter, auf seine un-

kontrollierbare Weise.

Das deckt sich im Übrigen mit den Erkenntnissen der modernen Quantenphysik. Die Physi-

ker haben erkannt, dass die Wirklichkeit etwas Fließendes ist, das man nicht festhalten

kann. Sie bewegt sich in einem bestimmten Korridor von Wahrscheinlichkeiten und folgt

nicht ewigen, immer gleichbleibenden Gesetzen, wie man noch in der alten mechanisti-

schen Physik dachte. Das ändert nichts daran, dass im Alltag bestimmte physikalische Ge-

setze gelten und dass ein Ball zu Boden fällt, wenn ich ihn loslasse. Aber wenn sich einmal

unser Sonnensystem und unsere Erde auflösen sollten, dann fliegt der Ball in den weiten

Raum des Universums hinaus.

Wenn wir in eine Begegnung gehen, dann bedeutet „dem Entstehen vertrauen“, dass wir

nicht wissen, was sich ereignen wird. Wir können nicht erwarten, dass es so kommen wird,

wie wir uns das wünschen. Wir widmen unser Engagement nicht der Verwirklichung unse-

rer Wünsche und Vorstellungen von der Beziehung. Wir widmen es nur dem jetzigen Mo-

ment unseres Erlebens.

Meditation:

Hier und jetzt kannst du „dem Entstehen vertrauen“ ausprobieren. Wenn du innehältst und

auf den Moment achtest, bemerkst du vielleicht eine fortlaufende Liste von Sachen, die du

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erledigen solltest. Wie fühlt es sich an, wenn du dich einlädst, deine Pläne fallen zu lassen,

was als nächstes geschehen soll? Vielleicht bemerkst du auch, dass du dich in den Angele-

genheiten anderer Leute bewegst und dich mit Ratschlägen befasst, wie sie sich als nächstes

zu verhalten haben. Vielleicht bemerkst du den inneren Druck, der dadurch auf dir und auf

anderen Menschen lastet.

Wenn du mit anderen zusammen bist, kannst du dich daran erinnern, dem Entstehen zu ver-

trauen. Jedes Mal, wenn du bemerkst, dass du möchtest, dass etwas Bestimmtes bei der Be-

gegnung herauskommt, kannst du dir innerlich sagen: vertrau dem, was jetzt entsteht. Du

begegnest dem anderen Menschen im Geist des Nicht-Wissens. Du weißt nicht, was als

Nächstes geschehen wird.

Wenn du dem Entstehen vertraust, kannst du mit anderen Menschen zusammen sein in ei-

ner herrlichen Freiheit. Ohne die Normen des Leistungsdrucks, ohne das Korsett von Erwar-

tungen, bist du frei, entstehen zu lassen, was entstehen möchte.

Übung: Dem Entstehen vertrauen

Wie erlebst du Begegnungen, bei denen dein Gesprächspartner keine Offenheit im Zuhören

hat und eine persönliche Motivation das Gespräch färbt?

Welche Motivation leitet dich in einer Beziehung, die du gerade als schwierig erfährst?

Kannst du dir das bewusst machen, ohne dich dafür zu verurteilen?

Wie erfährst du dich selbst in der Begegnung, wenn du absichtslos bist und dem Entstehen

vertrauen kannst?

Tief zuhören

Meditation: auf Geräusche achten und innere Reaktionen bemerken

Innehalten – Entspannen – Öffnen ist die Grundlage, um Präsenz u erfahren.

Dem Entstehen vertrauen bedeutet, dass wir den Versuch aufgeben, die Begegnung zu kon-

trollieren. Wir wissen nicht vorneweg, was entsteht. Wir haben keine Ahnung, was entste-

hen sollte. Es ist offen.

Die nächste Instruktion für den Dialog lautet „Tief zuhören“. Das ist ein bewusstes, achtsa-

mes Zuhören. Dabei öffnen wir uns den Worten unseres Gesprächspartners. Wir sind ein

aufnahmebereites Bewusstseinsfeld. Oder wir können auch sagen: zwei Seelen hören ei-

nander zu.

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Wir lassen uns berühren von den Worten, Gefühlen und Energien des anderen Menschen.

Während du zuhörst, ist da eine hellwache Frage in dir: „Was geschieht gerade?“ Die Ohren

sind offen, die Seele ist eingestimmt. Du lauschst einem anderen Menschen. Du nimmst

eine freundliche Haltung gegenüber seiner Selbstäußerung ein. Ebenso wie du dir selbst

und deine Äußerung gegenüber freundlich bleibst. Freundlich heißt, da ist keine Bewertung.

