Erick Wolf.rechtswirklichkeit Montaigne

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RECHTSWIRKLICHKEIT UND JUSTIZKRITIK BEI MONTAIGNE ERIK WOLF Der Name 1 des langjährigen Parlamentsrats und für zwei Amtsperioden gewählten Maire von Bordeaux, dessen persönlich-politisches Problem der friedliche Ausgleich war: einerseits zwischen Stadtfreiheit und Königsge- walt, andererseits zwischen loyal-konservativer Treue eines „chevalier du Roy" und seigneuraler Ungebundenheit des Grundherrn im Périgord — ein Problem, das in seinem Amtsnachfolger Montesquieu zur Zeit des zen- tralistischcn Absolutismus sich wiederholte —, hat immer noch keine Be- achtung bei Historikern des politischen und sozialen Denkens gefunden. Vergeblich forscht man nach einer Erwähnung, geschweige denn einer Interpretation seiner „Essais" 2 in Lehrbüchern oder Monographien der Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, worin doch — nach Eras- mus, Morus, Machiavelli: den Frühhumanisten — diesem klar und weit blickenden französischen Autor neben den Mitträgern des „Essor de la Philosophie Politique du seizième siècle" 3 : La Boétie und Bodin, sein Platz zukäme. Zwar ästhetisch geschätzt als eines der frühesten Zeugnisse großen europäischen Literatentums 4 , gilt Montaignes „Spielen des Geistes" (das 1 Zum Biographischen: Paul Bonnefon, Montaigne et ses amis, 2 vol., Paris 1928 2 . — Maurice Rat, „Introduction" zur Montaigneausgabe, t. I, S. I—XLII; nebst „Notice bibliographique", S. XLIII—XLIX, Paris 1962. 2 Zitiert werden im folgenden die „Essais" nach der Ausgabe von Maurice Rat (Edi- tion Garnier Frères, 2 torn., Paris 1962), deren Text mit dem maßgebenden „Exemplaire de Bordeaux" übereinstimmt. 3 Sogar Pierre Mesnard, L'Essor de la Philosophie Politique au seizième siècle, Paris 1927 (2. ed., Paris 1936), erwähnt ihn nur im Zusammenhang mit La Boétie, S. 388 bis 392. 4 Zum gcistesgeschichtlichen Hintergrund: Hugo Friedrich, Montaigne, Bern 1949, und die älteren Studien von Fortunat Strowski, Montaigne, Paris 1906; Jean Plattard,

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R E C H T S W I R K L I C H K E I T U N D J U S T I Z K R I T I K B E I M O N T A I G N E

E R I K W O L F

Der Name1 des langjährigen Parlamentsrats und für zwei Amtsperioden gewählten Maire von Bordeaux, dessen persönlich-politisches Problem der friedliche Ausgleich war: einerseits zwischen Stadtfreiheit und Königsge-walt, andererseits zwischen loyal-konservativer Treue eines „chevalier du Roy" und seigneuraler Ungebundenheit des Grundherrn im Périgord — ein Problem, das in seinem Amtsnachfolger Montesquieu zur Zeit des zen-tralistischcn Absolutismus sich wiederholte —, hat immer noch keine Be-achtung bei Historikern des politischen und sozialen Denkens gefunden. Vergeblich forscht man nach einer Erwähnung, geschweige denn einer Interpretation seiner „Essais"2 in Lehrbüchern oder Monographien der Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, worin doch — nach Eras-mus, Morus, Machiavelli: den Frühhumanisten — diesem klar und weit blickenden französischen Autor neben den Mitträgern des „Essor de la Philosophie Politique du seizième siècle"3: La Boétie und Bodin, sein Platz zukäme.

Zwar ästhetisch geschätzt als eines der frühesten Zeugnisse großen europäischen Literatentums4, gilt Montaignes „Spielen des Geistes" (das

1 Zum Biographischen: Paul Bonnefon, Montaigne et ses amis, 2 vol., Paris 19282. —

Maurice Rat, „Introduct ion" zur Montaigneausgabe, t. I, S. I — X L I I ; nebst „Notice

bibliographique", S. X L I I I — X L I X , Paris 1962. 2 Zitiert werden im folgenden die „Essais" nach der Ausgabe von Maurice Rat (Edi-

tion Garnier Frères, 2 torn., Paris 1962), deren Text mit dem maßgebenden „Exemplaire

de Bordeaux" übereinstimmt. 3 Sogar Pierre Mesnard, L'Essor de la Philosophie Polit ique au seizième siècle, Paris

1927 (2. ed., Paris 1936), erwähnt ihn nur im Zusammenhang mit La Boétie, S. 388

bis 392. 4 Zum gcistesgeschichtlichen Hin te rg rund : Hugo Friedrich, Montaigne, Bern 1949,

und die älteren Studien von Fortunat Strowski, Montaigne, Paris 1906; Jean Plattard,

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! Erik Wolf

on der ernste Malebranche getadelt hat) vielen seither für sachlich /erbindlich: intellektuell verpflichte es nicht, weil ihm die Zuversicht losophischer Systematik fehle; ethisch nicht, weil es ihm an der Autori-pädagogischer Homiletik mangele. Wer wird deshalb in dem bewußt >chalant und behutsam unpedantisch plaudernden, begüterten Schloß-rn, der mit Dienerschaft zu Hofe ritt oder mit einer Suite junger Stan-genossen ausländische Badeorte besuchte, dabei allabendlich dem Pri-sekretär sein Reisetagebuch in die Feder diktierend, einen Gesellschafls-fiker suchen? Wer wird in dem — achtunddreißigjährig — seine Bü-rstube im Burgturm von Montaigne zur selten mehr verlassenen re-ite Wählenden, mit sokratischer Ironie sich und die Umwelt auf ihr rklichsein hin Befragenden, persönliche Freiheit über alles Liebenden, ι auch im Amt und vor dem König seine Unabhängigkeit Wahrenden, nie vergessen ließ, daß „le Maire et Montaigne ont toujours esté

χ"5, einen Sozialtheoretiker finden?

Jnd doch zeigen seine „Essais" wie sein „Journal de voyage"0 an vielen len, deutlich und bis ins einzelne, nicht nur den auf Beachtung und Er-ung öffentlicher und privater Rechtspflichten jederzeit sorglich be-iten Mann der Ordnung und Rechtlichkeit — „j'ayme l'ordre et la été"7 sagte er von sich selbst —; sie enthalten auch eigenständige Ge-ken zur Sozialverfassung und treffende Urteile über die Verhältnisse Recht, Staat, Gesellschaft. Oft erscheinen sie überraschend unzeitge-

Ï, ja modern.

I.

ι konventioneller, geisiesgeschichtlicher Beurteilung gilt Montaigne .Wegbereiter der französischen Aufklärung"; es heißt: sein „Skeptizis-" sei die Vorstufe für den „Logizismus" von Descartes und den „Ra-alismus" Voltaires gewesen. Siz/geschichtlich erscheint das Werk des mo unius libri" — die 1580 zuerst gedruckten, 1582/88 (mit Zu-en) neu aufgelegten „Essais" — am Anfang jener einzigartigen Reihe zösischer Schriftsteller, die traditionell „Les Moralistes" genannt wer-„Moralisten" waren sie freilich weder im humanistisch-sozialethi-

n noch im politisch-pädagogischen Sinn. Sie sind es vielmehr in einem

aigne, l 'homme et l 'oeuvre, Paris 1938; Pierre Villey, Les sources et l 'évolution des

s de Montaigne, 2 vol., Paris 19332. 5 1. I I I , ch. X, p. 457.

Journal de Voyage en Italie par la Suisse et l 'Allemagne", 1580/81. Zitiert wird

.usgabe von Maurice Rat (Edition Garnier Frères, Paris 1955).

. III, ch. IX, p. 392.

Rechtswirklichkeit und Kritik hei Montage 633

anthropologisch-soziologischen Verständnis: Kenner und Kritiker der „mores", der Sitten und Bräuche. Das spezifisch Humane, das Montaigne in „l'usage", dem Herkommen, und in „la coustume", der Gewohnheit, entdeckt hat, ist das gleiche „Menschentum", wie es später in Bacons Essays, Gracians Handorakel und noch in Samuel Johnsons Gesprächen sowie in Lichtenbergs Aphorismen begegnet. Der populären Lehrschrift-stellerei und der pedantischen Weise geistiger Volkserziehung fremd, be-hauptet sich die Zeitkritik dieser Denker — es waren eminent „freie Geister", doch ohne jene aufdringlich sich inszenierende „Freigeisterei" der Aufklärung im engeren Sinn — gegenüber der schulmeisterlichen Dürf-tigkeit vieler Schriften europäischer Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts in einem höheren Rang rationaler Intelligenz, nationaler Originalität und spiritueller Substanz. Vom lateinischen „mores" her klingt in „moeurs" der strenge Ernst nicht nur äußerlich unverbrüchlicher, sondern auch inner-lich verpflichtender Lebensordnung8 in einem heute verblaßten, ursprüng-lichen Sinn des Sittlichen nach; aber es tönt auch hindurch die heitere Fülle gewachsener, zweckfreier Daseinsordnung „guter Sitten", die sich in ihrer Grenze halten, sie aber auch gefällig umgehen. „Brauchtum" im folklo-ristischen Sinn ist zu historisch, „Herkommen" im soziologischen Ver-ständnis zu begrifflich gedacht, um das Ganze ahnen zu lassen, was in diesem „Schildern" („réciter", sagt Montaigne9) von moeurs vorgestellt war. Noch Flaubert war sich dieser Tradition bewußt, als er seinem Ro-man „Madame Bovary", der ersten „realistischen Erzählung" der Neu-zeit, den Untertitel „Moeurs de Province" gab.

In dieser Eigenart sind die „Moralistes" von Montaigne bis Montes-quieu für die Geschichte der Sozialtheorie und wissenschaftlichen Politik von Bedeutung: unbefangene Initiatoren einer soziologisch-empirischen Rechtsauffassung, sind sie ebenso unerschrockene, sachkundige Berichter-statter über die Rechtswirklichkeit ihrer Zeit wie urteilsfähige Kritiker der Justiz.

Montaigne erscheint unter diesem Aspekt als Begründer einer sozialen Anthropologie: der aus Beobachtung und Erfahrung erwachsenen „Men-schenkunde" ; er will damit nicht Menschen bessern oder erziehen, sondern entdecken und verstehen, was und wie der Mensch wirklich ist. „Les

8 Bei Montaigne selbst im Sinn von „caractère", „conduite", „manière de v ivre" gebraucht (Pierre Villey, Lexique de la Langue des Essais, Vol. V der „Edit ion Munici-pale", Bordeaux 1933, p. 422/23).

• Sowohl im Sinn von „décrire" als audi von „raconter" und „rappor te r" (Villey, 1. c. p. 568/69).

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autres forment l'homme; je le récite"10 — dieses vielzitierte Wort kenn-zeichnet Montaignes Verständnis vom Menschen auch in seinem sozialen Dasein. „Der Mensch im Recht" wird bei ihm vom traditionellen Lehr-gegenstand der Wissenschaft zum Objekt ganz neuer, persönlicher Er-kenntnis.

II.

So ursprünglich begabt und von Autoritäten unabhängig Montaigne war, so stark individuell geprägt und auf sich zurückgezogen11 er sein Le-ben führte, überzeugt, „es sei nötig, andern beizustehen, aber Hingebung schulde jeder nur seinem Selbst"12 — auch er ist von seiner Umwelt be-dingt und von ihrer „usage" mitbestimmt worden.

1. Welthistorisch war es die Situation des französischen ancien regime in seiner Auseinandersetzung mit der Hugenottenbewegung. Nirgends „stei-gerte sich der große Entscheidungskampf der Konfessionen zu solcher dra-matischen Wucht wie in Frankreich"13 seit Heinrich II. (1547/59) und der Regentschaft Katharinas v. Medici (1560/63). Ihre äußeren Zeichen: die Adelsrevolte von 1560, die Hugenottenmassacres von 1562 und 1572, die Ermordung Heinrichs III. (1589) fielen in Montaignes Lebenszeit. Er, der Sohn des Michel Eyquem, écuyer, war gleichsam prädestiniert zum loy-alen, königstreuen Chevalier du Roy, hielt aber fest an seiner persönlichen Unabhängigkeit14 und gab viel auf sein halb stadtpatrizisches, halb land-adliges Prestige. Politisch wie kirchlich streng loyal, verurteilte er doch freimütig die an den Peruanern15 verübten Greuel ebenso wie die Grau-

l n 1. I I I , ch. I I , p. 222. 1 1 Man f and im Schloß eine K u p f e r p l a t t e , auf deren Vordersei te Monta igne seinen

N a m e n und sein Wappen hat e ingraben lassen, auf der Rückseite eine Waage und das

griechische Wor t „έπέχω" (ich halte mich zurück). 12 „ . . . il se f au t prester à a u t r u y et ne se donner qu 'à soy-mesme" (1. I I I , ch. X,

p. 447). Vgl. „ J ' ay peu me mesler des charges publiques sans me despar t i r de moy de la

largeur d 'une ongle, et me donner à au t ruy sans m'oster à m o y " (1. I I I , ch. X, p. 452

und 1. I I I , ch. X I I , p. 486). 13 Gerhard Ritter, Die Neuges ta l tung Europas im 16. J a h r h u n d e r t , Berlin 1950, S. 236. 14 „ . . . . me desplaist d 'estre hors la protect ion des loix et soubs aut re sauvegarde

que la leur . . . Or je tiens qu ' i l f a u t v ivre par droict e t pa r auctori té, non pa r recom-

pence ny pa r grace." (1. I I I , ch. I X , p. 405) 15 Gestütz t auf De Gomara, His to i re générale des Indes, V 7, berichtet er von der

Mißhand lung des Königs der Pe ruane r , A t t a b a l i p a : „ . . . on le condemna à estre p e n d u

et estranglé publ iquement , luy a y a n t faict racheter le tourment d 'estre bruslé tout vif

pa r le baptesme qu 'on luy donna au supplice mesme." (1. I I I , ch. VI , p. 345)

Rechtswirklichkeit und Justizkritik bei Montaigne 635

samkeit der zeitgenössischen guerres civiles16. Er teilte diesen Absdieu mit seinem Landsmann und Zeitgenossen Bodin17, wie auch die Sehnsucht nach konfessionellem und ständischem Frieden. Fremd aber wie die totale religiöse Toleranz Bodins blieb ihm das radikale politische Pathos seines Jugendfreundes Etienne de La Boétie (1530—1563), in dessen hinterlas-sener, von Montaigne edierter Schrift „Discours de la servitude volon-taire".

