EMILIJA S. ANDREJEVIC´ - BMEIA · 2008. 2. 26. · den Theaterkritikern und Intendanten Jovan...

76
2 EMILIJA S. ANDREJEVIC ´ DER GROSSE FEIERABEND CULTURE MATTERS DRAMENWETTBEWERB ÜBER GRENZEN SPRECHEN

Transcript of EMILIJA S. ANDREJEVIC´ - BMEIA · 2008. 2. 26. · den Theaterkritikern und Intendanten Jovan...

  • 2

    EMILIJA S.ANDREJEVIĆDER GROSSEFEIERABEND

    CULTURE MATTERSDRAMENWETTBEWERB

    ÜBER GRENZEN SPRECHEN

  • Eine Initiative des österreichischen Außenministeriumsfür die Westbalkanstaaten Albanien, Bosnien und Herzegowina,Kroatien, Mazedonien, Montenegro, Serbien

    CULTURE MATTERS

    Urau

    fführ

    ung

    „Der

    Gro

    ße F

    eier

    aben

    d“ |

    The

    ater

    Ate

    lje 2

    12, B

    elgr

    ad, 4

    1. B

    ITEF

    -Fes

    tival

    ( 2

    1.09

    .07)

    | P

    hoto

    Dan

    Car

    abas

  • Inhalt

    Emil Brix: Auf der anderen Seite 2

    CULTURE MATTERS – Austrian Cultural Relations with the Western Balkans 4

    Der Dramenwettbewerb „ÜBER GRENZEN SPRECHEN“ 6

    Christian Papke:Theater ist ein Kopfbahnhof, in dem der Verkehr nicht an Prellböcken abbricht 8

    Emilija Andrejević:Der Große Feierabend 11

    Impressum 72

  • 2

    EMIL BRIXAuf der anderen Seite

    Zu unseren traditionellen Vorurteilen über Europa und über den Balkan zählt die Vermutung, dass wir es nicht nur ständig mit Grenzen zu tun ha-ben, sondern dass wir auch genau zu wissen glauben, wer sich auf welcher Seite befi ndet. Claudio Magris beginnt in seinem Buch „Die Donau“ das Kapitel über Belgrad mit dem Bild einer kulturellen Grenze: „Von Pancevo auf die rechte Donauseite, auf Belgrad und die Festung Kalemegdan bli-ckend, hat Stanislaw Jerzy Lec, der polnische Humorist, einmal gesagt, dass er sich hier, wo er stehe, am linken Donauufer, noch zu Hause fühle, nämlich innerhalb der alten Grenze der Habsburgermonarchie, während auf der gegenüberliegenden Seite ein anderes, fremdes Land beginne.“ Das Blockdenken des Kalten Kriegs hat dies weiter verstärkt und nach

    Botschafter Dr. Emil Brix, geb. 1956, Historiker,

    Leiter der Kulturpolitischen Sektion im Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten

  • 3

    1989 waren es die Balkankriege, die ethnische Grenzen wieder als Kultur-grenzen erscheinen ließen. Darum ist es heute wichtig, in jedem Sinn „über Grenzen“ zu sprechen und kulturelle Kooperationen zwischen und in den Regionen Europas zu fördern. Für die europäische Integration der Bal-kanstaaten ist es aber entscheidend, dass man über Grenzen nicht nur im Zusammenhang mit Visaschlangen und dem Sicherheitsbedürfnis von EU-Bürgern spricht, sondern darüber, ob und wie es erreichbar ist, dass es mitten in Europa keine „fremden Länder“ gibt.

    Kultur hat das Potential, Isolation zu überwinden, weil sie in der Regel Grenzüberschreitungen anstrebt und selten gänzlich auf Traditionen ver-zichtet, die genau dies versprochen haben. Für Serbien sind diese Traditi-onen in unterschiedlicher Form und zu unterschiedlichen Zeiten Dyna-stien, slawische Mythologien, Mitteleuropa, Jugoslawien und das kosmopolitische Belgrad gewesen. Der größte serbische Dichter des 20. Jahrhunderts Danilo Kiš hat aus diesem Grund Serbien für Mitteleuropa reklamiert: „In Bezug auf die Kultur bedeutet „Mitteleuropa“ vielleicht nur noch die Berufung auf den Stammbaum Europas, dessen östliche Zweige dieselben Wurzeln haben, von denselben Säften des Mittelalters, der Reli-gion (der Religionen), der Renaissance, des Barock zehren; „Mitteleuropa“ bezeichnet auch den legitimen Wunsch, dieses gemeinsame Erbe trotz aller Unterschiede oder gerade ihretwegen zu akzeptieren. Denn die Unter-schiede machen seine Eigenart aus und verleihen ihm eine besondere Identität im Rahmen des europäischen Ganzen“ (Danilo Kiš, Mitteleuropä-ische Variationen, 1986). Wie sehr dies gerade im banalen Gewand eines global erfolgreichen Fernsehformats nach dem Modell „Big Brother“ er-kennbar werden kann, verdeutlicht der in dieser Broschüre veröffentlichte Text der jungen serbischen Autorin ...

  • 4

    CULTURE MATTERS – Austrian Cultural Relations with the Western Balkans

    Der Westbalkanraum mit den Staaten Albanien, Bosnien und Herzego-wina, Kroatien, Mazedonien, Montenegro und Serbien stellt eine der Schwerpunktregionen der österreichischen Auslandskulturpolitik dar. Der EU-Gipfel in Thessaloniki im Jahr 2003 und das Außenministertreffen in Salzburg im März 2006 haben die klare europäische Perspektive dieser potenziellen Beitrittskandidatenländer bestätigt. Die Wahrung von Frieden und die Förderung von Stabilität und Sicherheit auf dem westlichen Balkan gehören demnach zu den gemeinsamen europäischen Zielen.

    Für das Gelingen des europäischen Integrationsprozesses in diesem Raum sind neben politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen auch kul-turelle Schritte zu setzen, um in den EU-Staaten und in Südosteuropa

  • 5

    Strukturen und das Bewusstsein für eine starke kulturelle Verbundenheit zu schaffen und um das Kultur- und Wissenschaftsleben im Reformprozess der Westbalkanstaaten zu unterstützen. Zu den Voraussetzungen für ein friedliches, stabiles und erfolgreiches Europa gehört das gegenseitige Wissen über die kulturellen Traditionen. Demokratische und marktwirt-schaftliche Reformen können dann erfolgreich sein, wenn sie auf einem Fundament der Kenntnis und des Verständnisses für die kulturellen Zu-sammenhänge aufbauen.

    Unter dem Titel „CULTURE MATTERS – Austrian Cultural Relations with the Western Balkans“ steht ein Konzept der Kulturpolitischen Sektion des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten, mit dem ein Beitrag zur europäischen Perspektive der Länder des Westbal-kanraumes geleistet werden soll. Bis zur vollen Integration der Länder in die Europäische Union wird schwerpunktmäßig eine Intensivierung der kulturellen Projektarbeit in den Staaten angestrebt. Zielsetzung ist dabei die Erarbeitung von kulturellen und wissenschaftlichen Projekten, für die ein gemeinsames Interesse besteht und welche die Einbindung von Schü-lern, Studenten und Wissenschaftlern und Künstlern in europäische und österreichische Strukturen stärker als bisher fördern.

    Eines der diesbezüglichen Angebote zur Zusammenarbeit ist der unter dem Motto „Über Grenzen sprechen“ stehende Dramenwettbewerb, der 2005 für Mazedonien durchgeführt wurde, 2006 seine Fortsetzung in Serbien fand und 2007 in Kroatien umgesetzt wird.

  • 6

    Der Dramenwettbewerb „ÜBER GRENZEN SPRECHEN“

    Das ProjektMazedonien war die erste Station des für die Westbalkanstaaten konzi-

    pierte Dramenwettbewerbs „Über Grenzen sprechen“: ein Theater- und Li-teraturprojekt, das die Autoren einlädt, sich vornehmlich mit dem „Lebens-gefühl in Zeiten politischen Wandels“ auseinanderzusetzen. Ausgehend von einer von Dr. Christian Papke im Jahr 2004 gestarteten Initiative, wurde in Zusammenarbeit zwischen dem Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten, dem P. E.N.- Club Österreich, KulturKontakt Austria, dem Translation & Linguistic Rights Committee des International P. E.N. und dem Mazedonischen Kulturministerium das Wettbewerbsprojekt ausgearbeitet und im Jahr 2005 ausgeschrieben. Das Jahr darauf folgte Serbien ebenfalls mit Unterstützung lokaler Partnerinstitutionen, allen voran die Stadt Belgrad und das dortige Kulturministerium. Das Ergebnis des serbischen Wettbewerbs war im September 2007 im Belgrader Theater Atelje 212 im Rahmen des 41. internationalen Theaterfestivals BITEF zu sehen. Bis 2010 soll „Über Grenzen sprechen“ insgesamt in den Ländern Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Mazedonien sowie Monte-negro und Serbien durchgeführt worden sein.

    Der Dramenwettbewerb entstand aus der Idee heraus, die Situation der unweit von Österreich beheimateten Menschen am Balkan besser kennen-zulernen und zwar über ihre zeitgenössischen, künstlerischen Leistungen. Das Projekt entspricht somit einer Einladung zu Gedankenaustausch, Dia-log und Begegnung. Der Wettbewerb ist darüber hinaus ein Schritt bei der Umsetzung des Kulturkonzepts „CULTURE MATTERS“.

    Der WettbewerbDie zwei bisherigen Wettbewerbe in Mazedonien und Serbien beher-

    bergten eine große Zahl sprachlich sehr kraftvoller Schriftsteller. Bis zu den Einreichfristen legten insgesamt über 50 Autorinnen und Autoren ihre neu-en Stücke vor, welche eindrucksvoll die kreative Ausdruckskraft der Kultur-schaffenden der beiden Länder unter Beweis stellten.

  • 7

    Der Siegerpreis beinhaltete neben einem Preisgeld auch die Übertra-gung des besten Theatertexts ins Deutsche durch Klaus Detlef Olof, öster-reichischer Staatspreisträger für literarische Übersetzung, sowie eine Publi-kation. Weiters unterstützte das Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten über das Kulturforum Belgrad auch die In-szenierung des Siegerstücks.

    Die JuryIm Februar 2006 konnte der Dramenwettbewerb für Mazedonien abge-

    schlossen werden. Eine fünfköpfi ge Jury, mit Theaterdirektor Andreas Beck, den Theaterkritikern und Intendanten Jovan Cirilov und Ivan Medenica, Re-gisseur Christian Papke und dem Vorjahressieger des Wettbewerbs Goce Smilevski international besetzt, ermittelte aus den eingereichten Manu-skripten den Wettbewerbssieger. Die wechselnde internationale Jury unter dem Vorsitz von Dr. Papke bürgt jeweils mit ihrem Namen, dass das zeitge-mäßeste Stück unter den Einreichungen als Siegerstück ausgewählt wird.

    Der WettbewerbssiegerDie Preisträgerin aus Serbien Emilija Andrejević (31) ist ähnlich jung

    wie Vorjahressieger Smilevski, im Gegensatz zu ihm der Literaturwelt je-doch noch gänzlich unbekannt. Andrejević lebt gemeinsam mit ihrer Mutter und verdient sich als Kellnerin. Die Schriftstellerei eignete sie sich selbst an. In ihrem Siegerstück „Der große Feier abend” parodiert Andrejević die Enttäuschung einer Generation über fehlende Aufstiegsperspektiven. Das Interesse gilt dem Menschen angesichts der Globalisierung, die Kritik auch der selbstverschuldeten Marginalisierung des Bürgers als Citoyen.

    Ein Ausblick„Über Grenzen sprechen“ wird 2007 bereits mit einem neuen Wettbe-

    werb für Kroatien fortgesetzt. 2008 wird Bosnien im Mittelpunkt der litera-rischen Suche nach dem besten Drama stehen und die Projektrealisation in den weiteren Ländern des Westbalkanraums wird in den darauffolgenden Jahren umgesetzt werden.

  • 8

    Dr. Christian Papke geb. 1974 in der Schweiz,

    nach einer Kindheit in Brasilien, Österreich und Deutschland führte ihn sein Studium nach Wien, Paris,

    Rio de Janeiro und Hamburg. Christian Papke lebt heute als freier Theaterregisseur in Wien.

    Im Zentrum seiner Arbeiten steht die Begegnung mit dem Sich und den anderen.

    Christian Papke hat das Projekt „Über Grenzen sprechen“ ins Leben gerufen und kuratiert den Dramenwettbewerb.

    Er ist das jüngste P.E.N.- Club Mitglied Österreichs, seit 2007 in dessen Vorstand.