Da ist keine Einmischung. Da ist nur Präsenz.

Kommunikation zwischen Menschen ist wie ein Geschenk. Wir schenken einander unsere

Gegenwart oder Anwesenheit. Wir empfangen das Geschenk des gesprochenen Wortes mit

Wertschätzung. Jemand drückt sich aus, teilt sich mit und wenn wir zuhören, nehmen wir

das in uns auf.

Als Zuhörende haben wir es jedoch nicht nur mit dem anderen Menschen zu tun, sondern

immer auch mit uns selbst. Vielleicht wollen wir das Gespräch beenden, stehen unter Zeit-

druck, wollen ein Ergebnis erzielen. Vielleicht tauchen wertende Gedanken auf über das

was wir hören. Das ist kein Widerspruch zum tiefen Zuhören. Wir können nicht verhindern,

dass in uns alles Mögliche auftaucht, während wir zuhören.

Achtsames Zuhören bedeutet, die eigenen inneren Regungen zu bemerken und ihnen in

diesem Moment nicht zu folgen und die Aufmerksamkeit wieder zum Hören zurückzubrin-

gen, so wie wir in der Meditation üben, die Aufmerksamkeit z.B. wieder zum Atem zurück-

zubringen.

Tiefes Zuhören ist Meditation in der Begegnung. Wir kommen zurück zu dem, was jetzt ist.

Jemand redet und ich höre zu.

Henry David Thoreau, amerikanischer Schriftsteller und Philosoph, sagt: „Das größte Kom-

pliment, das mir jemals gemacht wurde, war, als mich jemand fragte, was ich denke, und

dann meine Antwort anhörte.“

Wenn wir dem Entstehen vertrauen, haben wir nicht vor, der Begegnung eine bestimmte

Richtung zu geben oder auf ein Ergebnis hinzuarbeiten. Wir stören das Zuhören nicht durch

unseren eigenen inneren Dialog. Wenn wir bemerken, dass wir mit uns selbst beschäftigt

sind, dann besteht die Übung darin, wieder zurückzukommen, zum reinen Hören. Und das

ist eine Übung.

Beim Zuhören sind wir frei vom Gedanken, wie wir reagieren könnten, was wir als nächstes

sagen werden. Wir haben nicht vor, unseren Gesprächspartner zu besänftigen, zu beruhi-

gen, zu beeinflussen, zu beeindrucken, zu beherrschen.

Während wir hören, kommentiert unser Geist blitzschnell das Gehörte. Unser inneres Kino

nimmt den Betrieb auf und es zeigt uns Bilder, Einfälle, Szenen, Erinnerungen, die alle auf-

tauchen, während unser Gegenüber bestimmte Worte verwendet.

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Jemand erzählt von seiner Mutter und ich denke an meine Mutter. Jemand erzählt, was er

im Urlaub erlebt hat und ich denke an meinen Urlaub. Seine Urlaubserlebnisse waren viel-

leicht erholsam und ich frage mich, wie habe ich eigentlich meinen Urlaub erlebt?

Verbale Kommunikation ist voller Einladungen, reaktiv zu werden. Sofort fügt unser Geist

die eigene Sichtweise hinzu, während der andere von seiner Sichtweise erzählt.

Wenn wir uns in die Geschichte eines anderen hineinziehen lassen, sind wir nicht mehr prä-

sent. Das Hineinziehen-Lassen kann dadurch geschehen, dass wir z.B. etwas sehr interes-

sant finden. Etwas von dem, was der andere sagt, löst unser Interesse aus, aber es ist auf

mich bezogenes Interesse. Mich interessiert, was der andere sagt z.B. deshalb, weil es für

mich nützlich sein könnte.

Oder ich lasse mich hineinziehen, in dem sich mein Widerspruch gegen das Gehörte regt.

Jemand sagte seine Meinung, z.B. über ein politisches Thema und ich sehe das anders und

widerspreche.

Oder jemand zeigt Gefühle, z.B. fängt er an zu weinen und wir haben Mitleid und wollen

trösten und reichen ein Taschentuch, das die Botschaft transportiert: sei doch nicht traurig

und wisch dir deine Tränen ab.

Die Boulevard-Presse erzählt Geschichten und will damit unsere Reaktionen anstacheln.