2. Geistesgeschichtlich beeinflußt hat ihn, stärker als die formalkritische literarische Zielsetzung der „Pléiade", die Lektüre von Rabalais, dessen gesellschafts- und kirchenkritische Tendenz bei Montaigne freilich dialek-tisch gemildert erscheint. Sein ganz von tätigem Erfahren, dem „Proze-dieren", nicht vom beschaulichen Erkennen, dem „Philosophieren"18, ge-formtes politisches Denken läßt keine tiefere Einwirkung von Bodins „Six Livres de la République" spüren; weit mehr den Eindruck, den die „Politica" des Justus Lipsius19 auf ihn gemacht hat. Er teilte aber Bodins Abneigung gegen Machiavelli20 und kritisierte, wie dieser, die humani-stische Jurisprudenz. Sein vornehmlich von lateinischer Literatur geprägter Humanismus hatte keine gelehrten Ambitionen; ihn zog an Büchern und Personen nur das „humanuni" an. Fremd jeder schulmeisterlich-pedanti-schen Imitation von Autoren der römischen Spätstoa — er liebte besonders Seneca und Plutarch — übernahm er in freier Umformung ihre Lebens-maximen.

3. Montaignes Religiosität verblieb im Rahmen der katholisch-kirch-lichen Tradition, theologisch abhängig von der spätscholastischen Literatur; die Reformatoren, obwohl er sich um rechte Erfassung ihrer Lehrunter-schiede bemüht hat, lehnte er ab21. Wie er die Römische Kirche als be-stehende Institution bejahte, so verneinte er die Reformation als umstür-zende Revolution; die Entscheidung zwischen den Konfessionen war für

16 „ . . . une si horr ib le co r rup t ion de meurs que les guerres civiles a p p o r t e n t . . . " (1. I,

ch. X X I I I , p . 127); „ . . . e x e m p l e s incroyables (de la c ruauté) p a r la licence de nos

guerres civiles . . . " (1. I I , ch. X I , p. 475; 1. I I , ch. X X X I I , p. 130). 1 7 „Jean Bodin est un bon autheur de nostre temps, et accompagné de beaucoup plus

de jugement que la tourbe des escrivailleurs de son siecle" (1. I I , ch. X X X I I , p. 128). 1 8 Die Formul ie rung dieser in Montaigne ve rkörpe r t en , existentiellen Dia lek t ik ve r -

danke ich Karl Alfred Hall, Die Lehre vom Corpus delicti, S tu t tgar t 1933, S. 164: „Es

gil t nicht zu phi losophieren. Es gilt zu prozedie ren ." 19 „Lipsius en ce docte et labor ieux tissu de ses Politiques" (1. I, ch. X X V I , p. 158);

„Justus Lipsius, le plus sçavant h o m m e qu i nous reste, d ' u n espri t t r ès -po ly et jud i -

cieux . . . " (1. II , ch. X I I , p . 650). 20 Zu den „Discors i" : 1. I I , ch. X V I I , p. 58; zur „Ar te délia g u e r r a " : 1. I I , ch. X X X I V ,

p . 142. 21 1. I I I , ch. X I I , p. 492.

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ihn soziologisch-existentiell: politisch und rechtlich, aber nicht theolo-gisch-existentiell: bekenntnis- und gewissensmäßig, bedingt. Den refor-matorischen Bruch mit der Autorität hat er „weit mehr im Hinblick auf die sozialen und politischen als eigentlich kirchlichen Folgen"22 aufgefaßt, aber auch nicht ohne religiöse Motivation. Mag er nach Pascals strengem, vielleicht etwas zu engem Urteil kein wahrhaft bekennender katholischer Christ gewesen sein, so finden sich doch in ihm auch Züge einer echten „devotio moderna"23; er hat sich selber den „von Natur Schwachen" zuge-zählt, die auf Gnade hoffen24. In den „Essais" spricht sich keine religiöse Gleichgültigkeit, wohl aber theologisches désintéressement deutlich aus. Sein Grund ist ein existentieller, sich auf Vernunft wie auf Glauben er-streckender Skeptizismus, der, angestrengt forschend, die eigene religiöse Gestimmtheit ausspricht. Es ist eine „Weltfrömmigkeit" liebevollen Be-obachtens und brüderlichen Geltenlassens der Mitmenschen und Mitkrea-turen. Sie mit Sainte-Beuve „modernistisch zu nennen heißt ihr Wesen verkennen; sie gleicht eher der „religio naturalis" Bodins. Noch eins bleibt hier zu bedenken. Montaigne hat, dreißigjährig, die 1484 publizierte „Theologia naturalis" des Sebundus ins Französische übersetzt und als Zeugnis der pietas im zwiefachen Sinn seinem Vater gewidmet. Er hat freilich später zu ihr, in seiner „Apologie de Raymond Sebond"25, eine persönliche, freie Stellungnahme gefunden; aber das gründliche Ernst-nehmen dieser mittelmäßigen Theologenschrift weist auf ein in der Sache engagiertes Gemüt. Welcher ganz Selbstgewisse würde auch so oft die Not des Zweifels bezeugt haben, wie es Montaigne in seinen „Essais" tat?

III.

Montaigne ist von Beruf Jurist gewesen; zwar nicht dauernd im Amt, war er doch einige Jahre verantwortlich tätiger Richter und Maire.

Dem verständigen Knaben, der nach dem Willen des Vaters vom zwei-ten Lebensjahr an als erste Sprache Latein von einem deutschen Hof-meister, namens Horotanus, der bei seiner Anstellung noch nicht Franzö-sisch sprach, gründlich gelernt hatte26, fiel es nicht schwer, das „Collège de

22 Hugo Friedrich, aaO., S. 146. 23 „Quant à moy . . . je puis supplier Dieu pour mon entiere reformation et pour l 'ex-

cuse de ma foiblesse naturelle" (1. I I I , ch. II, p. 232). 24 Dazu Hugo Friedrich, aaO., S. 111, 3 8 7, 43 4 . 25 1. II, ch. XI I , p. 479—681. 2e „ . . . il me donna en charge à un Alleman . . . du tout ignorant de nostre langue et

très-bien versé en la Latine." (1. I, ch. X X V I , p. 187)

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Guyenne", ein bordaleser Gymnasium, zu absolvieren, und es war ihm leicht, den Vorlesungen an den Juristenfakultäten zu Périgueux und Toulouse zu folgen. Tieferen Eindruck hat anscheinend kein akademisdier Rechtslehrer auf ihn gemacht.

Von seinem 21. bis zum 24. Lebensjahr war er „Conseiller à la Court des Aides" in Périgueux, seit 1537 „Conseiller du Roy en sa Court de Parlement" in Bordeaux. Eine insgesamt fünfzehnjährige praktische Tä-tigkeit: auf Amtsreisen in der Provinz Guyenne, auch an den Hof zu Paris, in diplomatischen Geschäften Heinrichs von Navarra, des späteren Königs Heinrich IV., auf einer Kurreise durch elsässische und schweizerische Bade-orte, über Schwaben, Bayern, Tirol, Oberitalien nach Rom und zurück über die Bäder von Lucca, brachte ihm manche Erfahrung aus dem Rechts-und Staatsleben fremder Länder hinzu. Vier Jahre vor seinem Tod (1588) nahm er noch an der ersten Ständeversammlung in Blois teil.

Was er in seiner Bibliothek an juristischen und staatstheoretischen Büchern, deren meiste er wohl von La Boétie geerbt hat, besaß, ist bis auf drei Schriften von geringer Bedeutung27 nicht bekannt; doch wird ver-mutet, daß der Autor des „Discours de la servitude volontaire", einer „cri-tique de la tyrannie", eines „modèle d'éloquence politique" aus „inspira-tion humaniste"28, in Orléans Schüler des reformierten Juristen Anne Du Bourg (1521—1559), seinem Freund auch Werke der bekannten Huma-nistenjuristen hinterlassen hat; zitiert hat Montaigne freilich keinen von ihnen29.

Wichtig für die Ausbildung seines Rechtsdenkens waren auch zeitty-pische persönliche Erlebnisse unrechter Gewalt, wie seine Beraubung durch Banditen im Walde von Villebois bei Orléans30; seine Verhaftung seitens radikaler Anhänger der „Ligue" und seine Freilassung noch am gleichen Tag, erwirkt von der Regentin31; seine Bedrohung im eigenen Schloß durch einen benachbarten „gentilhomme", der mit listiger Täuschung eine große Schar Bewaffneter in Montaigne einschmuggelte, um den Eigentümer heim-

27 Valentini Forsteri jureconsulti, De historia Juris civilis romani libri très, Basileae

1565. — Masvarii jurisconsulte, Galli practica forensis, Parisiis 1555. — Ioannis Fer-

rarii Montant, De Republica bene instituenda, Basileae 1556. (Vgl. M. Rat, 1. c., t. II ,

p. 623/25) 28 Pierre Mesnard, 1. c. p. 389, 404. 2,1 Die beiden Zi ta te : „Cocceius N e r v a . . . ce grand Jurisconsulte" (1. II , ch. I I I ,

p. 393) und „Nous doubtions sur Ulp ian" (1. I I I , ch. X I I I , p. 518) haben nur anekdo-

tisch-exemplificative Bedeutung. 30 1. III , di. XI I , p. 513/14. Vgl. Maurice Rat, 1. c., t. I, Jntrod. p. X I , aber audi t. II,

p. 675! 31 Maurice Rat, 1. c., Introd. , p. XI .

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tückisch zu überfallen32; die unterlassene Hilfeleistung seiner Bauern für einen in mörderischer Absicht im Montaigner Wald tödlich Verletzten, aus Furcht, als Täter verdächtigt und von einem leichtfertig urteilenden Gericht unschuldig bestraft zu werden33.

Gleichmütig und sachlich hat sich Montaigne als Subjekt wie als Ob-jekt der Rechtsordnung und Sozialverfassung seiner Zeit verhalten, stets auf Ergründung der Bedingtheit jeder Rechtslage und ihrer empirischen Konsequenzen bedacht. Gelassen nahm er die gegebene Rechtswirklichkeit mit ihren groben Mißständen als Ganzes hin, weil ihm schlechte Ordnung immer noch besser schien als gar keine. Sein Werk spiegelt die Freude, die der Richter, Maire und politicien Montaigne am Erhalten und Sichern guter Ordnung im einzelnen gehabt hat; der sich nicht scheute, faktische Willkür und Unordnung scharf zu kritisieren.

Auch in diesem Lebensbezirk wird in seinem Verhalten eine reich ange-legte, vielseitig ausgebildete Persönlichkeit erkennbar. Erfüllt von starker Selbstachtung und geleitet von nüchterner Gewissenhaftigkeit, war er zu-gleich zweifelnder Mensch einer Ubergangszeit voller Umbrüche und un-sicher gewordener Lebensordnung. Im Rechts- und Staatsdenken Mon-taignes zeigt sich das „être ondoyant et divers", wie er sich selbst charak-terisiert hat. In seinen rechtspolitischen und justizkritischen Aussagen lebt gleichzeitig der Geist eines reichen Großbürgers, der die Sicherheit von Eigentum und Verträgen hochschätzt, und eines kleinen Chevaliers, der ;ich auf „honneur" hin zu wagen bereit ist. Der gascognische Volksfreund ind französische Patriot fühlt gleichzeitig als Kosmopolit, dem dasBürger--echt Roms34 zum teuer erkauften Symbol wird. Durfte ein solcher Mensch wirklich glauben, er wisse um das, was in Wahrheit recht ist? Sein Wahl-;pruch, zusammen mit einer Waage, dem Sinnbild der Gerechtigkeit, gibt darauf Antwort. Er lautet: „que sais-je?"35.

