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„Nach mir die Sintflutoder: Wie können wir (als Christen/Gemeinden/Kirchen) angemessen auf die ethischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts reagieren? Die Antwort darauf soll schrittweise erarbeitet werden, indem auf folgende Fragen Antworten gesucht werden: 1. Was sind die Veränderungen im 21. Jahrhundert, die zu Herausforderungen werden? (sozial, politisch, ethisch) 2. Was sind die (berechtigten) Erwartungen an die Christen/Gemeinden/Kirchen? 3. Wie können wir dazu beitragen, dass bei der Vielfalt der möglichen Perspektiven, unter denen die Herausforderungen betrachtet werden können (und müssen), die ethische nicht zu kurz kommt? Oder ist nicht die Ethik auch in den Kirchen gegenüber der Ökonomie eine vernachlässigte Dimension? Wir konzentrieren uns dabei hier auf vier verschiedene Spannungsfelder, in der wir in den Gemeinden in besonderer Weise herausgefordert werden: a. Wirtschaftlichkeit contra Fürsorgepflicht (am Beispiel Diakonie) b. Wem gehört der menschliche Körper – zwischen Verfügungs- oder Nutungsrecht (Enhancement (Optimierung des Menschen) contra Geschöpflichkeit) c. Wo beginnt und wo endet Menschsein (Hirntod contra Gesamttod, ) d. Pluralität der Welterklärungen (Weltbilder) contra Wahrheitsanspruch des Christentums Zu 1. Was sind die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts? Angestoßen von den wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen, vollziehen sich in gegenwärtig eine Reihe von Veränderungen.

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„Nach mir die Sintflut“ oder: Wie können wir (als Christen/Gemeinden/Kirchen) angemessen

auf die ethischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts reagieren?

Die Antwort darauf soll schrittweise erarbeitet werden, indem auf folgende Fragen Antworten gesucht werden:

1. Was sind die Veränderungen im 21. Jahrhundert, die zu Herausforderungen werden? (sozial, politisch, ethisch)

2. Was sind die (berechtigten) Erwartungen an die Christen/Gemeinden/Kirchen?

3. Wie können wir dazu beitragen, dass bei der Vielfalt der möglichen Perspektiven, unter denen die Herausforderungen betrachtet werden können (und müssen), die ethische nicht zu kurz kommt?

Oder ist nicht die Ethik auch in den Kirchen gegenüber der Ökonomie eine vernachlässigte Dimension?

Wir konzentrieren uns dabei hier auf vier verschiedene Spannungsfelder, in der wir in den Gemeinden in besonderer Weise herausgefordert werden:

a. Wirtschaftlichkeit contra Fürsorgepflicht (am Beispiel Diakonie)

b. Wem gehört der menschliche Körper – zwischen Verfügungs- oder Nutungsrecht (Enhancement (Optimierung des Menschen) contra Geschöpflichkeit)

c. Wo beginnt und wo endet Menschsein (Hirntod contra Gesamttod, )

d. Pluralität der Welterklärungen (Weltbilder) contra Wahrheitsanspruch des Christentums

Zu 1. Was sind die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts?

Angestoßen von den wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen, vollziehen sich in gegenwärtig eine Reihe von Veränderungen.

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Diese Veränderungen haben z.T. immense Auswirkungen auf viele Lebensbereiche, so wie auch auf Kunst, Kultur, Philosophie und Religion. Diese Situation, in dem sich die gegenwärtige abendländische Gesellschaft befindet, wird allgemein als Übergang von der Moderne zur Postmoderne bezeichnet.

Als Postmoderne im besonderen Sinn gilt eine politisch-wissenschaftlich-künstlerische Richtung, die sich gegen bestimmte Institutionen, Methoden, Begriffe und Grundannahmen der Moderne wendet und diese aufzulösen und zu überwinden versucht. Die Vertreter der Postmoderne kritisieren das Innovationsstreben der Moderne als lediglich habituell und automatisiert. Sie bescheinigen der Moderne ein illegitimes Vorherrschen eines totalitären Prinzips, das auf gesellschaftlicher Ebene Züge von Despotismus in sich trage und das bekämpft werden müsse. Maßgebliche Ansätze der Moderne seien eindimensional und gescheitert. Dem wird die Möglichkeit einer Vielfalt gleichberechtigt nebeneinander bestehender Perspektiven gegenübergestellt (Relativismus). Mit der Forderung nach einer prinzipiellen Offenheit von Kunst wird auch kritisch auf die Ästhetik der Moderne Bezug genommen.

Die Diskussion über die zeitliche und inhaltliche Bestimmung dessen, was genau postmodern sei, wird etwa seit Anfang der 1980er Jahre geführt. Postmodernes Denken will nicht als bloße Zeitdiagnose verstanden werden, sondern als kritische Denkbewegung, die sich gegen Grundannahmen der Moderne wendet und Alternativen aufzeigt. Ich verwende hier den Begriff „Postmoderne als eine Zustandsbeschreibung gegenwärtiger gesellschaftlicher Situation.

Elemente postmodernen Denkens und Urteilens sind:

Absage an das seit der Aufklärung betonte Primat der Vernunft (ratio) und an die Zweckrationalität (die bereits in der Moderne erschüttert wurden)

Verlust des autonomen Subjekts als rational agierende Einheit Neue Hinwendung zu Aspekten der menschlichen Affektivität und Emotionalität Ablehnung oder kritische Betrachtung eines universalen Wahrheitsanspruchs im Bereich

philosophischer und religiöser Auffassungen und Systeme (sog. Metaerzählungen oder Mythen wie Moral – wodurch Postmoderne zum Amoralismus wird – , Geschichte, Gott,

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Ideologie, Utopie oder Religion, aber auch, insofern sie einen Wahrheits- oder Universalitätsanspruch trägt, Wissenschaft)

Verlust traditioneller Bindungen, von Solidarität und eines allgemeinen Gemeinschaftsgefühls

Sektoralisierung des gesellschaftlichen Lebens in eine Vielzahl von Gruppen und Individuen mit einander widersprechenden Denk- und Verhaltensweisen

Toleranz, Freiheit und radikale Pluralität in Gesellschaft, Kunst und Kultur Dekonstruktion, Sampling, Mixing von Codes als (neue) Kulturtechniken Zunehmende Zeichenhaftigkeit der Welt Versuche der Abkehr von ethno- und androzentrischen Konzepten

Mittelalter Moderne Postmoderne

Jüdisch-christliches Weltbild Großes Vertrauen in die Möglichkeiten der Vernunft

Verschiedene Wahrheiten werden akzeptiert

Gott als Mittelpunkt Wissen als Mittelpunkt Individuum als Mittelpunkt

Macht bei der Kirche Macht beim Wissen Macht bei der persönlichen Erfahrung

Bibel nach der Auslegung der Kirche

Bibel nach der Interpretation der Vernunft

Bibel ist eine von vielen religiösen Schriften in der eigenen Interpretation

„Ich glaube an eine Ordnung, die ich verstehe.“ Anselm (1033-1099)

„Ich denke, also bin ich“ Decartes (1596-1650)

„If it makes you happy, it can‘t be bad“ Sheryl Crow

1.1. Sozial:

Die Bevölkerung lebt zunehmend in verschieden, von einander getrennten Lebenswelten. Als Lebenswelten lassen sich dabei grundlegende Wertorientierungen verstehen, ebenso wie Alltagseinstellungen – zur Arbeit, zur Familie, zur Freizeit, zu Geld und Konsum. In ihnen finden sich Menschen, die sich in ihrer Lebensauffassung und Lebensweise ähneln.

Nach jahrzehntelanger sozialwissenschaftlicher Forschung hat das private Marktforschungsinstitut Sinus Sociovision 2007 erstmals eine Analyse vorgelegt, in der Menschen in solch vergleichbaren Lebenswelten sogenannten Sinus-Milieus zugruppiert werden.

Das ursprüngliche Modell beruht auf dem Konzept der Lebensweltforschung. Bei der Definition der Milieus handelt es sich im Unterschied zur traditionellen Schichteinteilung um eine inhaltliche Klassifikation. Die Grenzen zwischen den Milieus sind dabei fließend, sie sind durch Ähnlichkeiten untereinander und durch Übergänge gekennzeichnet. So lassen sich die einzelnen Milieus auch tendenziell in Obergruppen zusammenfassen. Die Milieus dokumentieren unterschiedliche Zugänge zu den Medien, verschiedene Interessen und Erwartungen und damit auch Sparteninteressen.

Die Sinus-Milieus stellen eine bewusste Abkehr von formalen demografischen Kriterien wie Schulbildung, Beruf oder Einkommen dar. Ihnen liegt die Einsicht zu Grunde, dass soziodemografisch gleiche Menschen sich in ihren Präferenzen, Einstellungen und Verhaltensweisen sehr voneinander unterscheiden können und damit zwei völlig verschiedenen Zielgruppen angehören können. Man könnte die Milieus als "Gruppen Gleichgesinnter" bezeichnen; denn die Vorlieben für bestimmte Marken und der Konsum bestimmter Produkte werden nicht nur von soziodemografischen Merkmalen, sondern auch vom Lebensstil der jeweiligen Gruppen, von Wertorientierungen und ästhetischen Präferenzen beeinflusst.