Hast du das gehört? Was sagst du dazu? Ist das nicht empörend! Und ja, wir finden es un-

möglich und dann spüren wir uns selber richtig gut, wenn wir uns empören können. Des-

halb sind wir begierig nach Geschichten, die uns das Gefühl geben, auf der richtigen Seite zu

stehen.

Solange wir noch keine stabile, nicht-identifizierte Bewusstheit entwickelt haben, schwankt

unser Zuhören zwischen Empathie und Antipathie. Bei der Empathie verlieren wir uns in das

Gehörte hinein und bei der Antipathie wenden wir uns vom Gehörten ab. Empathie ist nicht

besser als Antipathie. Beides ist aber noch kein Zuhören, in Bewusstheit.

Im Endeffekt lösen die Worte eines anderen meine eigene Geschichte aus. Das nennen wir

dann Empathie. Ich fühle mich erinnert an mein Eigenes und bin einfühlend, was dann ja

auch leicht ist.

Höre ich achtsam zu, wird mir bewusst, was gerade geschieht. Ich bemerke, hoppla, was ich

höre, löst bei mir empathische Gefühle aus. Mir ist bewusst, dass das nichts mit dem zu tun

hat, was ich gehört habe. Ich habe meine eigene Geschichte hinzugefügt.

Ohne Achtsamkeit hören wir beim Zuhören letztlich nur uns selbst, unsere Erwartungen,

unsere Einfälle, unsere Konditionierung. Wir hören nicht auf das, was der andere sagt.

Beim tiefen Zuhören merken wir das und kehren einfach wieder zurück mit der Frage: Was

geschieht gerade? Was höre ich?

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Wir können uns zu folgender Übung einladen: während wir in der Familie, in der Partner-

schaft oder in der Firma miteinander reden, entspannen wir uns in ein tiefes, nicht-reakti-

ves, bewusstes Zuhören. Wir lassen den Gesprächspartner reden, einfach reden. So wie wir

das beim inneren Erforschen auch praktizieren. Wir sagen nichts. Wir kommentieren nichts,

auch nicht mit nonverbalen Gesten. Wir registrieren lediglich aufmerksam, was in uns ge-

schieht. Wir beobachten jeden Kommentar, jeden Impuls, jede Regung des Denkens, jede

Aversion, jede Sympathie.

Wie Thoreau notierte: „Es braucht zwei, um die Wahrheit zu sagen – einen der sie sagt, und

einen anderen, der sie hört.“ Beim Hören sind wir der „Andere“, bereit, die Wahrheit in je-

der Form, in der sie sich zeigt, zu hören. Und was der andere sagt, ist die Wahrheit, einfach

weil er das sagt, was er sagt. Ich brauche nicht zuzustimmen, nicht abzulehnen. Es ist die

Wahrheit, die aus seinem Munde kommt. Ich mag die Worte abstrus finden, überheblich,

deplatziert, unnütz, gemein, das spielt keine Rolle. In diesem Augenblick spricht der andere

die Wahrheit und ich höre zu. Denn die Wahrheit ist nicht das, was ich für richtig oder wahr

halte. Die Wahrheit ist die Wirklichkeit und die Worte meines Gesprächspartners sind Wirk-

lichkeit, denn er oder sie sagt diese Worte.

Übung:

Wiederholende Doppelfrage (je 5 Minuten):

Erinnere dich an ein Gespräch in den letzten Tagen.

a) Welche inneren Reaktionen und Impulse beim Zuhören hast du bei dir bemerkt?

b) Wie bist du mit diesen Reaktionen und Impulsen umgegangen?

Wiederholende Frage (je 5 Minuten):

Wie erfährst du dich selbst im Zuhören, wenn du absichtslos und unvoreingenommen bist?

Wiederholende Frage (je 5 Minuten):

Wie erfährst du die andere Person im Zuhören, wenn sie absichtslos und unvoreingenom-

men ist? (5 Minuten)

Wahres sagen, Authentisch sprechen

Bis jetzt haben wir untersucht, wie wir mit kontemplativer Bewusstheit anderen begegnen

können. Während wir innehalten, können wir uns entspannen, annehmen, was wir vorfin-

den und uns öffnen für das Erleben innen und außen. In diesem Moment vertrauen wir

dem Entstehen und ruhen dabei im Fluss des Erlebens. Wir begegnen der Vergänglichkeit

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der Dinge und erleben das Schöne ebenso wie die Unsicherheit. Wir hören der Stimme des

anderen und unserer eigenen Stimme tief zu.