IV.

Die Art seines Denkens wird daraus deutlich: Es ist die sokratische Hal-ung des einsichtigen Nichtwissens. „Skeptisch" genannt werden darf sie îur im ursprünglichen Sinn von „σκέπτεσθαι" (prüfen). Montaignes Skep-is war kein Verzweifeln am Ernst der Wahrheitsfrage, sondern ein

32 1. III, ch. XI I , p. 512. M 1. III , ch. X I I I , p. 522. 34 1. I I I , ch. IX, p. 444 sv. 55 1576 ließ Montaigne eine Medaille mit dieser Devise über einer Waage stechen,

/gl. Maurice Rat, 1. c., t. I, p. 747, und 1. II, ch. XI I , p. 588.

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geduldig vor ihr Verharren, ein selbstkritisches Im-Stand-des-Fragens-Bleiben. So suchte er sachgerechten Einblick in das, was der Mensch ist und (auch in Staat und Recht) vermag. Die Waage, ein Instrument der Gewichtsprüfung, bedeutete ihm, dem Gegner alles Mechanischen und Künstlichen, kein Symbol quantitativen Abwiegens, sondern eines quali-tativen Erwägens und Abwägens. Deshalb wollte er audi menschliche So-zialverhältnisse nicht formal abmessen und rechnerisch vergleichen, son-dern sachlich zumessen und natürlich verbinden.

Diese geistige Einstellung ruhte, trotz aller Offenheit und Toleranz, auf einer Vorentschiedenheit, die sich als tragender Grund und schützende Grenze seiner Aufnahmefähigkeit, Hörwilligkeit, Zustimmungsbereit-schaft behauptete. Es war die Entscheidung für unbeschränkte Freiheit in-tellektuellen Prüfens und individueller Unabhängigkeit seelischen Emp-findens. Aus ihr folgte:

1. Der grundsätzliche Zweifel an jeder Art totaler geistlicher, geistiger oder politischer Autorität36 —ohne damit das existentielle Redit geltender Autoritäten bestreiten oder gar erschüttern zu wollen37. So distanzierte sich Montaigne von den „idées reçues" der spätscholastischen Moraltheo-logie, Logik und Metaphysik ebenso wie von den reformatorisdien theo-logumena und ihren sozialethischen Konsequenzen. Er lehnte insbesondere ihre alten und neuen Schemata der Pädagogik ab, jedoch ohne ein eigenes Programm der Erziehung aufzustellen.

In ähnlicher Weise war ihm — ohne selbst an der Reformbewegung der Jurisprudenz teilzunehmen — die pedantisch-formalistische Herrschaft der juristischen Kommentatoren und Konsiliatoren verhaßt38; überhaupt dünkte ihn eine fachtechnisch gebundene Rechtspflege unleidlich39. Die Infiltration der französischen Justiz mit Begriffen und Institutionen des „verwissenschaftlichten" römischen Rechts erschien ihm verkünstelt und unpraktisch40. Er liebte dafür und achtete das traditionelle droit coutu-mier, ohne es freilich zu überschätzen; denn er sah wohl ein, daß auch Kon-ventionen und Bräuche, wo sie übermächtig geworden sind, „eine wütende und tyrannische Miene"41 annehmen.

36 „Je fuis le commandement, l 'obligation et la contrainte" (1. II, ch. X V I I , p. 52). 37 Sie hat für ihn etwas Schicksalhaftes: „Et de vray en toutes republiques on a tous-

jours laissé la bonne par t d 'authori té au sort" (1. I, ch. X I , p. 41). 38 I. II, ch. XI I , p. 655: „ . . . la vérité estoit si embrouillée et debaute, qu'en pareille

cause il pourroit favoriser celle des parties que bon luy sembleroit" (unter Verweis auf

eine alte Streitfrage zwischen Bartolus und Baldus). 39 1. I, ch. X X I I I , p. 124 . 40 1. I, ch. X X I I I , p. 123. 41 1. I, ch. X X I I I , p. 113.

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2. Oie unbedingte Verwerfung aller spekulativ-konstruktiven „Systema-tik des Denkens"42 — ohne damit philosophischem Denken grundsätzlich abzusagen. Doch sollte es dem Widerspruch offenbleiben. „Jedwedes Ar-gument dünkt mich in gleicher Weise nützlich zu sein"43, spricht sich der diskussionsfreudige Geist Montaignes aus. Es gehört zum Wesen seiner „neuen Sichtweise"44, sich für das Unerwartete, Ungewöhnliche den-kerischer Erfahrung freizuhalten. Seine besten Erkenntnisse fand er „un-vorbedacht" (imprémédité), „zufällig" (fortuite).

Dem entspricht sein Ernstnehmen der gelegentlichen, einzeln beobach-teten Vorgänge sozialer und politischer Art. Aus tatsächlicher Erfahrung in jeweils gegebener Lage — nicht aus prinzipiell angenommenen Posi-tionen — folgte Montaignes Kritik an rechtlichen Einrichtungen und so-zialen Verhältnissen. Ohne theoretische Ambitionen — „ich bin kein Phi-losoph"45 — hat er den bon sens gebraucht; ohne ideologische Vorurteile 3rwog er, was etwa gebessert werden könne und worin praktischen Zwek-k.en nützlich zu dienen wäre.

3. Die entscheidende Ablehnung jeder schematischen Verallgemeinerung, weil sie die unvergleichbare Individualität der Menschen und Dinge verkennt oder verwischt. Jede Art von Generalisieren schien ihm jene per-sönliche Wahrhaftigkeit preiszugeben, die nicht nur im philosophisch-nhischen Lebensbereich des Selbstseins, sondern auch im politisch-juristi-;chen Durchspielen der sozialen Rollen Vorbedingung unverfälschten und inabhängigen Denkens, redlichen und selbständigen Handelns ist.

Ihr entsprach die Hochschätzung alles Spezifischen und Persönlichen ms in die Privatsphäre der Intimität hinein. Auch auf das scheinbar Un-•vesentliche und Banale des alltäglichen Verkehrslebens hat er liebevoll-Orgsam geachtet48. Diese Aufmerksamkeit für alles, was ist, machte nicht iah vor dem eigenen Ich: „le sot projet qu'a eu Montaigne de se peindre", lat es Pascal gerügt; Voltaire aber verkehrte den Tadel ins Lob: „le char-riant projet de se peindre". Die zugespitzte Dialektik beider Aussagen /erirrte sich nur insofern, als es Montaigne auch beim Schildern seiner elbst immer um den Menschen, um die humane Lebensordnung im ganzen ;ing; zwar nicht um das Aufstellen eines Bildungsschemas, aber um ein ionkretes Erziehungsvorbild menschlicher Gemeinschaft.

Dazu: Hugo Friedrich, aaO., S. 32 ff. J:l „Tout argument m'est egallcment fertille" (1. III, ch. V., p. 304). 14 „Je n'enseigne poinct, je raconte" (1. III, ch. II, p. 224).

« 1. III, ch. IX, p. 387. 4Γ' Beispiele bei Hugo Friedrich, aaO., S. 30.

Rechtswirklichkeit und Justizkritik bei Montaigne 641

V.

Dem skeptischen Kritizismus Montaignes entspricht sein ethischer Rela-tivismus, der freilich von ebenso individueller Art ist wie jener. Er verneint das Absolutieren von Grundsätzen, bejaht aber die unbedingte Forderung, in jeder Lage humanitas zu bezeugen und zu bewahren. Dieses Wissen um die sittliche Notwendigkeit menschlicher Verbundenheit mit einem jeg-lichen Seienden verlangt „respect" im Sinn eines genauen Betrachtern und ernsthaften Erwägens47 seines Seins. Der Mensch ist solche „générosité" allen Mitgeschöpfen schuldig: den Mitmenschen Gerechtigkeit (justice), den Tieren und Pflanzen „Gewogenheit" (grâce) und Güte (bénignité)48. Sie ist der motivierende Grund für alle Betrachtungen Montaignes im Be-reich der Sozialität. Obzwar diese Vokabel in den „Essais" nicht vor-kommt49, ist ihr Grundzug die Gesinnung einer brüderlichen Solidarität alles Lebendigen, zu der Montaigne sich immer wieder, audi Feinden gegenüber50, bekennt. Aus diesem humanistisch formulierten, im Grunde christlich erlebten Ethos leitet er zwei Richtschnuren für das soziale Ver-halten ab:

1. Eine praktische Frömmigkeit, die sich Gott gegenüber im kirchlich-vorgeschriebenen Sichverhalten („dévotion")51 kundgibt und bewährt. Sie gehört insoweit zum konservativen Sichhalten an das positiv Be-stehende52 der nationalen gesellschaftlichen Kultur und äußert sich im Er-füllen aller Gebührnisse, im Einhalten der religiösen Vorschriften, in der Achtung vorhandener Institutionen der Kirche. All das folgt in seiner Ver-pflichtung des Einzelnen aus dem naiv-„natürlichen" (eben positiven) Sinn für „Ordnung" (ordre), der Montaignes Charakter bestimmt hat.

Vermischt mit seiner humanitas wird sie zur We/i-Frömmigkeit, einem Heilighalten alles Geschaffenen als solchen. Infolge dieser ihm selbstver-ständlichen Ehrfurcht, die Montaigne jedem Geschöpf erweist53, aner-

47 „Manière d'envisager une chose", „point de vue", „considération", „égard" — aile diese Bedeutungen schwingen mit (Vil ley , 1. c., p. 592 sv.). 48 1. II, di. XI , p. 478.

49 Wohl aber mehrfach „sociable", einmal „social", häufig „société" (letzteres Wort im Sinn von „union", „alliance", „communauté", aber auch „participation" und „liens so-ciaux"). Dazu Villey, 1. c., p. 625.

50 „Er bewertet Gegner und Freunde nach ihrem persönlichen kang . Denn was sind Freund- und Feindpositionen anders als flüchtige Gruppierungen auf der Oberfläche . . .?" Er handelt stets „nach dem Prinzip der Anständigkeit" (Hugo Friedrich, aaO., S. 313).

51 Villey, 1. c., p. 207. 52 Dazu : Hugo Friedrich, aaO., S. 145. 53 Besonders den Tieren: „De moy, je n'ay pas sçeu voir seulement sans desplaisir

poursuivre et tuer une beste innocente, qui est sans deffence et de qui nous ne recevons

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42 Erik Wolf

annte er auch ein Daseins-Recht der Tiere und Pflanzen, das der humane lensch bejaht54. Das Wort „prochain" (Nächster) fällt zwar nicht, aber as respektvolle Sichzurückhalten (έπέχειν) im Handeln wie im Urteilen lacht als „motus animi" seines Verhältnisses zu andern eine religiös er-bte Anerkennung von „Recht des Nächsten" erkennbar55. Von diesem Einblick aus versteht sich leicht Montaignes (sokratische?)

reude am einfachen Leben und seine Begabung, „mit einfachen Menschen ι verkehren"50, sich etwa „gern mit einem Zimmermann oder Gärtner ι unterhalten"57; aber auch seine Überzeugung, daß Amtspersonen mit :m Volk in nahem Umgang bleiben müßten, weil es „unserer Hilfe be-irf"58. Wie stark ein derart „soziales" Empfinden in ihm lebendig war, jigen auch manche Notizen im „Journal"59. Es ist aber weder müßige ntimentale Klage gewesen noch pathetisch-abstrakte Maxime geworden; amer blieb es konkreter Lage angemessen und ihr verantwortlich. 2. Eine praktische Moralität, die sich nicht auf die Formulierung, Be-

endung und Anwendung des „allgemeinen Sittengesetzes" richtete, son-.τη auf Bewährung in einmaligen Situationen: „Gewissensfällen"; eine enschliche Gewissenhaftigkeit (conscience), die sich nicht an Prinzipien :bunden weiß, vielmehr im Augenblick, nach dessen Bedingtheit und ige, sich entscheidet: etwa für Durchsetzung von Recht oder für Ge-ährung von Gnade00.

cune offence . . . Je ne prens guiere beste en vie à qui je ne redonne les champs." (1. II,

. XI , p. 475/76) 34 „II y a un certain respect qui nous attache, et un general devoir d 'humanité, non

x bestes seulement qui ont vie et sentiment, mais aux arbres mesmes et aux plantes.

JUS devons la justice aux hommes, et la grace et la bénignité aux autres creatures . . .

y a quelque commerce entre elles et nous, et quelque obligation mutuelle . . . " (1. II,

. XI , p. 478)

>5 Etwa im Umgang mit Dienstboten: er findet es unrichtig „de parler tousjours d'un

igue maistral à ses serviteurs . . . sans familiarité" und Standesvorrechte herauszukeh-

1 („il est inhumain et injuste de faire tant valoir cette telle quelle prerogative de la

r tune"); er lobt Verfassungszustände (polices) „ou il se souffre moins de disparité

tre les valets et les maistres", sie scheinen ihm „plus équitables" zu sein (1. III , ch. I I I ,

241). 56 „ . . . se communiquer comme Jacques et Pierre . . ." (1. III , ch. X, p. 457).