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Die Studie teilt die Bevölkerung in 10 Milieus ein, die sich durch die soziale Lage und die Grundorientierung ergeben.

„Die Grenzen zwischen den Milieus sind fließend; Lebenswelten sind nicht so (scheinbar) exakt eingrenzbar wie soziale Schichten. Wir nennen das die Unschärferelation der Alltagswirklichkeit. Ein grundlegender Bestandteil des Milieu-Konzepts ist, dass es zwischen den Milieus Berührungspunkte und Übergänge gibt. Diese Überlappungspotenziale sowie die Position der Milieus in der Gesellschaft nach sozialer Lage und Grundorientierung veranschaulicht die Milieugrafik (auch „Kartoffelgrafik“ genannt): Je höher ein Milieu in dieser Grafik angesiedelt ist, desto gehobener sind Bildung, Einkommen und Berufsgruppe; je weiter es sich nach rechts erstreckt, desto moderner im soziokulturellen Sinne ist die Grundorientierung. In dieser „strategischen Landkarte“ können Produkte, Marken, Medien etc. positioniert werden.“1

Kurzcharakteristik:

Gesellschaftliche Leitmilieus

Sinus B1 (Etablierte) 10% Das selbstbewusste Establishment: Erfolgs-Ethik, Machbarkeitsdenken und ausgeprägte Exklusivitätsansprüche

Sinus B12 (Postmaterielle) 10% Das aufgeklärte Nach-68er-Milieu: Liberale Grundhaltung, postmaterielle Werte und intellektuelle Interessen

Sinus C12 (Moderne Performer) 10 % Die junge, unkonventionelle Leistungselite: intensives Leben – beruflich und privat, Multi-Optionalität, Flexibilität und Multimedia-Begeisterung

Traditionelle Milieus

Sinus A12 (Konservative) 5% Das alte deutsche Bildungsbürgertum: konservative Kulturkritik, humanistisch geprägte Pflichtauffassung und gepflegte Umgangsformen

Sinus A23 (Traditionsverwurzelte) 14% Die Sicherheit und Ordnung liebende Kriegsgeneration: verwurzelt in der kleinbürgerlichen Welt bzw. in der traditionellen Arbeiterkultur

1 SINUS Markt- und Sozialforschung GmbH, Heidelberg

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Sinus AB2 (DDR-Nostalgische) 4% Die resignierten Wende-Verlierer: Festhalten an preußischen Tugenden und altsozialistischen Vorstellungen von Gerechtigkeit und Solidarität

Mainstream-Milieus

Sinus B2 (Bürgerliche Mitte) 15% Der statusorientierte moderne Mainstream: Streben nach beruflicher und sozialer Etablierung, nach gesicherten und harmonischen Verhältnissen

Sinus B3 (Konsum-Materialisten) 12% Die stark materialistisch geprägte Unterschicht: Anschluss halten an die Konsum-Standards der breiten Mitte als Kompensationsversuch sozialer Benachteiligungen

Hedonistische Milieus

Sinus C2 (Experimentalisten) 9% Die extrem individualistische neue Bohème: Ungehinderte Spontaneität, Leben in Widersprüchen, Selbstverständnis als Lifestyle-Avantgarde

Sinus BC3 (Hedonisten) 11% Die Spaß-orientierte moderne Unterschicht/ untere Mittelschicht: Verweigerung von Konventionen und Verhaltenserwartungen der Leistungsgesellschaft

Erwähnenswert ist in unserem Zusammenhang auch die Tatsache, dass innerhalb der Milieus auf unterschiedliche Ethikbegründungen zurückgegriffen wird, die dann auch unterschiedliche Argumentationsstratgien bevorugen.

Eine Befürchtung, die sich auftut, ist die Frage: Was geschieht, wenn die Milieus weiter auseinander driften und es zu einem „Kampf der Subkulturen“ kommt?

Allein die Kurzbeschreibung der einzelnen Gruppen gibt schnell Aufschluss darüber, in welchem Milieu sich die meisten Gemeinden und Gemeinschaften befinden.

Ohne Zweifel können der größte Teil unserer Gemeinden der bürgerlichen Mittelschicht zugerechnet werden. Unsere Kirchen und Gemeindezentren sind hochwertig eingerichtet. „Sie bevorzugen eine Mischung aus konventionell und modern, aus gediegen und repräsentativ. Sie investieren viel in die Ausstattung ihrer Wohnung / ihres Hauses, lassen dabei aber auch nicht ihr

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eigenes Outfit zu kurz kommen.“2 Es wird deutlich: „etablierte Gemeinden“ (als Milieukirchen) schließen durch ihre Prägung mindestens 50% der Gesamtbevölkerung aus.

Je genauer wir uns die Lebensäußerungen, Interessen und Werte der einzelnen Milieus ansehen, umso mehr lassen sich Gräben und Mauern entdecken.

Die Frage, die sich für Christen/Gemeinden/Kirchen in diesem Zusammenhang stellt ist die, wie andere als die bisherigen Milieus mit dem Evangelium erreicht werden können. Drei Entwürfe als Antwort auf diese Herausforderungen:

– Ein eher struktureller Ansatz von Michael Forst und Alan Hirsch3 und – ein stärker auf unser Wesen als Christen bezogener Ansatz von Dr. Markus Müller4.

– Dan Kimball

(Autor), Ingo Schütz (Übersetzer), Emerging Church - Die postmoderne Kirche: Spiritualität und Gemeinde für neue Generationen

Der strukturelle Ansatz von Michael Forst und Alan Hirsch5

Die zwei Evangelisten aus Australien haben aufgrund ihrer weltweiten Beobachtungen von Gemeinden in postmoderner Zeit eine theologisch fundierte Zeitanalyse vorgelegt. Sie zeigen Entwicklungsschritte und Herausforderungen für die Kirche auf und plädieren für einen leidenschaftlichen Aufbruch.

Attraktional oder inkarnatorisch

Mit zwei Adjektiven beschreiben Hirsch und Forst die erste Veränderung, die für die Entwicklung des 21. Jahrhundert wichtig ist: attraktional und inkarnatorisch. Attraktional heißt etwas verkürzt: Wir erwarten, dass die Menschen zu uns kommen und Teil unserer Gemeinschaft in unserer Kultur und in unserem Milieu werden. Egal wie unsere Mission, unsere Verkündigung und unsere konkrete Umsetzung aussehen: Es bedeutet immer, dass wir unser Ziel erreicht haben, wenn die „Neuen“ zu uns kommen und so werden wie wir. Inkarnatorisch leitet sich vom griechischen Verb für die Fleischwerdung Jesu ab. Es bedeutet zu den anderen zu gehen und so zu werden wie sie, um dort mit ihnen die frohe Botschaft zu leben und letztlich in ihrem Milieu und ihrer Kultur Gemeinde zu bauen.11 Dies würde praktisch bedeuten, ich beginne mit den Menschen in meiner Nachbarschaft zu leben, die nicht der bürgerlichen Mittelschicht angehören. Oder ich ziehe in einen Stadtteil, wo dies der Fall ist. Die bestehenden Gemeinden würden nicht ihre eigene Versorgung und den eigenen Erhalt als oberstes Ziel sehen, sondern die Gründung von neuen Gemeinden in anderen Milieus. Für die Mission in anderen Ländern dieser Welt und in anderen Kulturen ist zum Glück schon länger klar, dass wir die Menschen nicht mit unserer Kultur missionieren wollen, sondern mit dem Evangelium. Dieses Bewusstsein ist sicher auch für die kirchliche Arbeit im Inland geeignet.

Dualistisch oder messianisch

Die nächsten Begriffe dualistisch oder messianisch entlarven erneut ein Denkmuster, das sich tief in unser christliches Bewusstsein eingeprägt hat, obwohl es nicht primär christlich ist. Wir denken griechisch, also dualistisch: Es gibt richtig und falsch, gut und böse, christlich und unchristlich. Und die einen Begriffe kennzeichnen alles, was gut, hilfreich und erlaubt ist, während die anderen Begriffe alles Schlechte, Gefährliche und Böse beschreiben.

2 Kimball, Dan: Emerging Church, die Postmoderne Kirche, Asslar 20033 Michael Forst, Alan Hirsch: Die Zukunft gestalten, Innovation und Evangelisation in der Kirche des 21. Jh.4 Dr. Markus Müller, St. Chrischona beim Treffen von Verantwortlichen im Feb. 08 in Schw. Gmünd.5 Michael Forst, Alan Hirsch: Die Zukunft gestalten, Innovation und Evangelisation in der Kirche des 21. Jh., Asslar 2008

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Hirsch und Forst zeigen auf, dass Jesus stark im jüdischen Denken verwurzelt war und „messianisch“ lebte und dachte. Er baute keine Grenzen zwischen profan und heilig. Er lebte mit den Menschen ohne zu urteilen und Grenzen zu ziehen. Er kam in die sündige Welt zu allen Sündern, um alle zu retten. Diese Art zu denken hat nicht die eigene Absicherung im Blick, sondern die Hinwendung zum Anderen, ungeachtet seiner Situation oder Stellung. Können wir ohne Negativfolien „die Welt da draußen“ hier drin überhaupt gut leben? Sind wir bereit, den Stolz „besser zu sein“ oder wenigsten „besser dran zu sein“ abzulegen und den anderen gleichwertig zu begegnen?

