Etienne Balibar, Gleichfreiheit

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Etienne Balibar Gleicheiheit Politische Essays Aus dem Französischen von Christine Pries Suhrkamp

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German translation of Etienne Balibar, La proposition de l'égaliberté (Paris: PUF, 2010)

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Etienne Balibar

Gleichfreiheit

Politische Essays

Aus dem Französischen von

Christine Pries

Suhrkamp

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Titel der Originalausgabe: La Proposition de l'Egaliberte. Essais politiques 1989-2009

©Presses Universitaires de France - PUF 2010

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Unterstützung des französischen Ministeriums für Kultur - Centre National du Livre

und der Maison des seiences de l'homme. Ouvrage publie avec le concours du Ministere frano;:ais charge de

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Erste Auflage 2012 ©dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2012

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Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages repro­duziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, verviel-

faltigt oder verbreitet werden. Satz und Druck: Memminger MedienCentrum AG

Printed in Germany ISBN 978-3-518-58586-3

Inhalt

Vo rwo rt z ur deutschen A usga be: Gleichfreiheit

Aufta kt : Die Ant ino mie der Staat sbürgerscha ft .

1. Die Pro po sit io n der Gleichfreiheit

2. Die Umkehrung des Besit zindividua lismus 3. Neue Überlegungen zur Gleichfreiheit

Zwei Lekt io nen . . . . . . . . ..... . . . .

Schluss: Widersta nd Aufsta nd Ungeho rsa m

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Na menregist er . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 5

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Vorwort zur deutschen Ausgabe: Gleichfreiheit*

Für mich ist es eine gro ße Ehre, dem deutschen Leser einige mei­ner philo so phisch-po litischen Essa ys im Ra hmen der a ngesehe­nen Reihe »Suhrka mp Wissenscha ft« vo rzulegen, in der so viele vo n den kla ssischen und mo dernen Texten vertreten sind, die für mich eine unersetzliche Quelle der intellektuellen Arbeit da rstel­

len. Der vo rliegende Ba nd ist eine gekürzte, besser gesa gt: eine ko n­

zentrierte Fa ssung der Aufsa tzsa mmlung La Proposition de l'Ega­liberte, die im Ja hr 2010 bei den Presses Universita ires de Fra nce (PUF) erschienen ist. Qua ntita tiv enthält er davo n etwa s mehr a ls die Hälfte; qua lita tiv umfa sst er den ersten, theo retischeren Teil des ursprünglichen Ba ndes (dem ich den Obertitel >>Eno ncia tio n et institutio n des dro its« [ >>Äußerung und Institutio n der Rech­te<< ] gegeben ha tte) ebenso wie den einleitenden Essa y (>>La nti­no mie de la cito yennett�<< [ >>Die Antino mie der Staa tsbürger­scha ft<< ] und den >>Schluss<< (der die Rede wiedergibt, die ich im Juli 2007 im Ra hmen des Thea terfestiva ls vo n Avigno n geha lten habe: >>Resista nce Insurrectio n Inso umissio n<< [ >>Aufsta nd Wi­dersta nd Ungeho rsa m< <] ).1 Diese Veränderung ha t eine >>Ko n-

* Mit einem Sternchen gekennzeichnete Ausdrücke sind im Original deutsch. 1 Die gestrichenen Kapitel enthielten einerseits (unter dem Titel >>Souverai­nete, emancipation, communaute<< [>>Souveränität, Emanzipation, Gemein­schaft<< ] ) kritische Essays, die der Aktualität der politischen Philosophie und den Werken von Nicos Poulantzas, Hannah Arendt und Ernesto Laclau ge­widmet waren und teilweise in Zeitschriften und Kongressbänden in deut­scher Übersetzung zugänglich sind; andererseits (unter dem Titel »Po ur une democratie sans exclusion« [»Für eine Demokratie ohne Ausschluss<< ] ) Ana­lysen, in denen es um die Frage der sozialen Exklusion ging, um die »Misstö­ne« bei der strikten Trennung von Kirche und Staat, die das >>Kopftuchver­bot« in den öffentlichen Schulen in Frankreich hervorgebracht hat, um die politische Bedeutung der Revolten in den »Banlieues« der französischen

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zentra tio n« der Da rlegung a uf die innere Dia lektik dessen zur Fo lge, wa s ich die »Pro po sitio n der Gleichfreiheit« gena nnt habe, und a uf da s Verhältnis, da s sie in der Mo derne zur Institutio n der Staatsbürgerschaft2 unterhält. W ie ich zu zeigen versucht habe, ist Erstere ihrem Wesen na ch Resulta t einer ko nstitutiven Spa n­nung zwischen Aufsta nd und Verfa ssung, wo bei diese beiden Ausdrücke jeweils im weitestmöglichen Sinne zu verstehen sind. Letzteres zeichnet sich durch eine ununterbro chene Abfo lge vo n Tra nsfo rma tio nen a us, durch die die Exklusio nen und Ungleich­heiten, die der Institutio n der Bürgerscha ftlichkeit [citoyennete bourgeoise] im Ra hmen des Na tio nalstaa ts innewo hnen, im Na ­men des Universellen, da s heißt der Gleichfreiheit s elbst, lega li­siert, a ngefo chten und in Fra ge gestellt werden. Heute, wo der Na tio na lstaa t in seiner Ambiva lenz so wo hl hinsichtlich der Uni­versa lität der Rechte wie des öko no mischen Orga nisa tio nsgra des a ls po litischer Ra hmen zur Diskussio n zu stehen scheint, stellt sich die Fra ge, o b die Staa tsbürgerscha ft a ls po litische Fo rm selbst eine Grenze erreicht ha t (wa s einige Zeitgeno ssen a ls Ein­tritt in ein »po stpo litisches« Zeita lter beschreiben) o der o b sie im G egenteil imsta nde ist, neue histo rische Gesta lten für sich zu fin­den. Indem ich diese institutio nelle Fra ge, die im Zentrum der Bemühungen der gegenwärtigen po litischen Theo rie steht, syste-

Großstädte im Jahr 2005 und schließlich um die Frage der »diasporischen«, auf der Ausweitung des Aufenthaltsrechts und des Freizügigkeitsrechts grün­denden Staatsbürgerschaft Durch die Gesamtzusammensetzung der Auf­satzsammlung wollte ich offenbar unterstreichen, dass sich die politische Philosophie (zumindest in meinen Augen) weder von der Auslegung einer Tradition noch vom aktuellen Engagement trennen lässt. 2 [Frz. citoyennete hat im Deutschen keine exakte Entsprechung und wird im Weiteren, wenn nicht anders vermerkt, mit >>Staatsbürgerschaft« wieder­gegeben, um die Engführungen der wörtlicheren Übersetzung »Bürger­schaft<< zu vermeiden. Vgl. auch Balibars eigene Einschätzung des Überset­zungsproblems, aus der hervorgeht, warum er auch das ebenfalls mögliche »Bürgertum« ebenso wie »Staatsbürgertum« und »Citoyenität« für ungeeig­net hält: Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen, Hamburg, Hamburger Edition, 2003, S. 62f. - A. d. Ü., im Folgenden durch eckige Klammern gekennzeichnet.]

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ma tisch mit der o ffenen Dia lektik vo n Aufsta nd und Verfa ssung in Verbindung bringe, die gleichbedeutend mit der Idee der Gleichfreiheit ist, versuche ich da ra uf hinzuwirken, da ss sie phi­losophisc h nicht nur unter dem A spekt von T echniken der »Go ­verna nce« o der so ga r des Verfa ssungsrechts, so ndern a us einer Ema nzipa tio nsperspektive diskutiert und a uf die Erfa hrungen und Vo lksbewegungen der heutigen Zeit bezo gen wird.

Wie ich im La ufe des Textes erkläre, ist »Gleichfreiheit« ein Ko fferwo rt, da s ich 1989 geschmiedet ha be (ein Da tum, da s nicht nur in Fra nkreich im Zusa mmenha ng mit den Diskussio nen über den Sinn der »Po litik der Menschenrechte<< a nlässlich des Ja hresta ges der Revo lutio n symbo lische Bedeutung ha tte, so n­dern a uch mit den neuen »demo kra tischen Revo lutio nen<< in den >>rea lso zia listischen<< Ländern zusa mmenfiel und mit dem An­spruch der Ga sta rbeiter a uf Staa tsbürgerscha ft und dem Auf­ko mmen der po stko lo nia len Fra ge in der ga nzen »entwickelten« ka pitalistischen Welt) . Aber eigentlich habe ich es nicht wirklich erfunden. Die Fra ge der equal liberty sta nd nicht nur im Zentrum der Deba tten, die da s Werk vo n Jo hn Rawls und die durch es a uf verschiedenen Seiten vera nla ssten >>Repliken<< a usgelöst ha ben, so ndern knüpfte in ihrer Ha rtnäckigkeit selbst wieder a n eine a lte Fra gestellung a n: a n die der aequa libertas o der des aequum ius, die sich über die ga nze Geschichte des Republika nismus er­streckt ha tte. Mehr no ch - wie mir mein Freund Frieder Otto Wo lf a ls einer der besten Kenner der englischen Revo lutio n und ihres Einflusses a uf die kla ssische po litische Philo so phie in Euro ­pa einige Ja hre später erklärte -: Die Tra kta te der Levellers und die Beiträge zu den Putney debates 1647 bezo gen sich immer wie­der a uf den Begriff der equal liberty. In meinen Augen zeichnete sich so eine disko ntinuierliche, a ber ha rtnäckige »Spur<< a b, deren Bedeutung ihre fra nzösische Ausfo rmulierung übersteigt, a uch wenn sie vo n deren Ha rtnäckigkeit pro fitiert. Durch den Über­

ga ng vo m Fra nzösischen ins Deutsche (wo bei »egaliberte<< zu >>Gleichfreiheit<< wird - zu einem Neo lo gismus, der, wie ich mir gerne vo rstelle, scho n Fichte o der Ma rx a ls den Vertretern des

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deutschen Idea lismus a us der Feder geflo ssen sein könnte, die sich a m direktesten da rum bemüht ha ben, den revo lutio nären Diskurs zu verlängern, zu reflektieren und zu tra nsfo rmieren) ka nn diese »Pr oposition« (im doppelten Sinne von Sa tz* und Vo rschla g* ) , wie mir scheint, da ra uf ho ffen, a n Universa lität no ch zu gewinnen. Aber selbstverständlich ha ndelt es sich vo n meiner Seite her weiterhin nur um einen Diskussio nsbei tra g, der unbedingt in einem interna tio na len und, wenn möglich, multi­kulturellen Ra hmen überprüft und richtiggestellt werden so llte.

Zum Abschluss dieser kurzen Vo rstellung möchte icha ll denen meine tiefe Da nkba rkeit a ussprechen, die diese deutsche Ausga ­be für wünschenswert geha lten und ermöglicht haben, insbeso n­dere Philipp Hölzing für den Suhrka mp Verla g, der wunderba ren Übersetzerirr Christirre Pries und mittelba r a uch meinen Ko lle­gen und Freunden Christo ph Menke und Fra ncesca Ra imo ndi (in deren Sa mmelba nd Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, Suhr­ka mp Verla g 2011, die Übersetzung eines Gro ßteils des Essa ys »La pro po sitio n de l'ega liberte« entha lten ist), Wo lfga ng Fritz Ha ug (der diese Übersetzung vo n Tho ma s La ugstien zuerst 1993 in dem Ba nd Die Grenzen der Demokratie im Argument Verla g veröffentlicht ha t), Ca therine Co llio t-Thelt� ne und den für die deutsch-fra nzösische Online-Zeitschrift Trivium (Ma iso n des Seiences de l'Ho mme, Pa ris) Vera ntwo rtlichen, die den gesa mten Essa y in einer zweiten Übersetzung durch Achim Russer veröf­fentlich ha ben, a uf der die hier vo rliegende Fa ssung beruht.

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Auftakt: Die Antinomie der Staatsbürgerschaft

In der Zusa mmenfa ssung, die Ihnen übermittelt wurde, ist m ir eine merkwürdige »Fehlleistung« unterla ufen.1 Beim Skizzieren dessen, wo rin eine Beha ndlung der »Antino mien der Staa tsbür­

gerscha ft« bestehen könnte, habe ich da s Wo rt Demokratie bei­

seitegela ssen. Der Leser ha t da ra us schließen können, da ss es in

meinen Augen a llein a uf den Begriff der »Staa tsbürgerscha ft<< a n­

ko mmt und da ss die »Demokra tie<< nur eine nähere Bestimmung desselben da rstellt, der ma n bei seiner Definitio n na chträglich

mehr o der weniger Gewicht beimisst. So lche hiera rchischen -o der, wie Rawls sa gen würde, lexika lischen - Erwägungen sind keineswegs sekundär. Sie sind bereits Teil der Auseina nderset­zungen um den Gegensa tz zwischen einer »republika nischen<< (o der neo republika nischen) und einer >>demokra tischen<< (libe­ra len o der so zia len) Ko nzeptio n vo n Po litik, und in gewissem Sinne hängt da s Verständnis der politischen Philosophie selbst und fo lglich a uch ihrer Kritik da vo n ab - wo ra uf Ja cques Ra n­cie re und Miguel Abenso ur a uf die ihnen je eigene Weise bereits hingewiesen haben.2 Nun habe ich a ber keineswegs die Absicht,

1 Dieser Essay beruht auf der Cassa/ Lecture in French Culture, die ich am 12. Mai 2009 unter dem Titel >>Antinomies of Citizenship<< an der Universität London gehalten habe. Für die Einladung danke ich dem Institute of Ger­manie and Romance Studies sowie seiner Direktorin Naomi Segal, dem Humanities and Arts Research Centre des Royal Holloway College und Pro­fessorin Mandy Merck. Den letzten Teil habe ich für das Kolloquium >>Quel sujet du politique ? « am Pariser College International de Philosophie wieder­aufgenommen und weiterentwickelt, das am 20. Juni 2009 unter der Leitung von Gabriella Basterra, Ghislaine Glassan Deschaumes, Rada Ivekovk und Boyan Manchev stattfand. 2 Jacques Ranciere, La Mesentente. Politique et philosophie, Paris, Galilee, 1995 [dt.: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt/M., Suhr­kamp, 2002]; Miguel Abensour, Hannah Arendt contre Ia philosophie poli­tique? Paris, Sens & Tonka, 2006.