"'7 „ . . . entretenir avec plaisir un charpentier et un jardinier . . ." (1. III , ch. I I I ,

240).

„ . . . me ralier avec le peuple et cette condition d'hommes qui besoin de nostre

de" (1. III, ch. XI I I , p. 558).

',9 Ihn emporte beispielsweise die Tatsache, daß in Basel „un petit enfant d 'un pauvre

mmc . . . fut treté bien rudement par le chirurgien" (Ed. M. Rat, 1. c., p. 16); er freute

h über den Wohlstand der Bauern der Umgegend von Lucca (1. c., p. 170/75).

™ 1. I, ch. XVI , p. 70/71.

Rechtswirklichkeit und Justizkritik bei Montaigne 643

Diese Einstellung bestimmte Montaignes Gedanken der Pflicht (de-voir) im Sinne des Sich-einander-Herleihens (se prêter). So erläutert er am Beispiel der Ehe, daß sie, obwohl aus rein faktisch eingegangener Verbind-lichkeit (Ehevertrag) entstanden, eine Art Selbstgesetzlichkeit (loi) des gegenseitigen Verhaltens begründet; er versteht sie als eine Pflichtenlage, die nicht nur äußerlich bindet, sondern auch innerlich nötigt, sie anzuer-kennen61.

Bräuche und Herkommen sind deshalb für ihn — einmal „angenommen" (reçu) — etwas den ganzen Menschen, intellektuell wie emotional, Be-stimmendes62 und von ihm zu Bejahendes63: Grund und Grenze aller hu-manen Sozialordnung, „Coutumes" („usages") solle man daher nicht ohne echte Not ändern wollen64; jede Änderung bestehender Ordnung gebe der Zügellosigkeit Einzelner Raum und führte im ganzen zu „Tyrannei und Ungerechtigkeit.

Montaigne tadelt die darin sich verratende Eigenliebe und Anmaßung, seine private Meinung so hoch einzuschätzen, daß man wähnen könne, es lohne sich, wegen eines zukünftig Besseren, den vorhandenen guten Frie-den der Öffentlichkeit zu stören — auf dessen Grund allein „Recht des Nächsten" Beachtung findet.

VI.

Eine eigentliche Rechtslehre gibt es deshalb bei Montaigne nicht. Mit sicherem Blick hat Hugo Friedrich bemerkt65, daß der Denker sich nicht eigentlich „als Jurist" zu den Erscheinungen der Rechtswelt geäußert hat. Er tat es aber auch nicht „als Moralist" mit dem Ziel der Verwirklichung

61 „On ne se marie pas pour soy, quoi qu 'on die; on se marie au tan t ou plus pour sa postérité, pour sa famille . . . Il y faut des fondemens solides et constans .. ." (1. I I I , ch. V, p. 273). „J 'ay en vérité plus severement observé les loix de mariage que je n 'avois ny promis; . . . depuis qu 'on s'est submis à l 'obligation, il s'y faut tenir soubs les loix du debvoir commun . . . Si on ne fait tousjours son debvoir, aumoins le f au t il tousjours aymer et recognoistre . . ." (1. III , ch. V, p. 276). >

„C'est à la coustume de donner forme à nostre vie, telle qu'il luy piaist" (I. I I I , di. X I I I , p. 534). „La force de la coustume" (1. I, ch. X X I I I , p. 112).

83 „Elle establit en nous, peu à peu . . . le pied de son authori té" (1. I, ch. X X I I I , p. 112). „ . . . l e principal effect de sa puissance, c'est de nous saisir . . . i l semble que nous soyons nais à la condition de suyvre ce train . . . ce qui est hors de gonds de coustu-me, on le croid hors des gonds de raison . . ( I b i d . , p. 121).

64 1. I, d!. X X I I I , p. 112 sv. «3 AaO. , S. 235.

41*

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',48 Erik Wolf

eines abstrakt-prinzipiellen Reformprogramms (wie es der „Contr'un" seines Freundes La Boétie etwa nahegelegt hätte); noch „als Philosoph" in der Absicht, einen theoretisch-systematischen Entwurf neuer Anthro-pologie vorzulegen.

Was er sagte, war stets ein Konstatieren der Erfahrung eigenen Den-kens und anderer Handelns. Was er zur Lage des Rechts im geschichtlich-gesellschaftlichen Dasein des Menschen feststellte, war stets durch Ge-gebenheiten der humanen Situation (condition humaine)68 bestimmt. Ihm, dem Menschenforscher, zeigte sich diese Gegebenheit als „soziale Rolle"07, in der Jedem das Seine zugeteilt ist, für die er seinen beruflichen Auftrag hat.

Montaignes eigene „Rolle" war vorgegeben in der Situation des Land-edelmanns bürgerlicher Abkunft im Périgord, dem als Inhaber eines „königlichen" Richteramts die Aufklärung und Entscheidung konkreter juristischer „Fälle" oblag. Das wiederholte sich, anders legitimiert, auf dem Felde der Administration, als der gewählte Maire von Bordeaux in konkreten Umständen verantwortliche Maßnahmen treffen mußte; frei-lich bedingt und begrenzt durch den Interessenkampf einander wider-strebender politischer Mächte: der royalistischen Gruppe, der Anhänger der Ligue und dem Hof des hugenottenfreundlich gesinnten Thronan-wärters Heinrich von Navarra68.

1. Montaignes zahlreiche Äußerungen zur Frage „Gesetz und Recht" spiegeln demgemäß nicht die Einstellung eines Gesetzgebers, sondern die des praktischen Richters und Verwaltungsmannes: des Parlamentsrats von Périgueux und Bordeaux, des Inhabers der gutsherrlichen Amtsge-walt der „terre noble" de Montaigne69, des diplomatisch agierenden bor-

"« 1. III , ch. XI I I , p. 532. Es gibt „loix de l 'humaine condition" (p. 569). 07 Der soziologische Rollenbegriff, wie Montaigne ihn in den „Essais" vorausgedacht

hat, erforderte eine eigene Untersuchung. Das Wor t kommt in der Bedeutung einer so-

zialen Funktion sehr oft vor : Rolle der Feigheit (1. II, ch. I I I , p. 387); politische Rolle

(1. II, ch. XVII , p. 59); gesellschaftliche Rolle (1. I I I , ch. IX, p. 420); „Ii faut jouer

deuement nostre rolle, mais comme rolle d 'un personnage emprunté" : hier (1. I I I , ch. X,

p. 456/57; 1. I I I , ch. X I I I , p. 531, 554) ist sie das Aissein gegenüber dem Selbstsein im

Sinne von Werner Maibofer, Recht und Sein, 1954, S. 81 ff. 68 Dazu Paul Sakmann, Montaigne. Die Essais und das Reisetagebuch, Stut tgart 1939,

S. 84. 69 1477 von seinem Urgroßvater Ramon Eyquem erworben. Ein Beispiel fü r ein

„droict de patronage d'un benefice" (kirchliches Patronatsrecht an einer Eigenkirche):

1. II, ch. X X X V I I , p. 193.

Rechtswirklichkeit und Justizkritik bei Montaigne 645

daleser Maire70 sowie des mit schwierigen Vermittlungsaufträgen von Fall zu Fall beauftragten königlichen Vertrauensmannes71.

So entwickelte er — ohne jemals dabei seines ordentlichen Rechtsstu-diums und der dabei erlangten Sachkenntnis Erwähnung zu tun — ein ganz originales „praktisches Rechtsdenken". Es war auf Erhaltung guter Lebensordnung mittels bon sens ausgerichtet.

a) Deshalb hat weder die „Idee" des Naturrechts als solche noch eine der klassischen oder mittelalterlichen Formulierungen der Naturrechts-lehre bei ihm Ausdruck gefunden oder Nachfolge erfahren72. Die lateini-schen termini technici „lex naturae sive naturalis" und „ius naturae sive naturale" braucht er nie, geschweige denn die Schulbegriffe des i. n. abso-lutum, relativum, connatum, prohibitivum etc. Wo er auf die Sache zu sprechen kommt, lehnt er das Sichberufen des Amtmanns oder Richters auf „loix naturelles" oder „loi de la nature" deutlich ab. Ein „droit na-turel" oder „de la nature" ist ihm ganz fremd. Warum?

aa) Gäbe es wirklich „feste, ewige und unveränderliche" Rechtsgrund-sätze73 — „Gesetze", die „natürliche genannt werden", weil sie der con-dition humaine selbst entspringen —, so müßte eben diese menschliche Wesensbeschaffenheit eine eindeutige sein. Der Mensch aber, das „sujet ondoyant", bleibt als Gegenstand der Erkenntnis unfaßbar, und als Er-kznntmssubjekt ist er zu unbeständig (inconstant)74, um seine vernunft-gesetzliche Bestimmtheit glaubwürdig erscheinen zu lassen.

Vor allem aber fehlt das einzig überzeugende Zeichen, mittels dessen sich die Existenz und Wirkung natürlicher Gesetze behaupten ließe: ihre allgemeine Anerkennung. „Denn, was uns die Natur wahrhaftig vorge-schrieben hätte, würden wir zweifellos in gemeinsamem Einverständnis befolgen"75.

70 Von ihm selbst geschilderte Amtsführung: 1. I I I , ch. X, p. 467 sv. Dazu sein Aus-

spruch: „Je ne laissa, que je sache, aucun mouvement que le devoir requist en bon escient

de moy" (ich versäumte meines Wissens kein Geschäft, das die Pflicht wirklich von mir

forderte) und der Brief vom 27. 5. 1585 an den Marschall de Matignon {M. Rat, 1. c., t.

II , p. 670/71). 71 Sowohl König Heinrichs III . als auch Heinrichs von Nava r ra , des späteren He in-

rich IV. Vgl. den Brief König Heinrichs I I I . an Montaigne nach dessen Wahl zum Maire

von Bordeaux (M. Rat, 1. c., t. II , p. 669). 72 Zu Montaignes Naturrechtskr i t ik: Hugo Friedrich, aaO., S. 235 ff. 73 „ . . . ils disent qu'il y en a aucunes fermes, perpetuelles et immuables, qu'ils nom-

ment naturelles" (1. II, ch. XI I , p. 652). 74 „De l 'Inconstance de nos actions": 1. II, ch. I. D a z u : Hugo Friedrich, aaO. , S. 156 f. 75 „Car ce que nature nous auroit véritablement ordonné, nous l 'ensuivrions sans

doute d'un commun consentement" (1. II, ch. XI I , p. 652).

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',48 Erik Wolf

bb) Zudem stimmen die „drei oder vier Naturrechtsdirektiven", die man überliefert findet, weder unter sich überein, noch ist ihre Geltung unbestritten; denn es gibt viele Länder, deren Gesetzgebung und Justiz sich nicht danach richten76.

Anfänglich — Montaigne erinnert an das goldene Zeitalter der hesio-dischen Tradition — könne es ja „loix naturelles" so, wie für andere Krea-turen, auch für die Menschen gegeben haben. Ihre Kenntnis aber sei längst verloren; „von ursprünglich-naturhafter Ordnung blieb nichts wahrhaft unser, und was ich unser nenne, ist künstlich hinzugefügt", zitiert er Ci-cero77: Aber Montaigne beruft sich dabei auf noch ältere Zeugen, wie Pro-tagoras, der „keine andere Quelle der Gerechtigkeit von Gesetzen gelten lasse als die Meinung und Macht des Gesetzgebers", und findet solche Ab-leitung des Rechts aus der Macht durch Thrasymachos bestätigt: „Ii n'y a point d'autre droit que la commodité du supérieur."78

b) Diesem empirischen Positivismus — „il n'y a rien de juste en soy"79

— „der alle Rechtsordnung" aus ihrer historisch-geographischen „Or-tung" erklärt, scheint zu entsprechen, daß Montaigne, ähnlich wie Bodin, das römische Recht nicht sehr hochschätzte. Insbesondere fand er in ihm keine „ratio scripta" und wollte ihm deshalb keinen Vorrang vor anderen geschichtlichen Rechtsquellen zuerkennen. Diese kritische Abwertung be-gründete er aber nicht, wie die französischen Humanisten-Juristen, etwa Alciat, mit mangelnder Klassizität der Jurisprudenz der Glossatoren und Postglossatoren. Bartolus und Baldus, die berühmten Konsiliatoren, rügt Montaigne nicht, wie Valla oder Bude, wegen ihrer „barbarischen" Latini-tät und mangelnden Quellenreinheit, wohl aber als abschreckende exempla für das Hervorrufen unfruchtbarer Diskussionen und Erörtern unsach-licher, formalistischer Streitfragen80. Jede Art verwissenschaftlicher Juris-prudenz — sie sei scholastisch oder humanistisch — empfand Montaigne als ein Zeichen unnatürlich gewordener, nicht sachgerechter Justiz. „Aus einer so uferlosen, von der Geltung verschiedenster autoritativer Meinun-gen und ganz beliebig wechselnden Gegenständen abhängenden Wissen-schaft könne nur eine außerordentliche Verwirrung der Gerichtsurteile er-wachsen"81, meinte er. In dem langwierigen Austragen gelehrter Kontro-versen vor Gericht sah er lediglich eine Ursache mehr für die leidige Ver-

18 Ibid. 77 De fin. V 21. 78 1. II, ch. XI I , p. 652.

1. III, ch. X I I I , p. 523. 80 1. II, ch. XI I , p. 655. 81 „A une science si infinie, dépandant de l 'authorité de tant d'opinions et d 'un sub-

ject si arbitraire, il ne peut estre qu'il n'en naisse une confusion extreme des jugemens"

(1. II, ch. XI I , p. 655).