Und noch ein weiterer Ansatz mit einem Begriffspaar:

Hierarchisch oder apostolisch

Ist unsere Kirche hierarchisch oder apostolisch? Hierarchisch bedeutet kurz gefasst: Die Macht wird von höherer menschlicher Instanz verliehen. Für ein solches Amt qualifiziert man sich durch intellektuelle Leistungen. Die übertragene Macht und Verantwortung ist immer mit einer gewissen Entmündigung der anderen sogenannten

Laien verbunden. Apostolisch beschreibt die urchristliche Art der Autorität. Der Einzelne erhält sie aufgrund seiner von Gott verliehenen Gaben und der von der Gemeinde erlebten und anerkannten Vollmacht. Das hierarchische Denken zieht einen Wust von rechtlichen Regelungen und Bestimmungen nach sich. Auf der anderen Seite gibt die Hierarchie auch Sicherheit, weil die Verantwortlichkeiten geklärt sind.

Haben wir den Mut diese Gedanken weiterzudenken, stellt sich die Frage, ob wir uns Gemeinde Jesu Christi ohne Kirchengebäude, ohne hauptamtliche Pastoren, ohne Kirchenordnung oder ohne Gottesdienst am Sonntagmorgen um 10 Uhr vorstellen können. Diese Frage scheint theoretisch und unrealistisch. Wenn man jedoch sieht, dass z.B. in China viele Menschen neu zum Glauben kommen und die (Untergrund-) Kirche sehr schnell wächst - fast ohne Gebäude, ohne feste Gottesdienstzeiten und ohne hauptamtliche Pastoren, dann wird unsere Wertigkeit dieser „Institutionen“ noch deutlicher hinterfragt.

Ansatz von Dr. Markus Müller: Das Wesen der Christen

Dr. Markus Müller hat in einer beeindruckenden Weise die komplexen historischen, europaweiten Entwicklungen und ihre Folgen für uns Christen aufgezeigt. Es würde den Rahmen sprengen, dies hier ausführlich zu beschreiben. Was lohnend sind, sind die Schlüsse, die er aus diesen Entwicklungen und Herausforderungen zog.

Die Lammesnatur

Die Lammesnatur sei prägend für die kommende Zeit. Markus Müller verwendet hier einen ungewohnten Begriff, der selten auftaucht. Er hat seinen Ursprung bei Jesus,

dem Lamm Gottes (Joh. 1,29), das in die Welt gekommen ist, um durch sein Leiden den Sieg zu bringen. In der Sendung der Jünger durch Jesus (Joh. 20.21) sei nicht nur ein Auftrag enthalten.

Auch die Art und Weise der Erfüllung habe Jesus durch sein Leben vorgegeben - als Lamm. Dies ist keineswegs ein machtlos ausgeliefertes Lamm, sondern das Lamm, das gleichzeitig der „Löwe von Juda“ ist (Vgl. Off. 5,5). Die Lammesnatur Christi und der Christen widerspricht grundsätzlich der oben beschriebenen Art, über Macht und Einfluss christliche Interessen zu vertreten, und zeigt eine Alternative. In einer dienenden Haltung und bereit eigene Nachteile hinzunehmen seien wir in die Welt gesandt. Die „Erfolge“ der Kirche würden in Zukunft nicht durch großartige Machtanstrengungen erreicht, sondern durch die Hingabe einzelner Nachfolgerinnen und

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Nachfolger. Nicht die Großevangelisation und die Massenevents, sondern der Dienst an den Armen und Kranken, das Zeugnis des Glaubens in Widrigkeiten und die Bereitschaft, für das Evangelium zu sterben, würde in Zukunft von Bedeutung sein.

Die königliche Priesterschaft

Die königliche Priesterschaft fasst einen zweiten Aspekt der geistlichen Antwort auf die Herausforderungen zusammen. Wir seien als Christen allem zu dieser Aufgabe berufen. (1.Petr. 2,5-9; Off.1,6)

Gott macht seine Geschichte nicht mit einzelnen, besonders ausgewählten „Heiligen“, sondern er gebrauche und bevollmächtige alle, die in seine Nachfolge treten. In den letzten Jahrhunderten wurden die priesterlichen Aufgaben in der Regel auf Hauptamtliche übertragen und an ein Amt gebunden. Dieser Umgang hat zwei Seiten: Auf der einen entmündigt er die Laien und verweigert die Ausübung des allgemeinen christlichen Auftrags z.B. bei der Austeilung des Abendmahls oder in der Beichte. Auf der anderen Seite birgt eine solche Konzentration der Verantwortung und Macht auf Einzelne Bequemlichkeit für die Masse in sich. Wer einfach nicht darf, braucht sich auch keine Gedanken und Mühen über diesen Auftrag machen und wird diese Aufgabe auch nicht einüben und trainieren. Es gilt diese königlich-priesterliche Aufgabe neu für alle Christen zu entdecken, anzunehmen und in ihr zu wachsen.

Unsere Pilgerschaft

Als Drittes führt Müller den Begriff „unsere Pilgerschaft“ ein. Er erinnert daran, dass gerade im Petrusbrief unser Leben als Pilgerschaft beschrieben ist (1. Petr. 1,17; 2,11). Eine der Antworten, wie Christsein im angebrochenen Jahrhundert gelebt werden kann, ist die Bereitschaft, Fremdling und Pilger zu sein.

Für die bürgerliche Mittelschicht würde dies aber eine besonders große Herausforderung bedeuten. Gerade sie zeichnet sie sich ja durch das sogenannte „cocooing“ aus - dem sich im eigenen Lebensraum einnisten und abschotten.

Dan Kimball

(Autor), Ingo Schütz (Übersetzer), Emerging Church - Die postmoderne Kirche: Spiritualität und Gemeinde für neue Generationen

Die Ausrichtung auf Kirchendistanzierte hat das Verständnis von Kirche revolutioniert. doch am Beginn eines neuen Zeitalters fühlt sich eine immer größer werdende Gruppe von Menschen durch diese Form von Gemeinschaft nicht mehr angesprochen. Wie sollte ein Gottesdienst aussehen, damit er Menschen erreicht, die postmodern denken und fühlen? Was sollte sich dazu an den Predigten, Gottesdiensten und evangelistischen Veranstaltungen ändern? Und das Wichtigste: Wie muss sich unser Verständnis von Kirche ändern? Dieses Buch geht über die bloße Theorie hinaus und gibt zahlreiche Anregungen, wie Kirche heute aussehen kann. Dan Kimball führt einen neuen Begriff ein -"Vintage Christianity"(Retro-Spiritualität) - und füllt ihn mit Leben: der erfrischende Weg zurück zu einer unapologetischen, heiligen, direkten,

historischen und auf Jesus ausgerichteten missionarischen Arbeit. Diese Retro-Spiritualität spricht die neuen Generationen der Postmoderne an, die geistlich offen sind, sich zutiefst nach Gemeinschaft sehnen, aber kein Interesse an "Kirche" haben. Jedem Pastor, Leiter und

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interessierten Christen bietet Dan Kimball hier einen fesselnden und leicht verständlichen Einblick in die aktuellen Veränderungen der Gesellschaft. Er beschreibt die neue Art von Gemeinde, die in unserer Mitte entsteht. Mit Kommentaren von Rick Warren, Fabian Vogt, Dr. Peter Aschoff und anderen.

Egal ob wir diese Überlegungen teilen oder nicht, die Veränderungen unserer Gesellschaft werden nicht vor den Kirchentüren halt machen. Und so sind wir herausgefordert, darauf zu reagieren.

Fragen zum Weiterdenken - Konkret kann das heißen zu fragen:

- Wo bieten wir Erlebnisräume in unseren Gemeinden und Hauskreisen für Menschen, die auf der Suche sind?

- In wieweit ist mein Glaube auf die „Serviceleistungen“ der obengenannten „Institutionen“ (Gebäude, Ordnung, Pastor und Sonntagsgottesdienste) gegründet und in wieweit könnte ich auch unter anderen Umständen mein Christsein leben?

- Bin ich bereit, mein Milieu als Pilger zu verlassen, um mich auf andere Menschen einzulassen und Fremdling zu sein?

- Bin ich bereit, auf Macht zu verzichten und die Lammesnatur Christi zum Vorbild zu nehmen?

1.2. Politisch:

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts schien die Welt überschaubar und sicherer zu sein: Marktwirtschaft und Demokratie sofort und überall auf der Welt. Im Wettkampf der Ideologien hatte der Westen klar gesiegt. Fukuyama6 sprach sogar vom Ende der Geschichte.

Mittlerweile ist diese Gewissheit geschwunden. Das bipolare System existiert nicht mehr, aber eine neue Weltordnung ist auch nicht in Sicht. Man spricht fasziniert von Multipolarität, aber man ahnt, dass ein solches System im Nuklearzeitalter höhere Risiken mit sich bringen kann als das ziemlich stabile Gleichgewicht der Abschreckung zwischen den beiden früheren Großmächten.