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die Betra chtung der Demo kra tie derjenigen der Staa tsbürger­scha ft unterzuo rdnen. Ich vertrete so ga r die These, da ss die De­mo kra tie - na ch Cha nta l Mo uffes geglückter Fo rmulierung bes­ser: das »dem okra tische Pa ra dox «3 - den entsc heidenden Aspekt des Pro blems, um da s die po litische P hilo so phie kreist, ebendes­ha lb da rstellt, weil sie es ist, die die Institutio n der Staa tsbürger­scha ft problematisch macht. Die Staa tsbürgerscha ft ha t verschie­dene histo rische Gesta lten a ngeno mmen, die ma n a ufkeinen Fa ll a ufeina nder zurückführen ka nn, o bwo hl ma n sich a uch die Fra ge stellen muss, wa s unter diesem Namen und durch seine »Über­setzungen« überliefert wird.4 Zwischen ihnen verläuft immer wieder eine Analogie, die vo n dem a ntino mischen Verhältnis herrührt, da s die Staa tsbürgerscha ft zur Demo kra tie a ls Dyna ­mik der Transformation des Politischen unterhält. Wenn ich die­ses für die Staatsbürgerscha ft ko nstitutive Verhältnis, da s sie gleichzeitig in eine Krise versetzt, a ls a ntino misch bestimme, be­rufe ich mich a uf eine philo so phische Tra ditio n, die sich beso n­ders durch zwei Ideen a uszeichnet: die fo rtwährende Spa nnung zwischen dem Po sitiven und dem Nega tiven, zwischen dem Ko n­struktio ns- und dem Destruktio nspro zess, und da s Nebeneina n­der der Unmöglichkeit, ein Pro blem zu lösen (bzw. es »endgül­tig« zu lösen), und der Unmöglichkeit, es zum Verschwinden zu

bringen. Meine Arbeitshypo these la utet denn a uch, da ss im Her-

3 Chantal Mouffe, The Democratic Paradox, London, Verso, 2000 [dt.: Das demokratische Paradox, Wien, Turia + Kant, 2008] . 4 Von den - Gesamt- oder Teil- - Geschichten der Idee der Staatsbürger­schaft, auf die ich zurückgegriffen habe, möchte ich hervorheben: Jacqueline Bordes, POLITEA dans Ia pensee grecque jusqu'a Aristote, Paris, Les Beiles Lettres, 1982; La nozione di >>Romano« tra cittadinanza e universalita, Da Roma alla Terza Roma, Documenti e studi, Edizioni Scientifiche Italiane, 1982; Rogers M. Smith, Civic Ideals. Conflicting Visions ofCitizenship in US History, New Haven, Yale University Press, 1999; Pietro Costa, Civitas. Storia della Cittadinanza in Europa, 4 Bde., Bari, Editori Laterza, 1999-2001; Domi­nique Schnapper, Qu'est-ce que Ia citoyennete ?, Paris, Gallimard, »Folio«, 2000; Paul Magnette, La Citoyennete. Une histoire de l'idee de participation ci­vique, Brüssel, Bruylant, 2001; Linda Bosniak, The Citizen and the Alien, Princeton (N. J.), Princeton University Press, 2006.

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zen der Institutio n der Staa tsbürgerscha ft ihr widersprüchliches Verhältnis zur Demokra tie una ufhörlich immer wieder vo n neu­em entsteht. Mit a nderen Wo rten werde ich versuchen, die Mo ­mente einer Dialektik zu charakterisieren, in der so wo hl die Be­wegungen und Kräfteverhältnisse einer wie ko mplex a uch immer gea rteten Geschichte a ls a uch die Bedingungen einer Verknüp­fung vo n Theo rie und Pra xis vertreten sind.

Es versteht sich vo n selbst, da ss ich in der Asso ziierung vo n Staa tsbürgerscha ft und Demo kra tie nichts »Na türliches« sehe. Und do ch möchte ich ein Thema fo rtführen, da s in unterschied­licher Gewichtung vo n Aristo teles über Spino za bis Ma rx eine ko mplexe Tra ditio n a usbildet und a us der Demo kra tie eine »na ­türliche Staa tsfo rm<< o der die »na türlichste Fo rm<< der Staa tsbür­gerscha ft ma cht. 5 Ich habe da s Gefühl, da ss ma n da s gegen seinen Wo rtla ut interpretieren muss, indem ma n eben gena u jenen Blickwinkel des dia lektischen Widerspruchs einnimmt: Die Anti­no mie im Herzen der Beziehungen zwischen Staa tsbürgerscha ft und Demokra tie bildet in der Abfo lge ihrer Gesta lten den Mo to r

5 Aristoteles behauptet in Buch III der Politik (1275a32), dass jede politische Staatsform, in der Bürger gleichermaßen »unbestimmte Regierungsmacht« oder »allgemeine Regierungsmacht<< ausüben (das heißt an der Volksver­sammlung und an der Gerichtsbarkeit teilnehmen), ein demokratisches Element enthält, das nicht zugunsten anderer Regierungsformen wieder eliminiert werden kann. Sein Ziel ist es, eine solche Gefahr durch die Transformation der Demokratie in eine »Timokratie<< (wie es in der Niko­machischen Ethik heißt) zu bannen. Die Argumentationsrichtung wird in der Moderne von Spinoza umgekehrt (für den die Demokratie weniger eine besondere Staatsform ist als die Tendenz, die Macht der Menge [multi­tude] zu überlassen, die Einfluss auf die monarchischen oder aristokrati­schen Staatsformen nimmt, vgl. Etienne Balibar, Spinoza et Ia Politique, Pa­ris, PUP, 1985) und vom jungen Marx (in seiner Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie von 1843, in der er explizit behauptet, dass die Demokra­tie - bzw. die »gesetzgebende Gewalt<< - die »Wahrheit aller Verfassungen<< ist). Raueiere nimmt diese Behauptung heute wieder auf, indem er zeigt, dass keine Staatsform das Risiko bannen kann, das letzten Endes für das Gewaltmonopol die Notwendigkeit darstellt, vom Volk akzeptiert zu wer­den, das entscheiden kann zu gehorchen - oder nicht (vgl. La haine de Ia democratie, Paris, La fabrique, 2005 [dt.: Der Hass der Demokratie, Berlin, August Verlag, 2011 ] ) .

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der Tra nsfo rma tio nen der po litischen Institutio n. Desha lb ka nn der Na me »demo kra tische Staa tsbürgerscha ft<< ein ha rtnäckiges Pro blem lediglich bemänteln, einen Gegensta nd vo n Ko nflikten und gegensätz lichen Definitionen, ein R ätsel ohne endgültige Lösung (selbst wenn regelmäßig im Zusa mmenha ng mit einer ma ßgeblichen Erfindung eine »endlich entdeckte<< Lösung ver­kündet wird6 ) , einen »verlo renen Scha tz<< , der wiedergefunden und z urückero bert werden muss.7 Ich verhehle nicht, da ss so lche Fo rmulierungen eine bestimmte Ko nz eptio n vo n po litischer Phi­lo so phie impliz ieren, deren Vo ra ussetz ungen ma n ebenso wie die Einwände, die sie hervo rruft, la nge untersuchen müsste. 8 Ich z iehe es vo r, nicht direkt in eine so lche Diskussio n einz usteigen. Nicht, weil ich sie für rein spekula tiv hielte, im Gegenteil: Ich bin überz eugt, da ss sie pra ktische Implika tio nen a ufweist. Diese möchte ich a ber im Ausga ng vo n einer a nderen Hypo these z um Vo rschein bringen: Da ss es nämlich Situa tio nen und Mo mente gibt, in denen die Antino mie beso nders sichtbar wird, weil die do ppelte Unmöglichkeit, jede Gesta lt vo n Staa tsbürgerscha ft a bz ulehnen und sie gleichwo hl in einer bestimmten Fa ssung9 beiz ubeha lten, die tief in der »rea l existierenden<< Krise der De­mo kra tie verwurz elt ist, in die Erschöpfung der Bedeutung des

6 Kar! Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich (1871) : >>Ihr [d. i. der Kommune] wahres Geheimnis war dies: Sie war wesentlich eine Regierung der Arbeiter­klasse, das Resultat des Kampfes der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte.« (Marx / Engels, Werke, Bd. 17, Berlin, Dietz Verlag, 1971, S. 342) 7 Hannah Arendt verwendet diesen Ausdruck (im Sinne des >>verlorenen Geistes der Revolutionen«) mindestens zweimal: im Sechsten Kapitel von über die Revolution ( 1963, München, Piper Verlag, Neuausgabe 1974) und im Vorwort von Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politi­schen Denken I (eng!. Orig. 1961, erw. 1968, dt. München, Piper Verlag, 1994). 8 Siehe vorläufig meinen Aufsatz »Qu'est-ce que la philosophie politique ? Notes pour une topique« (1998), in: La Proposition de l'Egaliberte. Essais poli­tiques 1989-2009, Paris, PUP, 2010, S. 167-178. 9 [Frz. constitution, auch hier im eigentlichen Sinne von >>Verfassung« oder »Konstitution« gemeint.]

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Wo rtes Demokratie selbst mündet, dessen vo rherrschende Ver­wendungsweisen da nn entweder o bso let o der pervers wirken.

Anscheinend befinden wir uns in einer Situa tio n dieser Art. Was aufg rund der In terdependenz , vo n der ich spreche, die Defi­nitio nen und näheren Bestimmungen, die über einen sehr la ngen Zeitra um unstrittig erschienen (wie die der »na tio nalen Staats­bürgerscha ft<< o der der »so z ia len Staa tsbürgerscha ft<< ) , z utiefst a ffiz iert, a ber da rüber hina us a uch die Katego rie der Staatsbür­gerschaft selbst, deren Tra nsfo rma tio nskra ft und Fähigkeit, sich histo risch neu z u erfinden, plötz lich verschwunden z u sein scheint. Auf der Grundla ge dieser vo n gro ßer Ungewissheit ge­prägten Fra ge möchte ich Wendy Bro wns Interpreta tio n des Pa ­ra digma s der »neo libera len<< Regierungsführung, der »Go ver­na nce<< , etwa s näher untersuchen. Bro wn sieht da rin einen Pro z ess der »Entdemo kra tisierung der Demo kra tie<< , der die Fra ­ge a ufwirft, o b er unumkehrba r ist. Ich sehe da rin da gegen den destruktiven Aspekt z um Ausdruck ko mmen, der den Antino mi­en der Staa tsbürgerscha ft innewo hnt, und fo lglich da s Anz eichen für eine Hera usfo rderung, vo r der gegenwärtig jeder Versuch steht, über da s po litische Ko llektiv und seine Fähigkeiten na ch­z udenken.

Ich habe vo r, drei Aspekte dieser Dia lektik a nz uschneiden. Der erste betrifft da s, wa s ich die Spur der Gleichfreiheit in der Ge­schichte der mo dernen, a ls na tio na l versta ndenen (o der dem Na­tionalstaat zugehörigen) Staatsbürgerscha ft nenne. Ich lese diese Spur a ls Differentia l vo n Aufsta nd und Verfa ssung. Der z weite Aspekt liegt in meinen Augen im inneren Widerspruch der »SO ­z ia len Staa tsbürgerscha ft<< , wie sie sich - im Wesentlichen in Eu­ro pa - im Ra hmen des Sozial-Nationalstaats (ein grundma teria ­

listischer Ausdruck, den ich denen des »Etat-providence<<, Welfare State o der So z ia lstaa ts* vo rz iehe, die in den verschiedenen euro ­päischen Ländern verwendet werden) hera usgebildet ha t. Da s heißt, da ss diese Gesta lt der Staa tsbürgerscha ft histo risch einen demo kra tischen Fo rtschritt da rstellt, a ber nur in bestimmten Grenzen, die pa ra do xerweise ihrerseits ein weiteres Fo rtschreiten

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verbiet en, während die Idee des Fortschritts ihr denno ch inne­wo hnt . Der dritt e Aspekt bet rifft indirekt da s, wa s ma n gemein­hin a ls »neo libera le« Ant wo rt a uf die Krise des So zia l-Nat io na l­staats a nsieht ( oder, wen n ma n da s v orzieht , al s den Anteil des Neo libera lismus beim Auslösen dieser Krise), nämlich die unbe­grenzt e Förderung des Individua lismus und des Ut ilita rismus. In welchem Ma ß könnt e sie eine t ödliche Gefa hr für die Demo kra ­t ie ent ha lt en ? In welchem Ma ß ist es vo rst ellba r, da ss sie zumin­dest negat iv die Vo ra usset zungen für eine neue Konfiguration der Staat sbürgerscha ft über deren t ra dit io nelle Inst it ut io nen hina us ent hält (vo r a llem über die repräsentative Demokratie hina us, die der Neo libera lismus durch verschiedene Fo rmen der »Go ver­na nce« und der »Ma ssenko mmunikat io n« zu erset zen sucht ) ? Auf dieser Grundla ge möcht e ich ein Pro blemfeld vo n »Trägern« o der >>Ha ndelnden« skizzieren, da s für uns pot enziell mit der Idee einer Demokratisierung der Demokratie in Verbindung st eht . Da s werde ich für den grundsät zlichen Hinweis nut zen, wa rum ich den Terminus des (hybriden, ko llekt iven, t ra nsito rischen) po ­lit isch Ha ndelnden dem des Subjekts der Politik vo rziehe - wa s nicht heißen so ll, da ss ich die Fra gen, die mit dem >>Subjekt ivie­rungspro zess« zusa mmenhängen, und die Alt ernat iven, die ma n heut e mit Blick a uf die neuest e Geschicht e der Subjekt ivit ät gerne a ls >>po lit isch« o der >>po st -po lit isch« diskut iert , a blehne.

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Beginnen wir mit der Spur der Gleichfreiheit. Um der Einfüh­rung dieses >>Ko fferwo rt s«, a n dem ich wirklich hänge, Na ch­druck zu verleihen, ha be ich früher zuweilen eine Genea lo gie

dieses Ausdrucks skizziert , die bis a uf die römischen Fo rmulie­rungen der aequa libertas und des aequum ius zurückging ( de­ren sich insbeso ndere Cicero bedient e, um a uf da s Wesent liche der Staat sfo rm hinzuweisen, die er res publica na nnt e). 10 Ich habe

10 Cicero, De re publica, I 31: » . . . et talis est quaeque res publica, qualis eius aut natura aut voluntas qui illam regit. Itaque nulla alia in civitate, nisi in qua populi potestas summa est, ullum domicilium libertas habet; qua

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vo rgeschla gen, jenen >>revo lut io nären<< Mo ment am Anfa ng der Mo derne a ls ent scheidend a nzusehen, durch den da s >>gleiche R echt << zum Begriff einer neua rt igen Universalität wird. Die Mo ­derne ist im Wesentlichen als doppelte Einheit von Gegensät zen ko nst ruiert : Einheit (ja so ga r Identität in der Bestimmung) des Menschen und Bürgers [citoyen] , die fo rta n t rot za ller die Vert ei­lung der Recht e und Befugnisse bet reffenden pra kt ischen Ein­schränkungen wie ko rrelat ive Begriffe erscheinen, Einheit (ja

so ga r Identität in der Referenz) der Begriffe vo n Freiheit und Gleichheit selbst , die t rot z der fo rt währenden Tendenz der bür­gerlichen [ bourgeoises] po lit ischen Ideo lo gien (die ma n mit dem Oberbegriff >>Libera lismuS<< versehen könnt e)11 Erst erem einen

epist emo lo gischen o der so ga r o nto lo gischen Vo rra ng einzuräu­men, indem sie da ra us da s >>Nat urrecht << pa r excellence ma chen (wo ra uf umgekehrt die so zia list ische Tendenz, der Gleichheit den Vo rzug zu geben, rea giert ),12 a ls die zwei Seit en derselben »ko nst it uierenden Gewa lt << wa hrgeno mmen werden. Die Ko n­flikt ha ft igkeit , die sich a us dieser Einheit der Gegensät ze ergibt , int eressiert mich beso nders: Sie lässt uns verst ehen, wa rum die

quidem certe nihil potest esse dulcius, et quae si aequa non est ne libertas quidem est. Qui autem aequa potest esse . . . ? << [ dt.: >>Und so beschaffen ist ein jedes Gemeinwesen, wie das Wesen oder der Wille dessen, der es lenkt. Deshalb hat in keinem anderen Staate als in dem, in welchem die Macht des Volkes die höchste ist, die Freiheit ihre Wohnstatt; im Vergleich mit dieser kann sicher nichts angenehmer sein, und wenn sie nicht gleich ist, ist es auch nicht Freiheit. Wie aber kann sie gleich sein . . . ? << Über das Ge­meinwesen, lat.-dt., übers. u. hg. v. Karl Büchner, Stuttgart, Reclam, 1979, s. 140f. ] 1 1 Immanuel Wallerstein, >> Three Ideologies or One? The Pseudobattle of Modernity<<, in: ders., After Liberalism, New York, The New Press, 1995, S. 72-92. Siehe auch ders., Unthinking Social Science. The Limits ofNineteenth Century Paradigms, Cambridge, Polity Press, 1991 [dt.: Die Sozialwissen­schaft »kaputtdenken<<, Weinheim, Beltz Atllenäum, 1995] . 12 Was heute auch bei Jacques Raueiere der Fall ist, wenn er die Demo­kratie als Affirmation von >>irgendjemandes Macht<< und die liberalen (re­präsentativen) Definitionen, die jeweils versuchen, deren Grundsätzlichkeit einzuschränken, einander radikal entgegensetzt (vgl. meinen Kommentar: >>Historical Dilemmas of Democracy and Their Contemporary Relevance for Citizenship«, in: Rethinking Marxism, Bd. 20, Heft 4, Oktober 2008).