Rechtswirklichkeit und Justizkritik bei Montaigne 646

zögerung rechtskräftiger Sachentscheide. Er mißbilligte aus diesem G auch das viel zu häufige Einholen eines oder gar mehrerer Rechtsgu ten82.

Den stärksten Einwand aber gegen die gelehrte Jurisprudenz seiner erhob Montaigne wegen der sprachlichen und sachlichen Unverstänc keit des Corpus Iuris Civilis für das Volk und wegen der Unvereir keit vieler seiner Institutionen mit den heimischen Statuten und Coutu Könne es etwas Befremdlicheres geben, fragt er seine Leser, „als ein ' verpflichtet zu wissen, nach Gesetzen zu leben, von denen es nichts stehe, und an Rechtsnormen gebunden zu sein in den häuslichen Anli der Ehe, bei Kauf und Schenkung, für die Errichtung letztwilliger fügungen — Regeln, die es gar nicht kennen könne, weil sie in s< Sprache weder geschrieben noch publiziert sind und deshalb jedem gezwungen ist, sich die für die Anwendung dieses Rechts nötige Auslej von Sachkundigen zu erkaufen"83? In naiver historischer Gutgläubig notierte er mit besonderer Genugtuung, daß ein „gentilhomme gasco mon pays" als erster sich der Absicht Karls des Großen (!) widersetzt h die „Loix latines et impériales" in Frankreich einzuführen84.

c) Eine Steigerung des ohnehin stark gewachsenen Ansehens des ] stenstandes war Montaigne unsympathisch. Seine Bereitschaft zum eh amtlichen Wahrnehmen richterlicher und magistraler Aufgaben hielt von der eigentlichen Zunft der Prokuratoren und Advokaten, die für ( Privatinteressen vertreten, fern. Er mochte sie menschlich nicht und f sie auch politisch suspekt, weil sie keinen volkstümlichen, in Brauch Herkunft verwurzelten sachlichen Rechtsverstand haben, sondern < fremdartige, formale, mit allerlei fragwürdigen Kniffen und Finten Λ

knüpfte Technik des „Behandeins der Prozesse" praktizieren. Frei wollte er mit seiner Kritik nicht nur diese verbildeten Entartungstypen Juristen treffen, sondern ausdrücklich den ganzen „vierten Stand"85, „noblesse de la robe", obwohl sein Vater und auch er selbst ihr angel· haben. Vielleicht liegt darin eins der Motive für sein merkwürdig h; näckiges Schweigen über seine juristische Studienzeit und über die Erl nisse im Richteramt.

Der ganze, anspruchsvolle neue Stand fachlich ausgebildeter Rechts lehrter, die aus dem Bürgertum aufgestiegen sind, halte sich — so st Montaigne mißvergnügt fest — den beiden althergebrachten oberen St

82 „ . . . courir des uns aux autres juges pour décider d 'une mesme cause . . ." (Ibid

"» 1. I, ch. X X I I I , p. 123 . 84 Ibid. 85 1. I, ch. X X I I I , p. 124.

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',48 Erik Wolf

den: Klerus und Adel, gleich. Dadurch sei es zu einer Art doppeltem Elechtsverständnis gekommen und die Einheit der Rechtsanschauung ver-lorengegangen. Die „loix de l'honneur und de la justice"86: das Recht der Edelleute und das der Juristen, gelte einander gleichwertig, „Bürger-pflicht" (devoir civil) und „Waffenehre" (devoir des armes) konkurrier-ten. Es ist interessant, wie Montaigne die beiden Stände ihrer sozialen Funktion nach abgrenzt: die Träger des „kurzen Waffen rocks", die Ange-hörigen des (Schwert-)Adels sorgten für die Landesverteidigung im Krieg, nähmen davon ihre „Ehre" (honneur), lernten körperliche „Tüchtigkeit" (vertu), übten und erfüllten die Aufgaben ihrer sozialen Rolle durch ent-sprechende „Taten" (actions), mit „Tapferkeit" (vaillance) und körper-licher „Stärke" (force); die Träger der „langen Robe", die Angehörigen des (Amts-)Adels aber sorgten für die Landesruhe im Frieden, zögen dar-aus ihren „Gewinn" (gaing), lernten geistige „Klugheit" (sçavoir) üben und erfüllten ihre soziale Rolle durch entsprechendes „Reden" (parole), mit „Gerechtigkeit" (justice) und „Vernunft" (raison).

d) Dennoch rühmt und achtet Montaigne die objektive Ordnung des positiven Rechts als Ganzes: das Gesetz, die geschriebenen Statuten und ungeschriebenen Gewohnheiten umfassend87. Dieses Urteil spricht der sonst in politicis immer zurückhaltend formulierende Mann mit Ent-schiedenheit aus. „Man soll von langher angenommene Bräuche nicht ohne Not ändern", lautet der Titel, unter dem in den „Essais" die eingehendste Erörterung rechtlicher Fragen im Zusammenhang stattfindet; er bildet dafür das Leitwort88. Gegenüber dem geltenden Gesetz aber soll man sich verhalten „wie jener große und gute Sokrates" (des platonischen „Kri-ton"), denn „es ist die Regel aller Regeln, und das Gesetz aller Gesetze", daß jedermann diejenigen seines Wohn- und Heimatortes befolgt89.

Jede bestehende, natürlich gewachsene Rechtsordnung hat in Montai-gnes Sozialdenken drei große Vorzüge vor der künstlich erdachten, will-kürlich eingeführten Regelung:

aa) Vor allem den der Brauchbarkeit im Sinn praktischer Ordnung des Verkehrslebens, weil sie nach schlichten, jedermann bekannten Begriffen verfährt, in vertrauten Einrichtungen gründet und Regeln hat, die man kennt. Aus diesem Grund verwirft Montaigne — hier wie sonst der von

86 Ibid. 8 7 Deshalb soll sie gerade in Zeiten der N o t und Kor rup t ion sorgsam befolgt we rden :

1. I I I , ch. IX, p. 414. 88 1. I, ch. X X I I I . 89 1. I, ch. X X I I I , p. 125: ,,νόμοις επεϋαι τοΐσι,ν έγχώροις καλόν" zitiert er eine grie-

chische Sentenz Crispins.

Rechtswirklichkeit und Justizkritik bei Montaigne 6 4 9

Plutarch gegebenen Platon-Überlieferung folgend — viele Gesetze für ein Land. Er beschwert sich, halb belustigt, halb erschrocken, über den schon von Bodin beobachteten90 Mißstand, daß es in Frankreich mehr gesetz-liche Vorschriften gebe als in den übrigen europäischen Staaten zusam-men91.

Einer Kodifikation, die den Rechtsstoff sammelt, zeigt er sich nicht ge-neigt. Justinian habe geirrt, wenn er glaubte, „par la multitude des loix" die Machtfülle der Richter einschränken zu können92, denn der Menge von Gesetzen entspreche diejenige ihrer Auslegungsmöglichkeiten. Auch sei die Lust am Glossieren vorhandener Gesetze nicht geringer als die am Konstruieren neuer.

bb) Ein weiterer Vorzug überlieferten Gewohnheitsrechts und alther-gebrachter Gesetze liege in ihrer Tradition, dieihnen allen die gleiche Auto-rität gebe. Infolge der Unmöglichkeit des Nachweises allgemeinverbind-licher ethischer Gesetze könne keine einzelne Sitte, kein geltendes Gesetz grundsätzlich höheren Vorrang vor andern behaupten. Nur das faktische Gelten durch Anerkennung entscheide über die Rechtsverbindlichkeit (la force de la coustume)93. Anders sei es auch nicht bei den im Gewissen sich anzeigenden Sittengeboten (loix de la conscience)94. Ob man sie mehr als Regeln der Vernunft oder als Weisungen Gottes auffasse, ändere nichts an der Wahrheit, daß sie gewohnter Brauch (coustume) sind, dem sich je-dermann von früher Jugend auf anpaßt.

In Montaignes Denken verschmolz deshalb jede einzelne Institution be-stehenden Gewohnheits- und Gesetzesrechts um so enger mit dem Begriff von „Recht" überhaupt, je längere Zeit sie bereits angenommen war oder zu sein schien. Daher kritisierte er jeden Plan einer Rechtsre/orm mit der Maxime: „Le plus vieil et mieux cogneu mal est toujours plus supportable que le mal recent et inexperimenté."95 Trotzdem war Uberlieferung für ihn kein „Wert" an und für sich, er hielt sie nur für ein geringeres Übel, das revolutionärer Anarchie in jedem Fall vorzuziehen sei96.

Obwohl er empfiehlt, einmal angenommene Bräuche und aus ihnen erwachsene gesetzliche Ordnungen möglichst unverändert zu bewahren, ist doch für ihn das Gewohnheitsmäßige nicht die einzige Quelle oder der

9 0 Six Livres de la Républ ique VI 6. 91 1. I I I , ch. X I I I , p. 517. 92 1. I I I , ch. X I I I , p. 516. 93 1. I, ch. X X I I I , p. 112. 94 1. I, ch. X X I I I , p. 121 : „Les loix de la conscience, que nous disons naistre de na ture ,

naissent de la coustume." 95 Nach Livius X X I I I 3 (1. I I I , ch. I X , p. 397). Μ 1. II, ch. X V I I , p. 59: „Nos meurs sont ex t rêmement cor rompues . . . de nos loix

et usances, il y en a plusieurs barbares et monstrueuses." „. . . meurs en usage commun et

receu si monstrueuses en inhuman i t é " (1. I I I , ch. IX, p. 394).

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alleinige Grund für rechtliche Autorität. Montaigne hielt die coutumes keineswegs immer und uneingeschränkt für gut oder auch nur für zweck-mäßig. Wie alles Menschliche trage auch die Sitte außer vernünftigen Zü-gen solche der Torheit97. Einmal gelte sie so, dann wieder anders; für bei-nahe jede Satzung finde sich an einem anderen Ort das Beispiel entgegen-gesetzter Regelung. Meist enthülle schon nach kurzer Zeit jede Lebens-regel, die für immer gelten wolle, das Furienantlitz der Tyrannei98.

cc) Ein besonderer Vorteil fest eingewurzelter Rechtseinrichtungen und jedermann geläufiger Rechtsbegriffe zeige sich darin, daß auf ihre Bestän-digkeit vertraut werden kann. Daraus folge eine Art gewohnheitsmäßiger, instinktiv-unreflektiert geübter Rechtlichkeit (droiture)99. Sie ist keine Rechts„wahrheit". Dennoch beruhe auf ihr die Dauerhaftigkeit aller so-zialen Ordnung. Deshalb solle jeder Mensch seine körperlichen Fähigkei-ten und geistigen Gaben der Ordnung der Rechtlichkeit (règle de droiture) gemäß brauchen. Diese, eine „Geradheit der Seele" (rectitude de l'âme), bezeuge die Einheit von Richtigkeit und Gerechtigkeit (rectum et iu-stum)100. Sie stelle sich in jedem Menschen dar, der zum gegebenen Wort steht101, vertragstreu bleibt und übernommene Pflichten sorgsam er-füllt102.

Demgemäß empfand Montaigne das Urteil des Gewissens als tiefste Quelle der Rechtlichkeit; es gebe den Maßstab des Rechten im Sinn eigent-licher (innerer) Gerechtigkeit (justice). Gesetze und Gerichte verpflichten wohl äußerlich, binden aber nicht das Gewissen, wie es die „Ehre" (hon-neur) tut103, weshalb dieser der Vorrang gebühre, wenn und wo positives Recht ihrer Forderung widerspricht. Diese wirkliche „Ehrbarkeit" (hon-nêteté) unterschied Montaigne allerdings scharf von übertriebenem Be-harren auf dem point d'honneur, er rügte die zur Narrheit entarteten Ehrenhändel („affaires d'honneur"): „ces loix d'honneur qui vont si sou-vent choquant et troublant celles de la raison"104.

1. I, ch. X X I I I , p. 116. 9S „. . . avec l 'ayde du temps elle nous descouvre tantos t

un fur ieux et ty rann ique visage" (I. I, ch. X X I I I , p. 113). !l!l „La droi ture et la justice, si l ' homme en connoissoit qui eust corps et ver i table es-

sence, il ne l 'atacheroit pas à la condi t ion des coustumes de cette contrée ou de celle l à"

— so freilich stellt Montaigne nur jeden überposiüv behaupte ten Vernunf tbegr i f ï von

Rechtlichkeit ebenso in Frage wie den des Naturrechts! (1. II , ch. X I I , p. 650/51) Er

kennt sehr wohl die Daseinsgesetzlichkeit (1. I, ch. X I I I , p. 125 und 1. I I , ch. X I I , p. 650). 100 Villey, 1. c., p. 227. 101 1. I I I , ch. X I X , p. 406. 102 1. I I I , ch. X I X , p. 407. ,η·1 1. I, ch. X X I I I , p. 124.