Dabei sind die Instabilitäten nicht nur strategischer Natur. Soziale, ökologische und kulturelle Ungleichgewichte erscheinen als zusätzliche Sicherheitsrisiken, die den militärischen an Gefährlichkeit langfristig kaum nachstehen. Die Liste dieser Risiken ist mittlerweile hinlänglich bekannt:

Bevölkerungsexplosion Klimaveränderungen Armutswanderungen Atomschmuggel

Drogenhandel Fundamentalismen jeder Couleur Völkermorde

6 In seinem berühmt gewordenen Buch Das Ende der Geschichte (1992) beschreibt Francis Fukuyama den Verlauf der geschichtlichen Evolution als gesetzmäßige und teleologische Verkettung von Ereignissen: Die Geschichte ist demnach keine zufällige Anhäufung von Umständen. Unter Bezugnahme auf eine moderne Variante der Hegelschen Dialektik versucht Fukuyama zu erklären, dass das Ende des Zweiten Weltkrieges und der Fall der Berliner Mauer (1989) zu einer Schlussphase der politischen Systementwicklung geführt haben. Totalitäre Systeme, wie z. B. der Kommunismus und der Faschismus, stellen keine politischen Alternativen mehr dar. Vielmehr ist der Weg frei für eine liberale Demokratie. Totalitäre Systeme sind zum Scheitern verurteilt, weil sie dem Grundgedanken des Liberalismus widersprechen. Der Faschismus (gemeint ist hier der Nationalsozialismus) sei ebenso wie der Kommunismus an inneren Widersprüchen gescheitert, so Fukuyama. Beide Systeme verloren in den Augen der Menschen an Legitimität; zum einen haben sie nicht die Bedürfnisse der Menschen hinreichend abgedeckt, zum anderen, und dies ist in den Augen Fukuyamas der wohl viel wichtigere Grund, haben sie es nicht verstanden, ein Gefühl von Anerkennung und Selbstwertgefühl entstehen zu lassen. Im dialektischen politischen Prozess legt Fukuyama also die liberale Demokratie als Endstadium aus.

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Zerfall staatlicher Ordnungen.

Fukuyamas Prognose erweist sich also als falsch. Plötzlich haben wir wieder Geschichte im Überfluss. Und dann kommen natürlich apokalyptische Szenarien hoch. Sie reichen von Samuel Huntingtons ,,Kampf der Zivilisationen" bis zu Norman Stones Rückfall in das mittelalterliche Zeitalter der Bettler, der Seuchen, der Feuersbrünste und des Aberglaubens.

1.3. Ethik im 21. Jahrhundert:

Die rasante Entwicklung von Wissenschaft und Technik eröffnet uns in den verschiedensten Bereichen unseres Lebens (Medizin, Raumfahrt, Kommunikation, Handel ...) ständig neue Möglichkeiten. Gleichzeitig wirft sie damit aber auch eine Unmenge von neuen moralischen Problemen auf, auf die wir in der Regel nicht vorbereitet sind. So bedarf es unser Handeln zunehmend begleitende ethische Reflexion. Nicht alles das, was technisch machbar erscheint muss zugleich auch „gut“ sein.

Zeitgleich mit den rasanten Entwicklungen sind nun manche ältere moralische Ordnungen, aufgebaut auf allgemein anerkannten Glaubensregeln, ins Wanken geraten. Das erschwert es, moralische Entscheidungen zu treffen. Zusätzlich kommt noch dazu, dass in den entwickelten Gesellschaften alle Entscheidungen in einem pluralistischen Klima getroffen werden müssen. Es scheint, dass im moralischen Klima von heute nie Einigkeit über richtig und falsch erzielt werden kann. Nicht selten entarten Auseinandersetzungen über die richtige Entscheidung in gegenseitigen Verletzungen und Vorwürfen. Statt Klärungen hinterlassen solche Auseinandersetzungen dann nur noch größere Unsicherheiten. Manche lässt diese Situation verzweifeln, andere suchen nach hilfreicher Unterstützung.

 I. Der Unterschied zwischen Ethik und Moral

Philosophie und Lebenswelt haben oft nicht viel miteinander zu tun. Bei der Ethik als Teildisziplin der praktischen Philosophie ist das anders: Ihr ist gerade daran gelegen, die kollektiven und individuellen Moralentwürfe im Alltag der Menschen kritisch zu untersuchen. Damit ist zugleich etwas über den Unterschied zwischen Ethik und Moral gesagt, über Begriffe, die häufig fälschlicherweise synonym gebraucht werden.

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Es geht bei Ethik und Moral um zwei Ebenen des Diskurses über menschliches Verhalten: Die Ethik stellt Bedingungen der Möglichkeit einer moralischen Beurteilung dieses Verhaltens auf, die Moraltheorien. Davon gibt es eine ganze Menge, die man nach bestimmten Kriterien ordnen kann, zumeist nach den Prinzipien, die ihnen zugrunde liegen. Moraltheorien ihrerseits liefern vernünftige Beurteilungskriterien für denjenigen, der sie anerkennt. Ein Mensch handelt dann im konkreten Fall moralisch, wenn er sich im Einklang mit dem allgemeinen Prinzip der Moraltheorie befindet. Sprechen wir über Ethik, dann suchen wir Fehler in den Moraltheorien, indem wir ihre Prinzipien auf Begriffe wie Verallgemeinerbarkeit, logische Kohärenz, Vereinbarkeit mit anderen normativen Systemen (Wissenschaft, Recht, Religion usw.) etc. beziehen; urteilen wir hingegen über Moral, suchen wir Fehler im konkreten Verhalten eines Menschen (im Hinblick auf eine anerkannte Moraltheorie).

Moralische Sachfragen („Ist es moralisch gut, Terroristen vor der Ausübung ihrer Arbeit zu töten?“, „Ist es moralisch gut, außerhalb des Ehestandes sexuelle Beziehungen zu unterhalten“?, „Ist es moralisch gut, Pflanzen/Tiere/Menschen zu klonen?“ usw.) lassen sich bezogen auf eine Moraltheorie beantworten (Frage zwei in bezug auf die Morallehre der katholischen Kirche etwa mit einem deutlichen „Nein!“). Ethische Reflexion hat nun die Aufgabe, die Moraltheorie, die zu dieser Antwort führt, zu analysieren.

Zunächst müsste dazu – ich bleibe im Beispiel – die moraltheoretische Argumentation selbst untersucht, also der Frage nachgegangen werden, wie sich das Prinzip einer speziellen Morallehre (hier: der Sexualmoral) in die Struktur der grundlegenden Prinzipien der katholischen Morallehre einbettet (also: in das Menschenbild) und ob die Spezialnorm innerhalb dieses Normensystems richtig abgeleitet ist. Hier geht es um die Begründetheit von Unter-Sätzen (einzelne Prinzipien) aus Ober-Sätzen (Grundprinzipien) innerhalb einer Moraltheorie, also um deren innere Kohärenz. Es wäre ferner zu prüfen, ob das dem „Nein!“ im Beispiel zugrunde liegende Prinzip („Menschen sollten außerhalb des Ehestandes keine sexuellen Beziehungen unterhalten.“) überhaupt einsichtig ist (etwa durch Vergleich mit anderen, konkurrierenden Moraltheorien, die abgeschwächte oder gar gegenteilige Prinzipien beinhalten, gewonnen aus einem System abweichender Grundprinzipien, in die sich die in Frage stehende Spezialnorm nicht einpassen lässt) und/oder vereinbar ist mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen in der Anthropologie.

Philosophische Ethik ist also in erster Linie argumentationstheoretische Analyse, oder anders: Es ist die Aufgabe der Ethik, unseren Moralvorstellungen auf den Grund zu gehen.

II. Deskription, Normation, Meta-Analye. Ebenen der Argumentation

Dieser Aufgabe versuchen Ethiker auf drei Ebenen gerecht zu werden: auf der deskriptiven Ebene, der normativen Ebene und der Meta-Ebene. Auf der deskriptiven Ebene wird beschrieben, was ist. Psychologen, Soziologen, Ethnologen und Anthropologen liefern empirische Daten über tatsächlich gelebte Moralvorstellungen. Philosophen strukturieren die in der Geschichte erarbeiteten Argumente und die gewonnenen Erkenntnisse und liefern so die Basis für die Arbeit auf der normativen Ebene. Auf dieser wird dann darüber beraten, was sein soll. Hier findet die Kritik des beschriebenen Materials statt, sowohl der empirischen Daten, wie auch der historischen Argumente. Es findet also eine Reflexion auf Moral und Moraltheorie statt. Auf der Meta-Ebene findet nun eine Reflexion auf die Ethik selbst statt. Ihre Instrumente und Techniken werden durchleuchtet, die von ihr verwendeten Begriffe analysiert. Es geht also um mehr als um die „Bedingungen der Möglichkeit moralischer Beurteilung“, es geht um die Bedingungen der Möglichkeit ethischen Argumentierens, also um die allgemeinen Bedingungen dafür, Bedingungen der Möglichkeit moralischer Beurteilung aufstellen zu können.