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Forderungen nach mehr Macht für das Volk oder die Emanzipa­

tion von der Herrschaft, die sich in neuen Rechten niederschlägt,

unvermeidlich revolutionären Charakter annehmen. Indem wir

gleichzeitig Gleichheit und Freiheit fordern, wiederholen wir die

Aussage, die am Ursprung der modernen universellen Staatsbür­

gerschaft steht. Und diese Kombination von Konflikt und Institu­tion nenne ich Spur der Gleichfreiheit

Diese Wiederholung findet ihren bevorzugten symbolischen Ausdruck zwar, wenn die politische Macht ihrerseits auf revolu­tionäre Weise erobert wird, so dass ein Regierungswechsel statt­findet (zum Beispiel beim klassischen Übergang von der Monar­chie zur Republik) oder die herrschende Klasse gedemütigt wird, weil sie gezwungen ist, auf ihre Privilegien zu verzichten. Aber die petitio juris bzw. die mit Rechtsansprüchen einhergehende Emanzipationsbewegung hat immer eine »aufständische« Be­deutung, die sich auf unendlich viele Weisen in Volksbewegun­gen, demokratischen Wahlkämpfen, länger- oder kurzfristigen Parteibildungen zeigen kann. Je nach Lage der Dinge weist sie ein gewaltsames oder ein gewaltloses Kräfteverhältnis auf, bestehen­de Rechtsformen und politische Institutionen werden genutzt oder abgelehnt. In Bezug auf die Eroberung der bürgerlichen, po­litischen und sozialen Rechte muss man nur an die Vielfältigkeit der europäischen Nationalgeschichten denken, wenn diese auch nicht völlig unabhängig voneinander sind, oder an die vielen Formen, die die Dekolonisierung angenommen hat, oder an die sich über ein Jahrhundert bis zur Emanzipation der Afroameri­

kaner aneinanderreihenden Bürgerkriege und Bürgerrechtsbe­wegungen usw. Trotz dieser phänomenologischen Vielfältigkeit sieht man, dass in letzter Instanz immer der Konflikt entschei­dend ist, weil die Gleichfreiheit kein ursprünglicher Zustand ist und die Herrschenden nie freiwillig auf ihre Privilegien und ihre Macht verzichtenY Es bedarf also immer des Kampfes, und da-

13 Selbst wenn sie unter dem Druck der Ereignisse von der Brüderlichkeits­trunkenheit erfasst werden können (symbolisch dafür das Beispiel der

rüber hinaus muss sich die Legitimität der Kämpfe erweisen -was Jacques Ranciere den Anteil der Anteilslosen nennt -, die der Forderung nach »Aufrechnung«, die diejenigen erheben, die au­ßerhalb des »Gemeinwohls« oder »Gemeinwillens« gehalten worden sind, universelle Bedeutung verleiht. 14 Hier sieht man

eine wesentliche Unvollständigkeit des »Volkes<< als politischer Körperschaft zum Vorschein kommen, einen Universalisie­rungsprozess, der sich am Konflikt festmacht: an der »Negation<<, also Verneinung der Exklusion in Bezug auf die Würde, das Ei­gentum, die Sicherheit, die »Grundrechte<< im Allgemeinen. Der so beschriebene aufständische Moment weist zugleich in die Ver­gangenheit und in die Zukunft: in die Vergangenheit, weil er da­rauf zurückverweist, dass jede Verfassung im Volk gründet, die ihre Legitimität nicht aus der Tradition, aus einer Offenbarung, bezieht oder aus der bloßen bürokratischen Effizienz, so bestim­mend diese Legitimationsformen beim Aufbau von Staaten auch sein mögen;15 und in die Zukunft, weil angesichts der Einschrän­kungen und Hindernisse bei der Verwirklichung der Demokratie in den historischen Verfassungen die Rückkehr zum Aufstand

>>Nacht des 4· August«: Aber hat sie so, wie der republikanische Bilderbogen sie verklärt hat, wirklich stattgefunden ?). 14 Jacques Ranciere, Das Unvernehmen, a. a. 0. Heute befürchtet Ranciere, dass seine Formulierung, die um die ganze Welt ging (obwohl sie, wie ich häufig die Erfahrung gemacht habe, sehr schwer in andere Sprachen zu übersetzen ist), eher als Parole im Kampf gegen die Exklusion (also für »die Inklusion<<) interpretiert wird denn als Aussage über das Prinzip der radikalen Demokratie als Macht eines beliebigen Individuums; vgl. seine Antworten auf die Fragen von Vacarme, Sommer 2009, Nr. 48 (»puissance de la democratie<<, gemeinsam mit M. Abensour und J.-L. Nancy) . Ich den­ke, man muss das dialektische Element, das der (manchmal gewaltsamen) Spannung zwischen den beiden Lesarten des demos innewohnt, beibehal­ten. 15 Ich nehme die Webersehe Dreiteilung mit Absicht wieder auf, weil ihr Gegenstück bei Weber selbst eine Analyse des »nichtlegitimen<< Charakters der demokratischen Legitimität von außergewöhnlicher Triftigkeit für das ist, was ich hier den »aufständischen<< Moment der Staatsbürgerschaft nenne; vgl. Wirtschaft und Gesellschaft (1921/22), Teil 2, Kap. IX, 7. Abschn., »Die nichtlegitime Herrschaft (Typologie der Städte)<<, in: Studienausgabe, Tübin­gen, Mohr Siebeck, 5· Aufl. 1976, S. 727-814.

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(und die Rückkehr des mehr oder weniger lange gebannten Auf­

stands) eine ständige Möglichkeit darstellt. Ob diese Möglichkeit

konkret wird oder nicht, ist selbstverständlich ein anderes Prob­

lem und kann nicht Gegenstand einer Deduktion a priori sein.

Fassen wir den Status und die Implikationen dieser Dialektik von Aufstand und Verfassung genauer, von der ich hier nur eine sehr allgemeine, in gewisser Weise idealtypische Beschreibung gebe. Zunächst ist festzuhalten, dass die politische Gemeinschaft, wenn sie auf der Verknüpfung der Staatsbürgerschaft mit ver­schiedenen Aufstandsmodalitäten der Emanzipation oder der Eroberung universeller Rechte beruht, unvermeidlich eine para­doxe Form annimmt: Von jedem Konsens ausgeschlossen, ist sie weder als homogene Einheit ihrer Mitglieder realisierbar noch als vollendete Gesamtheit darstellbar. Aber man kann sie auch nicht im Individualbild eines Konglomerats von Subjekten auf­lösen, deren einzige Bindung die »unsichtbare Hand« der Nütz­lichkeit oder die wechselseitige Abhängigkeit der Bedürfnisse wäre, oder umgekehrt im Bild eines »Kampfes aller gegen alle«, das heißt eines allgemeinen Interessenantagonismus, der als sol­cher das »Gemeinsame« wäre. In gewissem Sinne sind die »Bür­ger« (oder Mitbürger) der Gleichfreiheit also weder Freund noch Feind. Wir kommen hier dem sehr nah, was Chantal Mouffe das »demokratische Paradox« zu nennen vorgeschlagen hat, aber wir stehen auch an der Schwelle zu den sich unaufhörlich wieder erneuernden Formen, unter denen eine Institution der Staats­bürgerschaft, die ihrem Wesen nach antinomisch bleibt, sich in der Geschichte zeigen kann - je nachdem, in welchem Maße sich die Namen ändern, die Räume oder Gebiete, die historischen Er­zählungen und ideologischen Formationen, die jene Subjekte mit der Anerkennung dieser Staatsbürgerschaft verbinden, die in ihr ihren politischen Horizont und ihre Existenzgrundlage se­hen.16

16 Etienne Balibar, >>Citoyen sujet Reponse a la question de Jean-Luc Nan­cy: qui vient apres le sujet?«, in: Cahiers Confrontation, Nr. 20, Winter 1989

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Warum ist dieser seinem Wesen nach instabile, problemati­sche, »kontingente« Charakter der Gemeinschaft der Bürger nicht offensichtlicher (oder warum zeigt er sich nicht häufiger)? Warum wird er, wenn er sich zeigt, leicht als Untergang der Staatsbürgerschaft angesehen ? Das ist zweifellos besonders der Tatsache geschuldet, dass die Begriffe der Staatsbürgerschaft und der Nationalität in der Moderne praktisch identisch verwendet wurden, in einer Art Gründungsgleichung des modernen »repu­blikanischen« Staates, was, je stärker der Staat selbst wurde und je mehr seine mythischen, imaginären oder kulturellen Rechtferti­gungen wucherten, 17 immer unstrittiger und - anscheinend - im­mer unumstößlicher wurde. Und trotzdem kann der historische Kreislauf der Souveränität des Nationalstaats ein Ende nehmen, wie es heute der Fall zu sein scheint, so dass der seinerseits kon­tingente Charakter dieser Gleichung (wieder) sichtbar wird, die Tatsache, mit anderen Worten, dass es sich um eine historisch bestimmte, ihrem Wesen nach fragile, an gewisse lokale und zeitliche Bedingungen gebundene, dem Zerfall oder der Mutati­on ausgesetzte Gleichung handelt.18 Das ist auch der Moment,

[dt.: >>Bürger-Subjekt. Antwort auf die Frage Jean-Luc Nancys: Wer kommt nach dem Subjekt ?<<, in: Christoph Menke I Francesca Raimondi (Hrsg.), Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, Berlin, Suhrkamp Verlag, 2011, S. 411-441] . 17 Etienne Balibar, Nous, citoyens d'Europe? Les frontieres, /'Etat, le peuble, Paris, La Decouverte, 2001 [dt.: Sind wir Bürger Europas? a.a.O.]. Über die römischen Ursprünge der Gleichung Staatsbürgerschaft = Nationalität und die Unterschiede zwischen dem Alten Reich und dem modernen Staat: Clau­de Nicolet, >>Citoyennete fran<;aise et citoyennete romaine. Essai de mise en perspective<<, in: La nozione di »Romano<< tra cittadinanza e universalita, a. a. 0., S. 145 f. 18 Die absolute Souveränität des Nationalstaats als ökonomische, militäri­sche Macht oder auch nur als Fähigkeit, die Bewegungen und Kontakte sei­ner eigenen Bürger zu kontrollieren, wird in der gegenwärtigen Welt sicherlich in Frage gestellt, aber es ist nicht sicher, dass dieser Transnationalisierungs­prozess überall die gleiche Bedeutung annimmt und seine europäische Wahrnehmung sich verallgemeinern lässt. Vgl. Zhang Yinde, »La >sinite<. I:identite chinoise en question<<, in: Anne Cheng (Hrsg.), La Pensee en Chine aujourd'hui, Paris, Gallimard, »Folio essais<<, 2007, S. 3oof.

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in dem (erneut) sichtbar wird, dass das nationale Interesse oder die nationale Identität als solche, absolut gesehen, nicht für die Einheit der Gemeinschaft der Bürger sorgen.

An dieser Stelle können wir jedoch nicht stehenbleiben. Denn so effektiv die Form Nation (und ihr Double, die nationale Iden­tität) in der Geschichte der Moderne auch war, ist sie doch nur eine mögliche historische Form der Gemeinschaft der Bürger, deren gesamte Funktionen und Widersprüche sie, davon abgese­hen, niemals abdeckt bzw. neutralisiert. Über diesen Verweis auf die Wechselfälle der Staatsbürgerschaft als Nationalität hinaus kommt es mir vor allem darauf an, klarzumachen, dass die Staatsbürgerschaft im Allgemeinen, als politische »Idee«, zwar einen Verweis auf die Gemeinschaft impliziert (weil die Idee ei­ner Staatsbürgerschaft ohne Gemeinschaft nach dem Muster einer Staatsbürgerschaft ohne Institution praktisch ein Widerspruch in sich ist),19 ihr Wesen aber dennoch nicht im Konsens ihrer Mit­glieder liegt. Daher rührt die strategische Funktion, die Termini wie res publica (was die Römer als Äquivalent zur griechischen politeia ansahen)2° in der Geschichte erfüllen, aber auch ihre tiefe Doppeldeutigkeit. Bürger als solche sind immer Mit-Bürger [con­citoyens] (oder Ko-Bürger [co-citoyens], die sich die Rechte, die sie genießen, wechselseitig gewähren): Die Dimension der Ge­genseitigkeit ist konstitutiv.21 Wie könnten sie demnach außer-

19 Diese Frage und die Möglichkeit einer kritischen Umkehrung, die sie er­öffnet, habe ich diskutiert in >>Eine Bürgerschaft ohne Gemeinschaft ?«, in: Sind wir Bürger Europas?, a. a. 0., S. 101f. 20 An anderer Stelle habe ich vorgeschlagen, politeia in der ganzen Breite seiner Verwendungen einfach mit >>Staatsbürgerschaftsverfassung<< zu über­setzen. Die Übertragung von res publica ist >>Republik<< [republique], also >>öf­fentliche Angelegenheit<< [chose publique], aber man spricht heute immer häufiger von >>Öffentlichkeit<< [sphere publique]. Das klassische englische Äquivalent (wie im Titel von Hobbes' Werk Leviathan) war >>Common Wealth<<. 21 In einem berühmten Aufsatz hat Emile Benverriste gezeigt, dass sich die­ser Vorrang der Gegenseitigkeit vor der Zugehörigkeit besser durch das latei­nische Doppel civis/civitas ausdrücken lässt als durch das griechische polis! polites, weil die >>Wurzel<< einmal der Status des Individuums in einer Bezie-

22

halb einer »Gemeinschaft<< existieren, ob diese nun an ein Gebiet gebunden ist oder nicht, als naturgegeben oder kulturelles Erbe vorgestellt oder als historisches Produkt oder willentliches Kon­strukt bestimmt wird? Schon Aristoteles hat diesbezüglich eine grundlegende Rechtfertigung angeboten und damit die politische Philosophie begründet: Die Bürger sind durch ein Gesetz der Re­ziprozität von Rechten und Pflichten miteinander verbunden. Besser gesagt: durch den Umstand, dass die Reziprozität der Rechte und Pflichten zugleich die Macht der Regierenden be­schränkt und die Regierten das Gesetz akzeptieren lässt.22 Die ho­hen Beamten sind also gegenüber ihren Auftraggebern verant­wortlich, und die einfachen Bürger gehorchen dem Gesetz, zu dessen Erarbeitung sie beigetragen haben, entweder direkt oder durch zwischengeschaltete Repräsentanten. Doch diese Ausrich­tung23 der Staatsbürgerschaft am Horizont der Gemeinschaft ist keineswegs gleichbedeutend mit Konsens oder Homogenität, ganz im Gegenteil, weil die Rechte, die sie gewährt, errungen wurden, das heißt durchgesetzt wurden gegen den Widerstand derer, die Privilegien, >>Eigeninteressen« und Macht besaßen, die immer auch soziale »Herrschaft« zum Ausdruck brachte. Und weil sie (wie Lefort sagt) erfunden wurden (und neu erfunden werden müssen) und ihr Inhalt, ebenso wie der der »Pflichten«

hung ist (der >>Mit-Bürger<<) und das andere Mal das vorab existierende Gan­ze. Diese Divergenz hat beträchtliche politische und symbolische Folgen, die sich auch am Nachleben beider Diskurse ablesen lassen. Man muss sie je­doch als allgegenwärtige, innere Spannung interpretieren, die zu einem stän­digen Oszillieren führt (vgl. Emile Benveniste, >>Deux modeles linguistiques de Ia cite<<, in: ders., Problemes de linguistique generale, II, Paris, Gallimard, 1974, S. 272-280). 22 Für Aristoteles lag die Garantie für diese Reziprozität im regelmäßigen Positionswechsel der >>Regierenden<< (archOn) und der >>Regierten<< (archome­nos): Schon dieses Prinzip schien ihm >>ultra-demokratische<< Gefahren zu bergen. V gl. Peter Riesenberg, Citizenship in the Western Tradition. Plato to Rousseau, Chapel Hili, The University ofNorth Carolina Press, 1992, S. 42f. Heute wirkt es glatt subversiv (oder wie eine utopische Abirrung) . . . 23 [Frz. inscription, eigentlich >>Einschreibung«, was sich im Deutschen häu­fig nicht wiedergeben lässt.]