Und nun kommt der Aspekt des Dialogs, bei dem wir uns äußern: Wahres sagen.

Mit und ohne Worte bringen wir zum Ausdruck, was wir erleben. Emotionen lassen sich

nicht verbergen. Die bloße Nähe zwischen zwei Menschen erzeugt einen Energiefluss. Sich

mit der Sprache zu begegnen hat allerdings eine ganz besondere Macht. Wir berühren uns

gegenseitig durch das Geheimnis der Sprache.

Ich möchte an die ethische Grundlage des Sprechens erinnern: wir sprechen die Dinge so

aus, wie wir sie tatsächlich empfinden. Wir verstellen uns nicht. Wir lügen nicht. Wir reden

kein „falsch Zeugnis“. Es gibt keinen Druck, etwas zu sagen, was ich nicht sagen will. Wir fra-

gen uns bei jedem Wort, ob es hilft und nützlich ist. Das Sprechen hat eine gewisse Ökono-

mie. Wir sagen, was angemessen ist, nicht mehr. Wir sprechen freundlich.

Was heißt Wahres sagen? Gemeint ist die Wahrheit meiner inneren Erfahrung. Wahrheit ist

hier nicht die Übereinstimmung zwischen den Fakten und dem Denken über die Fakten.

Ich bin mir der Gedanken und Gefühle bewusst, wie sie kommen und gehen und ich ent-

scheide, was davon ich zur Sprache bringe. Achtsam sprechen heißt, sich der Worte be-

wusst zu sein.

Ich bemerke das Erscheinen und Verschwinden von Gedanken und Gefühlen, vor dem Spre-

chen, während des Sprechens, nach dem Sprechen.

Ich achte auch auf den physischen Akt des Sprechens, auf die Bewegung der Zunge und des

Mundes, und auf den Atem, den ich benötige, um Töne zu erzeugen. Ohne tief in den Bauch

einzuatmen, wird das Sprechen kurzatmig, gepresst und hektisch.

Wir führen einen Dialog oder ein Gespräch auf der Grundlage von Einsicht und Achtsamkeit.

Buddha erwähnt fünf Faktoren beim Sprechen:

1. Im richtigen Moment sprechen

2. Wahrhaftig oder authentisch sprechen

3. Höflich sprechen

4. Nutzbringend oder hilfreich sprechen

5. In eine liebevollen Haltung sprechen

Jesus:

1. Klar sprechen: Ja ist Ja, nein ist nein.

2. Sparsam sprechen: Nicht viel plappern (beim Beten)

3. Nutzbringend sprechen („Rechenschaft geben von jedem nichtsnutzigen Wort“, Mt

12,36))

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4. Aus dem Herzen sprechen: „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.“ Mt

12,34). Gutes hervorbringen aus dem Schatz des Herzens.

Wahres sagen ist demnach rechte Rede, die keinen Schaden anrichtet, verbindet und heilt.

Unsere Neigung, auf Worte zu reagieren, ist allerdings groß. Sagt jemand seine Meinung,

taucht der Impuls auf, die eigene Meinung auch zu sagen, besonders dann, wenn sie anders

ist. Sprache hat die Macht, uns aus der bewussten Zentrierung heraus zu schmeißen. Man-

che glauben deshalb, dass in spiritueller Praxis kein Raum für Sprache und für Worte ist.

Mit dem Sagen der inneren Wahrheit sind wir eingeladen, auch aus dem Sprechen eine be-

wusste Praxis zu machen. Wir sind eingeladen, die Sprache schöpferisch zu verwenden und

nicht auf vorgefertigte Formulierungen und Standardsätze zurückzugreifen.

Das Sprechen beginnt vor den Worten. Wir sind uns einer gefühlten Bedeutung bewusst.

Eugene Gendlin, der Begründer des Focusing, nennt das einen Felt sense, eine noch un-

klare, vage Bedeutung. Wir wissen noch nicht, wie wir es ausdrücken sollen, wir sind noch

unterwegs zur Sprache.

Gendlin hat untersucht, was eine Therapie erfolgreich macht. Er fand heraus, dass die Klien-

ten erfolgreich an einer Therapie teilnahmen, die nicht sogleich Bescheid wussten, was los

ist und was ihnen fehlt. Wer schnelle Antworten parat hat, der erfährt nichts Neues. Wich-

tig für den Erfolg der Therapie ist also weniger die therapeutische Methode als vielmehr die

Bereitschaft des Klienten, das immer schon Gewusste hinter sich zu lassen und den Felt

sense aufzuspüren.