  • 9

    CHRISTIAN PAPKETheater ist ein Kopfbahnhof, in dem der Verkehr nicht an Prellböcken abbricht

    Du bist noch ziemlich jung, aber da ist das Gefühl, irgendwie den Zug verpasst zu haben. Als du jünger warst, war dir total klar, was du tun wür-dest, aber jetzt befi ndest du dich in einer Art Zwischenstation. Du hast ein cooles Leben, Partys, Jungs, Mädchen – was immer du willst! Du hast eine tolle Zeit! Deine Freunde sind deine Familie. Doch eines Tages kriegen sie dich. Du beginnst, dich zu verändern. Vergisst deine Träume, Ideale, dein inneres Selbst. Du beginnst zu betrügen, diejenigen, die du liebst. Für Glasperlen! Klicker. Murmeln regieren die Welt. Für eine neblige Fantasie, die „europäische Staatsbürgerschaft“, ein besseres Leben. Ein Leben, von dem du eigentlich nie geträumt hast. Urplötzlich lebst du den Traum von jemand anderem. Jemandem, dem du besser nicht trauen solltest. –

    Ein scharfer Wind bringt sibirische Kälte. Belgrad ist eine warme, me-diterrane Stadt mit Flair, Cafés wie in Italien, lachende Menschenmassen. Doch es fehlen die Alpen, dreht der Wind, sprinten die Kollegen in Winter-jacken über die eisige Straße. Wir fl üchten uns in die dem Theater nächst gelegene Location. Es ist der Abend nach der Premiere, gemischte Ge-fühle, Abschied. Vor ausverkauftem Haus haben wir in einem der altehr-würdigen Theater die Uraufführung des „Großen Feierabend“ gegeben. Der Trubel des internationalen Theaterfestivals ist draußen noch in Gang, da textet mich mein Dramaturg schon zu. Die westlichen Länder hätten ihre imperialistische Identität nie abgelegt, Hochkultur diene der Argumentati-on von Überlegenheit und verhindere schließlich Kommunikation und Be-gegnung. Emilija Andrejevićs Mutter holt ihn ab, sie tanzen einen Walzer, Wange an Wange, zwanzig Jahre Altersunterschied? Das Gespräch am Tisch dreht sich, eine Diskussion über aktuelle Schauspieltechniken. Wa-ren wir deshalb nicht nach Serbien gefahren, um einander besser kennen zu lernen? Anstatt mit Bestleistungen voreinander zu protzen, wollten wir gemeinsame Schritte wagen. Sollten wir stolpern, stünden wir auf und machten weiter, die nächsten Schritte wären schon sicherer. War das ge-

  • 10

    lungen? Tatsächlich ging es nur noch um Qualität, um Kritiker, um Politik, als wären wir ein einig’ Team in einem Land. Das Experiment einer ser-bisch-österreichischen Produktion spielte gar keine Rolle mehr. Der Ver-such, ein Stück zu inszenieren, von dem die internationale Jury betont hatte, es würde das Lebensgefühl einer bestimmten Generation in Serbien genauso beschreiben wie das unsrige oder das anderer Europäer, war zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Und jetzt? Würden die Kontakte halten? Würden die Erfahrungen helfen, irgendwann an die neuen Begeg-nungen anknüpfen zu können? Die Aufgabe von Kunst sei Begegnung, die Schaffung einer Identität der nationalen Überlegenheit passé, immer wie-der dieses Thema ...

    Meine gesellschaftlichen Verpfl ichtungen sind erfüllt, ich verabschiede mich und wandere durch die kalten Straßen des nächtlichen Belgrad. Vor-bei an den Jugendstil-Häusern, vorbei an den tausendjährigen Ruinen, hinunter ins Dunkel, wo Sava und Donau leise ineinander fl ießen. Ruhige, stetige Kraft. Seit Jahrtausenden verbindet sie Europa, unaufhaltsam. Grenzen sind doch im Kopf, denke ich mir, verdammter Hochmut.

  • EMILIJA S. ANDREJEVIĆ

    DER GROSSE FEIERABEND

    Aus dem Serbischenvon

    KLAUS DETLEF OLOF

    © 2007

    1111

  • 12

    Personen

    BAJRAM, 35 – trägt Teenagerkleidung und ist meistens am Lachen MARIA, 30 – fülligKONSTANTIN (KOSTA), 42 – pockennarbig, abgeschlafft PETRA, 37 – auf ihre Schönheit ein wenig eingebildetMARTIN, 27 – langhaariger Beau

    *MANN HINTER DEM SCHANKTISCH – alter Bekannter, befl issen um die Gäste bemüht*FERNSEHSPRECHERIN – euphorisch-samtene Stimme

    *Beide Personen erscheinen nicht auf der Bühne. Ihre Stimmen kommen nur über die Lautsprecher.

    Ort der Handlung ist das Gasthaus „Unter der Kastanie”. In der Bühnen-mitte vier Tische, bedeckt mit karierten Tischtüchern, um jeden Tisch vier Stühle. Rechts, möglichst weit von den Tischen entfernt, über ein paar Stufen erreichbar, der Schanktisch. Im Hintergrund zwischen Schanktisch und Tischen ein Gewölbe, dahinter erkennbar der Garten des Lokals – fl ache Tische und mehrere Liegestühle. An den Wänden des Lokals mehrere gerahmte Landkarten und Stadtpläne in bunten Farben. An der Wand in der Mitte, hinter den Tischen – eine Musicbox.

    Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne ausdrückliche Erlaubnis in keiner Form wiedergegeben oder zitiert werden.

    Bitte wenden Sie sich bei entsprechender Anfrage an Dr. Christian Papke, +43 6767 33 33 44; [email protected]

  • E R S T E S Z E N E

    Der Schauplatz liegt im Dunkeln. Aus den im Zuschauerraum platzierten Lautsprechern ist die „Gasthaushymne“ zu hören, von betrunkenen Stim-men zu einer Violine gesungen.STIMMEN: Under the spreading chestnut tree ...

    Under the spreading chestnut tree ...Das Lied bildet die Untermalung einer Fernsehwerbung. Wenn die Stimme der Fernsehsprecherin zu hören ist, wird die Musik leiser, ist aber weiterhin im Hintergrund zu hören. SPRECHERIN: Das dürfen Sie nicht versäumen! Auch heute Abend in

    unserem Programm exklusiv für Sie, die Gäste des Fröhlichen Schankwirts für neunundneunzig Tage eingeschlossen im Gasthaus „Unter der Kastanie“. Die meistgesehene Reality Show der Welt! Machen auch Sie mit, liebe Zuseher! An Ihren Empfängern zu Hause, in Ihren warmen Wohnzimmern daheim, wählen Sie Ihren Lieblings-gast im Gasthaus „Unter der Kastanie“. Wer bis zum Großen Feierabend beim Fröhlichen Schankwirt bleiben darf und die Staatsbürgerschaft der Europäischen Union gewinnt, und wer das Lokal wechseln muss, hängt einzig und allein von Ihnen ab. Wieder hält der Fröhliche Schankwirt einen Abend mit neuen Herausforde-rungen, exklusiven Cocktails, animierten Gästen, mit Gasthausge-sprächen und -liedern ausschließlich für Sie bereit. Seien Sie unser Gast auf der anderen Seite. Der einundsiebzigste Tag im Gasthaus „Unter der Kastanie“. Der Spaß geht weiter! Bleiben Sie bei uns bis zum Großen Feierabend!

    Die Musik wird wieder lauter. STIMMEN: Under the spreading chestnut tree ... Under the spreading chestnut tree ... Laj-la, la-la, la-la, Laj-la, la-la, laaaa ...

    13

  • 14

    Z W E I T E S Z E N E Ausgeleuchtet ist der Mittelteil der Szene. An einem Tisch schläft Kosta und sitzen Maria und Petra. Am anderen Tisch sitzen Bajram und Martin und spielen Karten. Auf den Tischen stehen Aschenbecher, Bierfl aschen und Gläser. Auf einem der Stühle lehnt eine Gitarre.BAJRAM: Und jetzt, Marek, die Hosen runter!MARTIN: (knallt eine Karte auf den Tisch) Bitte sehr, der Herr! Pikus, der

    Waldspecht! BAJRAM: (lachend) Uuuuh, der Tiger! Gar nicht so unklug, was sag ich,

    Respekt, Respekt! I-jao! Schweres Geschütz, jetzt hast du mich dem Erdboden gleichgemacht, o König! Jetzt hast du mir alle Klicker abgenommen. (Kichern, das in ansteckendes Lachen übergeht) Joj ... uh ... Ich muss dich küssen! (kommt blitzschnell von seinem Stuhl hoch und küsst Martin leidenschaftlich auf die Stirn, setzt sich wieder) Martin, weißt du, dass du der klügste Spieler bist, den ich kenne, ehrlich. So gescheit, als wärst du überhaupt kein Ungar. (lässt wieder sein ansteckendes Lachen raus)

    MARTIN: (lächelt) Lass das, Mensch, Bajram, cool down! Ich bin hundert Prozent kein Ungar. Wie oft muss ich dir das noch sagen?

    BAJRAM: Weiß ich doch, mein Schönster. Tut nichts zur Sache. Ich würde dich sogar lieben, wenn du tatsächlich Ungar wärst. Darf ich dich noch mal küssen? (kommt wieder hoch und küsst ihn auf die Stirn)

    MARTIN: Du bist wirklich unverbesserlich. Du küsst mir noch die Birne weich. (zündet sich eine Zigarette an)

    BAJRAM: Ich liiiiebe dich! Tut nichts zur Sache, dass du mir alle Klicker abgeluchst hast. (geht zum anderen Stuhl) Mädchen, was lasst ihr denn die Backen hängen? Habt ihr Lust auf eine Partie Karten mit uns?

    MARIA: (schlecht gelaunt) Ich hasse Karten. Martin ist allein am Tisch zurückgeblieben. Er nimmt die Gitarre und stimmt sie. Bajram legt ein Spiel Karten auf den Tisch. Petra nimmt die Karten und beginnt, eine Patience zu legen. PETRA: Wir wollen doch mal sehen, was die Zukunft bringt ...BAJRAM: (lachend) Auf dich, Schönheit, wartet sicher ein Prinz auf

    weißem Pferd.

  • 15

    PETRA: Das werden wir gleich sehen ...BAJRAM: (zu Maria) Irgendwie schmeckt es dir nicht, ha? MARIA: Ach, ich kann nicht mehr trinken. Ich spüre schon die Leber.

    (zündet sich eine Zigarette an) BAJRAM: Iiii!? Wo, meine Schönste? MARIA: (legt die Hand auf den Magen) Da, hier. BAJRAM: Aber nein, meine Schönste ... Das ist nicht die Leber. Das ist

    etwas anderes. Das scheint dir nur so. Und eine Leberzirrhose kommt nicht über Nacht. Was glaubst du denn!

    MARIA: Lass gut sein, Herzchen, ich bin irgendwie total unrund. BAJRAM: Ich weiß, dir fehlt Saša. Aber du wirst sehen, wenn wir hier

    rauskommen, dann sehen wir uns alle wieder. (lachend) Ich komme ja auch sonst nicht aus der Kneipe raus. (kichert) Ich meine, im Privatleben, verstehst du? Wir bleiben alle zusammen, wenn wir rauskommen.

    MARIA: (traurig) Ach, das ist es nicht ... Ich meine, es ist nicht, dass ich Saša nicht mehr sehe, sondern irgendwie werden wir immer weniger ...

    BAJRAM: Ja, so sind nun einmal die Regeln, du musst dir das nicht zu Herzen nehmen.

    MARIA: Ich nehm es mir nicht zu Herzen, aber du kennst das Gefühl ... (nachdenklich)

    Pause. Martin begleitet Marias Worte und Stimmung mit einer Melodie.MARIA: Bist du mal mit der Schule ans Meer gefahren? BAJRAM: Ja. MARIA: Weißt du noch, wenn die letzten Ferientage kommen und wir

    anfangen zu zählen. Alle Kinder freuen sich, dass sie bald die Eltern wieder sehen, und bestellen im Voraus, was ihnen die Mutter zu Mittag kochen soll, wenn sie heimkommen ... (mit abfälligem Tonfall verwöhnte Kinder nachmachend) Kartöffl i, Schnitzel, njam-njam-njam ...

    BAJRAM: Ja, das kommt daher, weil sie uns in diesen Erholungsheimen Spülwasser zu essen gegeben haben.

    MARIA: Was, Spülwasser? Als ginge es nur darum, sich den Wanst voll zu fressen, Idiot! Wir sind mit dem Flugzeug ans Meer, heh! (sie gerät in Feuer) Mit der Schule! War das etwa nichts? Für wenig Geld ...

  • 16

    Goldene Bucht, Sandstrände ... Wir hatten unser Taschengeld, Mensch. Wir sind allein ins Lokal gegangen, auf Fritten. Alles hatten wir. Jetzt kann ich vom Meer nur träumen. Ich kann keinen Schritt raus machen aus diesem beschissenen Land. Das Meer ist für uns jetzt Ausland. Dir ist es schlecht gegangen, ja? Du hast Spülwasser vorgesetzt gekriegt ... Wenn ich ein Kind hätte, was ich nicht habe, wüsste es nicht, was das ist, das Meer. (wütend) Wie willst du einem Kind erklären, was das Meer ist? Indem du es ihm im Fernsehen zeigst? Deshalb habe ich auch kein Kind! (äußerst genervt) Ich bin mir nicht einmal mehr sicher, dass es Amerika wirklich gibt. Vielleicht wird das alles nur in einem Filmstudio aufgenommen, das, was wir für Amerika halten ...

    BAJRAM: Ach, komm, Kleines. Ich habe einen Vetter in Amerika ... MARIA: (böse) Idiot! Betrunkener Schwachkopf! Du verstehst überhaupt

    nicht, von was ich hier rede ... BAJRAM: Entschuldige, Kleines, ich habe es nicht bös gemeint. (er küsst sie

    auf die Wange) Genau genommen, wenn ich etwas besser nachdenke, war der Fraß gar nicht so schlecht. (lachend) Da gab es immer so super Krapfen, mmmm, noch jetzt habe ich ihren Duft in der Nase ...

    MARIA: (ein Lachen unterdrückend) Idiot. BAJRAM: (küsst sie leidenschaftlich auf die Wange) Sag, dass du mich

    lieb hast. Oder hasst du mich? MARIA: (lachend) Ich hasse dich nicht. BAJRAM: (lachend) Das will ich hören! Das ist der richtige Geist!