23

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oder entsprechenden »Verantwortlichkeiten«, sich aus diesem Bezug auf den Konflikt bestimmt.24

Von hier aus gelangen wir zu einem charakteristischen We­senszug der Staatsbürgerschaft, der auch einer der Gründe ist, warum wir ihre Geschichte als dialektische Bewegung darstellen. Es ist offensichtlich sehr schwierig, die Idee einer weder aufgelös­ten noch wiedervereinigten Gemeinschaft mit einer rein rechtli­chen oder verfassungsförmigen Definition in Einklang zu brin­gen; aber es ist nicht unmöglich, sie als historischen Prozess aufzufassen, der einem Prinzip der Reproduktion, Unterbre­chung und ständigen Transformation folgt. Tatsächlich ist dies die einzige Weise, wie man die diskontinuierliche Zeitlichkeit und die Historizität der Staatsbürgerschaft als politischer Institu­tion begreifen kann. Diese muss nicht nur von regelmäßigen Kri­sen und Spannungen durchdrungen sein, sie ist intrinsisch »fra­gil« oder »verletzlich«; deshalb wurde sie im Laufe ihrer (im Westen) zweitausendjährigen Geschichte mehrmals zerstört und in einem neuen institutionellen Rahmen rekonstituiert, vom Stadtstaat der Polis bis zum Nationalstaat, und wird es auch jen­seits des Nationalstaats womöglich wieder werden, wenn be­stimmte postnationale Bündnisse oder Quasi-Bündnisse Wirk­lichkeit werden. Aber als Staatsbürgerschaftsverfassung ist sie gefährdet, sie wird destabilisiert, ja sogar (wie Max Weber sehr wohl gesehen hat) delegitimiert durch eben die Kraft, die ihr kon­stituierende Gewalt verleiht (bzw. deren » konstituierte« Gestalt sie ist): die Fähigkeit oder Macht zum Aufstand der Universalisti­schen politischen Bewegungen, die danach streben, noch nicht vorhandene Rechte zu erobern oder bestehende Rechte zu erwei­tern, um die Gleichfreiheit in Realität zu überführen. Deshalb habe ich zu Beginn von einem Differential von Aufstand und Ver­fassung gesprochen, das sich in keiner rein formalen oder rechtli­chen Vorstellung von Politik fassen lässt; darin besteht eben gera-

24 Claude Lefort (an diesem Punkt in radikaler Gegnerschaft zu M. Gau­chet): Einvention democratique, Paris, Fayard, 1981 .

24

de ein wesentlicher Charakterzug des Begriffs der Politik, sobald man ihn auf historisches oder praktisches Terrain überträgt. Wenn es sich nicht so verhielte, müssten wir davon ausgehen, dass die auf Erweiterung und Konkretisierung zielenden demokrati­

schen Erfindungen, Eroberungen von Rechten und Neudefinitio­nen der Reziprozität von Rechten und Pflichten von einer ewigen, immer schon gegebenen »Idee« der Staatsbürgerschaft herrüh­ren. Und dadurch würden wir gezwungen, die Idee einer Erfin­dung durch die einer Konservierung der Demokratie zu ersetzen. Aber eine Demokratie, die es sich zur Aufgabe macht, eine be­stimmte Definition der Staatsbürgerschaft zu »konservieren«, ist sicherlich, und zwar gerrau aus diesem Grund, auch unfähig, ge­gen ihre eigene »Entdemokratisierung« Widerstand zu leisten. In dem Maße, wie es Politik mit der Transformation der bestehen­den Wirklichkeit zu tun hat, mit deren Anpassung an sich verän­dernde Umwelten und mit der Formulierung von Alternativen inmitten der laufenden soziologischen und historischen Ent­wicklungen, wäre ein solches Konzept nicht politisch, sondern anti-politisch.

Deshalb legen wir uns hier so auf die Aufgabe fest zu zeigen, dass die Staatsbürgerschaft entgegen jeder »präskriptiven« oder »deduktiven« Definition von Politik, angefangen mit ihren eige­nen historischen Institutionen, unaufhörlich zwischen Destruk­tion und Rekonstruktion hin- und herschwankt Der mit dem Prinzip der Gleichfreiheit verbundene aufständische Moment ist nicht nur Begründer, sondern auch Feind von stabilen Institutio­nen. Und wenn wir annehmen, dass er durch alle seine mehr oder weniger vollständigen Realisierungen hindurch das Univer­selle inmitten des politischen Feldes darstellt, dann müssen wir auch darin übereinkommen, dass es in der Geschichte so etwas wie eine Aneignung des Universellen oder eine dauerhafte Ein­richtung im »Reich« des Universellen nicht gibt, so wie die klas­sischen Philosophen sich dachten, dass die Einführung der Men­schen- und Bürgerrechte einen Punkt ohne Wiederkehr darstellen würde, den Moment, wo der Mensch - als »potenzieller Staats-

25

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bürger« - faktisch zu dem Träger des Universellen würde, der er

der Bestimmung nach bereits war. Wir können hier einen Aus­

druck von Gilles Deleuze übernehmen: Die historische Daseins­

modalität des politischen Universellen ist die eines »fehlenden

Volkes<< , dessen vorläufige Gestalt eben gerade aus seiner Abwe­

senheit oder seiner Verdrängung hervorgeht.25 Wenn wir, denke ich, die Idee dieses Differentials von Aufstand

und Verfassung mit der Vorstellung einer Gemeinschaft ohne Einheit, die sich ständig reproduziert und transformiert, verbin­den, dann bleibt die Dialektik, auf die wir abzielen, nicht rein spekulativ. Die mit ihr einhergehenden Konflikte können sehr brutal sein. Und vor allem affizieren sie den Staat ebenso sehr wie, ihm gegenüber oder mitten in ihm, die Emanzipationsbewe­gungen selbst. Deshalb können wir es auch nicht bei dem noch zu allgemeinen Begriff der Institution bewenden lassen, dessen wir uns bisher bedient haben: Auch er weicht dem womöglichen »Grundwiderspruch« noch aus.

***

Auf den Staat habe ich bisher nicht Bezug genommen - nicht um die Betrachtung spezifisch staatlicher Institutionen auszusparen, sondern um zu versuchen, präzise anzuzeigen, was die Gleichset­zung von politischen Institutionen mit einem staatlichen Kon­strukt den Antinomien der Staatsbürgerschaft zufügt. Muss man davon ausgehen, dass die Unterwerfung der Politik unter die Existenz und die Macht eines Staatsapparats die Antinomien im­mer weiter verstärkt? Oder muss man annehmen, dass eine sol­che Gleichsetzung sie auf ein ganz anderes Terrain versetzt, auf dem die »Dialektik<< von Rechten und Pflichten, Befehl und Ge­horsam sich nicht mehr nach demselben Muster vollzieht, so dass die aus der Antike überlieferten Kategorien der politischen Philosophie nur die Funktion eines ästhetischen oder ideologi-

25 Gilles Deleuze, Cinema 2: L'image-temps, Paris, Minuit, 1985, S. 281f. [dt.: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1997, S. 278ff.] .

sehen Maskierens und Retuschierens erfüllen, eine »Fiktion des Politischen<< ?

An dieser Stelle ist es nützlich, sich daran zu erinnern, dass der Begriff der »Verfassung« im Laufe seiner historischen Entwick­lung tiefgreifenden Veränderungen unterworfen war, die mit der wachsenden Bedeutung des Staates und seines Zugriffs auf die Gesellschaft verbunden sind, bevor und nachdem die Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise sich allgemein verbreitete, zu der er selbst direkt beiträgt.26 Die »alten<< Verfassungen kreis­ten um die Verteilung der Rechte unter den Bevölkerungsgrup­pen, um die Exklusions- und Inklusionsregeln, die Modalitäten der Auswahl und der Verantwortlichkeit der hohen Beamten, die Definition der Gewalten oder Mächte und Gegenmächte (wie das berühmte »Volkstribunat<< in der römischen Verfassung, über das Machiavelli so viel nachgedacht hat, als er sein Bild der re­publikanischen Politik als Konflikt unter Bürgern entwarf).27 Ih­rem Wesen nach waren sie also »materielle Verfassungen<< , die ein Gleichgewicht der Gewalten hervorbrachten, es aber an der durch die rechtliche Form gewährten Neutralität fehlen ließen (oder deren Bedeutung ignorierten).28 Im Gegensatz dazu sind die modernen Verfassungen >>formale Verfassungen<<: Sie sind in

26 Siehe meinen Aufsatz >>Politeia«, in: Geste. Revue Transversale, hrsg. v. d. association Gestuelles 2004, Nr. 2, 1. Hj. 2006. 2 7 V gl. Marie Gaille-Nikodimov: Conflit civil et liberte. La politique machia­velienne entre histoire et medicine, Paris, Honore Champion, 2004. 28 Die Unterscheidung von >>formaler<< (rechtlicher, auf die Hierarchie der Gesetze, Vorschriften und ihrer Quellen gegründeter) Verfassung und >>ma­terieller<< Verfassung (Gleichgewicht der Gewalten, der sozialen und politi­schen Körperschaften, geregelter Konflikt zwischen Klassen und politisch Handelnden) hat eine lange Geschichte, die man bis zu den Kritikern des >>Kontraktualismus<< zurückverfolgen kann (Hume, Montesquieu, Hegel) und sogar noch weiter bis zu den Auseinandersetzungen über die >>gemischte Verfassung«. Sie ist besonders klar in Costantino Mortatis Werk La costituzi­one in senso materiale ( 1940), Neuaufl. Mailand, Giuffre, 1998, dargelegt worden, aus dem besonders Negri für Le pouvoir constituant. Essai sur !es al­ternatives de Ia modernite, Paris, PUF, 1997 (orig. ital.: Il potere costituente. Saggio sulZe alternative del moderno (1992), Neuaufl. Rom, Manifestolibri, 2002) Anregungen bezogen hat.

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der Sprache des Rechts verfasst, was - wie der Rechtspositivismus gut gesehen hat - der Autonomisierung des Staats und seinem Alleinvertretungsanspruch der Gemeinschaft entspricht und es ihm erlaubt, jenseits seiner Gespaltenheit und seiner Unfertigkeit zugleich »ideell« und (in den alltäglichen Gesetzgebungsakten und Zwangsmaßnahmen) »praktisch« zu sein.29 Der moderne Konstitutionalismus kombiniert also die performative Erklärung der Universalität des Rechts (und die Rechtsgarantie gegen ihre Übertretung) mit einem neuen Prinzip der Trennung von Regie­renden und Regierten, das Catherine Colliot-Thelene (in ihrem Kommentar zu Webers These von der tendenziellen Vorherr­schaft der bürokratischen Legitimität über die anderen Arten der Legitimität in der Moderne) provokant das Prinzip der Unwis­senheit des Volkes genannt hat. Auf institutioneller Ebene können wir auch von der prinzipiellen Inkompetenz des Volkes sprechen, deren in sich widersprüchliches Produkt seine »Repräsentations­fähigkeit« ist.30

Daran sieht man schon, wie scharf die Widersprüche zwischen

29 Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie (1920), 2. Aufl. Tü­bingen, Mohr, 1929, Nachdr. Aalen, Scientia, 1981. 30 C. Colliot-Thelene, >>tignorance du peuble<<, in: Gerard Duprat et al., Lignorance du people. Essais sur la democratie, Paris, PUF, 1998. Das »>nkom­petenzprinzip« wurde von den Theoretikern der >>Elitendemokratie<< (beson­ders von Schumpeter) systematisch ausgearbeitet, die die politische Wis­senschaft seit Beginn des 20. Jahrhunderts (in Reaktion auf die große >>Massenangst<<, die Sozialismus und Kommunismus hervorriefen) domi­niert und die »demokratische Staatsform<< nicht nur mit der Delegierung von Machtbefugnissen, sondern auch mit einer Konkurrenz unter professionel­len Politikern auf dem Repräsentations->>Markt<< gleichgesetzt haben (vgl. Boaventura de Sousa Santos, Democratizing Democracy. Beyond the Liberal Democratic Canon, London, Verso 2005/20o7, S. xxx:vii f.) . Dieser Gesichts­punkt ist auch bei Pierre Rosanvallon immer präsent, wenn er die entschei­dende Rolle des Begriffs der >>Fähigkeit<< in der Institution der Demokratie untersucht (Le Moment Guizot, Paris, Gallimard, 1985; La Democratie ina­chevee. Histoire de la souverainete de peuple en France, Paris, Gallimard, 2000). Im Vergleich dazu ist für Ranciere das Geltendmachen der >>Unwis­senheit« gegenüber den Fähigkeiten, die die Machtergreifung der Eliten ge­statten, der demokratische Gestus par excellence (Le Maitre ignorant. Cinq lel(ons sur l'emancipation intellectuelle, Paris, Fayard, 1987, Neuausg. 10 I 18,