Dazu ein Beispiel: Sei p der empirische Befund, dass in einer Kultur K regelmäßig zum Zweck der Unterhaltung Babys gefoltert werden. Sei q die Auffassung einer Moralvorstellung MV, dass es moralisch verwerflich ist, Babys zum Zweck der Unterhaltung zu foltern. Dann entspricht MV

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der Moraltheorie MT, wenn es in MT ein Prinzip P1 gibt, zu dem q einen Unterfall darstellt, etwa: „Es ist nicht gut, Menschen zum Zweck der Unterhaltung zu foltern.“ P1 lässt sich zum Grundprinzip GP verallgemeinern: „Niemand soll gefoltert werden.“ Die Ethik müsste nun die „Bedingungen der Möglichkeit moralischer Beurteilung“ von p(K) durch q(MV) untersuchen, also schauen, ob q(MV) ein Unterfall von P1(MT) ist und ob P1(MT) kohärent zu GP(MT) verallgemeinerbar ist. Es könnte sich für den Fall der „Baby-Folter zu Unterhaltungszwecken“ zum einen die Frage stellen, ob zwischen „Menschen“ (menschliche Lebewesen) und „Personen“ (Menschen, die fähig sind, „Wünsche zweiter Ordnung“, „Meta-Gedanken“ oder „Interessen“ zu entwickeln) zu unterscheiden ist, zum anderen, ob es Zwecke geben könnte, die Folter rechtfertigen, in denen es also „gut“ wäre zu foltern, etwa die damit möglicherweise zu erreichende Vereitelung eines Terroranschlags. Die Meta-Ethik fragt nun nach den Bedingungen, unter denen diese Fragen beantwortbar sind.

Kurzum: (1) MV hält p mit q nicht für „gut“, (2) MT liefert mit P1 und GP Leitsätze, die untermauern, dass MV richtig ist, es also richtig ist, p nicht für „gut“ zu halten, (3) die Ethik gibt Auskunft darüber, ob MT richtig ist, es also richtig ist, mit MT MV für richtig zu halten, die besagt, dass es richtig ist, p nicht für „gut“ zu halten und (4) die Meta-Ethik fragt: Was heißt „richtig“? Was bedeutet „gut“?

 III. Streben und Sollen. Grundtypen moraltheoretischer Begründungsmodelle

Im Laufe der letzten 2500 Jahre haben Menschen immer wieder versucht, Moraltheorien zu entwickeln. Dabei lassen sich modellhaft zwei Grundtypen unterscheiden: die teleologischen und die deontologischen Ansätze. Aus ihren Annahmen erwachsen die klassischen Antagonismen der Ethik, die Gegensätze von zweckgerichteter Tugend und prinzipieller Pflicht, von Glück und Gerechtigkeit, von „gutem Leben“ und „rechtem Leben“, von Streben und Sollen. Diese grundlegende Differenz wird in vielen Ethik-Einführungen paradigmatisch durchdekliniert an Aristoteles’ eudaimonia und Kants kategorischem Imperativ, wobei die teleologische Front motivational durch den Konsequentialismus (Prinzip: Gut ist, was gute Folgen hat; bekannt aus utilitaristischen Theorien), die deontologische durch den Intentionalismus (Prinzip: Gut ist, was aus guten Motiven getan wird; bekannt aus der Strafrechtstheorie) gestärkt wird.

Fraglich ist auch, wie sich in den Theorien das Gute als das mit der Moral der Gemeinschaft Übereinstimmende mit dem Guten des glücklichen Gelingens individueller Lebensvollzüge paart. Zu klären ist, wie sich die Güte zum Glück verhält und das Glück zur Güte, unter welchen Umständen der Glückliche gut und der Gute glücklich wird.

Kant entwickelte im Umfeld des preußischen Pietismus’ sein Konzept einer autonom begründeten deontologischen Ethik. Er trägt damit seiner Abneigung gegenüber neuen eudämonistischen Strömungen Rechnung, die mit dem frühen Utilitarismus Benthams aus England auf den Kontinent hineinzubrechen drohten: Pflicht und Gebot statt happiness und pleasure. Das Problem ist dabei (im Pietismus mehr als in der Ethik Kants): Nicht nur, dass das Gute und das Glück auseinander fallen, auch werden die Liebe und andere Tugenden zur Pflicht gemacht. Sie werden nicht mehr um ihrer Selbst willen und wegen ihres glücksstiftenden Moments, sondern als Konsequenz der Gebotstreue verfolgt. Das Glück spielt keine Rolle mehr, es ist aus der Moral ausgeklammert. Ein gefährliches Unterfangen, denn wir können ohne das Streben nach Glück nicht leben. Andererseits können wir auch ohne Moral nicht leben – ein echtes Dilemma. Aber ist es denn wirklich so, dass das Glück und das Gute in den teleologischen und den deontologischen Ansätze bei Aristoteles respektive Kant auseinanderfallen? Mitnichten!

„Gutsein“ und „Glücklichsein“ – in der griechischen Antike war die Unterscheidung der beiden Begriffe überhaupt kein Gegenstand. „Gutsein“ als Gesamtheit tugendhafter Lebensvollzüge und „Glücklichsein“ als Gefühlskomponente fielen zusammen. Auf die Frage „Geht es Dir gut?“ antwortete man „Ja, ich handle gut.“ Es geht mir gut, wenn ich gut handle! Mit anderen Worten erwächst aus tugendhaftem (=gutem) Handeln Glück. Bei Aristoteles gilt: Ich bin glücklich,

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wenn ich gut bin. Kant wiederum zeigt uns in der Güte der Befolgung des moralischen Gesetzes ebenfalls eine Spur des Glücks. Moralisches Handeln geschieht zwar aus Pflicht, verursacht dabei jedoch eine tiefe innere Gefühlsregung, eine Bewegtheit, die Kant Achtung nennt. Diese Achtung vor dem moralischen Gesetz, die jeder Mensch empfindet, sorgt dafür, dass aus pflichtgemäßem (=gutem) Handeln Glück erwächst. Auch bei Kant gilt also: Ich bin glücklich, wenn ich gut bin.

IV. Ethik für alle Lebenslagen

Unsere Welt wird immer „unübersichtlicher“ (Habermas). Die Wissenschaft differenziert sich immer weiter aus, neue Medien und Kommunikationsmöglichkeiten entstehen, angehende Ärzte beraten im ersten Semester über Sachverhalte, die der Medizin vor zehn Jahren noch gänzlich unbekannt waren, eine Mars-Mission wird vorbereitet. Zugleich wird unsere Welt heimgesucht von Krieg und Terror, mehr als 1 Milliarde Menschen hungert und der Klimawandel bedroht unsere Existenz, wobei immer klarer ersichtlich wird, dass dies unserem Verhalten geschuldet ist, ohne dass irgendjemand den Eindruck zu haben scheint, wirklich etwas falsch gemacht zu haben. Wenn die Flugreise oder das Steak zum Gegenstand der Moraldebatte wird, muss sich ihre Reflexionsinstanz, die Ethik, an diese neue Situation herantasten; Bereichethiken entstehen.

Es ist aber nicht nur die Umwelt- und die Tierethik, die verhältnismäßig neu sind und vehement in den Diskurs drängen, es ist insbesondere die Bioethik, die Schlagzeilen macht, häufig in Gestalt ihrer Abteilungen Gen- und Neuroethik. Daneben entsteht Bedarf für weitere Anwendungsfelder ethischer Argumentation aus wissenschaftlichen Neuerungen, die die Lebenswelt der Menschen beeinflussen, was sich in Gattungen wie Technikethik, Medienethik und Informationsethik (Cyber Ethics) zeigt. Und dann sollen ja nicht nur die Ergebnisse, sondern auch der Prozess wissenschaftlicher Arbeit moralisch beurteilbar sein, was eine Forschungsethik nötig macht. Die Globalisierung wiederum hat zu einer Flut an Publikationen zum Thema Global Ethics geführt, die neue Rolle internationaler Institutionen in Fragen der Armutsbekämpfung, Entwicklungshilfe und kollektiver Sicherheit zur Institutionenethik. Schließlich gibt es Lebensbereiche, deren Moral einer besonderen Analyse unterzogen werden muss, die schon vor 2500 Jahren relevant waren und es immer noch sind, ich denke an die (Straf-)Rechtsethik, die Politische Ethik und die Wirtschaftsethik.

Die Liste der Versuche, das Nachdenken im Rahmen der Ethik praxisrelevant und anwendungsbezogen auszugestalten, ließe sich noch fortsetzen. Es soll hier aber nicht um Vollständigkeit gehen, sondern um den Grundgedanken: Ethische Reflexion ist kein Selbstzweck, sondern soll dazu beitragen, Bedingungen für mehr Moral zu schaffen und damit, so hoch sollte der Anspruch hängen, für eine bessere Welt.

Zu 2. Was sind die (berechtigten) Erwartungen an die Christen/Gemeinden/Kirchen?

In der Schweiz ist im Jahr 2002 eine Spezialstudie in Auftrag gegeben worden, um zu ermitteln, welche Erwartungen die Schweizer Bevölkerung an die Kirchen hat. 7 Im Ergebnis dieser Studie stellte sich heraus, dass das Interesse und die Erwartungen an kirchliche Gemeinschaften recht gering sind: So äußerten bedeutend weniger Personen überhaupt noch Erwartungen, als dies die doch nach wie vor relativ hohen Mitgliederzahlen der Kirchen es vermuten ließen. Offenbar erwarten auch Kirchensteuer zahlende BürgerInnen nicht mehr viel konkretes Engagement von ihren Kirchen, oder sie haben mindestens keine konkreten Vorstellungen davon. Gleichgültigkeit gegenüber kirchlichem Engagement, sei dies gesellschaftlicher oder kultischer Natur, überwiegt. Immerhin entspricht aber der knappe Drittel, der noch Erwartungen äußert, doch einem bedeutend größerem Anteil an der Gesamtbevölkerung als die Anzahl regelmäßiger

7 Die Grundlage für die vorliegende Analyse bildet eine durch das GfS-Forschungsinstitut (GfS Forschungsinstitut Wirtschaftsforschungs und Sozialmarketing, Riedtlistr. 9, 8006 Zürich) zusammen mit sechs verschiedenen Hochschulinstituten zwischen dem 4. und 22. Februar 2002 durchgeführte Befragung.