    (bettelnd) Marylein, was hat denn das jetzt alles damit zu tun? MARIA: (Pause. Nachdenklich) Wenn wir die Tage gezählt haben und

    dieses ... Schnitzel und Kartöffl i ... hat es mir das Herz abgeschnürt. Ich konnte mich einfach nicht von all den Kindern trennen. Ich kann es dir nicht erklären. Das waren für mich Tage des Glücks, Sonne, Meer, gleichaltrige Freunde ... Ein Paradies, Herzchen, ein Paradies! Ich wollte einfach nicht nach Hause. Eigentlich wollte ich, wie soll ich sagen – ich kann mich nicht trennen von Menschen, von Dingen, von Orten ... wenn ich mich einmal an sie gewöhnt habe. In diesem Sinn geht mir Saša ab. (Pause. Lachend) Wenn ich einmal von hier weg gehe, werde ich mich gehörig betrinken müssen.

  • 17

    PETRA: (zu Maria) Erinnerst du dich an die letzten Sätze von Holden? Die, wo er all die schrecklichen Figuren vom College aufzählt?

    MARIA: Und was sagt er ...PETRA: Er sagt ganz klar, wie seltsam das ist ... Er sagt – ihr dürft nie

    irgendwem etwas erzählen, denn wenn ihr das tut, werdet ihr sofort das Gefühl kriegen, dass euch alle diese Mensch abgehen.

    MARIA: Willst du sagen, dass ich zuviel erzähle?PETRA: Aber nein ... das ist so logisch wie das Loch im Blumentopf. Du bist

    nicht die Erste und nicht die Letzte. Du darfst dich nicht so sehr mit diesen Dingen belasten. Sieh her – schon im nächsten Augenblick wird dir etwas Unerwartetes widerfahren, etwas Neues ... und Herrliches. Jemand ganz Neues und Interessantes wird sich an deinen Tisch setzen ...

    Martin kommt an den Tisch, er spielt auf der Gitarre und setzt sich zu ihnen.MARTIN: (lachend) Ahoj!Maria lacht.PETRA: ... und etwas Schönes sagen, etwas, worüber du dich den ganzen

    Tag freuen wirst. Oder du wirst auf ein gutes Lied stoßen oder ein Foto, egal was ... Für die Zukunft braucht man Mut, meine Liebe ... aber in Wirklichkeit ist es sehr leicht ... und logisch.

    MARTIN: Kennst du dies noch ... (singt) Liegen am Morgen deine Nerven blank, hast du mal wieder nicht alle Tassen im Schrank ... schon’ deine Nerven, hör auf zu fl uchen ... und bei den anderen den Schuldigen zu suchen ...

    BAJRAM: (lachend) Ijao! Vom alten Grammophon!PETRA: (singt) ... mit diesem Lied beginn den Taaag!ALLE: (singen) Didu-lidu-dadu, didu-lidu-dadu sind die Zauberworte Didu-lidu-dadu, didu-lidu-dadu heißt die Medizin Didu-lidu-dadu, didu-lidu-dadu wenn es nötig – immer wieder Didu-lidu-dadu, didu-lidu-dadu da liegt alles drin!

  • 18

    BAJRAM: (applaudiert Martin) Bravo, Maestro! (ahmt einen Conférencier nach) Unser musikalischster Ungar auf der ganzen Balkanhalbinsel ...

    Maria und Petra applaudieren.PETRA: (zu Maria) Geht’s dir jetzt besser?MARIA: (hebt ihr Glas, lachend) Immer besser!BAJRAM: So ist es, Marylein! Hat jemand Prost gesagt? (steht auf, geht

    zum anderen Tisch, um sein Glas zu nehmen) Kommt, Prost! (stößt mit Martin an, dann mit Maria und Petra. Das Gläserklingen lässt Kosta wach werden.)

    KOSTA: (verschlafen) Hat hier jemand Prost ... (sieht ringsum die erhobenen Gläser. Hebt sein Glas.) Prost!

    BAJRAM: (lachend) So ist’s richtig, Burschi! Prost! Und was gibt’s Neues im Reich der Träume? Hast du was Nettes geträumt?

    KOSTA: (räuspert sich, reibt sich die Augen, zündet sich eine Zigarette an) Ich habe geträumt, ich wäre ein Pferd.

    BAJRAM: (kichert) Und wie war das? Erzähl! KOSTA: Uff! Ich werde überhaupt nicht wieder nüchtern ... (schüttelt den

    Kopf wie ein Hund) Ich habe geträumt, ich wäre ein Pferd, aber kein gewöhnliches, sondern dieses ... dieses ... Wie hieß das noch? Jabuzifer ... nein, nicht Jabuzifer ...

    BAJRAM: Welcher Jabuzifer, Mann Gottes? KOSTA: Na, das Pferd von Kraljević Marko ... Wie hieß das noch? PETRA: (wedelt den Zigarettenrauch weg) Šarac . BAJRAM: (singt lachend) Vino pije Kraljeviću Marko, pola pije, pola Kosti

    daje . (kichert) KOSTA: Katastrophe! BAJRAM: (lachend) Hat dich dieser Marko etwa wirklich mit Wein

    abgefüllt? KOSTA: Ja, das kannst du aber laut sagen! Ein Baum von einem Mann.

    Was der wegtrinken kann, echt ein Wunder. Und ich träume, ich will ihm die ganze Zeit sagen: „Begreif doch, Marko, ich kann jetzt keinen Wein trinken, ich habe gerade im Gasthaus „Unter der Kastanie“ Wodka getrunken, ich will jetzt nicht mischen.“ Aber ich bin ein Pferd, ich kann nicht sprechen. Und je mehr ich sprechen will, desto mehr

  • 19

    wiehere ich wie ein Pferd, und Marko tränkt mich. Grauenvoll! BAJRAM: Was bist du für ein Säufer! Du verlierst keine Zeit, selbst wenn

    du schläfst! (lacht) SPRECHERIN: Bajram! Bajram lacht so laut, dass er die Stimme der Fernsehsprecherin nicht hört.SPRECHERIN: Bajram! BAJRAM: I-jaoo ... uff ... ich kann nicht mehr ... joj ... SPRECHERIN: Bajram! BAJRAM: Ha? (zu Kosta) Bitte? Kosta deutet mit der Hand Richtung Zuschauerraum. BAJRAM: Bitte, ja? SPRECHERIN: Bajram, der Fröhliche Schankwirt bittet dich zum Schanktisch. BAJRAM: (zu Kosta und Maria) Ich komme gleich wieder. Sollte sich hier

    in der Zwischenzeit eine ansehnliche Dulcinea zeigen, haltet sie fest, lasst sie nicht wieder weg. (lacht)

    Das Licht über dem Mittelteil der Szene erlischt.

    D R I T T E S Z E N E Das Licht über dem rechten Teil des Schanktisches geht an. Vor dem Schanktisch nur ein Hocker. Auf ihm sitzt Bajram. Auf dem Schanktisch ein kleines Glas mit Schnaps und ein Glas Wasser. In der folgenden Szene ist der Schankwirt nicht zu sehen, man hört nur seine Stimme aus dem Lautsprecher. SCHANKWIRT: Wo bleibst du denn, du brauchst ja eine Ewigkeit. BAJRAM: (lachend) Du weißt doch selbst, wie das ist, die Frau, die

    Kinder, die Arbeit ... SCHANKWIRT: Geht ein Schnäpschen? Aprikot? BAJRAM: Klar doch, warum nicht ... den kann ich jetzt vertragen. SCHANKWIRT: (hüstelt) Links! Bajram sieht zuerst nach oben, dann nach links in die Höhe. SCHANKWIRT: (hüstelt) Bar! BAJRAM: (senkt den Blick zum Schanktisch und bemerkt die beiden

    Gläser) Ach, da! (droht mit dem Finger in unbestimmte Richtung) Scherzbold!

  • 20

    SCHANKWIRT: Wie geht’s denn immer, Sportsfreund? Wie läuft es so bei uns, „Unter der Kastanie“?

    BAJRAM: (singt) Under the spreading chestnut tree ...Der Schankwirt hüstelt und unterbricht ihn. BAJRAM: Ja, schön haben wir es im Gasthaus „Unter der Kastanie“. Ich

    meine, ich fi nde es schön. Den ganzen Tag trinken, keiner braucht zu arbeiten, wo gibt’s das sonst noch? (lachend) Hier ist ein ewiger Traum der südslawischen Völker Wirklichkeit geworden!

    SCHANKWIRT: Wie steht’s mit den übrigen Gästen? BAJRAM: Ein wenig fehlen uns die, die rausgefl ogen sind ... Maria ist ein

    bisschen traurig. Aber das geht alles vorüber, das geht alles vorbei ... SCHANKWIRT: Und was macht Martin? BAJRAM: Der nimmt mich bei den Karten aus! Das ganze Geld hat er mir

    abgenommen! Ich meine ... unser Taschengeld ... (lachend) Alle Klicker hat er mir abgenommen. Der ungekrönte Zockerkönig!

    SCHANKWIRT: (hüstelt) Sag mal, hat er eine Freundin? BAJRAM: Eine Freundin? Keine Ahnung. Hat nie davon gesprochen. Warum? SCHANKWIRT: Ist er vielleicht ... (hüstelt) BAJRAM: (abwechselnd lachend und mit ernstem Gesicht) ... homoschwul?!Der Schankwirt hüstelt. BAJRAM: Weißt du, darüber habe ich nicht nachgedacht ... SCHANKWIRT: Kannst du mir einen Gefallen tun? BAJRAM: Aha! Sag! SCHANKWIRT: Dass du bei ihm mal auf den Busch klopfst. BAJRAM: Was? SCHANKWIRT: Dass du ihn dazu bringst, es zuzugeben. BAJRAM: Aber wie? SCHANKWIRT: Was weiß ich ... Lass irgendwas Schmalziges laufen,

    fordere Maria zum Tanzen auf ... dann bleibt für ihn Petra. Danach kannst du ja mal ’ne Anspielung machen von wegen, die beiden gäben ein gutes Paar ab, oder so etwas ... (hüstelt) Denk dir etwas aus.

    BAJRAM: (unwillig) Bah! Na gut ... SCHANKWIRT: Und ich brauche nicht zu erwähnen ... (hüstelt) BAJRAM: (irritiert) Was?

  • 21

    SCHANKWIRT: Du weißt schon ... (hüstelt) es bleibt unter uns. BAJRAM: Aha! Diskretion garantiert ... (lacht traurig) SCHANKWIRT: Ist gut, der Aprikot, nicht? BAJRAM: (entsinnt sich plötzlich des Schnapses. Kippt ihn und trinkt

    lachend etwas Wasser nach. (Lachend) Apropos! SCHANKWIRT: Gut also, und komm wieder ... BAJRAM: (steht auf und geht die Stufen hinunter) Bin schon weg! Wir

    sehen uns, apropos Aprikot! (Lachen) Das Licht erlischt.

    V I E R T E S Z E N E Beleuchtet ist der Mittelteil der Szene wie in der 2. Szene. Kosta schläft wieder am selben Tisch. Um ihn herum sitzen Martin, Petra und Maria und unterhalten sich. Bajram kommt von rechts. BAJRAM: (lachend und deutlich stärker betrunken) Genossen und

    Genossinnen, ich schlage vor, dass wir uns diese kalte Winternacht ein wenig mit Tangomusik verkürzen. Tanzen wir Tango!

    Martin, Petra und Maria sehen ihn verständnislos an. BAJRAM: Au, scheiß ... ich kenn die Schritte nicht. Gut, dann eben L’amour

    Hatscher ... (lachend, theatralisch) Wir probieren einen klassischen europäischen Klammertanz! (geht zur Musicbox und wirft Klicker ein)

    Musik erklingt. BAJRAM: (geht zu Maria und reicht ihr mit einer Verbeugung die Hand) Ist

    die Dame für ein Tänzchen zu haben? MARIA: (reicht ihm lachend die Hand und erhebt sich) Vielleicht. BAJRAM: (reicht die andere Hand Petra) Mademoiselle Petra, voulez-vous? PETRA: (erhebt sich lachend) Oui, Monsieur! BAJRAM: Ah? (lachend) Ich dich auch! (umarmt Maria und Petra, küsst

    beide auf die Wange) Frauen! Ich liebe die Frauen! (sieht zu Martin) Tiger, ich liebe auch Männer, erhebe dich, du schwacher Geist! (lachend) Ich kann doch l’amour nicht zu dritt hatschen!

    MARTIN: Was hat dich denn gebissen? BAJRAM: Los, Rambo, komm hoch! Ich verspreche feierlich, dass ich dir,

    wenn du schläfst, ins Ohr furze, wenn du nicht auf der Stelle

  • 22

    hochkommst, so wahr ich Miloš heiße! MARTIN: Aber du heißt ja gar nicht Miloš. BAJRAM: Red keinen Scheiß, sondern komm mit dem Arsch hoch! Ich

    mache keine Scherze! Oder willst du wirklich die Mördergranate von Bajram Donnerkeil hören? (schüttet sich aus vor Lachen)

    MARTIN: (steht unwillig auf, lachend) ... Du kannst einen echt vollquatschen ...BAJRAM: So liebe ich dich, Tiger ... Das ist wahrer Geist! Bajram lässt Petras Hand los, umarmt Maria, und beide beginnen zu tanzen. Martin verbeugt sich vor Petra, Petra vor ihm, und beide schließen sich Ersteren an. Kosta bleibt schlafend am Tisch zurück. Als das Stück zu Ende ist, setzen sich Petra, Martin und Maria auf ihre Plätze, Bajram bleibt stehen. BAJRAM: Wie ich die Frauen liebe! (lachend) ... aber ich liebe auch ein

    gutes Bier! (nimmt die Flasche und macht einen großen Zug, dann setzt auch er sich) Maria, du bist ein respektables Weib und du riechst auch überhaupt nicht. Du riechst nie. Kann ich bei dir mal unter den Achseln schnüffeln? Bitte, bitte!