28

Partizipation und Repräsentation, zwischen Repräsentation und Subordination innerhalb der modernen Staatsbürgerschaft sein müssen und warum das Differential von Aufstand und Verfas­sung besonders mit dem Funktionieren der Bildungssysteme steht und fällt. Ohne seine himmelschreienden Unvollkommen­heiten zu ignorieren, betrachten Viele, zu denen ich gehöre, die Entwicklung eines öffentlichen Bildungssystems als grundlegen­de demokratische Errungenschaft und als Vorbedingung für eine Demokratisierung der Staatsbürgerschaft Aber wir wissen auch, dass Demokratie und Meritokratie (die Aristoteles Timokratie nannte) darin ein ungewöhnlich gespanntes Verhältnis eingehen. Der »bürgerliche« [ bourgeois] Staat, der die politische Repräsen­tation mit der Bildung der Massen (das heißt der »nationalen<< Bildung, was auch immer deren rechtliche Modalitäten sind) kombiniert, öffnet sich virtuell der Partizipation des »gewöhnli­chen Menschen<< oder »beliebigen Bürgers<< an der politischen Debatte und eben dadurch der Anfechtung des eigenen Macht­monopols. Je nachdem, wie effektiv er bei der Verringerung von (wie wir wissen sehr variablen) Ungleichheiten ist, trägt er zur Inklusion von sozialen Gruppen bei, die bis dahin keinen Zugang zur öffentlichen Sphäre hatten, also zur Einrichtung ei­nes »Rechts auf Rechte<< (nach der berühmten Arendtschen For­mulierung, die das, was ich hier den aufständischen Moment der Staatsbürgerschaft genannt habe, gar nicht so schlecht wieder­gibt).31 Doch das meritokratische Prinzip, das diese Bildungs­systeme bestimmt (und sich in der »schulischen Form<< selbst verkörpert: Wie würde ein nicht-meritokratisches allgemeines

2004 [dt.: Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, Wien, Passagen Verlag, 22009] ). 31 Siehe die Kommentare von Marie-Claire Caloz-Tschopp (Les Sans-Etat dans la philosophie de Hannah Arendt, Lausanne, Payot-Lausanne, 1998) und Margaret Somers ( Genealogies of Citizenship. Markets, Statelessness, and the Right to Have Rights, Cambridge (UK)/New York, Cambridge University Press, 2008). Die große Schwierigkeit bei der Interpretation von Arendt be­steht darin, herauszufinden, ob ihr Begriff einer » Politik ohne Fundament« (den sie im Wesentlichen in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft und

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Bildungssystem eigentlich aussehen? Die Utopie der Schule ist diesem rätselhaften Ziel immer hinterhergelaufen), ist selbst auch ein Prinzip der Elitenauswahl und des Ausschlusses der Masse von jeder Möglichkeit, die Verwaltungsvorgänge wirklich zu kontrollieren und an den öffentlichen Angelegenheiten zu partizipieren, zumindest nicht auf gleicher Augenhöhe mit den nach ihrem Wissen und ihrer Kompetenz angestellten (und >>reproduzierten«) Beamten. Indem es eine Wissenshierarchie schafft, die immer auch eine Machthierarchie ist und womöglich noch durch andere oligarchische Mechanismen verstärkt wird, die die Funktionsweise unserer Schulsysteme mehr bestimmen denn je, schließt es die Möglichkeit des Kollektivs, sich selbst zu regieren, auf legitime Weise aus. Es verstrickt sich in eine Flucht nach vorn, auf der die >>Repräsentation« mit dem >>Elitismus« und mit der >>Demagogie« immer neue Bündnisse eingeht.32

Indem ich auf diesem Weg an einige der Mechanismen erinne­re, die die Verfassung der Staatsbürgerschaft in der gegenwärti­gen Welt zu einer Klassenfrage machen, möchte ich nicht nur auf eine Kluft hinweisen, die zwischen den demokratischen Prinzipi­en und der oligarchischen Wirklichkeit besteht, sondern auch die - für viele Befreiungsaktivisten sicherlich unangenehmere -Frage aufwerfen, auf welche Weise die >>aufständischen« Bewe­gungen selbst davon betroffen sind. Es ist vielleicht nicht nötig,

in den Schriften über den >>zivilen Ungehorsam« darlegt) eine Trennung zwi­schen dem »öffentlichen« und dem »privaten« oder dem »politischen<< und dem »sozialen<< Bereich impliziert, wie sie sie in ihrer Kritik an der Anthro­pologie der Arbeit von Locke bis Marx selbst vertreten hat ( Vita activa) , oder aber davon abgesetzt und sogar gegen diese Trennung verwendet werden kann (und erst recht gegen die Verwendung, die die liberale Nachkriegspoli­tikwissenschaft davon gemacht hat). Vgl. dazu meinen Aufsatz »Arendt, Je droit aux droits et Ia desobeissance civique<<, in: La Proposition de l'Egaliberte, a. a. 0., S. 201-227. 32 Bekanntlich war dies auf Anhieb der starke Punkt der Theorien des Schwankens der (sozialistischen) Massenparteien zwischen einer Diktatur der Anführer und dem Monopol der Kader (Robert Michels) , auf die Gram­sei mit seiner Theorie des »organischen Intellektuellen« versucht hat zu ant­worten.

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die Idee, dass die Klassenkämpfe in der Geschichte der moder­nen Staatsbürgerschaft eine wesentliche demokratische Rolle ge­spielt haben (und spielen werden), lange zu rechtfertigen. Das liegt natürlich daran, dass die organisierten Kämpfe der Arbei­terklasse (in der ganzen historischen Bandbreite ihrer »reformis­tischen« oder >>revolutionären« Ausrichtung) die Anerkennung und Definition bestimmter grundlegender sozialer Rechte durch die bürgerliche Gesellschaft nach sich gezogen haben, deren Durchsetzung die Entwicklung des Industriekapitalismus zu­gleich dringlicher und schwieriger machte, wodurch sie eben ge­rade zur Geburt jener >>sozialen Staatsbürgerschaft« beigetragen haben, auf die wir gleich zurückkommen werden. Aber es liegt -unter direktem Bezug auf das, was ich hier die Spur der Gleich­freiheit nenne - auch daran, dass sie auf ihre Weise eine Ver­knüpfung von individuellem Engagement und kollektiver Bewe­gung verwirklicht haben, die das Herzstück jeglicher Idee von Aufstand bildet. Ein typischer Aspekt der modernen Staatsbür­gerschaft, der untrennbar mit ihrem Universalismus verbunden ist, besteht darin, dass zwar die Träger der Bürgerrechte Indivi­duen sind, diese Rechte aber durch soziale Bewegungen und kollektive Kampagnen errungen wurden, die von Fall zu Fall angemessene solidarische Formen und Sprachen zu erfinden fa­hig waren. Und reziprok findet die >>Subjektivierung«, die dem Individuum Autonomie verleiht (indem sie es mit eigener >>Handlungsmacht« ausstattet), im Wesentlichen in den solida­rischen Formen und Institutionen und im kollektiven Einsatz für die Eroberung oder Ausweitung der Rechte statt. Die herr­schende Ideologie will davon nichts wissen bzw. stellt es in um­gekehrter Form suggestiv so dar, als ob die kollektive politische Tätigkeit von ihrer Anlage her entfremdend sei, um nicht zu sa­gen versklavend oder totalitär. Bei allem Widerstand gegen die­ses Vorurteil dürfen wir uns aber ebenso wenig in der Illusion wiegen, dass die organisierten Klassenkämpfe von Natur aus im­mun gegen jenen inneren Autoritarismus seien, der aus ihrer Transformation in >>Gegen-Staatlichkeit«, also in Gegenmacht

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und Gegengewalt, erwächst, oder dass sie ein unbegrenztes oder bedingungsloses Universalitätsprinzip repräsentierten.33 Dass die europäische Arbeiterbewegung und ihre Klassenorganisa­tionen trotz vieler Anstrengungen und scharfer innerer Konflik­te, die eine Art »Aufstand im Aufstand« bildeten, mehrheitlich blind geblieben sind gegenüber den Problemen der kolonialen Unterdrückung, der häuslichen Unterdrückung, der Herrschaft, die über die kulturellen Minderheiten34 ausgeübt wird (wenn sie nicht ohnehin direkt rassistisch, nationalistisch und sexistisch war), ist nicht dem Zufall geschuldet. Das lässt sich nicht nur durch diese oder jene materiellen Bedingungen, diese oder jene Korrumpiertheit oder Degenerierung erklären, sondern auch dadurch, dass der Widerstand und der Protest gegen bestimmte Herrschafts- und Unterdrückungsformen immer auf dem Auf­treten und dem Aufbau von Gegen-Gemeinschaften beruhen, die ihre eigenen Ausschluss- und Hierarchieprinzipien besitzen.35

33 An diesem Punkt glaubte ich mich 1978/1979 anlässlich einer von der italienischen Zeitung Il Manifesto lancierten Debatte von Althusser distan­zieren zu müssen: Zwischen seiner These der (idealen) kommunistischen Partei als "außerstaatlicher Partei« und den Implikationen seiner von »ideo­logischen Staatsapparaten:< umrahmten Theorie der praktischen

.P.olitik sah

ich einen Widerspruch (Etienne Balibar, "stato, Partlto, Trans1z1one«, m:

AA. W., Discutere lo Stato, Bari, De Donato, 1978 [ dt.: Elmar Altvater I Otto Kalischeuer (Hrsg.), Den Staat diskutieren. Kontroversen über eine These von Althusser, Berlin, Verlag Ästhetik und Kommunikation, 1979] ) . In seinen letzten veröffentlichten Texten hat Althusser sich andeutungsweise einer Re­flexion über den Marxismus als »endlicher Theorie« und über die Wider­sprüche der "Form Partei« als solcher angeschlossen, die andere vor ihm be-gonnen hatten. 34 [Frz. minorites, hier wie im Folgenden immer zugleich auch im Deleuze-schen Sinne von »Minoritäten« bzw. von "unmündigen<< gemeint. Entspre­chend ist majorite nicht nur im Sinne von »Mehrheit«, sondern auch von >>Mündigkeit« zu verstehen.] 35 »Wir wissen, dass Unterdrückung und Herrschaft viele Gesichter haben und dass nicht alle von ihnen einzig und direkt aus dem globalen Kapitalis­mus resultieren [ . . . ] . Es ist tatsächlich möglich, dass einige Initiativen, die sich als Alternative zum globalen Kapitalismus darstellen, selbst eine Form der Unterdrückung sind [ . . . ] « (Boaventura de Sousa Santos, Democratizing Democracy, a. a. 0., S. xxvi, Übers. C. P.).

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Diese ganze - oft dramatische - Geschichte lenkt unsere Auf­merksamkeit auf die Endlichkeit der »aufständischen Momente«, mit anderen Worten auf die Tatsache, dass es keine »absolut universellen« emanzipatorischen UniversaHtäten gibt, die nicht den Beschränkungen ihrer Gegenstände unterliegen. Die Wi­dersprüche der Emanzipationspolitik übertragen sich also auf die demokratischen Verfassungen der Staatsbürgerschaft, spie­geln sich in ihnen wider und tragen gerade dadurch - zumin­dest passiv, wie wir sehen werden - zu ihrer möglichen »Entde­mokratisierung« bei.

* * *

Ich möchte jetzt versuchen, mit den folgenden beiden Punkten direkt daran anzuknüpfen. Ich hatte angekündigt, dass sie eine mit einer »Negation der Negation« vergleichbare Vorwärtsbewe­gung darstellen, und werde sie im Ausgang von Problemen der gegenwärtigen Lage (zumindest wie wir sie an einem bestimmten Ort wahrnehmen können)36 untersuchen. Beginnen wir mit dem Verhältnis von »sozialer Staatsbürgerschaft« und den Transfor­mationen der repräsentativen Funktionen des Staates, das heißt der Organisationsweisen der Politik selbst. Diese Frage ist von faszinierender Komplexität und steht deshalb am Anfang einer Debatte, deren Ende wir noch nicht annähernd absehen kön-

36 Offensichtlich wird die Bedeutung der Frage der sozialen Staatsbürger­schaft, ihrer historischen Verwirklichung und ihrer Krise in Form des Sozial­Nationalstaats nicht auf die gleiche Weise wal!rgenommen, wenn man im »Norden« über Politik nachdenkt oder im »Süden«. Aber einerseits hatte der Sozial-Nationalstaat in der zweiten Hälfte des 20. Jal!rhunderts in Form der »Entwicklungs«-Problematik ein Gegenstück im Süden (das im neoliberalen Kontext ebenfalls in der Krise ist). Und andererseits ist die Frage der sozialen Rechte nicht auf eine Weltregion beschränkt. Mit der Kritik am formalen Konstitutionalismus stellt sich jedenfalls die Frage nach einer Konfliktdemo­kratie, die man auf universelle, das heißt komparative Weise diskutieren muss. V gl. Parilia Chatterjee, The Politics of the Governed, New York, Colum­bia University Press, 2004, und Ranabi Samaddar, The Materiality of Politics, Bd. 1: The Technologies of Rule; Bd. 2: Subject Positions in Politics, London, Anthem Press, 2007.

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nen.37 In dieser Debatte geht es besonders um die Interpretation der veränderten »Klassenzusammensetzung« in den Gesellschaf­ten des entwickelten Kapitalismus, in denen die sozialen Rechte im Laufe des 20. Jahrhunderts ausgeweitet und kodifiziert wor­den sind, und um deren mehr oder weniger unwiderrufliche po­litische Auswirkungen. Es ist nicht leicht, die Frage zu beantwor­ten, ob der Begriff der »sozialen Staatsbürgerschaft« endgültig der Vergangenheit angehört, und in welchem Maße die Krise, in die die Entwicklung der liberalen »Globalisierung« ihn gestürzt hat, die Fähigkeit der sozialen Systeme schon jetzt zerstört hat, Widerstand gegen die Entwicklung dessen zu leisten, was Robert Castel die negativen Formen der Individualität oder den negativen Individualismus nennt.38 Ich muss wiederholen, in welchem Grad

37 Und die jüngsten Entwicklungen der Wirtschafts- und Finanz-» Krise« und ihrer möglichen oder wahrscheinlichen Auswirkungen auf die soziale Zusammensetzung und die politischen Verhältnisse in den verschiedenen Regionen des globalisierten Kapitalismus kommen gerade rechtzeitig, um uns vor voreiligen oder rein spekulativen Schlussfolgerungen zu bewah­ren . . . 38 Robert Castel, Les Metamorphoses de la question sociale, Paris, Fayard, 1995 [dt.: Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnar­beit, Konstanz, UVK, 2000]; ders., Einsecurite sociale. Qu'est-ce qu'etre prote­ge? Paris, Seuil, 2003 [dt.: Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohl­fahrtsstaat, Hamburg, Hamburger Edition, 2005]. In seinem allerneuesten Werk, von dem ich in der Schlussphase der Vorbereitung dieses Bandes gera­de Kenntnis nehme, La Montee des incertitudes. Travail, protections, statut de l'individu, Paris, Seuil, 2009 [ dt.: Die Krise der Arbeit. Neue Unsicherheiten und die Zukunft des Individuums, Hamburg, Hamburger Edition, 2011 ] , schreibt Castel: >>Im Schlusskapitel der Metamorphosen der sozialen Frage habe ich die Lage der von der >großen Transformation< am stärksten Betrof­fenen mit dem Begriff >negative Individuen< charakterisiert. Ich ziehe diese Formulierung zurück, eben weil sie mir zu negativ ist. Sie droht diesen Indi­viduen einerseits eine abwertende Bedeutung anzuhängen, was natürlich nicht meine Absicht ist. Sie kann aber vor allem zu der Fehldeutung führen, dass es gar keine Individuen sind, oder eben nur im negativen Sinne. So ver­hält es sich nicht. Es sind durchaus Individuen, aber solche, die in dem Wi­derspruch gefangen sind, nicht die Individuen sein zu können, die sie sein wollen<< (S. 354). Ich bedauere diese Entscheidung außerordentlich; sie scheint mir den strukturellen Widerspruch, auf den Castels Analysen auf­merksam gemacht haben, zu beschönigen und zu subjektivieren.