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Gottesdienstbesucher; ein immerhin bedeutendes Potenzial über den "harten Kern" der Kirchgemeinden hinaus.

Die Frage, die gestellt wurde war: "Wenn Sie an kirchliche Institutionen denken: Nennen Sie stichwortartig die beiden wichtigsten Aufgaben bzw. Bereiche, in denen Sie künftig mehr Engagement der Kirchen erwarten? Das müssen nicht unbedingt nur klassische kirchliche Dienstleistungen sein?" (Mehrfachnennungen waren möglich).

Das Ergebnis:Erwarte überhaupt nichts

Keine Antwort

Offenheit / Toleranz

Jugendarbeit

soziale Aufgaben allgem.

bessere Seelsorge

mit der Zeit gehen

Bedürftigen helfen

Entwicklungshilfe

Ausländer/Asyl (Integration)

Unterstützung der Alten

Menschlichkeit

Friedensförderung

Obwohl das Verhältnis von Kirche und Staat zunehmend kritisch hinterfragt wird, sieht sich die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) weiterhin als wichtige religiös-moralische Instanz. «Dass die Selbstverständlichkeit, mit der die Kirchen in unserer Gesellschaft verankert sind, nicht mehr für alle nachvollziehbar ist, macht es nötig, intensiver als früher das Verhältnis plausibel darzulegen», sagte der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider der Deutschen Presse-Agentur.

Die Bedeutung der Kirche als religiös-moralischer Eckpfeiler der Demokratie sei weiterhin groß. Schneider: «Wir sind nach wie vor gefragt. Das zeigt, dass es immer noch ein Bewusstsein dafür gibt, dass unsere Gesellschaft und vor allem der demokratische Rechtsstaat davon leben, dass es Institutionen wie die Kirchen gibt, die für das Ganze und den Zusammenhalt in der Gesellschaft Sorge tragen.» 8

Die meisten modernen Herausforderungen erscheinen als sektorale Probleme, die technisch, ökonomisch, politisch, medizinisch, juristisch, also „praktisch" gelöst sein wollen und entsprechende Sachkompetenz erfordern. Dass neben den verschiedenen pragmatischen Dimensionen nun aber immer auch eine ethische existiert, wird leider oft übersehen oder verdrängt. Die ethische Dimension bezieht sich dabei auf die Normen, Prinzipien bzw. Werte,

8 http://www.aachener-zeitung.de/lokales/region/ekd-chef-sieht-kirche-trotz-kritik-als-moralische-instanz-1.484395#753947364

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die von den angestrebten Lösungsstrategien berührt werden. In der Medizin sind das z.B. die „vier Prinzipien mittlerer Reichweite“9.

Eine sittliche Dimension haben Entscheidungen überall dort, wo die Bedürfnisse und Lebensräume anderer Existenzen (Menschen, belebt und unbelebte Mitwelt) mit berührt werden. Ein Mensch handelt dann sittlich verantwortlich, wenn er sich im Rahmen seiner Möglichkeiten bemüht, die für eine Entscheidung relevanten Gesichtspunkte zu finden und wenn er imstande und bereit ist darzulegen, wie und aus welchen Gründen er im Rahmen der objektiven Vorraussetzungen wichtet.

Die Frage, die sich stellt ist: Wer könnte nun in der Lage sein, die ethischen Dimensionen sowohl wahrzunehmen und als auch darauf aufmerksam zu machen?

Lange Zeit waren es die Kirchen, die (in Europa) als moralische Instanz galten und sich in unterschiedlicher Weise10 den ethischen Herausforderungen ihrer Zeit stellten. Doch spätestens seit der Reformation hat sich das geändert. An die Stelle der Kirche traten andere Instanzen und Personengruppen: Philosophen, Schriftsteller (Böll, Walter Jens, Günter Grass), Politiker (Bundespräsident), Sportler (Doping), Fernsehschaffende (U. Wickert).

Neben der Frage, wer in Lage ist auf die ethischen Dimensionen aufmerksam zu machen, stellt sich allerdings auch die Frage, was sich für ethische Urteile als Grundlage eignet.

Religionen orientieren sich dabei an ihren Grundtexten wie Bibel, Koran …die Philosophie an der menschlichen Vernunft. Und auch diese Quellen werden zunehmend kritisch hinterfragt.

Also:

- Eignet sich die Bibel / der Koran (in ihrer Gesamtheit) als Maßstab bzw. Orientierung für moralisches Handeln oder müssen nicht immer Texte ausgewählt und (mit ethischen Absichten) interpretiert werden?

- War die Kirche jemals in ihrer Geschichte eine Institution, von der hilfreiche Impulse für moralisches Handeln ausging?

- Reicht die Vernunft aus, um zu ethischen Orientierungen zu kommen?

9 Beauchamp und Childress beschrieben in ihrem Buch "Principles of Biomedical Ethics" 1977 vier ethisch-moralische Prinzipien, welche im Bereich des heilberuflichen Handelns ethische Orientierung bieten und inzwischen als klassische Prinzipien der Medizinethik gelten. - Respekt vor der Autonomie der Patientin / des Patienten (respect for autonomy)

Das Autonomieprinzip gesteht jeder Person Entscheidungsfreiheit und das Recht auf Förderung der Entscheidungsfähigkeit zu. Es beinhaltet die Forderung des informierten Einverständnisses (informed consent) vor jeder diagnostischen und therapeutischen Maßnahme und die Berücksichtigung der Wünsche, Ziele und Wertvorstellungen des Patienten.

- Nicht-Schaden (nonmaleficence)Das Prinzip der Schadensvermeidung fordert, schädliche Eingriffe zu unterlassen. Dies scheint zunächst selbstverständlich, kommt aber bei eingreifenden Therapien (z.B. Chemotherapie) häufig in Konflikt mit dem Prinzip der Fürsorge.

- Fürsorge, Hilfeleistung (beneficence)Das Prinzip der Fürsorge verpflichtet den Behandler zu aktivem Handeln, das das Wohl des Patienten fördert und ihm nützt. Das Fürsorgeprinzip steht häufig im Konflikt mit dem Prinzip der Schadensvermeidung (s.o.). Hier sollte eine sorgfältige Abwägung von Nutzen und Schaden einer Maßnahme unter Einbeziehung der Wünsche, Ziele und Wertvorstellungen des Patienten vorgenommen werden.

- Gleichheit und Gerechtigkeit (justice)Das Prinzip der Gerechtigkeit fordert eine faire Verteilung von Gesundheitsleistungen. Gleiche Fälle sollten gleich behandelt werden, bei Ungleichbehandlung sollten moralisch relevante Kriterien konkretisiert werden.

Diese Prinzipien stehen zunächst gleichberechtigt nebeneinander, d.h. im Einzelfall müssen die Prinzipien jeweils konkretisiert und gegeneinander abgewogen werden. Moralische Kontroversen können als Konflikte zwischen den verschiedenen gewichteten Prinzipien dargestellt werden.10 Z.B. durch Enzykliken, Hirtenbriefen, in Verkündigung, Unterweisung und Seelsorge

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Alle diese Fragen werden in unserer Zeit zunehmend verneint.

SPIEGEL Ausgabe 34/2010 Moral: Die neuen Deutschen von Alexander Smoltczyk

„Warum genießen ein 91-jähriger Kettenraucher und ein Fußballtrainer mehr Ansehen als die Kanzlerin und der Papst? Zu wem haben die Bürger Vertrauen…

Der SPIEGEL hat in diesem Sommer in zwei Umfragen herauszufinden versucht, wem die Bundesbürger noch vertrauen, nach den Enttäuschungen der letzten Monate, nach Schuldendebakel, Präsidentenwahl, Reformstillstand, wer bestehen bleibt als moralische Instanz.

Wem wird noch geglaubt, und in welchen Deutschen sehen die Bürger sympathische Deutsche, Menschen also, die von anderen Nationen als moderne Deutsche gesehen werden sollen?

Das Ergebnis ist erstaunlich. Es zeigt ein Land, in dem einem Quizmaster fast genauso viel Vertrauen entgegengebracht wird wie dem Papst. In dem ein schwuler Komiker mehr Respekt genießt als ein Altkanzler aus Hannover, der sein Land aus einem Krieg herausgehalten hat. In dem ein junger Mann mit Namen Mesut Özil für mehr als die Hälfte der Bevölkerung das ideale Deutschland verkörpert.…Wenn es nach den Bürgern ginge, dann säße Günther Jauch im Schloss Bellevue und nicht Christian Wulff. Der allgegenwärtige und allwissende Fernsehmann ist für 84 Prozent der Befragten ein Deutscher, der als Vorbild taugt. Auch Benedikt XVI. wird darin um Längen geschlagen von der armen Verkehrssünderin Margot Käßmann.