    MARIA: (lachend) Blödmann ... BAJRAM: (hebt Marias Arm, schnüffelt unter ihrer Achsel) Nichts! Du bist

    ein Engel! (lachend) Aber ich dufte wie ein Panther! Wie ein schweißender Panther!

    Alle Lachen. BAJRAM: Mein Gott, wie ich die Frauen liebe ... Martin, hast du einen

    Frau? Ha, Tiger, hast du? MARTIN: Hab ich. BAJRAM: Red keinen Scheiß! Und warum gibst du nicht mit ihr an? Woher

    kommt sie? MARTIN: Ich habe sie in Slowenien gefunden. BAJRAM: Verkaufst Du mich für blöd ... Du warst in Slowenien? MARTIN: (zündet sich eine Zigarette an) Ich bin überhaupt noch nie in

    Slowenien gewesen! Ich hab sie übers Internet gefunden. PETRA: Ih, wie viele Verehrer habe ich übers Internet kennengelernt ... und

    zwar aus Slowenien. BAJRAM: Ach, ihr wollt mich beide verarschen! Was für Verehrer, was für

    Frauen übers Internet?

  • 23

    MARIA: Na ja, virtuelle. BAJRAM: Vir ... was? Also, ihr verarscht mich wirklich! PETRA: Du kommst wohl vom Mars. Ich gehe in den letzten Jahren nur

    noch im Internet aus. Chatrooms, kennst du das nicht?BAJRAM: Klar weiß ich, was das ist, chat, aber wie kommst du da an

    einen Verehrer? PETRA: Ganz einfach, wir plaudern ein bisschen, ich stelle ein paar

    Testfragen, und wenn er sie zufriedenstellend beantwortet, verabreden wir ein Date. Verstehst du jetzt, dass der Mann seine Frau im Net gefunden hat?

    BAJRAM: Einfach so? Mit einem Unbekannten? PETRA: Dann ist er ja kein Unbekannter mehr. Zuerst reden wir

    miteinander, wir lernen uns kennen. In Wirklichkeit ist es komplett dasselbe wie im „richtigen“ Leben, nur damit allein ist es nicht getan. Du musst schon über eine besondere Gabe der Kommunikation verfügen. Das ist etwas wie Sprache, wie eine andere Sprache.

    BAJRAM: Und welche Sprache sprecht ihr im Internet? PETRA: Keine Sprache im wörtlichen Sinne. Wir haben einen besonderen

    Zugang. Wichtig sind Symbolik und Mehrdeutigkeit. Du musst Schönheit mit Nullen und Einsen darstellen. Und du musst auch in der Lage sein, sie zu erkennen.

    MARTIN: Binäre Schönheit! BAJRAM: Jetzt versteh’ ich überhaupt nichts mehr ... (zu Petra) Und wenn

    du deinen binären Prinzen gefunden hast, hast du da keine Angst, hinzugehen und dich mit ihm zu treffen?

    PETRA: Wovor sollte ich Angst haben? BAJRAM: Was weiß ich, vielleicht ist er ein Serienkiller. Vielleicht sucht er

    Titten im Internet, um sie hinterher zu tranchieren und Seife aus ihnen zu machen! (kichert)

    PETRA: Und woran erkennst du sonst, ob einer ein Perverser ist? BAJRAM: Das seh ich doch ... gleich ... PETRA: Hör’ doch auf, sag, wie weißt du zum Beispiel, dass Martin kein

    Perverser ist? BAJRAM: Martin? (sieht zu Martin und kichert los) Also Martin ist eine der

  • 24

    seltenen normalen Personen, die ich je im Leben kennen gelernt habe. Ich meine, wir haben uns erst vor Kurzem kennen gelernt, aber das, was ich von ihm weiß ... Er sieht gut aus, ist unschlagbar bei den Karten, versteht sich auf Musik, hat studiert, hat eine Frau ...

    MARTIN: Ich jogge jeden Tag ... BAJRAM: Du joggst jeden Tag? Eh, Tiger, das ist schon verdächtig! (bricht

    in Lachen aus) (zu Petra) Martin ist völlig ok ... der kann gar kein Perverser sein!

    PETRA: Da siehst du’s! Es gibt immer einen Weg einzuschätzen, wie jemand ist. Genauso ist es im Internet. Da gibt es keinen Unterschied. (lachend) Aber du siehst vielleicht zu viele amerikanische Filme und das ist dir auf die Fantasie geschlagen.

    BAJRAM: Stimmt nicht, meine Liebe, ich lese jeden Tag die Schwarze Chronik. Weißt du, was alles passiert? Hast du von Silvo Plut gehört?

    PETRA: Was? Von wem? BAJRAM: Irgend ein Slowene ... hat unheimlich viele Frauen umge-

    bracht, er hat sogar in Serbien ordiniert. Er hat Maria Ðošić aus Aleksinac aufgeschlitzt.

    PETRA: Aus Aleksinac? (nachdenklich) Nie gehört. BAJRAM: Ja, liest du denn überhaupt mal was? (lacht) Joj ... ihr macht

    mich fertig, echt ... Aber wie hast du Sportsfreund denn diese binäre Frau im Computer gefunden?

    MARTIN: Ich wollte heiraten, wegen der Papiere. Ich will nach Slowenien. Das ist für mich das ideale Land. Gut, nirgendwo ist es ideal. Sagen wir also optimal ... das optimale Land.

    MARIA: (zündet sich eine Zigarette an) Direkt in die Pranken von Silvo Plut. Dann hast du ausgeschissen, wenn er sich auf Männer umstellt.

    BAJRAM: (zu Maria) Was erzählst du da, den Silvo haben sie längst eingebuchtet! (zu Martin) Du hast keine Angst vor einem Perversling?

    MARTIN: Also jetzt ... überall gibt es Perverse. Es gibt kein Land, in dem du völlig sicher sein kannst. Aber Slowenien ist ganz ok.

    BAJRAM: Und was ist mit deiner Frau? MARTIN: Keine Ahnung. BAJRAM: Was heißt, du hast keine Ahnung?

  • 25

    MARTIN: Das mit den Papieren hat nicht geklappt. Wir haben geheiratet und das alles ... aber ich brauchte noch irgendwelche Papiere für die Aufenthaltsgenehmigung. Die konnte sie mir nicht besorgen, weil sie keine eigene Wohnung hat. Jetzt ist nichts, jetzt bin ich verheiratet und stecke weiterhin hier fest. Sie ist ausgefallen! Was glaubst du, weshalb ich hier bin, im Gasthaus „Unter der Kastanie“? Wegen der Klicker?

    BAJRAM: Du willst von hier weg, um mit deiner Frau zusammen zu sein? MARTIN: Aber wo denn ... Die Ehe bin ich nur wegen der Papiere

    eingegangen. Ich will von hier weg, so halte ich es nicht mehr aus. PETRA: Wie? MARTIN: So, als wäre ich außerhalb des Gesetzes ... aber in Wahrheit bin

    ich es nicht, wirklich nicht. MARIA: Wie meinst du das, außerhalb des Gesetzes? MARTIN: Zum Beispiel, jedes Mal, wenn ich auf irgendwelche Bullen

    stoße, muss ich mich ausweisen. Immer bin ich für sie verdächtig. Ich weiß nicht, weshalb. Einmal habe ich meinen Personalausweis nicht mit gehabt, da haben sie mich die ganze Nacht auf der Polizeiwache behalten. Hundert Mal haben sie mich gefragt, wie ich heiße. Sie haben mir nicht geglaubt. Auch mein Name ist hier verdächtig ...

    BAJRAM: Das ist doch klar. Weil du Ungar bist, mein Schöner. MARTIN: Was soll das denn jetzt, Ungar, ausgerechnet Ungar! Wie

    kommst du denn auf so was? BAJRAM: Du bist doch aus der Vojvodina, oder? Wenn du kein Serbe bist,

    dann musst du Ungar sein, etwas Drittes gibt es nicht, oder? PETRA: Hörst du dich eigentlich selbst, wenn du redest? BAJRAM: (kichert verschämt) Das nehm ich doch an ... PETRA: (zu Martin) Und wie heißt du jetzt wirklich? MARTIN: Železni. MARIA: Martin Železni, der Eiserne. Wie ein Superheld. BAJRAM: (begeistert) Der Eiserne Martin! Menschenskind, da hast du’s ja

    noch gut getroffen ... (spielt ein Gespräch) Guten Abend, Ihren Ausweis, bitte! Zu Haus vergessen. Ihr Name? Martin Magneto. Wen willst du verarschen!? (kichert) Gut, dass sie dich nicht verprügelt haben ...

  • 26

    MARTIN: Ich kann dir sagen, da hat wenig gefehlt ... BAJRAM: Was ist das für ein Nachname, Železni? MARTIN: In der Slowakei ist das ein häufi ger Name. BAJRAM: (irritiert) Dann bist du also Slowake! (lacht) Bist du mit Lolek

    und Bolek verwandt? PETRA: Lolek und Bolek sind Tschechen. BAJRAM: Ist das nicht dasselbe? ... Tschechen, Slowaken ... Tschechoslo-

    waken! (will sich ausschütten vor Lachen) MARIA: Siehst du – ist es nicht. Auch deren Staat ist auseinander

    gefallen, und sie sind nicht mehr dasselbe. BAJRAM: Gut, Freund Martin, was bist du dann? MARTIN: Uh ... Geboren bin ich in einem Dorf in der Vojvodina. Mit

    fünfzehn bin ich nach Belgrad gekommen. Hier hab ich das Gymnasi-um besucht und anschließend studiert. Ich lebe seit Jahren hier, wie ein echter Belgrader, und doch bin ich ein Zuzügler. In der Slowakei bin ich in meinem ganzen Leben nicht gewesen. Aber ich wäre gern ein bisschen ein Slowene ...

    BAJRAM: Das ist doch fast dasselbe ... Slo – dies, Slo – das! MARTIN: Glaubst du, dass ein Amerikaner den Unterschied zwischen

    einem Slowenen und einem Slowaken kennt? BAJRAM: Einen Scheiß kennt der! (sich entschuldigend) Mögen die

    Damen verzeihen. MARTIN: Ich weiß selbst nicht mehr ... Ich fühle, dass es hier nicht gut für

    mich ist. Im Großen und Ganzen verberge ich, was ich denke. Ich sehe im Fernsehen, dass irgendwelche Leute dasselbe denken wie ich, und dann kriegen sie Prügel ... Und an die Qualster auf den Gehwegen werde ich mich auch nicht gewöhnen.

    MARIA: Also, da verstehe ich dich vollkommen. Für die Spucker müsste es astronomische Geldstrafen geben.

    MARTIN: Ich weiß nicht ... Ich würde gern probieren, ein bisschen ein Slowene zu sein. Vielleicht gelingt es mir ...

    Die Glocke läutet. SPRECHERIN: Letzte Runde! Möchte noch jemand etwas trinken?! PETRA: Ich bin müde.

  • 27

    MARIA: Ich habe auch genug für heute. BAJRAM: Tiger, wollen wir noch einen zur Brust nehmen vorm Schlafen?

    Haben wir das nicht verdient? (umarmt Martin) MARTIN: (lachend) Wenn du unbedingt willst ... BAJRAM: (sucht in seinen Taschen) Ich habe keine Klicker mehr ... MARTIN: Geht auf meine Rechnung! BAJRAM: (bestellt in unbestimmte Richtung) Zwei Aprikot! (zu Martin) Ist

    Aprikot ok? MARTIN: Lass sie anmarschieren! BAJRAM: Zwei Aprikot! Petra und Maria erheben sich. PETRA: Gute Nacht, Burschen. (lachend) Bis die Tage! BAJRAM: (weinerlich) Warum geht ihr schon? Könnt ihr nicht noch ein

    bisschen mit uns ... Ihr seid aber keine Kumpel. MARIA: Komm, Herzchen, jeden Abend dieselbe Geschichte. Wir setzen

    morgen fort, wo wir heute stehen geblieben sind. (küsst ihn auf die Stirn) Gute Nacht, meine Lieben! Gute Nacht!

    BAJRAM: (böse) Nichts werden wir fortsetzen! Nichts morgen! Ich will jetzt! (Maria und Petra gehen nach links in den Garten und werfen sich in die Liegestühle. Bajram ruft ihnen nach) Ihr seid keine Kumpel! Ich hab’ euch gar nicht mehr lieb!

    MARTIN: Sie brauchen ihren Schönheitsschlaf. Verstehst du? (zeigt mit der Hand zum Publikum) Für die Frauen ist das wichtig ... und für die Männer genau so ...

    BAJRAM: (bemerkt Martins Handbewegung nicht) Schönheit? (wird nachdenklich, dann strahlt er über das ganze Gesicht) Also du, Marek, bist ein Engel! Du bist der gutmütigste Ungar, den ich kenne. (lachend) Obwohl ich keinen einzigen Ungarn kenne! (sieht in Richtung Garten) Wenn es wegen der Schönheit ist, dann ist es ok. (greift nach der Bierfl asche, setzt an und merkt, dass sie leer ist) Maki, Marule, komm, geh und hol uns noch einen Schnaps, ich bitte dich, ich komm jetzt einfach nicht mehr hoch ...

    MARTIN: Warte hier. BAJRAM: (lachend) Wohin sollte ich wohl gehen?