"" 1. II, ch. X X V I I , p. 100: „. . . la loy d 'honnesteté me semble bien plus pressant et

plus pesant que n'est celuy de la con t ra in te civile" (1. I I I , ch. I X , p. 405).

Rechtswirklichkeit und Justizkritik bei Montaigne 651

Der Ehrbarkeit entspricht der „Ehrenmann" (honnête homme)105, er ist ein sowohl soziologisch als auch ethisch deutlich umschriebener Typus sozialer Rechtlichkeit. „Innere" und „äußere" Ehre sind insofern nicht voneinander abhängig, als ein gesellschaftlicher Makel (etwa: Untreue der Ehefrau [faire un mari coqu] oder ein suspekter Beruf) die innere hon-nêteté nicht betrifft106. Der honnête homme ist weder für soziale Mängel (vices) noch für individuelle Torheiten (sottises), die Beruf und Leben mit sich bringen, rechtsethisch verantwortlich. Seine soziale „Rolle" ist eben nicht stets dieselbe107.

e) In zuverlässigen, beständigen, gutgläubigen Verkehrspartnern ver-körperte sich für Montaigne das Recht der Rechtlichkeit, dessen ord-nungsgestaltende und -erhaltende Macht weit größer ist als die der gesetz-lichen Vorschriften und Strafdrohungen. Trotzdem ist keine soziale Ord-nung möglich ohne objektives, formelles Gesetzesrecht. Bei diesem Aus-spruch beruft Montaigne sich auf Epikur, der (nach Plutarch) gesagt ha-ben soll, daß auch die schlechtesten Gesetze für die Menschen noch nützlich seien, weil sie ohne Gesetze einander umbringen würden; und auch auf Piatons bekanntes Wort, daß ein Leben ohne Gesetze dem von wilden Tieren entspreche108.

Die faktische Leistungskraft von Gesetzen, ihre Schutz- und Nutz-Funktion für die soziale Ordnung achtete Montaigne freilich immer ge-ring: „puis qu'elles ne peuvent ce qu'elles veulent"109. Schon die ersten besten, die uns unter die Hände kommen, zeigen sich sowohl ungeeignet (inepte) als auch unbillig (inique)110, und selbst die wirklich besten fallen vor dem Zwang der Daseinsnotwendigkeiten dahin111. Unverkennbar bleibe ihnen stets Ungerechtigkeit beigemischt112. Auf nur gesetzgeberische Weise könne deshalb Gerechtigkeit im sozialen Leben nie und nirgends installiert werden.

f) Diese naiv-empirische, unrationalistische Begründung der Geltung von Recht macht keinen Anspruch auf theoretisch-wissenschaftliche Er-

11,5 Sehr umfassender Begriff: „courageux" , „va i l l an t" , „capable" , „ inte l l igent" , „de

bon sens", „poli" , „a imable" , „dis t ingué", „de bon ton" , „homme probe" , •— all das

kl ingt nach Villey, 1. c., p. 346, dar in an. l o e 1. I I I , ch. V, p. 296; 1. I I I , ch. X , p . 457. J<" „Moy à cette heure et moy tantos t , sommes bien deux" (1. I I I , ch. I X , p. 403). 108 1. II , ch. X I I , p. 626. ""» 1. I, ch. X X I I I , p. 130. »» 1. II , ch. X X X V I I , p. 178. 111 1. I, ch. X X I I I , p. 130: „non seulement commande r selon les loix, mais aux loix

mesme, q u a n d la nécessité publ ique le requeroi t . " 112 1. II , ch. X X , p. 78: „les loix mesmes de la justice ne peuven t subsister sans quelque

meslange d ' injust ice. . .".

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kenntnis. Es ging Montaigne vielmehr um eine durchaus praktisch-ver-ständige Erklärung der Funktions-Realität von Rechtsgeltung. Später hat man in ihr eine „Historisierung" und „Relativierung" des Rechts über-haupt und somit ein weiteres Merkmal für den Montaigneschen Rechts-„positivismus" gefunden. Er läßt sich grosso modo mit dem soziologischen Realismus des späten 19. Jahrhunderts, (besonders Jherings), in manchen Zügen vergleichen. Der Denkweise Savignys und seiner Schüler erscheint er weniger verwandt. Montaigne hielt die Art der Entstehung von Ge-setzen und Gewohnheiten nicht für das Maßgebende ihres Rechtsgehalts; sowenig er „Naturrechtler" gewesen ist, sowenig darf man in ihm einen Vorläufer des „Historismus" suchen. Dann schon eher des „Positivismus"! Denn mit seinem Einblick in das unaufhörliche Sichwandeln nicht nur der Gesetze und Bräuche selbst, sondern auch ihrer Anwendung und Ausle-gung, gewann Montaigne die Uberzeugung, daß alle Anerkennung von Rechtsnormen weder auf ihrem Traditions wert noch auf einem sie histo-risch legitimierenden Akt der Anerkennung beruhe. Nach seiner Auffas-sung „prennent les loix leur authorité de la possession et de l'usage"113. Ihre Geltungskraft beruht auf tatsächlicher Gewalt und faktischem Ge-brauch. Ihr Ursprung: sei es eine Satzung kraft geheiligter Autorität ge-wesen oder der Durchsetzungswille einer herrschenden Macht, bestimme ihre gegenwärtige Gestalt nicht mehr und sei deshalb für den Grad ihrer normativen Geltung unbeachtlich.

VII.

Aus solchen Gedanken erklärt sich das Mißtrauen Montaignes in plan-mäßige Gesetzgebung und sein geringes Zutrauen in eine verwissenschaft-lichte Rechtspflege. Daher richten sich alle seine Bemerkungen zur Rechts-reform auf konkrete und spezielle Aufgaben der Justizkritik·, er faßte sie nicht in ein abstrakt-allgemeines Programm. Der Plan einer allezeit unveränderlichen Musterverfassung oder -gesetzgebung (wie der zeit-genössische Humanismus von Morus und Budaeus Piatons „Politeia" und „Nomoi" verstanden hat) lag ihm fern. Er identifizierte niemals Gesetz und Gerechtigkeit, denn „Gesetze gelten nicht, weil sie gerecht sind, son-dern weil sie Gesetze sind"114. Jeder Versuch, mehr in sie hineinzulegen,

»·•> 1. II, ch. XI I , p. 656. 114 1. III, ch. XI I I , p. 524: „Or les loix se maintiennent en credit, non par ce qu'elles

sont justes, mais par ce qu'elles sont loix."

Rechtswirklichkeit und Justizkritik bei Montaigne 653

wäre „lächerlich und albern" (ridicule et inepte), denn — spricht Mon-taigne dem Aristippos v. Kyrene nach — „es gibt keine Gerechtigkeit an sich, die Bräuche und Gesetze erst bringen Gerechtigkeit hervor"115.

Beim Vortrag justizkritischer Argumente geht er zwar, wie immer, von seiner persönlichen Erfahrung (expérience) aus, zieht aber zu ihrer Er-läuterung und Bestätigung gern antike exempla und Anekdoten zeitge-nössischer Schriftsteller heran. Drei Gruppen ordnungspolitischer monita lassen sich unterscheiden: soxialkritische, sozio]pädagogische und sozial-humanitäre.

1. Wegen seiner sozialen Wirkung bedenklich stimmte ihn schon das oft allzu jugendliche Alter von Richtern — er selbst wurde freilich schon mit einundzwanzig Jahren Parlamentsrat in Périgueux —, deshalb lobt er das von Kaiser Augustus festgesetzte Mindestalter für richterliche Auf-gaben116. Schlimmer noch erschien ihm die Käuflichkeit vieler Richter-ämter117; eine Merkantilisierung des hohen Berufs, die (besonders in Ver-bindung mit der Zunahme und Überhöhung der Prozeßkosten und dem zur privaten Erwerbsquelle entarteten Sportelwesen) das soziale Ansehen des Richtertums untergrub. Am meisten entsetzte ihn jedoch die Rück-sichtslosigkeit gegenüber unbemittelt ihr Recht Suchenden·, ihm graute vor dem Mißstand, daß „légitimement la justice soit refusée à qui n'a de-quoy la payer"118.

Dieser sozialkritische Gehalt seiner Rechtspolitik erscheint in manchen Zügen den von Thomas Morus vorgebrachten Bedenken verwandt; Fran-cis Bacon hat viel davon bei seiner Nachahmung der Montaigneschen „Essais" übernommen.

2. Eng verbunden damit war seine sozialpädagogische Kritik der Rechts-pflege. Besonders bekümmerte ihn — wie schon Hans v. Schwarzenberg — die praktische Unwissenheit vieler Richter und die Unzulänglichkeit ihres Verfahrens, wie sie sich vor allem in Strafprozessen ausgewirkt hat: Es beunruhigte ihn der lückenhafte Beweisgang infolge unzuverlässiger und ungeprüfter Zeugenaussagen; er sorgte sich um Fehlurteile, verursacht durch trügerische Geständnisse119. Scharf rügte er den Mangel hinreichen-der Sachaufklärung, sogar bei mit Todesurteilen endenden Verfahren120. Als unvermeidliche Folge der praktisch unzureichenden, theoretisch aber

115 1. III , ch. X I I I , p. 523, nach Diog. Laert . II 93. 118 30 Jahre . 1. I. ch. LVII , p. 361 117 1. I, ch. X X I I I , p. 124. 118 Ibid. 139 „ . . . il ne faut pas tousjours s 'arrester à la propre confession de ces gens icy" (1.

I I I , ch. X I , p. 479). 120 „A tuer les gens, il f au t une clarté lumineuse et nette. . ." (ibid.).

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)is zur Verbildetheit überspitzten akademischen Erziehung der künftigen lichter, erkannte er die vielen Fälle von Justizmorden durch „iniques ju-*es, qui remettent à juger alors qu'ils n'ont plus de coignoissance de :ause"121. Auch die spezifischen Fehler und Grundirrtümer der Hexen-Prozesse hat er klar durchschaut. In einem Fall, der ihm persönlich vor-l iegt worden ist, äußerte er, „als ein Mann, der seine Entscheidungsfrei-îeit durch Vorurteile nicht knebeln läßt"122, nachdem er die Sachlage mit ;roßer Sorgfalt geprüft hatte: „en fin et en conscience, je leur (der Ange-klagten) eusse plustost ordonné de l'ellebore que de la cicuë" und führt .ur Begründung den Satz des Livius an: „captisque res magis mentibus, luam consceleratis similis visa"123.

Nicht minder war dem menschenkundigen Montaigne wohlbekannt, laß die Härte der Strafart und der Grad der Strafzumessung in Kriminal-ällen oft abhängt vom Charakter des Richters und seiner Stimmung; des-lalb erzählt er, daß in französischen Gerichten, wenn ein Angeklagter vor lichter komme, die gutmütig (debonnaire) und mild (douce) urteilen, veil sie gut aufgelegt sind, die Redensart umgehe: „Gaudeat de bona for-una"124. Montaigne unterläßt nicht, diese aus Erfahrung gewonnene Einsicht mit drastischen Gegenbeispielen zu illustrieren: Gichtschmerzen, iifersuchtsqual, Ärger über den Diebstahl eines Bedienten beeinflussen ielleicht den Richter in einem Urteil, das von Unmut getrübt sei125. Demgemäß warnt er vor der Gefahr richterlicher Urteilsbildung unter

lern Einfluß leidenschaftlicher Erregtheit oder bezaubert von den Rede-künsten der Anwälte. Ein scharfblickender Justizpsychologe, beschreibt er η dieser Stelle ein typisch advokatorisches Verhalten: Jemand erzählt inem Anwalt seinen Fall; der antwortet zweifelnd und schwankend, tut leichgültig gegenüber beiden Parteien. Kaum winkt ihm Honorar, damit r sich in die Sache verbeiße, wird er warm, läßt seinen Verstand arbeiten, •is ihm kraft seiner Prozeßtechnik eine unzweifelhafte „Wahrheit" auf-;eht, mittels deren er den Fall deichselt126.

3. Am stärksten berührt vielleicht heutzutage seine sozialhumanitäre \ritik der Justizzustände seines Landes.

In dem dafür sehr aufschlußreichen Kapitel der „Essais" über die Grau-amkeit spricht er gleich zu Beginn von dem „furieux appétit de ven-eance"127, der aller Strafjustiz zugrunde liege. Von Mitgefühl für seine

121 1. I, ch. VII , p. 28. 122 1. I I I , ch. XI , p. 480. m Livius VI I I 18 (die Sache scheint mir mehr der Verrücktheit als dem Verbrechen zu

leichcn). 121 1. II, ch. XI I , p. 633. 125 Ibid. 120 1. II, di. XI I , p. 636. 127 1. II, ch. XI , p. 463.