Das Sprechen wird dann langsam, tastend, es sucht nach dem angemessenen Ausdruck. Es

vergleicht die Sprache laufend mit dem inneren Erleben und prüft, ob die Worte dazu pas-

sen. Wenn nicht, dann macht man sich auf die Suche nach dem passenderen oder treffen-

deren Ausdruck.

Die Wahrheit, die dann zum Vorschein kommt, ist nicht statisch. Sie bewegt sich. Sie ist

schon im nächsten Moment nicht mehr dieselbe wie in diesem. Während wir Sprechen ver-

ändert sich die Wahrheit des inneren Erlebens, weil sie Sprache selbst das Erleben beein-

flusst.

In jedem beliebigen Augenblick können wir Unterschiedliches aussprechen. Das bedeutet,

dass unsere Worte nie die ganze Wahrheit des Augenblicks zum Ausdruck bringen. Es sind

immer nur Aspekte davon.

Das Wort „Sonnenaufgang“ bezieht sich z.B. auf eine bestimmte Tageszeit. Aber es sagt

noch nicht, wie ich diesen Vorgang erlebe, wenn ich sein Zeuge bin. Ich sage dann nicht

bloß, die Sonne geht auf, ich finde womöglich dichterische Worte und spreche von einem

kühlen Blau, das allmählich in Rot, Orange und strahlende Helligkeit changiert. Ich spreche

vom Licht, das alles durchdringt und so weiter.

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Häufig ist es so, dass wir beim Zuhören sehr präsent sein können, beim Sprechen aber

nicht. Beim Sprechen exponieren wir uns. Wir zeigen uns. Wir treten hervor. Sehr schnell

kann es passieren, dass wir uns durch unser eigenes Sprechen in Frage gestellt fühlen, weil

wir bemerken, dass die Sprache knapp daneben lag, oder weil unser Sprechen etwas aus-

löst, was wir nicht ahnen konnten.

Wenn wir sprechen, äußern wir oft Ideen und Vorstellungen. Es scheint so, als ob der Akt

des Sprechens verlangt, die Achtsamkeit aufzugeben. Wir sprechen häufig nicht von der pri-

mären Erfahrung, sondern von der sekundären Deutung. Wir sprechen davon, wie wir et-

was zu sehen und zu bewerten gelernt haben. Wir sprechen also in den Bahnen unserer

Konditionierung.

Es ist nicht einfach, die Achtsamkeit beim Sprechen aufrecht zu erhalten. Das erfordert

Übung.

Klare Kommunikation ist nicht der Normalfall. Und sie ist nicht einfach.

Wie kann ich achtsames Sprechen üben? Z.B. dadurch, dass du bemerkst, was und wie du

etwas sagst. Wenn dich deine Begriffe und Vorstellungen aus dem unmittelbaren Erleben

heraus führen, dann kannst du innehalten, entspannen, dich öffnen. Du kehrst also zu den

anderen Aspekten des Dialogs zurück. Du redest nicht weiter. Du nimmst inneren Kontakt

zu deinem Erleben auf. Die bemerkst die Körperempfindungen und die Gefühle.

Besonders kannst du auf die Gefühle achten. Die Gefühle zeigen dir, wie es gerade um dich

steht. Sie sind der Essenz näher als die Gedanken und Konzepte. Sie führen in das unmittel-

bare Erleben. Der Körper ist das Tor zum Fühlen. Wir sprechen z.B. von unserem Bauchge-

fühl, auf das wir hören. Das Gefühl sitzt also unten im Körper, nicht im Kopf. Im Focusing

achten wir auf körperliche Empfindungen und lassen uns von ihnen den Weg zu den Gefüh-

len zeigen. Unser Wissen und unser Erleben ist „verkörpert“. Darum können wir Wahres

nur sagen, wenn wir mit diesem verkörperten Wissen in Kontakt sind.

Übung:

Wie vermeidest du, Wahres zu sagen?

Wie erfährst du es, Wahres zu sagen?

Wie geschieht in der Begegnung, wenn beide Wahres sagen?

Literatur:

Gregory Kramer: Einsichts-Dialog, Arbor-Verlag, 2009

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Martina, Johannes und Tobias Hartkemeyer: Dialogische Intelligenz, Info3-Verlag, Frankfurt,

2015