  • 28

    Martin geht zum Schanktisch die Getränke holen, Bajram bleibt allein mit dem schlafenden Kosta. Er wird ernst. BAJRAM: Ich versteh es nicht. Wer wäre je vom Schlafen schöner

    geworden? (sieht zu Kosta) Du, Kaiser Konstantin, du schläfst den ganzen Tag, den Gott werden lässt ... (lachend) aber du bist noch immer hässlich wie die Nacht!

    MARTIN: (kommt mit zwei kleinen Gläsern zurück) Bajram, du bist der roheste Ungar, den ich kenne. Rühr mir nicht den Kosta an, der ist am schönsten, wenn er schläft.

    BAJRAM: (kichert) Kosta ist für dich schöner als Petra? MARTIN: In jeder Hinsicht. BAJRAM: (irritiert und überrascht) Also du ... du bist ... MARTIN: Hat jemand ‚Prost’ gesagt? BAJRAM: (lachend) Prost! Prost!KOSTA: (erwachend, murmelt ) Wer hat ... Wer hat ‚Prost’ ...? BAJRAM: (gibt Kosta sein Glas mit dem Wodka in die Hand) Prost, Kaiser

    Konstantin! KOSTA: (hebt schlaftrunken das Glas, murmelt) Prost! MARTIN: Prost! Kosta führt das Glas zum Mund, schnuppert am Getränk, sein Kopf sinkt herab, und er schläft weiter. Martin und Bajram trinken ex. Bajram sieht zu Martin und beginnt zu kichern. MARTIN: Was ist? BAJRAM: Du bist der klügste Schwule, den ich kenne! Darf ich dich küssen? MARTIN: (lächelt) Wie oft soll ich es dir noch sagen: Ich bin kein Ungar ... BAJRAM: (küsst Martin auf die Stirn) Aber ich liiiiebe dich. Jetzt fi nde ich

    es fast schade, dass ich kein Schwuler bin und du mich mal anständig durchvögelst. (grinst)

    MARTIN: (lachend) Idiot! BAJRAM: Warum, bitte schön, bin ich etwa nicht gut in Schuss? Ich bin

    noch keine vierzig. Was fehlt mir? (betastet seinen Scheitel) Stimmt, hier hat Zinédine Zidane ein bisschen mitgespielt, aber wenn ich einmal reich bin, werde ich mir alle Haare vom Arsch hierher umpfl anzen (schlägt sich auf den Kopf). Na, bin ich nicht hübsch?

  • 29

    (karikiert eine verführerische Frauenpose) MARTIN: (lachend) Du bist nicht mein Typ. BAJRAM: Eh, scheiß drauf, jetzt! (setzt sich an den Tisch, schüttelt die

    leere Bierfl asche, hebt das leere Glas, doch dann erinnert er sich und nimmt Kosta vorsichtig das Glas Wodka aus der Hand und trinkt es ex)

    Pause. Bajram wird nachdenklich. BAJRAM: Ach, Marek, mein Marek ... ich habe geglaubt, du willst nach

    Slowenien zu deiner Frau, und dabei ... Dort wäre es sicher super für dich. Dort ist alles go go gay, habe ich gehört ...

    MARTIN: Ich glaube, dass der Prozentsatz an Homosexuellen überall gleich ist, die Frage ist nur, ob sie sich öffentlich dazu bekennen dürfen. Weißt du, hier verbirgt sich eine Menge von ihnen ... Überhaupt verbergen sie sich, aber hier besonders.

    Bajram untersucht die Flaschen, die Maria und Petra zurückgelassen haben, und trinkt die Reste. Immer betrunkener beginnt er Unzusammen-hängendes zu reden. MARTIN: Wie kann einer glücklich sein, wenn er etwas verbergen muss? BAJRAM: (unzusammenhängend) Du kannst nicht ... nie ... du bist nicht

    glücklich ... MARTIN: Ich verlange ja nicht Gott weiß was ... Muss dir denn jemand deine

    Sicherheit garantieren, wenn du dich verliebst? Warum sollte dich jemand nur deshalb prügeln dürfen, weil du dich verliebt hast? Du bedrohst doch niemanden. Wer hat entschieden, dass das gefährlich ist?

    BAJRAM: (unzusammenhängend) Idiot! MARTIN: Und wie ich heiße ... Warum ist mein Name für andere

    verdächtig? Und warum ist er für dich und Maria nicht verdächtig? BAJRAM: Martin Magneto ... MARTIN: Du bist auch darauf hereingefallen. Du hast geglaubt, ich wäre

    Ungar. Was soll das überhaupt ... Wir sind doch keine Fremden, du und ich, Bajram. Wir reden miteinander und verstehen uns ... wir haben die Musik ... wir könnten Freunde sein ... und doch hast du mich in diese blöde Schachtel gestopft, in einen Rahmen, der so wenig mit mir zu tun hat ...

    BAJRAM: (unzusammenhängend, weinerlich) Maki, ich will dir nur eine

  • 30

    Sache sagen ... Damals, als sie euch geprügelt haben ... ich habe mich damals mit dem ganzen Haus gestritten ... mit meiner Tante, mit meiner Mutter ... Sie haben auch eine meiner Freundinnen verprügelt, diese Arschlöcher ... Sie hat nur da gestanden ... diese Säue!

    MARTIN: Entweder du prügelst oder du wirst geprügelt. Wenn du nicht prügelst, heißt das, du unterstützt sie. Du musst einen klaren Standpunkt haben ...

    BAJRAM: (unzusammenhängend) Das kann so nicht ... MARTIN: Scheint es aber doch ... (nimmt die Gitarre) BAJRAM: Ich will nicht ... (trinkt sein Bier bis zur Neige) ... ich will nicht

    spielen ... (stellt die Flasche auf den Tisch, lässt den Kopf sinken und schläft ein)

    MARTIN: (klimpert auf der Gitarre, rezitiert) Du hast beschlossen, dass es mich nicht geben darf, und gehst um jeden Preis auf mich los. Du stürmst an, lachend und weinend, vor dir räumst du jeden aus dem Weg und reißt alles nieder. (Pause) Du hast den Plan gefasst, mich um jeden Preis zu vernichten, du fi ndest einfach nicht den richtigen Weg zu mir, denn du kennst nur eingefahrene und gebahnte Wege und keinen anderen, und die sind genau genommen klein und jämmerlich, ungeachtet dessen, dass sie für dich Hochmütigen und Starken zu schwer und zu weit sind. Aber das ist nicht alles ... Es gibt Wege, die sich vor uns ohne sichtbare Wagenspur erstrecken, ohne Fahrplan, ohne Zeit und Frist. (Pause) Du glaubst, dass deine Bahn zu mir Armem sicher und ehrenvoll ist, ob sie von links kommt oder von rechts. Du täuschst dich ständig selbst damit, dass man zu mir aus ähnlichen Richtungen kommt, von Norden oder Süden. Aber das ist nicht alles ... Du kennst nicht das Gesetz der Kreuzung zwischen Licht und Dunkel. Aber das ist nicht alles ... (Pause) Du weißt nicht, dass du mein geringeres Übel unter meinen vielen großen Übeln bist. Du weißt nicht, mit wem du es zu tun hast. Du weißt nichts von meiner Wegekarte. Du weißt nicht, dass der Weg von dir zu mir nicht derselbe ist wie der Weg von mir zu dir. Du weißt nichts von meinem geheimen Reichtum, der vor deinen mächtigen Augen verborgen ist. Du weißt nicht, dass mir das Schicksal viel mehr zugemessen und gegeben hat,

  • 31

    als du glaubst. Du hast den Plan gefasst, mich um jeden Preis zu vernichten, du fi ndest einfach nicht den wahren Weg zu mir. Ich begreife dich: Du bist ein Mensch in Raum und Zeit, du lebst nur jetzt und hier und weißt nichts von dem grenzenlosen Raum der Zeit, in dem ich gegenwärtig bin, vom fernen Gestern bis zum fernen Morgen, in Gedanken an dich ... Aber das ist nicht alles ...

    Das Licht erlischt.

    F Ü N F T E S Z E N EDie Bühne ist dunkel, aus den Lautsprechern im Publikum kommt die Stimme der Fernsehsprecherin. SPRECHERIN: Liebe Zuseher, wir bedanken uns für Ihr Interesse an dieser

    großen Unterhaltungsshow. Diese Woche haben Sie mit Ihrer Stimme einen weiteren Gast aus dem Gasthaus verabschiedet. Der Große Feierabend rückt näher. Die Gäste werden immer weniger. Wer wird die Staatsbürgerschaft der EU gewinnen, und wer muss das Gasthaus wechseln? Bleiben Sie dran.

    S E C H S T E S Z E N EDer Gastraum ist aufgeräumt. Auf den Tischen nur saubere Aschenbecher. Kosta, Maria, Petra und Bajram stehen um einen Tisch herum. Verkatert. Bajram geht zum Spiegel an der Wand und besieht sich, die anderen setzen sich an den Tisch. BAJRAM: Ijao, mir platzt der Kopf ... Ich erinnere mich überhaupt nicht,

    wann ich zum Schlafen gekommen bin. Jao, aah! Ich kann mich an nichts erinnern. (zu Kosta) Hast du mich abgeschleppt?

    KOSTA: A-ha! Irgendwie habe ich dich hinbugsiert ... Petra steht auf, stellt sich hinter Maria und beginnt, ihr einen Zopf zu fl echten.BAJRAM: (sieht in den Spiegel) Katastrophe! Wie ich aussehe ... ihr hättet

    ruhig schon das Requiem feiern können. Ich sehe aus wie ’ne Leiche. KOSTA: Du wirst es überleben, keine Sorge ... BAJRAM: Jao, es summt mir in den Ohren ... Wenn das wenigstens ein

    guter Sound wäre. Klickermäßig bin ich total abgebrannt. Petralein,

  • 32

    leihst du mir einen? Für die Musicbox? PETRA: (holt einen Klicker aus der Tasche und gibt ihn ihm) Bitte! BAJRAM: Danke, meine Schöne! Du hast mir das Leben gerettet. Du

    kriegst ihn mit Zins und Zinseszins zurück. (küsst sie auf die Stirn und geht zur Musicbox)

    SPRECHERIN: Liebe Gäste, es ist Zeit für das Taschengeld! BAJRAM: Da kommen sie ja! (kehrt zum Tisch zurück) SPRECHERIN: Maria, die Schachtel mit den Klickern steht unter dem

    Tisch, an dem du sitzt! Stell’ sie auf den Tisch! Maria bückt sich und nimmt die Schachtel mit den Klickern.SPRECHERIN: Diese Woche bekommt Bajram sieben Klicker Zulage,

    denn er hat erfolgreich auf die Herausforderungen der letzten Woche reagiert!

    BAJRAM: (wird ernst. Es ist ihm unangenehm.) Bah! SPRECHERIN: Maria, verteil’ die Klicker!Bajram setzt sich an den Tisch. Maria nimmt sieben Klicker aus der Schachtel und gibt sie ihm.MARIA: (lachend) Da, für dich, du Kapitalist! BAJRAM: (traurig) Ich liebe Martin. Was war an ihm auszusetzen? Er war

    ein so nettes Kerlchen, er war hübsch, konnte erzählen, spielen, singen, lachen ... und dabei war er nicht einmal Ungar.

    MARIA: He, was fällt dir ein? Wer sagt, dass er nicht nett ist? PETRA: Du bist nicht schuld, dass er gehen musste. So haben die

    Zuseher entschieden. KOSTA: (reibt sich die Hände) Und jetzt, Marie, austeilen! Marie verteilt die Klicker.KOSTA: (klimpert mit den Klickern in der Faust) Oho-ho!BAJRAM: Was ist daran schlecht, dass wir für Klicker arbeiten? (lachend)

    Ich liebe Klicker! MARIA: (ist mit dem Austeilen fertig) So, das wär’s ... (lachend) Jetzt ist

    das Boot voll! BAJRAM: (gibt Petra mehrere Klicker) Ich zahle meine Schulden zurück.

    (Steht auf und geht zur Musicbox. Wirft ein paar Klicker ein und wählt) KOSTA: (ruft Bajram nach) He, du Verschwender! Verjux’ nicht sofort

  • 33

    wieder alles für deine blöde Musik.BAJRAM: Das ist überhaupt keine blöde Musik, wenn du es unbedingt

    wissen willst! SPRECHERIN: Liebe Gäste, der Fröhliche Schankwirt wünscht euch einen

    angenehmen Aufenthalt im Gasthaus „Unter der Kastanie“! Seid bereit für das Morgenritual!

    Die Eingangstakte der Europahymne sind zu hören. Alle erheben sich, stehen still und singen. Am lautesten und schönsten singt Petra.ALLE: Freude, schöne Götterfunken Freude schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium, Wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum! Deine Zauber binden wieder, Was die Mode streng geteilt. Alle Menschen werden Brüder, Wo dein sanfter Flügel weilt.

    Wem der große Wurf gelungen, Eines Freundes Freund zu sein, Wer ein holdes Weib errungen, Mische seinen Jubel ein! Ja, wer auch nur eine Seele Sein nennt auf dem Erdenrund! Und wer‘s nie gekonnt, der stehle Weinend sich aus diesem Bund! Als das Lied endet, setzen sich alles an den Tisch. Auf dem Tisch sind in der Zwischenzeit hohe Gläser mit verschiedenfarbigen Cocktails aufge-taucht. Nach dem Singen hat sich die Stimmung sichtlich gebessert.BAJRAM: (zu Petra) Schönste aller Frauen, ich habe noch nie zuvor gehört

    ... Du singst ja wie eine Nachtigall.KOSTA: Du hättest locker Opernsängerin werden können.PETRA: (lächelt gekünstelt und imitiert mit leichter Verbeugung eine

    Operndiva) Danke! Danke!