Rechtswirklichkeit und Justizkritik bei Montaigne 655

leidenden Nächsten erfüllt128, erklärt Montaigne, daß ihn die Unsitte wil-der Völker, die Leichen ihrer Stammesgenossen zu verzehren, weniger an-widere, „que ceux qui tourmentent et persécutent les vivans. Les exécu-tions mesmes de la justice, pour raisonnables qu'elles soyent, je ne les puis voir d'une veue ferme".

Deshalb verwirft er auch in der Strafjustiz jede Schärfung der Todes-strafe129; dergleichen ist für ihn „pure cruauté". Entsprechend gelten ihm zusätzliche Schändungen, wie das Vierteilen des hingerichteten Körpers oder Verweigerung des Grabplatzes für zum Tode Verurteilte, als „in-humains excez"130.

Ihm, der auch jede Grausamkeit gegen Tiere verabscheute und deshalb nur ungern an Jagden teilnahm, war jede Hinrichtung immer „un spec-tacle très-déplaisant"131, zumal er dabei die Möglichkeit des Justizmordes sorgend bedachte.

Mit dem nüchternen Hinweis „c'est une dangereuse invention que celle des gehenes" leitet Montaigne seine Feststellung der grausamen Tatsache ein, daß „Tausende (von Richtern) falsche Geständnisse mit der Folter132

erzwungen und damit die schwere Schuld auf ihr Haupt geladen haben", daß viele, die „gefoltert wurden, um sie nicht unschuldig dem Tode auszu-liefern, zu Tode gebracht worden sind — unschuldig und gefoltert"; „bien inhumainement pourtant et bien inutilement, à mon advis". Auch auf die, durch Angst vor der Folterung motivierten, falschen Selbstbezichtigungen von Angeschuldigten hat Montaigne aufmerksam gemacht. Ein früher, wenn auch im 16. Jahrhundert in Frankreich nicht der einzige Zeuge gegen die Tortur, hat er auch ihren engen Zusammenhang mit der Justizwillkür in tyrannischen Verfassungszuständen erkannt133.

Was ihn vielleicht am tiefsten erschreckt hat, war die — aus dem un-vergeßlichen Erleben verübter Greueltaten während der „guerres civiles" gewonnene — psychologisch-anthropologische Entdeckung, daß „die Na-tur selbst, wie er fürchte, dem Menschen einen instinct à l'inhumanité ein-gepflanzt habe"134; aus dessen triebhafter Motivation erklärte er sich das Übermaß an Körperstrafen der damaligen Justiz.

Im Grunde fühlte sich Montaigne mit Seneca einig: es bedürfe eigent-lich gar keines staatlichen Strafrechts, „weil jedermann, der ein Verbre-chen begehe, schon mit seiner Strafe geboren sei". Er meinte mit dieser poena naturalis die Gewissensangst vor der Vergeltung135.

128 „Je me compassionne for t tendrement des afflictions d ' au t ruy" (1. II, ch. X I , p.

473). 129 Ibid. 130 I. II, ch. XI , p. 474. 131 Ibid., p. 479. 132 1. II, ch. VI , p. 404 sv. 133 1. II , ch. I I I , p. 3 8 6. 134 1. II, di. XI , p. 475. 185 1. II , άι. V, p. 402.

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VIII.

Auch die kritischen Gedanken Montaignes zu Staat und Verfassung oder Politik (im engeren Sinn), deren Formulierung meist auf Bodin oder Lipsius130 gestützt erscheint, waren motiviert durch sein empirisch-erfah-rungsmäßig genährtes praktisch-sozial reagierendes Empfinden, das ihm anriet, in allen Dingen der öffentlichen Ordnung auf rechtes Maß und Einhalten der Mitte zwischen extremen Verhältnissen137 zu achten.

1. Zur Frage der Entstehung von Staaten meint er deshalb: die jeweils besondere Gestalt einer Verfassung — er nennt sie „police" oder „gou-vernement" — werde bedingt durch die natürlichen Beschaffenheiten des Gebiets: geographische Lage, rauhes oder mildes Klima, danach gegebene äußere Lebensumstände des Volkes; vor allem aber durch die aus diesen Gegebenheiten erwachsenen Sitten, Bräuche und Gesetze.

Deshalb lehnt er planmäßige Verfassungsentwürfe ab138. Es gab für ihn gute „police" nur in gewachsenen, möglichst stabilen Verhältnissen. Die politische Lage erkannte er als existentielle Gegebenheit und. Aufgabe: jedermann habe sich mit ihr abzufinden, aber auch das Beste aus ihr zu machen, denn alle Menschen sind zur Gemeinschaft bestimmt139.

Über den Sinn dieses Befundes grübelte Montaigne nicht nach; ihm genügte, die jedem Staat und seinen Bürgern jeweils gestellte Aufgabe er-kannt zu haben: bestehende Ordnung mit sauberen Händen140 zu wahren und zu erhalten. Diese politische Weisung entsprach seiner seelischen Kon-stitution: „ J'ayme l'ordre et la netteté"141.

Unter „Ordnung" aber verstand Montaigne den „guten Zustand" (bon ordre = bon état)142. Er verwirklicht sich im politischen Bereich in der rechten „Verfaßtheit" (police), die er nach dem Vorbild der römischen Stoa als „la police du monde"143 verstand; Abbild dieser Weltordnung müsse menschliche Sozialordnung sein: weder mißgestaltet (difforme) noch anarchisch (desreglée)144. Unter diesem Aspekt beurteilte Montaigne den Verfassungszustand Frankreichs im 16. Jahrhundert sehr kritisch: „la con-

136 „ . . . le plus sçavant homme qui nous reste, d'un esprit très-poly et judicieux" (1.

II, ch. XI I , p. 650. Vgl. 1. I, ch. X X V I , p. 158). 137 „ . . . les justes et naturelles limites de nostre vie . . ." (1. I, ch. X X V I , p. 171). 138 „Et certes toutes ces descriptions de police, feintes par art , se t rouvent ridicules et

ineptes à mettre en practique . . ." (1. III , ch. IX, p. 394). 139 „ . . . cette condition de vivre p a r la relation à a u t r u y . . . " (1. I I I , ch. IX, p. 393). 140 „ . . . car le droit de la vertu doibt prévaloir le droit de nostre obligation" (1. I I I ,

ch. I, p. 219). 141 1. III , ch. IX, p. 392. 542 Villey, 1. c., p. 462. 143 1. II, ch. XI I , p. 501. 144 Ibid., p. 500.

Rechtswirklichkeit und Justizkritik bei Montaigne 657

fusion de l'ordre et mesure des pechez est dangereuse" ; Mörder, Verräter und Tyrannen fänden ihren Vorteil dabei145.

2. Diese Erfahrungen machen Montaignes Skepsis gegenüber abstrakten Erörterungen der Idee des „wahren Staats" verständlich und lassen seine Abneigung gegen Entwürfe einer „besten Verfassung" wohl begreifen. Er sagte: „Nicht nach beliebiger Meinung, sondern in Wahrheit ist die aus-gezeichnete und beste Verfassung für jede Nation diejenige, unter der sie sich aufrechterhalten hat."146

Im übrigen hänge ihre Form, wie die Annehmlichkeit (commodité), unter ihr zu leben, wesentlich vom Herkommen ab. Es sei deshalb töricht, in einer Republik (estât populaire) aristokratische Befehlsgewalt (com-mandement de peu) zu erstreben oder in einer Monardiie eine andere Re-gierungsweise (espece de gouvernement)147.

Ein realistischer Konservativismus, wurzelnd in der Erfahrung, daß „nichts einen Staat so bedrücke, wie die Neuerungen: deren Wechsel führe zur Ungerechtigkeit und zur Tyrannei"148, ist das Fundament von Mon-taignes politischem Denken; in politicis, meint er, sei jeweils „das ältere, aber wohlbekannte Übel noch erträglicher als das jüngst aufgekommene, unerprobte"149. So erscheint sein Schildern politischer Zustände von Grund aus bestimmt von einem — weder erasmisch-optimistisch noch madiiavel-listisch-pessimistisch durchstimmten — Dasein in der einmal gegebenen „Lage". Er fühlte, daß alles, was ist, notwendig ist, wie es ist, und so werden mußte — eine Einsicht, die thukydideischem Denken aus dem „εκ των "entsprach; um so mehr verwundert es, daß Montaigne

den ihm geistesverwandten griechischen Historiker anscheinend nicht ge-kannt hat150.

„La nécessité compose les hommes et les assemble. Cette cousture fortuite se forme après en loix."151 Hinter diesen Sätzen steht, wie bei seinem Ta-deln allzu rascher Veränderungen der Rechtsordnung, seine konkrete „ex-périence": Sie bedingt den Wunsch, zu erhalten, was (noch) da ist, was

145 1. II, ch. II, p. 373, 386. 146 „Non par opinion mais en vérité, l 'excellente et meilleure police est à chacune na-

tion celle soubs laquelle elle s'est maintenue" (1. I I I , ch. IX, p. 395). 147 1. I I I , ch. I X , p. 395. 148 „Rien ne presse un estât que l ' innovat ion: le changement donne seul forme à l'in-

justice et à la tyrannie" (1. I I I , ch. IX, p. 395). 149 1. III , ch. IX, p. 397: „ . . . le plus vieil et mieux cogneu mal est tousjours plus sup-

portable que le mal recent et inexperimenté" (nach Livius X X I I I 3).

150 N u r d | e berühmte „Pathologie des Krieges" ( I I I 52) hat er einmal nach Plutarch

zitiert (1. I, ch. X X I I I , p. 126. Vgl. M. Rat, t. I, p. 697). 151 1. I I I , ch. IX, p. 394.

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übrigblieb nach der entsetzlichen Korruption der Bürgerkriegszeit „quip-pe ubi fas versum atque nefas"152 — wo Recht und Unrecht sich vermeng-ten zu einer Ausartung des gesellschaftlichen und zur Entartung des staat-lichen Lebens.

Trotz dieser und anderer bitterer Urteile, die in der Feststellung: „notre police se porte mal"153 gipfeln, verwarf Montaigne die Revolution, weil sie mehr niederreißt, als sie wiederaufbauen kann. „Alle großen Verände-rungen erschüttern den Staat und bringen ihn in Verwirrung."154 Er lobt deshalb Unterwerfung unter die Obrigkeit gemäß dem paulinischen Rat155; aber auch hier nicht auf Grund der biblischen Weisung, sondern nur die sachliche Gebotenheit, den ordre public aufrechtzuerhalten, daran exem-plifizierend.

Und doch gab es auch für ihn eine Grenze loyaler Duldsamkeit. Nach erfüllter Gehorsamspflicht gibt es keinen Grund „de refuser à la justice et à nostre liberté l'expression de nos vrays ressentiments"150. Damit an-erkannte er das Redit und die Pflicht wenigstens zur Feststellung unge-rechter Staatsaktionen und zu einer wertenden Unterscheidung guter von bösen, rechter von ungerechten Regenten; das sei ein Erfordernis der „justice publique". Diese bedacht gewählten und behutsam kombinierten Wendungen sind freilich weit entfernt von der calvinistischen Wider-standslehre. Sie bleiben zurück hinter dem radikalen Staatsethos von Montaignes Freund La Boétie. Dennoch zeigt sich in ihnen der Einfluß des Frühverstorbenen und ein Nachwirken seiner Gedanken. Audi würde sich Montaigne vermutlich dezidierter und unbefangener zum Wider-standsrecht geäußert haben, wäre nicht die tagespolitische Auswertung solcher Gedanken durch die Hugenottenpartei seinem Loyalismus und traditionellen Royalismus peinlich gewesen und wie ein Unrecht vorge-kommen157.

3. Sein eigenartiger, mit humanistischer Kritik durchsetzter Konserva-tivismus hinderte Montaigne daran, der zeitgenössisch so einflußreichen Idee der Staatsräson in seinem politischen Denken breiteren Raum zu geben. Obwohl er Machiavellis „Discorsi" schätzte und den „Principe" kannte158,

Vergil, Georgica I 505. 153 1. III, ch. IX, p. 3 9 8. 154 Ibid., p. 396.

„La religion Chrestienne a toutes les marques d'extreme justice et utilité; mais

nulle plus apparente, que l'exacte recommandation de l'obéissance du Magistrat et manu-

tention des polices" (1. I, ch. X X I I I , p. 127). 150 1. I, ch. I l l , p. 12. 157 Zu dieser Frage: Maurice Rat, 1. c., t. II, Appendice: Montaigne et La Boétie,

p. 579—611. 158 „Les discours de Machiavel . . . estoient assez solides . . ." (1. II, ch. X V I I , p. 58;

.1 II, ch. X X X I V , p. 142: Kritik am Historiker M.).

Rechtswirklichkeit und Justizkritik bei Montaigne 659

widerstand er entschlossen jeder Versuchung, den Staat zu totalisieren; er hat — freilich weniger aus moralischer Entrüstung als aus praktischer Nei-gung für ständische und persönliche Unabhängigkeit159 — die unvermeid-lichen Folgen jedes politischen Absolutismus: wachsende Zentralisierung und Uniformierung des öffentlichen wie des privaten Lebens, Zunahme der Herrschaft bürokratischen Beamtentums, gründlich degoutiert, als einen ihm in jeder Form verhaßten Zwang160.