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die Beschreibungen und Bewertungen, zu denen wir hier gelan­gen, von dem »kosmopolitischen« Ort abhängen, an dem sie aus­gesprochen werden. Kann die im 20. Jahrhundert vor allem in Westeuropa (und in geringerem Maße in den Vereinigten Staa­ten, der in dieser Zeitspanne tonangebenden kapitalistischen Ge­sellschaft) entwickelte soziale Staatsbürgerschaft als potenziell universalisierbare Neuerung oder Erfindung angesehen werden, die Teil der Geschichte der Staatsbürgerschaft im Allgemeinen ist?39 Diese Frage wird hier offenbleiben, weil ihre Beantwortung an eine Analyse der Abhängigkeitsstrukturen im Imperialismus gebunden ist, die die Möglichkeiten dieses Essays und die Kom­petenzen seines Autors übersteigt. Ich würde jedoch vermuten, dass die soziale Staatsbürgerschaft aufgrund der Art und Weise, wie sich in ihr eine in die Form der Klassenkämpfe zwischen Ka­pital und Arbeit eingeschriebene politische Tendenz herauskris­tallisiert und sie mit der Geschichte der »Neuanfange<< der Staats­bürgerschaft verbindet, eine unlösbare Frage von allgemeiner Tragweite aufwirft. Die gegenwärtige Krise verschärft diese Frage

und nötigt dazu, nach ihren Wurzeln zu suchen, um eine Vorstel­lung von ihrem weiteren Verlauf entwickeln zu können.

Drei Punkte erscheinen mir hier erörterungsbedürftig: Der erste betrifft die Entstehung einer sozialen Staatsbürgerschaft, die sich von einer einfachen Anerkennung sozialer Rechte unter­scheidet bzw. eine Universalistische Dimension aufweist, welche

39 Diese Frage stellt insbesondere Sandro Mezzadra in seinem Kommentar zur Neuausgabe des Werkes von T. H. Marshall (auf ltalienisch): Cittadinza e classe sociale, hrsg. v. Sandro Mezzadra, Rom - Bari, Laterza, 2002. Der Be­griff der »sozialen Staatsbürgerschaft<< wurde von Thomas Humphrey Mar­shall ursprünglich im Zusammenhang mit der großen Transformation der Rechte der organisierten Arbeiterschaft und der individuellen Schutzsyste­me gegen die typischen Risiken der >>Lage des Proletariats<< geprägt (die im­mer stärker auch den Teil der Bevölkerung betreffen, der seine Einkünfte aus Lohnarbeit bezieht und dessen Existenz nicht durch Einkünfte aus Besitz so­zial abgesichert ist). Seit einigen Jahren ist er wieder zum Gegenstand der Aufmerksamkeit geworden: Neudefinitionen unterstreichen sowohl seine politischen wie seine anthropologischen Dimensionen, in erster Linie bei Sandro Mezzadra, Robert Castel, Margaret Somers.

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die Spur der Gleichfreiheit trägt. Der zweite betrifft die Art und Weise, wie die Kämpfe, die die Inanspruchnahme dieser Rechte begleiten, indem sie eine staatliche Form annehmen (die Form des Sozial-Nationalstaats), zugleich politisiert und deplatziert sind bzw. eingeschrieben in eine Topik und eine Ökonomie der »Verschiebungen« der Klassengegensätze, was ihre Regulierung erlaubt (und am Ende eine Krise der Politik auslöst). Der dritte betrifft die Komplexität der historischen Bezüge, die sich so zwi­schen der Idee des Sozialismus (im allgemeinen Sinne) und der

Demokratie bilden und in denen es vor allem um die Vorstellung

des »Fortschritts<< als politisches Projekt und um den Wert des

»öffentlichen<< Handelns als Institutionalisierungsweise des Kol­lektiven geht. Untersuchen wir diese drei Punkte Überblicks­haft.

Soziale Staatsbürgerschaft. Das Wichtigste an der Art, wie sich die soziale Staatsbürgerschaft am Ende lebhafter Diskussionen, die inhaltlich bis zu den Kontroversen der industriellen Revolution über die Verknüpfung von Nächstenliebe oder Barmherzigkeit mit den bürgerlichen Strategien zur Disziplinierung der Arbeits­kraft zurückreichen, konstituierte, besteht in meinen Augen da­rin, dass sie nicht als einfacher Schutz- oder Sicherungsmecha­nismus gegen die dramatischsten Formen der Armut (bzw. die faktische Exklusion der Armen in Bezug auf die Möglichkeit, ein nach den bürgerlichen Normen »anständiges<< Familienleben zu führen) konzipiert wurde, sondern als ein Mechanismus univer­seller Solidarität.40 Dieser Mechanismus betraf allerdings poten-

40 Diese entscheidende Auseinandersetzung zwischen einer >>partikularisti­schen« und paternalistischen Konzeption und einer universalistisch -egalitä­ren hat Donald Sassoon gut zusammengefasst: One Hundred Years of Social­ism. The West European Left in the Twentieth Century, New York, The New Press, 1996. Doch der Standpunkt der »universellen sozialen Rechte<<, der der sozialen Staatsbürgerschaft zugrunde liegt, lässt Raum für eine weitere Alternative zwischen einem »soziologischen<< und einem »politischen<< (so­zialistischen) Standpunkt; siehe das Buch des »revisionistischen« Theoreti­kers der Labour-Partei, Anthony Crosland, The Future of Socialism (1956)

ziell alle Bürger und deckte die ganze Gesellschaft ab, das heißt, die Reichen und die Armen hatten gleichermaßen ein Recht da­rauf: Eher als davon zu sprechen, dass die Armen von nun an wie Reiche behandelt v.'Urden, müsste man sagen, dass die Reichen auf der Grundlage der Universalisierung der anthropologischen Kategorie der »Arbeit<< als spezifisch menschlichen Charakter­zugs symbolisch wie Arme behandelt wurden. Die meisten dervon nun an vom Staat garantierten und zuerkannten »sozialen Rechte<< waren allerdings an das mehr oder weniger beständige Engage­ment von »aktiven<< Individuen (bzw. »Haushaltsvorständen<<) in einem Beruf gebunden, der ihnen in der Gesamtgesellschaft einen anerkannten Status zuwies (Hegel hätte »Stand<<* gesagt). Dieser Punkt erklärt grundlegend, warum ich von Staatsbürgerschaft mit einem demokratischen Bestandteil spreche und nicht schlicht und einfach von »sozialer Demokratie<<Y Nebenbei bemerkt betrifft eines der schärfsten Probleme, das diese mit einer anthropologi­schen Revolution einhergehende Ausweitung der Staatsbürger­schaft aufwirft, die Gleichheit der Geschlechter, wenn man in Rechnung stellt, dass die meisten Frauen zu diesem Zeitpunkt noch zu Gattinnen von aktiven »Arbeitern« »sozialisiert<< wurden,

(Neuausg. New York, Schocken Paperback, 1963). In der Naissance de Ia bio­politique. Cours de 1978-1979 (Paris, Seuil-Gallimard, 2004 [dt.: Geschichte der Gouvernementalität II: Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt/M., Suhr­kamp, 2004]) erinnert Foucault daran, dass die Vorläufer des Neoliberalis­mus (wie Hayek) in den damaligen Polemiken den >>Beveridge-Plan<< mit dem Nazismus gleichsetzten. Wir werden sehen, ob sich ebenso grelle Alter­nativen anlässtich des »Bürgereinkommens« abzeichnen, das einige zeitge­nössische Theoretiker als Antwort auf die Ausweitung der »Prekarität« ein­zuführen vorschlagen und in Reaktion auf die Abkoppelung der sozialen Rechte von der Festlegung des Individuum auf eine einzige berufliche Identi­tät (vgl. Antonio Negri, Good Bye, Mister Socialism. Entretiens avec Raf Val­vola Scelsi, Paris, Seuil, 2006, S. 267f. [dt.: Goodbye Mr. Socialism. Das Unge­heuer und die globale Linke. Mit einem Postscripturn über die aktuelle Krise, Berlin, Edition Tiamat, 2009, S. 191ff.] ) . 4 1 Infolge einer Orientierung, die man neokorporatistisch nennen könnte, wählt Pierre Rosanvallon im Vergleich dazu den umgekehrten Weg: Le peuple introuvable. Histoire de Ia representation democratique en France, Paris, Gallimard, 1998.

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ihnen also untertan waren. Der Zugang zur Berufstätigkeit ist aus diesem Grund eine der großen Schienen der Emanzipation der Frauen geworden.42 Wichtig zu vermerken ist auch die sowohl ökonomische wie ideologische und zumindest indirekte Verbin­dung von sozialer Sicherung und Verhütung unsicherer Lebens­umstände (die für Marx eines der zentralen Merkmale der >>Lage des Proletariats« waren) mit einem ganzen Programm der a llmäh­lichen Verringerung von UngleichheitenY Diese Verbindung war so stark, dass sich ihr bis zum Auftauchen des >>Neoliberalismus« zumindest verbal keine >> Partei« entziehen konnte. Das Programm umfasste die Entwicklung von >>Chancengleichheit« bzw. die Er­höhung der individuellen sozialen Mobilität durch die Auswei­tung des Zugangs zukünftiger Bürger zum Bildungssystem (mit anderen Worten die theoretische Zerschlagung oder Delegitimie­rung des kulturellen Monopols der Bourgeoisie, das neben den Be­sitzenden ausschließlich Kapazitäten44 Zugang gewährte) und die Institution der sich sowohl auf Arbeitseinkommen wie auf Kapi­taleinkünfte erstreckenden Steuerprogression, die der klassische Kapitalismus gar nicht beachtet hatte und die bekanntlich heute den Realitäten immer weiter angepasst wird.45 Durch diese Korre­lationen ließ sich das tendenziell (unter enger Bezugnahme auf die »sozialdemokratischen« Programme, obwohl die Entscheidungen

42 Aber auch ihrer übermäßigen Ausbeutung durch die Institution des >>doppelten<<, nämlich beruflichen und häuslichen »Arbeitstages<<, vgl. Chris­tine Delphy, I:Ennemi principal i. Economie politique du patriarcat, Paris, Syl­lepse, coll. »Nouvelles Questions feministes<<, 1998, und ihrer Minorisierung durch die Einrichtung von »Frauenberufen<<, die die Geschlechtertrennung mitten in der Öffentlichkeit reproduziert (vgl. Genevieve Fraisse, Les deux gouvenements: La famille et Ia cite, Paris, Gallimard, >>Folio<<, 2001) . 43 Auf diesen Punkt hat Suzanne de Brunhoff zu Recht bestanden: I:Heure du marche. Critique du liberalisme, Paris, PUF, coll. >>Pratiques theoriques<<, 1986. 44 [Frz. capacities, wörtl. »Fähigkeiten<<, was im Folgenden u. a. in Bezug auf Amartya Sens »Fähigkeiten-AnsatZ<< wichtig und, wenn nicht anders ver­merkt, auch so übersetzt wird. ] 45 V gl. Thomas Piketty, Les Hauts Revenus en France au XX" siede. Inegali­tes et redistribution, Paris, Grasset, 2001.

von Vertretern >>der Rechten« getroffen wurden) sich entwickeln­de neue politische System nicht auf eine Auflistung sozialer Rechte reduzieren und noch weniger auf ein paternalistisches System >>so­zialer Protektion«, die den als passiven Nutznießern von Sozialhilfe wahrgenommenen >>verletzlichen« Individuen von oben zustünde (selbst wenn die liberalen Ideologen es unermüdlich so darstellen, um daraus auf die Notwendigkeit zu schließen, den »Missbrauch<< der sozialen Sicherungssysteme ständig zu überwachen und die Zuerkennung von Hilfe >>wirtschaftlich« zu betreiben). Die alles entscheidende Frage besteht darin, was heute von diesem Univer­salismus bleibt, wo die Theoretiker des Liberalismus nicht nur sei­ne Grundsätze an den Pranger stellen, sondern zwei korrelative Phänomene ihn unterwandern: die Relativierung der politischen Grenzen, innerhalb derer er der Tendenz nach (in einigen Län­dern des >>Nordens <<) durchgesetzt wurde, und die Schwächung der Bindung von Arbeit und Individualität an einen Beruf (oder, wenn man so will, der anthropologischen Kategorie der >>Tätig­keit«).

Materielle Verfassung. Die Institutionen der sozialen Staatsbür­gerschaft machten die durch sie als »Grundrechte<< legitimierten sozialen Rechte zu einem unsteten Gebilde: anfälliger noch als andere demokratische Errungenschaften, ist es von einem histo­rischen Kräfteverhältnis abhängig und schwankt - aufgrund ei­ner strukturellen Asymmetrie zwischen der Macht des Kapitals und der der Arbeit, der ein Ende zu setzen niemals wirklich zur Debatte stand - ständig vor und zurück. Auffälligerweise wurde der vollständige Katalog der sozialen Rechte in keinem der zeit­weilig auch von sozialdemokratischen Parteien regierten Staaten Westeuropas in der formellen Verfassung verankert - nach Kelsen und seinen Schülern immerhin die >>Grundnorm« des Rechtssys­tems.46 Deshalb ist es durchaus angemessen, sich erneut auf eine

46 Diese Einschätzung muss entsprechend den jeweiligen nationalge­schichtlichen Besonderheiten nuanciert werden: Die Nachkriegsverfassun­gen von Frankreich und vor allem Italien nehmen im Rahmen einer erwei-

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auf die Staatsbürgerschaft angewandte Vorstellung von »materi­

eller Verfassung« zu berufen, in der das Kräftegleichgewicht, das

sie zwischen den sozjalen Klassen stiftet, auf verschiedenen Ebe­

nen indirekt durch das Gesetz (oder allgemeiner gesagt durch die

Norm) sanktioniert wird, die ihrem Wesen nach aber trotzdem

eine kontingente Korrelation von Rechten und Kämpfen, also so­

zialen Bewegungen repräsentiert, die ihrerseits mehr oder weni­

ger institutionalisiert sind. In meinen Augen besteht kein Zweifel,

dass ein beträchtliches Körnchen Wahrheit in der unter Marxis­

ten weithin geteilten Idee liegt, der zufolge der »keynesianische«

(oder in anderen Varianten »fordistische«) »Kompromiss«47 da­

rin bestand, die Anerkennung der sozialen Rechte und die insti­

tutionelle Repräsentation der Arbeiterbewegung in den Regulie­

rungsinstanzen einzutauschen gegen eine Mäßigung bei den

Gehaltsforderungen und die Preisgabe der Aussicht auf einen

Sturz des Kapitalismus von Seiten der Arbeiterklasse (also in ge­

wissem Sinn das Ende des Proletariats im »subjektiven« Sinne, bei

Marx Träger der Idee und des Projekts der Revolution). Aus die­

sem historischen Kuhhandel folgte auch die unablässig ange­

strebte relative Neutralisierung der Brutalität der sozialen Kon­

flikte, die aber nur die eine Seite der Medaille war. Heute sehen

wir rückblickend und im Lichte des Kontrastes, den die neue

Proletarisierungswelle (die Castel, Negri und andere als Entste­

hung des Prekariats bezeichnen) bietet - in der das weltweite Un­

gleichgewicht der sozialen Kräfte mit der Verknöcherung des

Systems der sozialen Staatsbürgerschaft eine Verbindung ein­

geht -, dass die Kämpfe nicht schlicht und einfach verschwunden

terten Konzeption der »öffentlichen Hand« auf Arbeitsrechte und soziale Sicherung Bezug. Der Fall England ist besonders, weil es keine geschriebene Verfassung gibt. 47 Die Bezugnahme auf Keynes ist sehr viel politischer. In einem Aufsatz hat Negri kürzlich auf diesem Punkt bestanden und zugleich die Unmöglich­keit des Zurückgehens hinter die Internationalisierung des Kapitalismus ver­kündet: >>No New Deal is possible«, in: Radical Philosophy, Nr. 155 , Canter­bury, Kent, Radical Philosophy Group, Mai I Juni 2009 (>>Return to Keynes ?«) .