  • 34

    MARIA: Wo hast du so zu singen gelernt?PETRA: Ich habe sehr viel geübt ... (lächelt) hauptsächlich vor dem

    Badezimmerspiegel. MARIA: Hast du dir nie gewünscht, dass dich jemand hört?PETRA: Ich habe daran gedacht ... Ich habe eine Zeit lang im Chor

    gesungen, aber sie haben mich rausgeworfen.BAJRAM: Dich rausgeworfen mit einer solchen Stimme? Wie ist das möglich?PETRA: Es ist möglich. (Pause) Ich wollte keine Tschetnik-Lieder singen.Pause.BAJRAM: Wie seltsam ... Nehmt mich zum Beispiel, ich habe überhaupt

    kein Gehör, aber noch immer träume ich davon, eine Band zu haben, dass die Tussies auf mich stehen, dass ich populär bin, der große Manitu und so ... wie Bon Jovi! (lacht) Scherz! Scherz! Stattdessen – ich kann nicht singen, und was ich liebe, kann ich dir nicht beschreiben ... Die Leute ergreifen die Flucht, wenn ich zu singen anfange. Eine echte Katastrophe! Und du hast so eine Stimme und singst nur vor dem Spiegel ...

    PETRA: Das ist nicht einfach, weißt du. Du musst wissen, warum du singst. Du hast die Gabe von Gott bekommen und darfst damit keinen Scherz treiben. Das ist eine gefährliche Sache. Du darfst nicht mit dem Lied zum Krieg aufrufen. Verstehst du?

    BAJRAM: Sollte nicht sein ...PETRA: Wenn du singst, glauben dir dir Menschen ... auf eine seltsame

    Weise. Mit einem Lied kannst du sie lächeln lassen ... und sie zu Tränen rühren. Du kannst sie in Stimmung bringen ... oder in Wut ...

    BAJRAM: Yeaah! Attacke! (lacht)PETRA: Genau genommen kannst du mit einem Lied in ihren Rhythmus

    eindringen.BAJRAM: (lachend) Rhythmus des Herzens.PETRA: Genau! Das ist der Rhythmus des Herzens ... Wenn du den Weg zu

    jemandes Herzen fi ndest und wenn du in diesen Rhythmus kommst, bekommst du plötzlich unglaubliche Macht. Viele Menschen glauben nicht an die Macht der Musik. Und nicht nur das ... sie glauben nicht an die Macht des Bildes, der Fotografi e, des Gedichts, der Architektur ...

  • 35

    MARIA: Ich glaube, dass es in der Geschichte dennoch genügend Verbrecher gibt, die diese Macht, von der du sprichst, begriffen und an sie geglaubt haben.

    PETRA: Es scheint so zu sein ...Pause.PETRA: Eben, deshalb singe ich vor dem Spiegel. Für mich. Ich heile

    meine Seele. Ich würde gerne wieder in einem Chor singen, nur dass es einen solchen Chor nicht gibt ...

    MARIA: Was für einen?PETRA: Einer, in dem jeder, aber auch jeder, singen kann. Jeder, der will.

    Auch Bajram ...BAJRAM: (lachend) Der arme Chor!PETRA: Und dass er nur Liebeslieder im Repertoire hat ...BAJRAM: Ich muss zugeben, dass mir deine Idee gefällt. Warum bilden

    wir nicht so einen Chor?! Ich habe immer von einer Band geträumt, aber warum nicht auch einen Chor ... Was meint ihr?

    KOSTA: Ich habe einmal einen Preis beim Karaoke gewonnen. Ich habe ein gutes Rhythmusgefühl.

    PETRA: Warum nicht!KOSTA: Wer hat hier „Prost“ gesagt! (hebt das Glas)Alle heben das Glas, sie stoßen an.ALLE: Auf den Chor!MARIA: Und wie soll unser Chor heißen? The Methusalems?KOSTA: Was heißt hier Methusalems? So vergreist sind wir nun wohl doch

    nicht ...BAJRAM: Also, ich bin noch ein rechter Springinsfeld ... noch keine

    vierzig. (lacht)KOSTA: (zu Bajram) Gut, meinetwegen, ich bin auch keine vierzig, und du

    bist noch keine dreißig, Dumpfbacke ... Und was ich nicht bin, bin ich noch fünf Monate nicht.

    BAJRAM: Was fünf Monate?KOSTA: Was was? Volle vierzig, in fünf Monaten.MARIA: Kann ja gar nicht sein.BAJRAM: Du wirkst jünger.

  • 36

    KOSTA: (lachend) Das kommt daher, weil ich ein geregeltes und gesundes Leben führe!

    BAJRAM: (lachend) Das muss es sein! Auch mir gibt man oft weniger, aber im Oktober werde ich fünfunddreißig ...

    KOSTA: Ich glaube dir kein Wort.BAJRAM: Im Ernst. Alle glauben, ich lüge. Ich bin zweiundsiebzig

    geboren.MARIA: Eh, dann bist du aber ziemlich unernst für dein Alter. (drohend)

    Wann wirst du endlich mal ernst und fängst an, über deine Schritte und dein Leben mit der nötigen Reife nachzudenken?

    BAJRAM: Siehst du, gerade eben habe ich mir einen Tag pro Woche dafür reserviert. (lacht)

    MARIA: Das ist ja schlimmer, als ich gedacht habe. Da bin ich ja die jüngste ...

    BAJRAM: Und wie alt bist du, schöne Frau?MARIA: (versucht zu lächeln) Letztes Jahr habe ich die dreißig voll

    gemacht. Aber ich fühle mich wie hundertdreißig.KOSTA: Du bist doch noch jung ...MARIA: Ja, wie Tau zu Mittag.BAJRAM: (lachend) Eben, taufrisch.MARIA: So taufrisch nun auch wieder nicht. Die Jüngste!PETRA: Pardon! Ich bin zweiundzwanzig.BAJRAM: Entschuldige, ich möchte nicht unhöfl ich sein, aber du wirkst

    etwas älter ...PETRA: Was fällt dir ein? Haben wir nicht gerade an lebenden Beispielen

    festgestellt, dass das Alter nichts mit dem Aussehen zu tun hat, sondern damit, wie man sich fühlt?

    BAJRAM: Du sagst es ... Aber wieso ausgerechnet zweiundzwanzig. Ich erinnere mich nicht, wann ich zweiundzwanzig gewesen bin. Warum fühlst du dich nicht, als wärest du dreiundzwanzig? Zum Beispiel.

    PETRA: Auch darüber habe ich mir meine Gedanken gemacht. Ich glaube, ich war zweiundzwanzig, als der Krieg begann.

    KOSTA: Welcher Krieg?MARIA: Wie welcher? Na, der mit den Eskimos.

  • 37

    PETRA: Ja. Seit den Kriegsjahren ist für mich die Zeit irgendwie stehen geblieben. Andauernd habe ich mich gefühlt, als wäre ich zweiundzwan-zig. Das ist überhaupt nicht erfunden. Warum hätte ich mit dreiundzwan-zig oder vierundzwanzig schwindeln sollen, dass ich zweiundzwanzig bin? Aber so war es. Hat mich jemand gefragt, wie alt ich bin, habe ich ganz spontan gesagt – zweiundzwanzig.

    BAJRAM: Ich denke, das ist ganz ok.PETRA: Ich weiß, dass es blöd klingt, aber ich konnte mich einfach nicht

    von der Vorstellung befreien. Ich sehe in den Spiegel, ich sehe ein erstes graues Haar, Falten, aber ich bin auch weiterhin zweiundzwanzig, da bin ich mir sicher ... (Pause) In den letzten paar Jahren, seit sie davon sprechen, dass die Kriege zu Ende sind, habe ich gedacht, ich könnte vielleicht ausrechnen, wie alt ich jetzt wäre, ohne Kriege ... Ich wäre fast dreißig. Aber weder bin ich mir sicher, dass die Kriege tatsächlich zu Ende sind, noch ist es leicht, dreißig zu sein, wenn du nicht einmal ...

    BAJRAM: ... dreiundzwanzig ...PETRA: ... vierundzwanzig ...MARIA: ... fünfundzwanzig ...KOSTA: ... sechsundzwanzig ...PETRA: ... siebenundzwanzig ...BAJRAM: ... achtundzwanzig ...MARIA: ... neunundzwanzig ...PETRA: ... dreißig warst ... Ja, das sind schöne Jahre.MARIA: Schön, zum Scheißen schön. Du hast leicht reden, dass sie schön

    sind, wenn du nie dreißig warst.PETRA: Was ist an dreißig verkehrt?MARIA: Verkehrt ist ... du bist nicht wirklich alt, aber für alles ist es zu spät ... KOSTA: Was – zu spät? Willst du sagen, dass ich schon längst tot sein

    müsste?MARIA: So hab’ ich das nicht gemeint ... Ich habe an die Lebensplanung

    gedacht, Beruf, Karriere, Familie ...BAJRAM: Da irrst du, Kleines! Ich zum Beispiel – was die Lebensplanung

    angeht, plane gerade, mich zu verheiraten und mindestens sechs Kinder

  • 38

    zu haben ... in allen Farben! (lacht) Und was den Beruf betrifft – da habe ich mich noch nicht entschieden! (lacht) Das hat Zeit!

    MARIA: Ihr habt es leicht, wenn ihr euch jung fühlt. Ich habe das Gefühl, als wäre für mich alles zu spät. Ich fühle eine schreckliche Verspätung. (lächelt) Entschuldigt meine Verspätung! Aber der Zug ist abgefahren ... Fertig! Aus!

    PETRA: Eine solche Einstellung ist mir unbegreifl ich. Was für ein Zug? Abgefahren? Und wenn er abgefahren ist! Es kommt ein anderer. Ich habe seit langem beschlossen, nicht zu heiraten. Die Ehe als solche ist passé. Eine Unterschrift bedeutet gar nichts. Beziehungsweise bedeutet ... bedeutet unglaublichen Ärger mit der Bürokratie. Und wenn du an Kinder denkst ... dafür ist es auch nie zu spät. Ich hatte bisher nicht die Voraussetzungen, um Kinder zu erziehen. Wenn in der Zukunft die Voraussetzungen gegeben sein werden und es, im biologischen Sinne, zu spät sein wird – werde ich Kinder adoptieren. Und das ist es! Es ist nie zu spät!

    MARIA: Jetzt sag mir noch, dass du dich auch nicht entschieden hast, was du werden willst, wenn du erwachsen bist.

    PETRA: Das hat doch damit überhaupt nichts zu tun. Es geht doch gar nicht um eine Entscheidung. Es geht darum, dass ich werden kann, was immer ich will und wann immer ich will. Jetzt bin ich zum Beispiel Lektorin, und wenn mich morgen der Wunsch überkommt, vor den Menschen zu singen – werde ich Opernsängerin.

    MARIA: Aber das ist unmöglich. Dafür ist es zu spät.PETRA: Das versuche ich dir ja gerade zu erklären – es ist nie zu spät.

    Wenn wir unseren Chor gründen, werde ich die Solopartien singen. Würdest du mich darin unterstützen?

    MARIA: Ja, würde ich schon ...BAJRAM: Ich auch!MARIA: ... aber das wäre keine richtige Oper.PETRA: Herzchen, eine richtige Oper wird das sein, was wir hier – Bajram,

    Kosta, du und ich, dazu machen.BAJRAM: Genau! Eine Punk-Oper!PETRA: (singt mit Opernstimme) Operaoperaoperaoopera pa – a – a – a – ank!

  • 39

    Alle applaudieren.PETRA: Siehst du, dass es geht? Zu spät ist es nur, wenn du irgendeine

    galoppierende Krankheit hast und weißt, dass du in ein paar Tagen sterben wirst. Aber du bist, so viel ich sehe, gesund, geradezu und jung!

    MARIA: Aber alle erfolgreichen Menschen haben von Kindesbeinen an ...PETRA: Blödsinn! Harrison Ford war dreißig, als Georg Lukas ihn für die

    Rolle in „Krieg der Sterne“ genommen hat. Davor war er Tischler. Paul Gauguin machte ursprünglich etwas völlig anderes, er hat sein erstes Bild mit siebenundzwanzig gemalt und hatte mit dreiunddreißig seine erste Ausstellung.

    BAJRAM: Ich habe gehört, dass Madonna letztes Jahr angefangen hat, Gitarre spielen zu lernen ...

    MARIA: Aber die haben alle in ihrer Jugend etwas studiert ... Ich kann mich nicht in diesem Alter auf einer Uni einschreiben.

    PETRA: Das ist absoluter Blödsinn. Heinrich Böll hat sein Studium angefangen, als der Krieg zu Ende war, und da war er fast dreißig ... Glaubst du, das war für ihn zu spät? Dass er vielleicht ein schlechter Student war? Keine Spur. Der Mann hat den Nobelpreis gekriegt. Was ist besser als ein Seniorstudent!?

    BAJRAM: Und Bukowski hat überhaupt nicht studiert. Fast bis zu seinem Vierzigsten hat er bei der Post gearbeitet. Und er hatte fast nichts geschrieben. Und weißt du, was er zu ihnen gesagt hat, dort in der Post, als sie ihn fragten, warum er kündige?