Für die große Mehrzahl der Deutschen ist Ursula von der Leyen die politische Idealfrau. Wenn man sie selbst nach einer wichtigen moralischen Instanz gefragt hätte, dann hätte von der Leyen - neben Helmut Schmidt und Richard von Weizsäcker - den Namen einer Frau genannt: "Alice Schwarzer. Sie ist eine Frau von Format und mit Charisma. Sie hat einen geraden Lebensweg, der sicherlich nicht leicht war. Aber sie stand für ihre Sache schon in den Siebzigern, als das schwierig war. Das imponiert mir."

Und mit ihr 38 Prozent der Deutschen. Das ist neu. Eine Emanze, die Buhfrau der Ära Helmut Kohl, steht heute mehr für gute neue Werte als der Altkanzler Gerhard Schröder oder der Spitzenbanker Josef Ackermann. Das Ansehen von Alice Schwarzer ist auch bei CDU-Stammwählern kaum weniger hoch als im deutschen Durchschnitt (35 Prozent) und in fast gleichem Maß verbreitet in Ost und West.

Ein Spitzenpolitiker muss wie Alice Schwarzer in der Lage sein, jedes noch so heikle Dilemma in drei Minuten zu benennen. Und seine Entscheidung zu begründen und den Zuhörer mit dem Gefühl entlassen, dass er in guten Händen ist. Alles in allem maximal eine Viertelstunde. Es geht um das, was die Amerikaner "explainer in chief" nennen. Daran mangelt es in der Bundespolitik.

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Die Fundamente des wiedervereinigten Deutschland wackeln. Die friedliche Bundeswehr ist in einen Krieg verstrickt, der nicht gewonnen und nicht beendet werden kann. Der Zustand vieler Gemeindebibliotheken, Schulen und Straßen ist so, wie man es früher nur aus dem Urlaub in Südosteuropa kannte. Die Bundesbürger müssen die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise verkraften, und sie werden in den kommenden Jahren noch mehr ausgeben müssen für Gesundheit und Vorsorge. Sie werden weniger vom Staat bekommen.

Wer kann sich da schon um 20 Uhr vor die Kamera setzen und den Deutschen ein Opfer abverlangen, ohne dass gleich umgeschaltet wird zu Stefan Raab.

Wer kann ihnen den Churchill machen und sagen: Die Lage ist ernst. Die Spielzeit ist vorbei. Unser Lebensstandard wird deutlich sinken, aber unsere Kinder werden es besser haben.

Oder: Wir müssen in diesen Krieg ziehen. Es wird Opfer geben. Wir werden Fehler machen. Aber es ist notwendig.

Bei keinem dieser Sätze kann man sich Guido Westerwelle vorstellen. Und schwerlich Karl-Theodor zu Guttenberg. Das sind Sätze, bei denen der Respekt vor den Jahren noch wirkt. Das Gesicht muss Spuren zeigen. Eine faltenlose Stirn deutet auf Unempfindlichkeit hin oder auf Botox und ist deshalb fehl am Platze. Da helfen auch keine Spin-Doctors, keine PR-Berater und passende Krawattenfarben. Es geht auch nicht um die richtigen Argumente. Da geht es um ein Grundvertrauen.

"Helmut Schmidt verkörpert die moralische Instanz in Deutschland. Man spricht ihm auch generelle Bedeutung schlechthin zu im überragenden Maße", sagt der Politologe Franz Walter. "Seit Jahren hat er sich auf jede Zigarette hin die Aura eines letzten Bundeskanzlers der Bundesrepublik kreiert, der bei allen Widrigkeiten im Amt und auch danach stetig und beharrlich die politischen Linien gezogen hat, ohne dabei populistisch nach Beifall zu heischen, der überhaupt die internationale Dimension politischer Vorgänge durchweg im Auge hatte."

Das Schmidt-Bild hat sich mittlerweile verblüffend stabil im kollektiven Gedächtnis der Deutschen festgesetzt. "Obwohl", wie Walter sagt, "alle Probleme - von der Staatsverschuldung, der Massenarbeitslosigkeit, der Rentenfinanzierung, den neuerlichen Bildungsungleichheiten - in der Schmidt-Ära ihren betrüblichen Anfang nahmen."

Egal. Die Deutschen sind jetzt schlauer, auch weil sie wissen, was nach Schmidt kam.

Margot Käßmann hat ihr Rücktritt als Bischöfin nach trunkener Fahrt nur noch populärer gemacht. Sie könnte sich heute für jedes hohe Amt bewerben. Der Bürger will keine Unbefleckte, er will die Ehrlichkeit und den Mut, der damit verbunden ist. "Eine Person, die ihre moralische Eignung nicht aus der Länge der Amtszeiten und dem Einfluss von Seilschaften zieht", wie Richard David Precht kürzlich schrieb.

Günther Jauch ist eine moralische Instanz wider Willen. Er will wohl zur ARD, aber er will kein Alphatier sein: "Es ist natürlich völliger Unsinn, wenn ich bei Umfragen mal vor, mal nach dem Dalai Lama und dem Papst genannt werde oder der intelligenteste Deutsche sein soll", sagt er. "Wir werden doch nur als Projektionsfläche genutzt. Irgendwann wird die Fallhöhe so groß, dass es nur mit einem möllemannschen Absturz enden kann. Anders wäre es, wenn ich wirklich in die Politik gehen würde, irgendwo kandidieren und in die Bütt müsste. Dann könnten die Leute urteilen."

Es sei bemerkenswert, sagt Herfried Münkler, Politikwissenschaftler an der Humboldt-Universität Berlin, "wie sehr die Präsenz in den audiovisuellen Medien dazu führt, dass öffentliche Akteure als moralische Instanz wahrgenommen werden. Wer bekannt werden will, muss, wie das Beispiel Alice Schwarzer zeigt, ins Fernsehen gehen. Die Erzeugnisse der Medien folgen deren Logik - und die ist nicht wesentlich moralischer, sondern kommerzieller Art. Es mag Ausnahmen geben: Vielleicht ist Marcel Reich-Ranicki die letzte."

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Notorische Widerspruchsgeister tummeln sich in Internetforen

Politiker haben diese Medienpräsenz qua Amt und müssen sich darin bewähren. Und schneiden als moralische Instanz, wie der Parteienforscher Franz Walter amüsiert zur Kenntnis nimmt, aller Volksverdrossenheiten zum Trotz weit besser ab als "die klassischen Künder und Wächter des gesellschaftlichen Gewissens: die Intellektuellen. Damit musste man nicht unbedingt rechnen".

Da kann sich ein Dichter und Denker wie Hans Magnus Enzensberger sein Leben lang um Positionen mühen, kann er bedeutende Essays über Krieg, Embryonenforschung und Kapital verfassen, es wird ihm nicht gedankt. Nur 8 Prozent der Befragten verbinden mit seinem Namen moralische Autorität.

Dass beinah 80 Prozent der Deutschen ihren wichtigsten Intellektuellen Jürgen Habermas noch nicht einmal vom Namen her kennen - geschenkt. Auch Adorno, den Vater der Kritischen Theorie, hätten die Bundesbürger der fünfziger Jahre für einen Magenbitter aus dem Rimini-Urlaub gehalten.

Es gab Zeiten, da wurden alte und zornige Frauen und Männer als mutige Stimmen des Widerspruchs gefeiert. Sie hatten (manchmal auch erfolgreiche) Romane geschrieben und mit der Mitgliedskarte im PEN-Club das Recht erworben, sich etwa zu Aspekten der Militärstrategie meinungsstark zu äußern.

Heute tummeln sich Zehntausende von notorischen Widerspruchsgeistern in Internetforen; die Schar der Blogger klagt stündlich irgendeine Ungerechtigkeit irgendwo in der Republik an.

"An die Kraft und Möglichkeit realistischen wie visionären Vordenkens glaubt in heterogenen Gesellschaften kaum noch jemand", sagt Franz Walter. Die Zeit der Groß- und Universalintellektuellen ist vorbei. Gehör findet nur, wer seine Meinung auch in Talkshows amüsant vertreten kann. Oder wer die Rolle des Engagierten seit Generationen so überzeugend spielt, bis jeder sie ihm abnimmt. Günter Grass, trotz seiner spätentdeckten SS-Vergangenheit, ist ein Markenartikel made in Germany, so verlässlich wie Nivea.

"Günter Grass hat in Deutschland die Planstelle für moralische Autorität eingenommen", sagt Frank Schirrmacher. "Er spielt diese Rolle gut, und deswegen nimmt das Publikum es ihm ab."

Papst Benedikt XVI. ist der andere hauptberufliche Moralist in der Auswahl. Die einzige moralische Instanz, die ihr Urteil nicht nur aus einem Buch, sondern auch aus einer jahrtausendealten Erfahrung mit der Welt ableitet.

Man muss nicht Katholik sein, um das Wort aus Rom als Maßstab ernst zu nehmen, ohne sich gleich daran zu halten.

Es kann jedenfalls nichts schaden, jemanden an Bord zu haben, der auf einem Wahrheitsanspruch beharrt und eine Sprache spricht, die von weiter her kommt als vom letzten Trend-Kongress.

Der Katholizismus ist eigentlich eine sehr unbürgerliche Veranstaltung, und es ist immer wieder erfrischend, den Alten gegen Hedonismus und die angebliche Pflicht zur Selbstverwirklichung anargumentieren zu hören.