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waren.48 Sicher ist aber, dass ihre Brutalität sich in Vermeidung der direkten politischen Konfrontation der Klassen tendenziell auf andere Gebiete verschoben hat: auf das Gebiet der Kolonisie­rung und der Auseinandersetzungen um den Postkolonialismus (aber auch ganz einfach auf das des Krieges zwischen Nationen) und das Gebiet der sozialen »Anomie« im Sinne Durkheims, das heißt der »unvernünftigen<< individuellen oder kollektiven Ge­walt, die mit der Durchsetzung eines ganzen »mikropolitischen<< Systems von Sittlichkeitsnormen und vernünftigen Verhaltens­maßregeln einhergeht. Ihrem Wesen nach kann man hier die Form sehen, die die Kategorie der »Pflicht<< annimmt, wenn die individuellen Rechte nicht mehr nur bürgerlich und staatsbür­gerlich sind, sondern auch sozial und trotzdem an das Individu­um oder vielmehr die Individualisierung gebunden bleiben.49

Doch im Zeichen einer Antagonismusverschiebung, deren Be­treiber (und zeitweiliger Nutznießer) der Sozial-Nationalstaat ist, schlägt die Funktionsweise der sozialen Staatsbürgerschaft sich noch in einem viel allgemeineren Sinne nieder. Das typi­sche Phänomen einer Selbstbeschränkung der Gewalt bei den Kämpfen (in dem man eine zivilisierende Wirkung sehen kann)50 erklärt sich durch die relative Effektivität eines politischen Orga­nisationsmodells, in dem sich »parlamentarisches<< und »außer­parlamentarisches<< Handeln verbinden. Doch dieses lässt sich seinerseits nur im Rahmen einer tendenziellen doppelten Ver­schiebung verstehen, die sich in den Bedingungen der Möglich­keit des politischen Systems niederschlägt:

48 Besonders unter diesem Gesichtspunkt ist es wichtig, die Heterogenität des >>68er-Moments« und seine Klassendimension ebenso wie seine >>antiau­toritäre<< Transversalität hervorzuheben ( vgl. Kristin Ross, Mai 1968 et ses vies ulti!rieures, Paris, Complexes, 2005). 49 Über die Art und Weise, wie Foucault seine Überlegungen zum Verhält­nis von Normalisierung und Individualisierung angestellt und dessen Ge­nealogie konstruiert hat, vgl. Stephane Legrand, Les Normes chez Foucault, Paris, PUF, coll. >>Pratiques theoriques<<, 2007. so Etienne Balibar, Violence et civilite. The Wellek Library Lectures et autres essais de philosophie politique, Paris, Galilee, 2010.

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- Verschiebung der Definitionen der »Grundrechte << von der Sphäre der Arbeit im eigentlichen Sinne bzw. - marxistisch ausgedrückt - der Produktion auf die der Reproduktion der Ar­beitskraft (das heißt der Formen und Bedingungen der indivi­duellen und familiären Existenz). Letztere kann in der Tat Ge­genstand einer Normalisierung sein, Erstere nur sehr schwer bzw. in einem immerwährend prekären Kräfteverhältnis. 51

- Verschiebung des sozialen Antagonismus auf die Ebene inter­nationaler Beziehungen, zwischen staatlichen Systemen. Die Spaltung der Welt in zwei Lager durch den »Kalten Krieg<< hatte ambivalente Auswirkungen: Einerseits rührten die Kämpfe für die sozialen Rechte durch sie an die reale oder imaginäre »Ge­fahr<< einer Revolution nach sowjetischem Muster im Westen, deren Akteure Arbeiter (und in geringerem Maße Bauern, Angestellte und die dem Kommunismus ideologisch gewo­genen Intellektuellen) wären, was die politischen Repräsen­tanten der kapitalistischen Nationen dazu veranlasste, einen Kompromiss mit der organisierten Arbeiterklasse zu suchen und, allgemeiner noch, ihr eigenes Modell des »sozialen Fort­schrittS<< zu entwickeln;52 andererseits erlaubt die Spaltung der Welt die Überwindung einer ideologischen Teilung inmitten

5 1 Deshalb ist es so wichtig, über die Art und Weise nachzudenken, wie sich die Kämpfe um die Arbeitsorganisation, die Formen der >>tayloristi­schen« Autorität und den Widerstand der Arbeiterkollektive gegen die ka­pitalistische Atomisierung der Arbeitskraft vor und nach 1968 entwickelt haben (vgl. in Frankreich die teilweise vom Althusserianismus angeregten Arbeiten von Robert Linhart und Benjamin Coriat, in Italien die der >>ope­raistischen« Schule, bevor sie zwischen der Orientierung auf die >>Autono­mie des Politischen<< und der Orientierung auf die >>Arbeiter-Autonomie<< zerrieben wurde, Tronti für die eine, Negri für die andere Seite). Durch das Lancieren der >>Globalisierung von unten<<, das heißt durch den massiven Rückgriff auf die Arbeitskraft von Migranten, die von den historischen Or­ganisationen der Arbeiterklasse marginalisiert oder ausgeschlossen wur­den, hat das Kapital im Rahmen des >>Postkolonialismus<< das Kräftever­hältnis definitiv zu seinen eigenen Gunsten verschoben. 52 Vorläufer in dieser Angelegenheit ist Keynes selbst. Vgl. Antonio Negri: >>John M. Keynes et la theorie capitaliste de !'Etat en 1929«, in: ders., La Classe ouvriere contre l'Etat, Paris, Galilee, 1978.

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der Arbeiterbewegung, die andere Spaltungen (laizistischer und christlicher Syndikalismus usw.) einbezieht und zurück­nimmt. Mit dem Ende des Kalten Krieges und der Globalisie­rung verschiebt sich die Angst erneut. In gewisser Weise »wech­selt sie das Lager<<: Es sind nicht mehr die Kapitalisten, die Angst vor der Revolution haben, sondern die Arbeiter haben Angst vor der Konkurrenz der Migranten. Auf diese Weise werden die Kräfteverhältnisse, die die Verfassung des Sozial­Nationalstaats von »außen<< begrenzten, in genau dem Mo­ment destabilisiert, wo von innen die Grenzen ihres »Univer­salismus<< in Erscheinung treten.

Sozialismus und Demokratie. Dieser kurze schematische Über­blick über die Probleme, die mit der Kategorie der »sozialen Staatsbürgerschaft<< in Verbindung stehen, führt uns nun auf die charakteristische Spannung von Konflikt und Institution zurück: Diese bringt nämlich das Fortbestehen einer politischen Dimen­sion zum Ausdruck, die Fortsetzung der Dialektik von Aufstand und Verfassung mit anderen Mitteln. In meinen Augen ist es voll­kommen unzureichend (auch wenn sich die Bourgeoisie tatsäch­lich und unleugbar Sorgen sozialer und moralischer Art gemacht hat), sich das Aufkommen der sozialen Staatsbürgerschaft als einseitiges Zugeständnis des bürgerlichen Staates vorzustellen, die pathologische Auswirkungen der industriellen Revolution und der unbegrenzten kapitalistischen Ausbeutung im Namen der Notwendigkeit zu »reparieren<<, oder aber als logische Konse­quenz aus der Notwendigkeit, dass der Kapitalismus selbst das freie Spiel des Marktes reguliert, weil es die Integrität der Arbeits­kraft, von der die Produktion des Mehrwerts abhängt, zu zerstö­ren droht. 53 Es besteht kein Zweifel, dass diese beiden Faktoren

53 Hier finden die unersetzlichen Analysen von Robert Castel meines Er­achtens ihre Grenze: Letztendlich angeregt von einer (Durkheimschen) so­ziologischen Konzeption der Gesellschaft als eines Organismus, der Zerfalls­und Anomie-Prozessen ausgesetzt ist, die der wilde Kapitalismus erzeugt, maximiert er die Hegulierende Reaktion<< der öffentlichen Hand und mini-

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eine Rolle gespielt haben, aber es bedurfte noch eines dritten Ele­mentes, das mit ihnen im Konflikt stand, um ihre Verbindung voranzutreiben. Ich denke, dieses Element war der »Sozialismus« in der Vielfalt seiner Strömungen, Formulierungen und Organi­sationen.54 Wie ich an anderer Stelle zu behaupten Gelegenheit hatte, muss ein Staat, der die soziale Staatsbürgerschaft mehr oder weniger vollständig institutionalisiert hat, als »nationaler« und »sozialer« Staat zugleich definiert werden. Darunter ist zu verstehen, dass sein sozialreformerisches Programm per defini­tionem innerhalb nationaler Grenzen konzipiert und umgesetzt wurde, unter dem Schutzschild nationaler Souveränität (was heißt, dass es ohne einen hinreichenden Grad an Autonomie und wirtschaftlicher Unabhängigkeit keinen Bestand haben konnte), aber umgekehrt auch, dass der Nationalstaat nur unter der Bedin­gung der Universalisierung der sozialen Rechte überleben (seine ei­genen inneren und äußeren Widersprüche überwinden) konnte. Das war selbstverständlich besonders in zugespitzten Krisenmo­menten der Fall, in denen das Politische als solches wankt, wie unter den Bedingungen des »totalen Krieges<< im 20. Jahrhun-

miert er die Dynamik des Klassenkonflikts, also des eigentlichen Beitrages der Arbeiterbewegung (in ihrer spontanen oder organisierten Form) zur In­stitution der sozialen Staatsbürgerschaft. Wahr ist allerdings, dass der ortho­doxe Marxismus seinerseits die bloße Möglichkeit von »konstitutionellen« Formen des Ausgleichs im Klassenkampf leugnet. 54 Der Sozialismus ist nicht grundsätzlich eine Ideologie, weniger noch eine Doktrin. Er ist ein historischer Komplex, der sich im 19. und 20. Jahrhundert zu einem breiten Spektrum von Richtungen auffachert: konservativer Sozia­lismus (dessen vollendete Gestalt sich mit den Staatsparteien des kommunis­tischen Blocks decken wird), Reformsozialismus (bzw. Sozialdemokratie), messianischer Sozialismus (wesentlich in Form einer Kritik der beiden Vor­hergehenden >>von links«). Der Marxismus als unvollendetes System, das zwischen mehreren >>Strategien« (oder »Taktiken« im Sinne Stanley Moores Three Tactics. The Background in Marx, N. Y., Monthly Review Press, 1963 [dt.: Zur Theorie politischer Taktik des Marxismus, Frankfurt/M., Europä­ische Verlagsanstalt, 1969]) schwankt, bediente sich bei allen drei Richtun­gen. Ich unterscheide den >>Marxismus<<, heute ein historisches, längst ver­gangenes Phänomen, von Marx' Theorie, die immer noch offen für eine Reihe von Zukunftsfragen ist (Etienne Balibar, La Philosophie de Marx, Paris, La Decouverte, co!L >>Reperes<<, 1993hoo1).

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dert.55 Von der Arbeiterbewegung schon lange gefordert, erfolgte die Ausrufung der sozialen Rechte zu »Grundrechten« denn auch erst kurz nach den beiden Weltkriegen, in denen die Arbeiter millionenfach im Kampf gegeneinander gefallen waren . . .

Auf diese Weise erkläre ich den Knoten, den die beiden Attri­bute des Staates (das »Nationale<< und das »Soziale«) bilden, was dazu führt, dass jedes fortan das andere voraussetzt. Aber es be­darf noch eines weiteren Schrittes. Das »sozialistische<< Element der modernen Politik verkörpert teilweise - und zeitweise - die »aufständische« Seite der Staatsbürgerschaft und trägt deshalb die Tendenz zur radikalen Demokratie in sich: Es ist zwar in ei­nen nationalistischen Rahmen integriert, verschmilzt aber nicht einfach mit diesem - außer wenn in scharfen moralischen und sozialen Krisensituationen Diskurs und Politik eine »totalitäre« Wendung nehmen. Ich glaube, diese im Herzen des Sozial-Natio­nalstaats bewahrte Distanz oder Differenz hat es - einstmals -dem Sozialismus im 19. Jahrhundert erlaubt, zur Bildung einer sowohl in Bezug auf den Staat und seine parlamentarischen In­stitutionen als auch in Bezug auf die »Zivilgesellschaft« und illre Handels- und Vertragsgeschäfte relativ autonomen politischen Öffentlichkeit beizutragen. In diesem Sinne ist der »Sozialismus« ein Gehäuse für eine ganze Reihe von widersprüchlichen Ent­wicklungen: Er hat seine »äußersten« Ziele nie erreicht, er ist ein von innen wie von außen angefochtenes Reformprojekt oder -programm geblieben. Als von den Massen verinnerlichter »Er­wartungshorizont« aber hat er niemals aufgehört, den Konflikt inmitten der Institution immer wieder anzufachen, die Kapital und Arbeit, Privatbesitz und Solidarität, staatliche und kaufmän­nische Rationalität verknüpft, und hat so dazu beigetragen, dass

5 5 Der Aufsatz von Sandra Haiperirr »Power to the People. Nationally Em­bedded Development and Mass Armies in the Making of Democracy<< (in: Millennium. Journal of International Studies, Bd. 3 7, Nr. 3, 2009) vertritt die These, dass die (gewerkschaftlich organisierte) Arbeiterbewegung die ent­scheidende Schwelle in Sachen Repräsentativität und Verhandlungsfähigkeit in Europa im Wesentlichen durch die Erfahrung des Krieges überschritten hat. Diesen Hinweis verdanke ich Catherine Colliot-The!ene.

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die >>öffentliche« Sphäre auch eine >>politische<< Sphäre ist. In ge­wissen Grenzen allerdings, weil die soziale Staatsbürgerschaft sich ja, wie gesagt, in die Reproduktion der kapitalistischen Ver­hältnisse einfügen musste, so dass die politischen Kämpfe im Rahmen einer relativen Neutralisierung des Antagonismus statt­fanden - was bedeutete, dass der Staat sich mit Apparaten aus­stattete, die den politischen Konsens reproduzierten, und so die Gegner davon abhielt, sich in Feinde zu verwandeln. Was auch bedeutet, dass die gesamte >>Gesellschaft<< als Prozess einer allge­meinen Normalisierung der Verhaltensweisen rekonfiguriert werden musste. Gleichzeitig neigte das System aber dazu, die so­zialen Kräfteverhältnisse einzufrieren und in einen Kompromiss einzubetten, der am Ende den >>Herrschenden<< wie den >>Be­herrschten<< unhaltbar erschien.