    MARIA: Was?BAJRAM: Er sagte zu ihnen – Ich habe vor, eine Karriere zu beginnen. Was

    für ein Kaiser! Und heute wissen alle, wer Bukowski ist.KOSTA: Wer ist Bukowski?BAJRAM: Na der Bruder von Tschaikowski. (grinst)KOSTA: Meine Schwester zum Beispiel hat mit neunzehn geheiratet und

    ist mit ihrem Mann nach Deutschland gegangen. Sie hat zwei Kinder geboren. Nach zehn Jahren hat der Mann ihr einen Tritt gegeben und ihr die Kinder weggenommen. Aber sie hat sich nicht unterkriegen lassen. Sie hat an der Uni inskribiert, ein Studium absolviert und

  • 40

    unterrichtet jetzt schon Kinder in einer Schule ...MARIA: Ja, aber das ist in Deutschland ...PETRA: Nein, sondern im Kopf.SPRECHERIN: Petra!PETRA: (dreht sich zum Zuschauerraum um) Ja?SPRECHERIN: Petra, der Fröhliche Schankwirt bittet dich zum Schanktisch!PETRA: (lachend) Dass mir keiner meinen Cocktail anrührt, ich bin gleich

    wieder da!Petra geht nach rechts ab. Das Licht über dem mittleren Teil der Bühne erlischt.

    S I E B E N T E S Z E N EDas Licht über dem Schanktisch geht an. Petra sitzt auf dem einzigen Hocker. SCHANKWIRT: Hallo, meine Schöne! Du hast wohl überhaupt keine Zeit,

    mal vorbeizuschauen? PETRA: (lachend) Dies ist kein Lokal für Frauen. SCHANKWIRT: Was gibt’s Neues? Was machen die Kerle? PETRA: Welche Kerle? (lachend) Wenn wir Internet kriegen, kann vielleicht

    noch was draus werden! SCHANKWIRT: (lachend) He, du bist mir die Richtige! Vielleicht ein

    Schnäpschen? PETRA: Ach, ich weiß nicht ... SCHANKWIRT: Für die Gesundheit, einen? PETRA: (lachend) Also gut, schenk ein! SCHANKWIRT: (hüstelt) Links! PETRA: (sieht nach links über den Schanktisch, sieht das Gläschen, trinkt

    es, verzieht das Gesicht, gießt mit Wasser nach) Schnaps, Schnaps, ich lieb’ dich heiß, auch wenn du in der Kehle beißt!

    Kurze Pause. SCHANKWIRT: Könntest du etwas für mich tun? PETRA: Sag an ... SCHANKWIRT: Du kennst dieses Spiel – Assoziationen? Mit Zetteln? PETRA: Das, wo du eine Minute hast, um eine Person zu erklären?

  • 41

    SCHANKWIRT: Ja! Genau! PETRA: (lachend) Hey! Darin bin ich unübertroffen. SCHANKWIRT: Da hast du eine Schüssel, darin ist alles, was man

    braucht, Papier, Bleistifte ... Und ihr macht ein kleines Spielchen, was meinst du?

    PETRA: (sieht nach links, rutscht vom Hocker, nimmt die Schüssel und geht) Kein Problem!

    SCHANKWIRT: Eh ... und weiß du ... (hüstelt) PETRA: Jaaa? SCHANKWIRT: Es bleibt unter uns ... PETRA: (zwinkert) Wir verstehen uns. Diskretion garantiert! SCHANKWIRT: Na dann los, und schau mal wieder rein! PETRA: Wir sehen uns! (lacht) Das Licht erlischt.

    A C H T E S Z E N E Das Licht geht an im mittleren Teil der Bühne. Petra kommt von rechts. Kosta, Bajram und Maria sitzen sichtlich gut gelaunt am Tisch. Kosta und Maria rauchen. Im Hintergrund Musik. Petra setzt sich an den Tisch. BAJRAM: Die Leute haben ja keine Ahnung, was in der brasilianischen

    Indi-Szene los ist! KOSTA: Was, Indios haben Bands?BAJRAM: (lachend) Was für Indios denn? Du bist selber so ein Indio. Das

    ist die Bezeichnung für unabhängige Musik, kapiert? Für Bands, die unter unabhängigen Labels herausgeben. Von Englisch „independent“, verstehst du, „indi“?

    KOSTA: Aaa! BAJRAM: Auf den Top-Listen der Welt hast du nur Bands aus Amerika und

    England, ein paar wenige aus Europa, aber auch das ist nichts. Was für eine Szene die Schweden haben, davon hast du keine Ahnung!

    MARIA: Und woher weißt du das? BAJRAM: Ich lade mir die aus dem Internet runter. PETRA: (nachdenklich) Aus dem Internet ... BAJRAM: Aber ja doch! Ich brauche den Compi nur für Musik.

  • 42

    PETRA: Schön zu hören, dass du mit einem Computer umgehen kannst. Aber hier, sieh mal, was ich im Schanktisch gefunden habe!

    BAJRAM: Was willst du denn mit der Schüssel? Willst du für uns Teig anrühren?

    PETRA: A-ha, eine Pita! BAJRAM: (lachend) Das ist es, meine Schöne! Es ist Pita-time! PETRA: Kennt ihr das Spiel „Assoziationen“? Mit Zetteln? BAJRAM: (begeistert) Ja, super! Das kenn ich. Das haben wir immer auf

    Exkursionen gespielt. KOSTA: Wie ging das noch? BAJRAM: Das spielt man in Paaren – wer seinem Partner die Persönlich-

    keit auf seinem Zettel am schnellsten erklärt. MARIA: Was passiert mit dem? BAJRAM: Mit wem? MARIA: Der am schnellsten erklärt. PETRA: Na, der ist der Sieger. MARIA: Und warum? Warum siegt nicht der, der langsamer erklärt? PETRA: Ja, wie willst du dann spielen? Wie kann man dann um die Wette

    kämpfen? MARIA: Warum sollen wir überhaupt um die Wette kämpfen? Ich werde

    mit niemandem um die Wette kämpfen. Ich habe fürs ganze Leben genug von Wettkämpfen.

    PETRA: Aber es ist nur ein Spiel ... BAJRAM: Komm, Schönste ... keiner wird dich lynchen, wenn du verlierst. MARIA: Ich will nicht verlieren! BAJRAM: Gut, dann werde ich verlieren, das verspreche ich! Nur dass wir

    mal was spielen ... MARIA: Ich will auch nicht, dass du verlierst! BAJRAM: Aber einer muss verlieren. MARIA: Keiner muss verlieren. PETRA: Ich habe eine Idee. Wir werden so spielen – wir messen die Zeit,

    aber wir werden die Zeit nicht notieren. Das Ziel ist, so viel wie möglich zu erklären, aber es wird nur der künstlerische Eindruck gewertet. Die Jury werden die Zuschauer daheim vor ihren Fernsehschirmen sein,

  • 43

    und da wir sie nicht sehen können, werden wir nie erfahren, wer der Beste war. Geht es so, Schätzchen?

    BAJRAM: (bettelnd) Komm doch, Allerschönste ... MARIA: Also gut, ihr gebt ja doch keine Ruhe ... was sollen wir tun? Die Musik wird lauter. Petra erklärt die Spielregeln. Die anderen beginnen das Papier zu kleinen Zetteln zu zerreißen und diese zu beschreiben. Das Licht erlischt. Die Musik wird leiser.

    N E U N T E S Z E N EAlle sind auf denselben Plätzen wie in der vorangegangenen Szene, nur sind sie stärker betrunken. PETRA: (zu Bajram) Also, das heißt jetzt, du und ich sind das eine Team,

    und Maria und Kosta das andere. Wer fängt an mit dem Erklären? MARIA: Zuerst du, damit wir sehen, wie es geht. PETRA: (gibt Kosta die Stoppuhr) Du stoppst die Zeit. KOSTA: (nimmt die Stoppuhr) Fangen wir an! Bereit? Drei, vier, jetzt! PETRA: (zieht die Schüssel zu sich und entnimmt ihr rasch einen kleinen

    Zettel) Der hier, der hat ... der hier hat das Bild „Der Schrei“ gemalt, kennst du den?

    BAJRAM: (lachend) Jao! Musst du mir ausgerechnet mit Malern kommen? Ich kenne keine Maler ...

    PETRA: Tu nicht auf blöd! Der ist so bekannt. (greift sich an den Kopf und spielt den „Schrei“)

    BAJRAM: Das Bild kenne ich! Munk! Aber ich habe keine Ahnung, wie der mit Vornamen heißt ...

    PETRA: Er heißt wie ein englischer König! BAJRAM: Richard? PETRA: Nein! Wie Kardelj! BAJRAM: Edvard! Edvard Munk? PETRA: Genau! Gehen wir weiter ... (nimmt einen anderen Zettel aus der

    Schüssel) Es ist eine Disney-Figur, sie hat zwei Neffen ... BAJRAM: Donald Duck? PETRA: Der andere! Er hat zwei Neffen ... BAJRAM: Aaaa! (lachend) Micky Mouse!

  • 44

    PETRA: Genau! (nimmt einen neuen Zettel heraus) BAJRAM: Weiter, weiter, mein Engel! PETRA: Dies ist eine Forscherin ... sie heißt wie sie (sie zeigt auf Maria) ...

    die Frau von Pierre! BAJRAM: Marie ... (überlegt) Curie! Ijao, bei uns läuft’s ja klasse! Zu hören ist das Signal der Stoppuhr. KOSTA: Aus! Jetzt ich ... (übernimmt die Schüssel von Petra und gibt ihr

    die Stoppuhr. Zu Petra) Du stoppst die Zeit. PETRA: Fertig? Drei, vier, jetzt! KOSTA: (nimmt einen neuen Zettel heraus) Dies ist eine Countrysängerin.

    (markiert mit den Händen Brüste) MARIA: Dolly Parton!KOSTA: Genau! (lachend) Dies ist der bekannteste Nationalheld bei den

    Bulgaren! MARIA: Held der Bulgaren? Ich kenne keinen einzigen bulgarischen Helden ... KOSTA: Komm schon, der bekannteste, wir haben ihn erst vor ein paar

    Tagen erwähnt ... Er hatte ein Pferd.MARIA: Hatten nicht alle ein Pferd?KOSTA: Den musst du kennen ... Der ist so bekannt ...MARIA: Keine Chance ...Pause. Das Signal der Stoppuhr ertönt.PETRA: Aus! (zu Kosta) Leg’ den Zettel zurück in die Schüssel ... BAJRAM: (zu Kosta) Warte mal! Du hast doch nicht etwa an den Dings

    gedacht, an den ... PETRA: (zu Bajram) Du darfst den Namen nicht sagen. Wir legen den

    Zettel zurück in die Schüssel. BAJRAM: Ach, hör auf ... Gut, ich werde den Namen nicht sagen ... (zu

    Kosta) Hast du an den gedacht, von dem du geträumt hast, du wärest sein Pferd?

    KOSTA: Ja! BAJRAM: Ja, was für ein bulgarischer Held soll denn das sein? Kraljevi

    Marko ist ein authentisch serbischer Held! PETRA: (böse) Da hast du’s! Du hast den Namen gesagt. Jetzt müssen wir

    ihn aus dem Spiel nehmen. (sucht in der Schüssel nach dem Zettel)

  • 45

    KOSTA: Ich denke, er ist ein bulgarischer Held. Ich bin an der bulga-rischen Grenze aufgewachsen. Mir hat mein Großvater erzählt, dass in Bulgarien ein Dorf nach ihm benannt ist.

    MARIA: Vielleicht war er Mazedonier, ein direkter Nachfahre von Alexander von Mazedonien.

    KOSTA: Eh, aber dann wäre er kein Mazedonier, sondern Grieche. MARIA: Wieso dann „von Mazedonien“, aber Grieche? KOSTA: Das weiß ich auch nicht, so habe ich es gehört. BAJRAM: (lachend) Wäre ich gestern gestorben, hätte ich nie erfahren,

    dass Kraljević Marko Bulgare war. PETRA: Wisst ihr was, ich denke, dass ihr beide zwei ausgemachte Idioten

    seid, denn diesen Menschen hat es nie gegeben, und wenn es ihn gegeben hat, war er wahrscheinlich ein Verrückter und Massenmörder wie die meisten Nationalhelden. Deshalb ist es besser, wenn wir mit dem Spiel weitermachen, ist doch so, oder?

    BAJRAM: (lachend) So ist es, Kleines. Machen wir weiter! Wer ist jetzt dran? MARIA: Bajrahudin, jetzt erklärst du!BAJRAM: (nimmt die Schüssel) Drei, vier, jetzt! (zieht einen Zettel heraus)

    Aufgepasst, Hübscheste aller Hübschen, dies ist ein alter Gelehrter ... Und sie bewegt sich doch ...

    PETRA: Giordano Bruno! BAJRAM: (kratzt sich am Kopf. Lachend) Uuuh, vielleicht hat das nicht er

    gesagt ... Dieser heißt mit Vornamen wie Tesla! PETRA: Nikola? BAJRAM: Ja! Ein alter Gelehrter... PETRA: Nikola ... Nikolaus Kopernikus? BAJRAM: Genau, Kleines! Wir machen weiter! (zieht einen neuen Zettel

    heraus) Dies ist ein berühmter brasilianischer Fußballstar ... ein Wort ... es gibt einen Kaffee, der nach ihm benannt ist ...

    PETRA: Ronaldo? BAJRAM: Ein alter, Kleines, ein alter ... PETRA: Ronaldinho?BAJRAM: Ijao! Älter, älter, er spielt nicht mehr ... Wo hast du schon mal

    von Ronaldinho-Kaffee gehört?