Doch nein. Der Papst mag überall respektiert sein, im Himmel und auf Erden, in seinem Heimatland ist er es nicht.

Hier wird das Pontifikat dieses Mannes vor allem anderen mit dem Wort "Missbrauch" verbunden werden. In Benedikt XVI. sehen nur 35 Prozent der Bürger das Deutschland, das sie sich wünschen, Margot Käßmann kommt auf 51 Prozent. Als moralische Instanz immerhin liegen beide gleichauf mit etwa 50 Prozent.

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Von wem also wollen sich die Deutschen vertreten sehen? Der ideale Deutsche, von Deutschen gesehen, ist leichtfüßig wie Mesut Özil, fehlbar wie Margot Käßmann, pragmatisch wie Angela Merkel, unprätentiös wie Günther Jauch, konsequent wie Jogi Löw, unbeschwert wie Lena Meyer-Landrut, abgeklärt wie Helmut Schmidt.

Es gibt sie nicht mehr, die alten Gewissheiten.

Und es gibt eine Brache in der politischen Landschaft, nichts ist bemerkenswerter als die Tatsache, dass sich diese Brache in den Krisenjahren gehalten hat.

In Frankreich gab es Le Pen, in den Niederlanden Pim Fortuyn und jetzt Geert Wilders mit seiner Anti-Islam-Partei, in Österreich Jörg Haiders Nachfolger und in der Schweiz den Populisten Christoph Blocher. Hierzulande ist der Platz des chauvinistischen Tribunen frei geblieben.

Die Deutschen sind weniger anfällig für Alphatiere

Es gibt drei Erklärungen. Entweder hat sich bisher in Deutschland nur noch kein begabter Volkstribun herausgebildet. Oder die Politiker machen ihren Job doch besser, als ihr Ruf es nahelegt.

In Frankreich und den Niederlanden haben sich viele Bürger ungehört und unverstanden gefühlt, als sie mit der Immigration nicht klarkamen. In Italien wird die Lega Nord gewählt, weil das politische System in sich selbst gefangen ist, unfähig zu Veränderungen.

Vielleicht nehmen hierzulande die Politiker die Dinge doch protestantisch ernster. Das wäre eine gute Nachricht.

Es gibt eine dritte Erklärung. Seit den fünfziger Jahren werden die Deutschen als skeptisch beschrieben, zuerst von Helmut Schelsky, zuletzt von Rüdiger Safranski. Sie seien immun gegen das Romantische, gegen Exzess und Weltentwürfe. Dem Rausch der Ideologie und des Krieges entronnen, dem Träumen entwöhnt.

Die Skepsis ist dem Deutschen geblieben und ins Genom eingegangen. Befragt nach seinen Führern, Vorbildern, Alphatieren wählt er sich die Nüchternen. Die Schmidt, Merkel, Jauch. Die anderen sind ihm suspekt, und auch Lafontaine reüssiert nur in den Brachen im Osten. Die Deutschen sind nüchterner geworden. Erwachsener. Sie sind weniger anfällig für Alphatiere.

Das wäre eine noch bessere Nachricht.“

Nun haben aber auch diese in der Postmoderne zusehends ihre Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit eingebüßt.

Ethik in der Postmoderne orientiert sich nicht mehr an Instanzen und Persönlichkeiten, sondern erfordet autonome Moralität. Diese geforderte Selbst-Orientierung setzt die schöpferische Verantwortung eines jeden Menschen voraus. "Unser aller Pflicht, die ich kenne, scheint nicht das gleiche zu sein wie meine Verantwortung, die ich fühle" (Bauman 1995a, 86).

Somit appeliert die Postmoderne Ethik die Möglichkeiten des moralischen Selbst. "Ich bin moralisch, bevor ich denke. Es gibt kein Denken ohne Konzepte (immer allgemeinen), ohne Maßstäbe (wieder allgemeinen), ohne Regeln (immer potentiell verallgemeinerbaren). Doch wenn Konzepte, Maßstäbe und Regeln die Bühne betreten, macht der moralische Impuls seinen Abgang; ethisches Denken nimmt seinen Platz ein, aber Ethik ist dem Recht nachgeformt, nicht dem moralischen Drang" (Bauman 1995a, 97).

Dazu: "Das Recht ist nicht Gerechtigkeit. Das Recht ist das Element der Berechnung; es ist nur (ge)recht, daß es ein Recht gibt, die Gerechtigkeit indes ist unberechenbar: sie erfordert, daß man mit dem Unberechenbaren rechnet. Die aporetischen Erfahrungen sind ebenso unwahrscheinliche wie notwendige Erfahrungen der Gerechtigkeit, das heißt jener Augenblicke,

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da die Entscheidungen zwischen dem Gerechten und dem Ungerechten von keiner Regel verbürgt und abgesichert wird" (Derrida 1999, 225) . Autonome moralische Verantwortung erscheint nicht durch heteronome ethische Verpflichtung ersetzbar (vgl. Bauman 1995a, 75). Autonome Moralität bedeutet: "Ich bin für den Anderen, ob der Andere für mich ist oder nicht" (Bauman 1995a, 81). "Das spezifische Verständnis von der Verfassung des moralischen Selbst, wie es ein postmoderner Standpunkt nahelegt, macht das moralische Leben wahrscheinlich nicht einfacher; es kann höchstens davon träumen, es ein wenig moralischer zu machen" (Bauman 1995a, 30 H.i.O.). Denn: "Es gibt keine Alternative dazu, die Bedeutung von Werten selbst einzusehen, ihre Konstellation für sich selbst zu bestimmen, Prioritäten, um die es im Einzelfall und vor allem im Konfliktfall immer geht, selbst festzustzen, und im übrigen Werte nicht so sehr zu proklamieren, sondern zu praktizieren" (Schmid 1999, 50).

Zu 3. Wie können wir dazu beitragen, dass bei der Vielfalt der möglichen Perspektiven, unter denen die Herausforderungen betrachtet werden können (und müssen), die ethische nicht zu kurz kommt?

Unsere Gesellschaft ist im Wandel - egal ob religiöse Fragen postmodern gestellt werden oder ob wir uns mit neuen Milieus auseinander setzen wollen und müssen. Die Zeit, da das Christentum alleinige religiöse Macht war, ist vorbei. Die „klassischen“ Antworten des Christentums wie gesellschaftliche Relevanz oder Kooperation mit weltlicher Macht, welche die letzten 1700 Jahre halfen, greifen nicht mehr. Wie können wir unseren Glauben in Zukunft leben und wie können wir andere Menschen mit dem Evangelium erreichen?

Es bestünde die Möglichkeit, uns in unser Milieu zurückzuziehen und eine eigene abgeschlossene Subkultur zu bilden. Hier und da geschieht dies, am auffälligsten bei einzelnen christlichen Immigrantengemeinden.

Gerade diese Beispiele und die Erfahrung der Geschichte machen deutlich, dass dies nicht der Weg sein kann.

Die vier verschiedenen Spannungsfelder

a. Wirtschaftlichkeit contra Fürsorgepflicht (am Beispiel Diakonie)

Nach dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts zum Arbeitsrecht in Kirche und Diakonie äußerte der rheinische Präses die Hoffnung auf Verständigung. «Ich hoffe sehr, dass es in der näheren Zukunft gelingen wird, eine im Grundsatz vorhandene Interessenidentität zwischen den Gewerkschaften und den Kirchen endlich einmal zu formulieren und gemeinsam zu vertreten: dass nämlich die Mitarbeitenden gerade im Sozialmarkt anständig bezahlt werden müssen.»

Das Gericht hatte im November entschieden, dass Mitarbeiter in kirchlichen Einrichtungen künftig unter bestimmten Umständen für bessere Arbeitsbedingungen streiken dürfen, den Sonderweg der Kirchen aber grundsätzlich bestätigt. Wenn Arbeitnehmer und Arbeitgeber den sogenannten Dritten Weg beschreiten und unter sich eine Einigung finden, bleiben Arbeitskämpfe weiterhin ausgeschlossen.

Schneider sagte, durch das Erfurter Urteil sei klar geworden: «Die Kirchen sind glückliche Verlierer, sie haben die konkreten Einzelfälle zwar verloren, aber in den Grundsätzen gewonnen. Der Wunsch der Gewerkschaft Verdi, den Dritten Weg verbieten zu lassen, hat sich nicht erfüllt. Auf der Grundlage des Erfurter Urteils sollten wir zu einem neuen Miteinander kommen. Denn die Refinanzierung der Kosten für Leistungen im Gesundheitswesen müssen dringend verbessert werden - das ist unser gemeinsames Interesse.»

Datei – Es muss sich rechnen

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b. Wem gehört der menschliche Körper – zwischen Verfügungs- oder Nutungsrecht (Enhancement (Optimierung des Menschen) contra Geschöpflichkeit)

c. Wo beginnt und wo endet Menschsein (Hirntod contra Gesamttod, )

d. Pluralität der Welterklärungen contra Wahrheitsanspruch des Christentums

Spätestes mit der Entwicklung der Quantentheorie ist die Gewissheit und die Sicherheit von Wissen fundamental infrage gestellt.

Die Erkenntnisphilosophie hat darauf u.a. mit dem radikalen Konstruktivismus reagiert.

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