Weil ihm die Wahrung bestehenden Rechts als Hauptaufgabe staatlicher Ordnung erschien, dachte Montaigne sich die politische Verfassung nodi weithin — mehr als Bodin — von der mittelalterlichen Sozialstruktur her bestimmt. Seinen Rechtsvorstellungen, die im droit coutumier wurzelten, weshalb er auf guten Gerichtsgebrauch und altbewährte Lokalstatuten mehr hielt als auf verwissenschaftlichte Jurisprudenz und umfassende Lan-desgesetzgebung, entsprach sein Bild sozialer Verfaßtheit: Es war bestimmt durch das korporative Leben.

Sogar der König stand für ihn nicht außerhalb seines Volks, sondern in ihm. Wie jeder andere Mensch ist er Leiden und Leidenschaften, Schick-salsfügungen und Unglücksfällen ausgesetzt161; er braucht deshalb seinen Adel, dem die Schutzaufgabe im Staat obliegt162. Deshalb sah Montaigne auch im König noch den obersten Heerführer und zur persönlichen Treue verpfliditeten Lehnsherrn, der mit seinen Rittern gemeinsam kämpft163, aber auch im Frieden mit ihnen gemeinsam lebt, von ihnen besucht wird und den Besuch erwidert, so wie Heinrich IV. einmal auf Schloß Montaigne im Bett des Seigneur Michel vom „Ordre de St. Michel" übernachtet hat.

4. Aus diesen soziologisch-politischen Vorstellungen ergab sich für Mon-taigne die merkwürdig „liberal" erscheinende, jedoch gutem, altem Her-kommen entstammende Maxime: der Staat müsse auf seine eigentliche, die öffentliche Aufgabe des Friedens und der Gerechtigkeit, beschränkt bleiben. Der Inhaber politischer Gewalt steht unter dem Gesetz164.

Deshalb konzediert er der stets imperfekten staatlichen Verwaltung185

nur so viel, als zur Erhaltung des „ordre public" notwendig ist. Im übrigen gehe das Staatswohl (bien commun) dem Einzelinteresse nur ausnahms-weise (in Notfällen) so weit vor, daß es den Eingriff in private Rechte erlaube oder gar rechtfertige166.

159 1. III , ch. IX, p. 405. 100 Vgl. Anm. 36. Ferner 1. I I I , ch. V, p. 276: „(Je) hay toute sorte de liaison et d 'obligation . . ."

) e l 1. I, ch. XLI I , p. 292. 162 1. II, ch. VII , p. 421. 1. I I , ch. X X I , p. 80. 184 1. I, ch. I l l , p. 12: "(Les Princes) sont compagnons, si non maistres des loix." 105 1. I I I , ch. I, p. 206. 1 β β 1. III, ch. I, p. 208.

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Den „loix de la conscience", den Bindungen des Gewissens, unterstehen nach Montaigne auch Staatsaufträge (offices). Weil im Gewissen des ein-zelnen nicht dessen Individualvernunffc oder Willkür befiehlt167, son-dern die feste Uberlieferung der „coutumes" und „usages" lebt, erscheint der Staat an diese: die ständische, Lebensordnung, gebunden168. Maßge-bendes Leitbild dieser Tradition ist die konkrete Entscheidung des selbst-verantwortlichen honnête homme, wofür Montaigne geschichtliche und literarische Beispiele anführt.

Eine Sozialordnung humaner Ehrbarkeit (honnesteté), gebieten diese praktischen Weisungen des politischen Handelns von Fall zu Fall ein Ver-halten der Rechtlichkeit (droiture), das im ganzen Bereich des öffentlichen verpflichtet: für diplomatische Verhandlungen gilt es ebenso wie für ad-ministrative Maßnahmen; für militärisches Kommando wie für haus-väterliche Zucht.

5. Sind „Friede und Recht" (worin die mittelalterliche Formel „pax

et iustitia" nachklingt) Aufgabe des ordre public, so gilt es in jedem Staat

sie zu bewahren und zu bewähren. a) Montaigne lobt zwar die soldatische Tapferkeit als Prüfstein männ-

licher Tüchtigkeit und sieht im militärischen Ruhm auch eine Ehre des Staates, nicht nur des Einzelnen169; aber er tut es nicht, ohne zugleich das Nichtige und Lächerliche daran zu bemerken, wenn er sich der winzigen Bedeutung des Menschen im Weltganzen erinnert. Infolgedessen nimmt er zum Problem des gerechten Krieges in abstracto so wenig Stellung wie zu verwandten topoi der moralisch-literarischen Diskussion170.

In bewaffneten Auseinandersetzungen innerhalb eines Staates (guerres civiles) freilich findet er den Grund für die Zerstörung aller Lebensgüter. Um diesen inneren („natürlichen") Frieden im Land zu bewahren, muß deshalb jeder im Staat Verantwortliche drei Aufgaben erfüllen, so wie Montaigne es nach eigenem Zeugnis als Maire von Bordeaux versucht hat171: Er muß die äußere Ordnung von Sitte und Anstand gelassen auf-rechterhalten, ohne Härte und Zorn, mit Maßen; er muß für Sicherheit des Verkehrs sorgen, durch verläßliches, redliches, anständiges Bear-

">7 Deshalb auch kein Überspannen pr ivater Rechtsansprüche! Montaigne selbst wollte

nicht „monter par dessus leur droicte valeur ses droicts" (1. III , ch. X, p. 464). 16S Es soll keine „justice énorme" der Staatsräson (I. I I I , ch. I, p. 207) geben, sondern

eine „justice humaine" : keinen Bruch des Privatrechts (1. I I I , ch. I, p. 220), freilich auch

kein Widerstandsrecht (ibid., p. 217/219). 169 1. III, ch. XI I I , p. 554. 170 Dazu : Hugo Friedrich, a.a.O., S. 313. 171 1. III, ch. X, p. 467—469.

Rechtswirklichkeit und Justizkritik bei Montaigne 661

beiten der sachlichen Anliegen, ohne Hast und Ungeduld, Übertreibung und Schlamperei, den mittleren Weg suchend; er muß für das Volk aller Schichten da sein, auf Erhaltung angestammter Sitten und Bräuche ach-ten, ohne Schikanen und unnütze Zeremonien das „einfache Leben"172

vorleben und das „jeweils Nächstliegende" tun173.

b) Indem Montaigne dies alles begrenzt und begründet weiß in objektiv bestehenden Rechtslagen und subjektiv darin bewährter Rechtlichkeit, be-kennt er sich — wie sein Zeitgenosse Bodin — zur Herrschaft des Rechts. Le „juste gouvernement"174 ist das Leitbild aller politischen Institutionen und Aktionen. Darum läßt er in dieser Sache seine sonst maßgebende Vor-liebe für Toleranz und Neutralität, für das „Sichzurückhalten" (έπέχειν) nicht gelten. Er fordert Parteinahme175 im privaten und öffentlichen Le-ben, wenn und wo immer das Recht verletzt wird. So sehr ihm innere Spal-tungen, Streitigkeiten um ständische Vorrechte oder um konfessionelle Positionen im Staat zuwider waren, so hielt er es doch für Pflicht, wenn es darüber zu einer Scheidung der Bürger in Kampfgruppen um die po-litische Macht gekommen sei, für diejenige Seite Partei zu nehmen, die ein Ehrenmann nach gewissenhafter Prüfung für die „rechte" erkannt habe.

6. Vorbild eines rechten Staatsmannes war demnach für Montaigne der redliche und gewissenhafte, humane und maßvolle Regent; sei es ein Fürst oder ein Magistrat. Aus den vielen sich dafür anbietenden antiken Exem-peln wählte er Epaminondas176 zum maßgebenden Leitbild, weil dieser tüchtige Ratgeber im Frieden, der seiner Stadt das „gemeine Beste" (bien commun) erhalten wollte, als tapferer Anführer im Krieg dafür sein Leben gegeben habe. Diese „vaillance" stelle ihn über Eroberer und Gewalt-herrscher wie Alexander, sogar Cäsar.

172 1. II, ch. X V I I , p. 65 rühmt er die „simplesse" der „meurs de paysan" ; 1. I I I , ch. X I I I , p. 558 lobt er „le bon pere que Dieu me donna .. . me dressant à la plus basse et commune façon de v ivre . . . soubs des loix populaires et naturelles .. ."; er billigt die Lu-xusverbote („loix somptuaires"), obwohl er um ihren wahren Grund (Sperre italienischer Importwaren) wußte (1. I, ch. XLI I I , p. 299).

173 1. II, ch. I, p. 368: „rapporter aux circonstances voisines sans entrer en plus longue recherche. .

174 1. I, ch. X X I V , p. 140. 175 1. I I I , ch. X, p. 458; aber nicht auf rechtswidrige Ar t (p. 459)! 175 1. I, ch. I, p. 5: Festigkeit gegen Volksanklage; 1. I, ch. X X , p. 80: Ausspruch (nach

Plutarch), wonach der Tod über den Wert eines Mannes entscheidet; 1. II, ch. X I , p. 464: Seine Ablehnung des Reichwerdens; 1. II , ch. X X X V I , p. 166/167: der hervorragendste Mann der Geschichte; 1. I I I , ch. I, p. 219: seine Gerechtigkeit und Milde.

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',48 Erik Wolf

Markanter als dieser (etwas schulmäßig anmutende) Vergleich antiker politischer Tugendhelden erscheint für Montaignes jeweiliges Denken aus persönlicher Lebenserfahrung die in seinem Reisejournal berichtete Anek-dote. Spontan erstaunend und bewundernd — was im ganzen Dokument nur sehr selten geschieht — läßt Montaigne seinen Sekretär aufzeichnen, welchen Eindruck ihm ein Ratsherr von „Melhouse" gemacht hat: „sans ambition et affectation" kam er vom „conseil de la ville, et d'un palais magnifique, ou il avoit présidé" zurück in den ihm gehörenden Gasthof zur Traube, wo Montaigne logierte, „pour servir ses hostes à table". Der Sekretär hat hinzugefügt: „Ii print un plesir infini à voir la bonne police de ceste nation."177

IX.

Da bisher ein annähernd vollständiges Bild von Montaignes Sozial-denken nicht erarbeitet worden ist, sind seine Wirkungen auf die Rechts-und Sozialphilosophie kaum erforscht. Doch läßt sich etwas davon an-deuten.

1. Seine Hinwendung zum persönlichen Bereitsein für individuell be-gründete und begrenzte Lebensordnung, die den menschlichen Wert des Einzelnen bezeugt — ohne Rücksicht auf seine Herkunft, seine Lebensum-stände und seine soziale Funktion — stärkte den Sinn für eine auf Frei-heit und Recht gegründete Verfassung, der im 16. und 17. Jahrhundert den Aufstieg der politischen Theorie bedingt hat.

Mit seinem einzigartigen Stil sachlicher Beobachtung und freimütigen Konstatierens der Wirklichkeit hat Montaigne den in Frankreich immer (bis zu Daumiers Karikaturen hin) wachgebliebenen Sinn für literarische und zugleich volkstümliche Kritik an der Justiz geweckt.

2. Mit unmittelbarer Anschauung und vorurteilsloser Bejahung des Wirklichen in seiner Wirklichkeit hat Montaigne — fern jedem späteren romantischen „Organizismus" oder empiristischen „Szientismus" — „Na-türliches" in Recht und Staat geschichtlich verstanden und „Geschicht-liches" in seiner Naturbedingtheit geschildert.

Dieser neue Ansatz fand bei Montesquieu seine Vollendung. Über ihn wirkte Montaigne auf die moderne Sozialtheorie, wovon Rechtsethno-logie, Sozialbiologie, Rechts„tatsachenforschung" zeugen. Sogar die gegen-wärtige Wendung der Rechts- und Sozialphilosophie zur „Natur der

177 1. c„ p. 13/14.

Rechtswirklichkeit und Justizkritik bei Montaigne 663

Sache" könnte von einem Rückblick auf Montaignes Ersteinblicke in ihr Anliegen etwas profitieren.

3. Die Achtung vor allem Seienden, das sich in unendlicher Mutation und Variation entwickelt, gibt dem ontologisch (aber nicht positivistisch) und geschichtlich (aber nicht historisch) „schildernden" Sozialdenken Mon-taignes die Besonderheit. Verbunden mit dem Erlebnis vom Recht des Nächsten als Grund und Aufgabe der sozialen Ordnung im ganzen wie im einzelnen hat Montaignes Sozialrecht der Natürlichkeit des Menschen mit dem dogmatischen und historischen Rechtspositivismus des 19. Jahr-hunderts wenig gemein und ist mit dem psychologisch-soziologischen des 20. Jahrhunderts nur entfernt verwandt.

Größere Ähnlichkeit zeigt sein Rechtsdenken mit der Verbindung von Naturrecht und Geschichtlichkeit bei Vico. Dessen Gedanke einer natür-lich-geschichtlich gewachsenen Ordnung hat zur Gründung der Histori-schen Rechtsschule mitgewirkt. Er ist ein früher Entwurf „konkreten Na-turrechts", dessen Erinnerung das heutige Gespräch darüber bereichern könnte.