  • 46

    MARIA: Irgendwo in Amerika gibt’s den sicher. BAJRAM: (lachend) Und woher würde ich dann von diesem Kaffee wissen? PETRA: Ach, geh, woher soll ich Fußballer kennen? Bist du noch zu

    retten? Ich habe keine Ahnung, ich weiß es wirklich nicht ... Signal von der Stoppuhr. BAJRAM: (gibt Maria die Schüssel) Wir sind draußen! MARIA: Weiter, drei, vier, jetzt! (zieht einen Zettel heraus) Kosta, dies ist

    die bekannteste amerikanische Filmschauspielerin ... (singt) Happy Birthday, Mr. President ...

    KOSTA: Marilyn Monroe! MARIA: Genau! (zieht einen Zettel) Dies ist ein Sänger ... (singt) Strangers

    in the Night ... KOSTA: Frank Sinatra. MARIA: Genau! (zieht einen neuen Zettel) Ha! Wieder dasselbe ... (singt)

    Happy Birthday, Mr. President ... KOSTA: Marilyn Monroe? PETRA: Zwei haben denselben Namen geschrieben. MARIA: (zu Petra) Bin ich weiter dran? PETRA: Ja, ja ... mach weiter ... MARIA: (zieht einen Zettel) Eh, den hier haben wir vor Kurzem erwähnt ...

    Ein Gelehrter ... berühmt ... KOSTA: Giordano Bruno? MARIA: Nein, nein! Jünger, einer von uns, ein Kroate ... Er hat den

    Nobelpreis abgelehnt. Man hört den Alarm der Stoppuhr. KOSTA: Aaah! Wie erklärst du denn? Tesla war Serbe. MARIA: Ich meinte, geboren in Kroatien – das wollte ich sagen. KOSTA: Also, das habe ich nicht gewusst. BAJRAM: Aber Tesla hat in Amerika gelebt! KOSTA: Das weiß ich. MARIA: Also, einigt euch, ist er nun Serbe, Kroate oder Amerikaner ... Ich

    habe deutlich gesagt – einer von uns. PETRA: (böse) Ihr seid unmöglich! Mit euch kann man überhaupt nicht

    spielen ...

  • 47

    Die Glocke ertönt. SPRECHERIN: Letzte Runde! Möchte einer der Gäste noch etwas trinken? BAJRAM: Nun, mein Kaiser? Wollen wir noch einen nehmen? KOSTA: Ja, was glaubst du denn! Aber ginge vielleicht ein kleines

    Wodkalein? Ich kann diese Cocktails nicht mehr sehen ... BAJRAM: Du hast Recht! (lachend) Ich möchte auch endlich mal wieder

    ein Bier. (bestellt in unbestimmte Richtung) Ein Bier, einen Wodka! Maria und Petra stehen auf. BAJRAM: Was, wo wollt ihr hin? Geht doch jetzt nicht! Bleibt noch ein

    bisschen ... Nur noch ein bisschen, ein ganz kleines bisschen, ein so winzig kleines ...

    Kosta geht zum Schanktisch, um die Getränke zu holen. MARIA: Ach, Herzchen! Wie kommt es, dass er dich plötzlich leiden kann?

    (küsst ihn auf die Stirn) Gute Nacht! PETRA: Schlaf dich mal richtig aus, morgen machen wir einen Ausfl ug. BAJRAM: Wohin denn, meine Schöne? PETRA: Wir fahren an einen wunderschönen Ort, draußen in der Natur, an

    eine Quelle. Wir werden Sandwiches mitnehmen und Kaffee in der Thermoskanne. Wir werden einen Fotoapparat dabei haben und eine Gitarre. Wir werden uns ganz toll amüsieren ... gutes Essen – und dazu echtes kühles Quellwasser. Das ist ein Wässerchen, das einem ans Herz greift. Und dann werden wir singen ... bis uns die Dunkelheit einholt. Über uns der gestirnte Himmel, und unter den Füßen das Gras, feucht vom Abendtau ... und wir gleiten und fallen übereinander in der Dunkelheit.

    BAJRAM: Wir fahren tatsächlich? Und wo ist das? PETRA: (lachend) Na ja – unter der Kastanie! BAJRAM: Aaaa! Halt du mich nur zum Narren, es wird dir noch leid tun ... Kosta kehrt mit einem Halbliterglas und einem kleineren Glas zurück. Er setzt sich an den Tisch. BAJRAM: (traurig) Alle haben mich verlassen, so ist es ... KOSTA: Red keinen Unsinn, ich bin hier! BAJRAM: Du bist der Kaiser! Es stimmt zwar, dass du manchmal weg-

    schläfst, aber du bist wenigstens immer hier. (hebt zwei Finger. Lachend) Hier!

  • 48

    KOSTA: Prost! BAJRAM: Jawohl! (hebt das Glas, stößt an, nimmt einen Strohhalm und

    trinkt den halben Inhalt auf einmal) KOSTA: (voller Bewunderung) Was für ein Zug! Hast du in deiner Jugend

    Benzin geklaut? BAJRAM: (lachend) Nie! Geklaut haben meine Kumpel aus dem Ort. Ich,

    nein ... Ich war nur ein ganz kleines Arschloch. (wichtig) Ich habe die höhere Schule besucht, he!

    KOSTA: Welche Schule? BAJRAM: (platzt mit einem Lacher heraus) Die Höhere Touristische! KOSTA: (lachend) Die Höhere Touristische! Kosta und Bajram lachen schallend. KOSTA: Und auf was hast du dich spezialisiert, auf Dorftourismus? BAJRAM: Bist du verrückt? Im ganzen Leben war ich noch nicht auf dem

    Dorf. Ein einziges Mal habe ich eine lebendige Kuh gesehen. (lacht) Ich hab’ mir in die Hosen gemacht!

    KOSTA: Und hast du diese Höhere abgeschlossen? BAJRAM: (ironisch) A-ha! Da fehlt nur noch wenig ... Eingeschrieben habe

    ich mich vor ... Jetzt werde ich es dir sagen. Vor genau ... fünf, zehn, fünfzehn ... Vor sechzehn Jahren!

    KOSTA: Und wie lange dauert sie? BAJRAM: Na ja, zwei. Beide brechen in schallendes Gelächter aus. Beruhigen sich wieder. Kurze Pause. BAJRAM: Die Frauen haben uns verlassen. KOSTA: Und wenn schon! Was soll’s? BAJRAM: Ich liebe die Frauen. KOSTA: Ich verstehe nicht, wie jemand behaupten kann, dass es Kraljevi

    Marko nie gegeben hat. BAJRAM: Wer kann das wissen ... (lachend) Vielleicht wird jemand in

    fünfhundert Jahren den heiligen Bajram Superengel feiern und nicht wissen, ob es mich tatsächlich gegeben hat ... (wird ernst) Gibt es mich, Kosta? (weinerlich) Kole, gibt es mich?

    KOSTA: Natürlich gibt es dich! Alles, was im Fernsehen ist, gibt es ...

  • 49

    Wieder lachen sie. Kosta steht auf. KOSTA: Komm, Superengel, ab in den Orkus! Bajram steht auf, umarmt Kosta, gemeinsam gehen sie Richtung Garten. Das Licht erlischt.

    Z E H N T E S Z E N E Die Bühne ist dunkel. Aus den Lautsprechern im Publikum kommt die Stimme der Fernsehsprecherin. SPRECHERIN: Liebe Zuseher, nur noch zwei Wochen bis zum Großen

    Feierabend! Wenn Sie sich bisher noch nicht beteiligt haben, haben Sie noch immer die Gelegenheit, es jetzt zu tun. Werden auch Sie Gast des Gasthauses „Unter der Kastanie“ mit Hilfe Ihres Fernsehgerätes zu Hause. Und vergessen Sie nicht – wen Sie in Ihrem Lieblingsgasthaus sehen werden, hängt nur von Ihnen ab! Nur noch vierzehn Tage. Wer verlässt es als Nächster? Sie entscheiden! Bis zum Großen Feierabend kennt das Gasthaus keine Sperrstunde! Sehen Sie Ihr Lieblingspro-gramm! Bleiben Sie dran!

    E L F T E S Z E N EDer mittlere Teil der Bühne ist beleuchtet. Am Tisch schläft Kosta, Bajram und Maria sitzen. Vor ihnen stehen drei volle Biergläser.MARIA: Jetzt hat das Buch nur noch drei Buchstaben. BAJRAM: Zweieinhalb ... Der hier ist ständig am Schlafen. Den können wir

    nicht als Ganzen rechnen. (denkt nach, lachend) Andererseits bist du so gut wie anderthalb. Also sind es doch drei ... Du hast Recht!

    MARIA: (nachdenklich) So habe ich mir das nicht vorgestellt. BAJRAM: Ich auch nicht. MARIA: (zündet sich eine Zigarette an) Warum fi nden die Leute Kosta

    interessanter als Petra? BAJRAM: Wirklich! Sieh dir nur an, nach was der aussieht ... ein richtiges

    Walross! Und dazu schläft er ununterbrochen, fast die ganze Zeit. Wer weiß, was für Leute diese Sendung sehen. (lachend) Vielleicht sind das alles Homos, und Kosta gefällt ihnen.

    MARIA: (lächelt) Herzchen, auch du bist hier ...

  • 50

    BAJRAM: (lachend) Du sagst es! MARIA: Aber warum bin ich noch immer hier? Das ist mir nicht klar. BAJRAM: Vielleicht hast du irgendwo einen heimlichen Verehrer, der sich

    die Stimmen für dich Millionen kosten lässt. MARIA: (ironisch) A-ha! Hundertprozentig. Und wenn ich hier rauskomme,

    tranchiert er mich, macht Seife aus mir und holt sich so sein Geld zurück. (lacht)

    Bajram lacht schallend. MARIA: (lachend) Aus mir könnte er so viel Seife machen, wie er will. BAJRAM: (lachend) Ijao ... Prost! KOSTA: (erwacht, hebt das Glas) Prost! MARIA: (hebt ihr Glas) Prost! BAJRAM: Ave, Konstantin! KOSTA: Du bist dauernd am Fantasieren. BAJRAM: (bettelnd) Kole, sag schon, hast du etwas Komisches geträumt? Kosta kraust die Stirn und zündet sich eine Zigarette an. BAJRAM: (bettelnd) Etwas Schönes? KOSTA: (reckt sich) Ich habe geträumt, ich wäre in London. BAJRAM: (neugierig) Und? Und? KOSTA: Ich gehe so durch die Straßen, als plötzlich – eine Demonstration.

    Die Leute schreien, überall Ruinen, etwas brennt, irgendwelche Explosionen ...

    BAJRAM: Ach, das war bestimmt nicht London. Vielleicht hast du von Bagdad geträumt ...

    KOSTA: London, wenn ich es dir sage. Ich habe Tony Blair getroffen. Was soll der in Bagdad?

    MARIA: Wie, was? (lachend) Na, der macht da einen Freundschaftsbesuch. KOSTA: (irritiert) Also, jetzt weiß ich nicht ... Du weißt, wie das in den

    Träumen ist, du weißt es einfach. Ich wusste, dass es London ist, und das Herz hat es mir abgeschnürt, ich habe nicht gewusst, dass es so sein würde.

    BAJRAM: Und was sagt Tony? KOSTA: Sagt er zu mir – lieber Konstantin, es ist mir eine Ehre, dass ich

    dich vor den Bürgern Großbritanniens in der Westlichen Demokratie

  • 51

    willkommen heißen darf. Ich denk mir, was muss ich betrunken sein, dass ich den Großen Feierabend verschlafen habe. Ich habe die Staatsbürgerschaft gekriegt, aber ich weiß nicht, was für Papiere mir die aus dem Fröhlichen Schankhaus mitgegeben haben, ich habe sie nicht gesehen. Was ist, wenn es ein Schengen-Visum ist? Gilt das überhaupt in England? Aber ich trau’ mich nicht, ihn zu fragen. Ich denke mir, mit dem darf ich’s mir nicht verscherzen. (Pause) Da überreicht er mir so ein gerahmtes Diplom.

    MARIA: (zündet sich eine Zigarette an) Und was war dann? KOSTA: Ich habe zu ihm gesagt: „Ich bedanke mich im Namen aller

    Einwohner von Groß-Klein und werde meinen Aufenthalt sicher genießen.“ BAJRAM: Warum jetzt Groß-Klein? KOSTA: Na, da bin ich geboren, in Groß-Klein. Aber warum ich das so

    gesagt habe, keine Ahnung. Wahrscheinlich, um damit anzugeben, dass ich auch etwas Großes habe.

    BAJRAM: (lachend) So ist es richtig, Kaiser! Du lässt dich doch nicht von so einem nachgemachten Labouristen ins Bockshorn jagen! Und was war dann?

    KOSTA: Dann ist etwas explodiert, direkt neben uns, und alle sind in alle Richtungen gerannt.

    MARIA: Auch Tony? KOSTA: (lachend) Er als Erster! Gerannt wie ein Hase! (runzelt die Stirn)

    Nur, in dem Gedränge habe ich mein Diplom verloren. Das ärgert mich! BAJRAM: Vielleicht war das deine Staatsbürgerschaft. Vielleicht sieht die

    so aus ... wie ein gerahmtes Bild. MARIA: Wie stellst du dir das vor? Dass du das gerahmte Bild überall mit

    dir herumträgst? BAJRAM: (denkt nach) Na ja, im Plastikbeutel! (lacht) Und was war dann? KOSTA: Nichts. Dann bin ich aufgewacht. Ehrlich gesagt, bin ich richtig

    froh, dass ich euch hier sehe. (hebt das Glas) Also, Prost! MARIA UND BAJRAM: Prost! Sie trinken einen Schluck Bier. Kurze Pause. BAJRAM: Hör zu, Cholera, eines will