Ich denke, von diesem Punkt muss man ausgehen, um das zu verstehen, was ich vorab die Antinomie des Fortschritts genannt habe, als deren nahezu perfekte Illustration sich die Geschichte der sozialen Staatsbürgerschaft anbietet. Schon die Aussicht auf einen unbegrenzten Fortschritt, das heißt der idealisierte kollek­tive Wunsch, in der Gesellschaft wirklich zu einer Chancengleich­heit für alle zu gelangen, hat den Druck aufrechterhalten können, der darauf zielte, die Privilegien zu beschneiden und tief verwur­zelte Herrschaftsformen in Schach zu halten, indem die Frei­heitsräume für die Masse erweitert wurden. Die Grenzen des Fortschreitens sind der materiellen Verfassung aber nicht minder eingeschrieben, in der das Nationale und das Soziale, die Repro­duktion der Fähigkeit zur Akkumulation von Kapital und die Ausweitung der sozialen Rechte, das kollektive Handeln und der ethische Konformismus der >>Majorität<< eine Verbindung einge­hen. Die demokratischen Errungenschaften waren also im Rah­men des Sozial-Nationalstaats sehr wohl real, bei seinem Aufbau sorgten sie (manchmal in fast aufständischer Form wie bei der Volksfront) für viele >>fortschrittliche << Momente. Aber jedes Mal folgte darauf eine neuerliche Bestätigung der strukturellen Gren­zen in Form von kriecherischen Gegenreformen oder noch hefti-

geren Reaktionen. Für unsere Analyse der Krise, die heute der Begriff der >>sozialen Staatsbürgerschaft<< selbst erlebt, und der Formen, die die Demontage des Sozialstaats annimmt, ist es ent­scheidend herauszufinden, worauf diese Krise sich grundsätzlich zurückführen lässt, die die Sicherheit des Arbeitsplatzes ebenso betrifft wie die allgemeine medizinische Versorgung, die Demo­kratisierung des Zugangs zu den Hochschulen und die berufliche oder häusliche Befreiung der Frauen und schließlich das reprä­sentative Prinzip selbst. Ist sie schlicht Resultat eines vom Kapita­lismus lancierten Angriffs >>von außen<<, der auf den Erfordernis­sen einer immer stärker transnationalisierten Wirtschaft beruht, in der die Finanzlogik über die industrielle Logik obsiegt ? Oder aber ist sie auch der Zuspitzung der >>inneren<< Widersprüche der sozialen Staatsbürgerschaft geschuldet und dem Umstand, dass diese ihre eigenen historischen Grenzen erreicht ? Die Aussicht auf ein beständiges Fortschreiten auf dem Weg der Grundrechte, 56 besonders was die Verknüpfung von individueller Autonomie und Solidarität betrifft, kurz gesagt all das, was man (wenn man die berühmte Formulierung aus den Voraussetzungen des Sozia­lismus von 1899, >>Das Endziel [ . . . ] ist mir nichts, die Bewegung ist alles<<, im Sinn hat)57 unter der Bezeichnung >>Bernstein-Theo­rem<< versammeln könnte, würde sich dann nicht nur an den In­teressen der herrschenden sozialen Gruppierungen und des Aus­beutungs-»Systems« stoßen, gegen das sie anarbeitet, sondern auch an ihrem eigenen inneren Widerspruch. Der Sozialismus des 19 . und 20. Jahrhunderts ist ein Gefangener der Verschmel­zung von Progressismus und Etatismus. Er steckt fest in der Apo­rie der >>Konfliktdemokratie<<: untrennbar vom ständigen Kon­flikt, aber auch von der Institutionalisierung seiner Kräfte, Organisationen und Diskurse als Bestandteile einer >>öffentli-

56 Gerald Stourzh, Wege zur Grundrechtsdemokratie. Studien zur Begriffs­und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaat es, Wien I Köln, Böhlau Verlag, 1989. 57 Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart, J. W H. Dietz, 1899.

47

Page 24: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

chen« Sphäre, die mit der nationalen Gemeinschaft gleichgesetzt wird. Das Ergebnis ist im Hinblick auf die Marxsche Topogra­phie von Politik völlig paradox (aber auch dazu angetan, ihre »li­beralen« Kritiker auf dem falschen Fuß zu erwischen): Die Politi­sierung der sozialen Fragen schafft den Dualismus von »Politik« und »Polizei« (Ranciere) nicht ab, sondern verstärkt ihn. Daraus folgt im Besonderen, dass die Ausweitung der Bereiche der In­vention, der Erfindung, und der Intervention von Politik, die die Möglichkeit einer Demokratisierung der Demokratie ankündi­gen, weniger auf Seiten der Arbeit erfolgt, an die die Rechte sym­bolisch gebunden bleiben, als auf Seiten der »Reproduktion«: Fa­milie, Kultur, öffentlicher Dienst. Nachdem er den Widerstand der Arbeiter an den Produktionsstätten durch eine Kombination aus Neuen Technologien, dem Umbau des Berufsgruppensys­tems und grenzüberschreitenden Arbeitskraftströmen gebrochen hat, wird der Neoliberalismus von dieser Seite angreifen.

Wie man sieht, berücksichtigt diese Hypothese, die sich als dialektisch versteht, die sozialen Antagonismen durchaus weiter­hin, aber sie bringt uns von der Vorstellung einer Verschwörung fieser Kapitalisten ab (oder, sehr beliebte Variante in Frankreich: vom »angelsächsischen Modell« des Betriebskapitalismus). Sie ist auch politischer in dem Sinne, dass sie Verständnisschemata vorschlägt, in denen nicht nur Strukturen, sondern auch Hand­lungen (entweder im Sinne Webers oder im Sinne Foucaults) Berücksichtigung finden: Die unteren Volksschichten des »Nor­dens«, die (als Lohnempfanger) von bedeutenden sozialen Errun­genschaften profitierten und sich heute ihrer Sicherheit und ihrer Aufstiegsmöglichkeiten weitestgehend beraubt sehen, treten in diesem historischen Prozess nicht als bloße Opfer auf. Sie waren und sind jederzeit, in einem bestimmten Maß, Handelnde, deren Fähigkeit, auf ihre eigene Geschichte Einfluss zu nehmen, von sich wandelnden inneren und äußeren Bedingungen abhängt, insbesondere von der Art und Weise, wie sie sich selbst das Sys­tem, in dem sie handeln, vorstellen und die Kollektive, die ihnen praktisch die Handlungsmacht verleihen. Ebendiese Hypothese

scheint mir die richtige zu sein, und ich möchte mich ihrer bedie­nen, um an einige Aspekte dessen zu erinnern, was man heute »Neoliberalismus« nennt. Ich werde mich dabei auf seine Inter­pretation durch Wendy Brown in ihrem Aufsatz »Neo-Liber­alism and the End of Democracy« von 2003 stützen, dessen Ein­fluss sich in den Auseinandersetzungen, die in der gegenwärtigen >>kritischen« Szene stattfinden, lebhaft bemerkbar macht. 58

* * *

Die These von Brown ist bekannt: Zwischen dem klassischen Liberalismus und dem Neoliberalismus besteht ein wesentlicher Unterschied, der darauf beruht, dass die relative Autonomie der ökonomischen und der politischen Sphären, die für den klassi­schen Liberalismus unüberwindbar ist, weil sie der Annahme der relativen Äußerlichkeit des Staates gegenüber der Ökonomie zugrunde liegt, inzwischen eindeutig obsolet geworden ist. Das ermöglicht die Kombination der Deregulierung des Marktes mit ständigen Interventionen des Staates oder anderer Macht­>>Agenturen« auf dem Gebiet der Zivilgesellschaft und sogar in der Privatsphäre der Subjekte, die aus dem Nichts einen neuen Bürger >>schaffen«, der sich einzig nach der Logik des ökonomi­schen Kalküls richtet. Brown bietet uns dann ein ganzes Tableau von Kombinationen des libertären Diskurses mit Programmen der Moralisierung und der Unterwerfung des Privatlebens unter den Einfluss der Religion an, die seit der >>T hatcher-Reagan-Re­volution« der achtziger Jahre im Westen auf mehr oder weniger brutale Weise zum Einsatz kamen. Dieser Teil ihrer Analyse scheint mir absolut überzeugend zu sein. Er kann durch andere Beiträge zur Kritik des neoliberalen Paradigmas ergänzt wer­den.59 Sie alle beruhen auf der Untersuchung der Art und Weise,

58 >>Neo-Liberalism and the End ofDemocracy<< (2003), in: dies., Edgework. Critical Essays on Knowledge and Politics, Princeton (N. J.), Princeton Univer­sity Press, 200 5 . 59 David Harvey, A BriefHistory ofNeoliberalism, Oxford, Oxford Universi­ty Press, 2005 [dt.: Kleine Geschichte des Neoliberalismus, Zürich, Rotpunkt-

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Page 25: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

wie die Kriterien der individuellen oder kollektiven »Rentabili­

tät« und der Maximierung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses auf

die privaten oder sogar öffentlichen Tätigkeiten ausgeweitet wer­

den, die nach dem klassischen kapitalistischen Modell und erst

recht in dem, was ich oben Sozial-Nationalstaat genannt habe,

vermutlich aus dem ökonomischen Kalkül (bzw. marxistisch ge­

sprochen: aus dem Bereich der Geltung des »Wertgesetzes<<) he­

rausgefallen wären: zum Beispiel die Bildung, die wissenschaftli­

che Forschung, die Qualität des öffentlichen Dienstes oder die

Leistungsfähigkeit der Verwaltung, das allgemeine Niveau des

Gesundheitswesens und der Sicherungssysteme, das Rechtswe­

sen (eine Liste, die sich weiter verlängern ließe).60 Ich stimme

dieser Beschreibung voll und ganz zu und möchte die philoso­

phische These erörtern, die mit ihr einhergeht: Der Neoliberalis­

mus ist nicht nur eine Ideologie, sondern eine Mutation der Na­

tur der politischen Tätigkeit selbst, die von Akteuren in allen

Bereichen und an allen Orten der Gesellschaft getragen wird. Es

handelt sich allerdings um eine höchst paradoxe Form der poli­

tischen Tätigkeit, weil sie nicht nur dazu neigt, das zum Wesen

ihrer klassischen (zum Beispiel machiavellistischen) Gestalt gehö­

rende konflikthafte Element so vollständig wie möglich zu neutra­

lisieren, ganz zu schweigen von der Idee eines konstituierenden

»Aufstands<<, ohne den es meinem Ansatz zufolge nie zu einer

kollektiven Einforderung von Rechten gekommen wäre; sie will

es vielmehr im Voraus jeder Bedeutung berauben und die Bedin-

verlag, 2007]; Jean-Claude Michea, L:Empire du moindre mal. Essai sur la civi­lisation liberale, Paris, Climats, 2007, Neuaufl. Paris, Champs-Flammarion, 2010; Emmanuel Renault, Sauftrances sociales, Paris, La Decouverte, 2008. 6o Das Einteilungskriterium ist eher »produktiv/unproduktiv<< als »materi­ell/immateriell«, aber das ist ein Zirkel, weil eine der spezifisch neoliberalen >>Politiken« darin besteht, als »unproduktiv« geltende Tätigkeiten in Horte privaten Nutzens umzuwandeln, wie in der Bildung oder den Gefängnissen (vgl. Lok Waquant, Les Prisons de Ia misere, Paris, Raisons d'Agir, 1999 [dt.: Elend hinter Gittern, Konstanz, UVK, 2000]; Punishing the Poor. The Neolib­eral Government of Social Insecurity, Durham, Duke University Press, 2009 [dt.: Bestrafen der Armen. Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicher­heit, Opladen, Budrich, 2009]) .

so

gungen für eine Gesellschaft schaffen, in der die Handlungen von Individuen und Gruppen (auch die gewalttätigen) nur noch auf einem einzigen Kriterium beruhen: dem der ökonomischen Nützlichkeit. Es handelt sich also tatsächlich eher um Anti-Politik als um Politik, um eine Neutralisierung oder vorbeugende Ab­schaffung des soziopolitischen Antagonismus. Um dem Rech­nung zu tragen, schlägt Brown vor, die Kategorie der Gouverne­mentalität, wie sie Foucault für seine »Genealogie der Macht<< entwickelt hat, auf die Moderne auszuweiten und sie in äußerster Konsequenz weiterzuführen. 61

Erinnern wir uns daran, was im Foucaultschen Sinne unter »Gouvernementalität« zu verstehen ist: die Gesamtheit der Prak­tiken, mittels derer das »spontane<< Verhalten von Individuen verändert werden kann, was darauf hinausläuft, Macht über ihre Widerstands- und Handlungsmacht auszuüben, entweder durch den Einsatz von »disziplinären<< (also unvermeidlich sowohl mit

61 »Diese Art von Gouvernementalität beruft sich auf ein >freies< Subjekt, das rational über alternative Handlungsverläufe verhandelt, eine Wahl trifft und die Verantwortung für die Folgen dieser Wahl trägt. Auf diese Weise, ar­gumentiert Lemke, führt und kontrolliert der Staat Subjekte, ohne für sie ver­antwortlich zu sein; als individuelle ' Unternehmer< in allen Aspekten des Le­bens werden Subjekte vollständig verantwortlich für ihr Wohlergehen, und Staatsbürgerschaft reduziert sich auf ein erfolgreiches Unternehmertum die­ser Art. Neoliberale Subjekte werden durch ihre Freiheit kontrolliert nicht bloß [ . . . ] weil Freiheit innerhalb einer Herrschaftsordnung ein Instrument dieser Herrschaft sein kann -, sondern aufgrund der Moralisierung der Fol­gen dieser Freiheit durch den Neoliberalismus. Das bedeutet auch, dass der Rückzug des Staates aus einigen Bereichen und die Privatisierung einiger staatlicher Dienste nicht auf eine Demontage der Regierung hinausläuft, sondern eher eine Regierungstechnik konstituiert; im Grunde ersetzt die Sig­natur-Technik der neo-liberalen Governance, in der rationales, ökonomi­sches Handeln die ganze Gesellschaft durchdringt, eigene staatliche Regeln und Maßnahmen. Der Neoliberalismus verlagert die regulierende Kompe­tenz des Staates auf >verantwortliche<, >rationale< Individuen, um diese dazu zu ermutigen, ihrem Leben eine bestimmte Unternehmerische Form zu ge­ben. (Thomas Lemke, » The Birth of Politics. Michel Foucault' s lecture at the College de France on neo-liberal Governmentality«, in: Economy and Society 30, 2, Mai 2001, S. 202).« (Wendy Brown, »Neo-Liberalism and the End of Democracy<<, a. a. 0., § 17. [Übers. C. P. ])

Page 26: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

Zwang verbundenen als auch produktiven) Methoden oder durch die Verbreitung von sittlichen, also kulturellen Verhaltens­modellen. Warum soll man annehmen, dass der Neoliberalismus in dieser Hinsicht eine Herausforderung für die »traditionellen« Definitionen von Politik darstellt, auf denen die »Klassenpolitik« ebenso beruht wie die Formen des »Liberalismus«, die der Kritik der Herrschaft oder Willkür der Macht in der demokratischen Tradition zugrunde lagen - eine Herausforderung, für die Brown den Begriff Entdemokratisierung verwendet und die auch eine tödliche Bedrohung für die klassische republikanische Idee der »aktiven Staatsbürgerschaft« darstellt? Weil der Neoliberalismus sich anscheinend nicht damit begnügt hat, einen Rückzug des Politischen voranzutreiben, sondern dessen Neudefinition auf subjektiver Ebene (auf Seiten der Motive für das Engagement) ebenso wie auf objektiver Ebene (auf Seiten der institutionellen Instrumente) in Angriff genommen hat. Da die Bedingungen der Möglichkeit der kollektiven politischen Erfahrung bzw. die öko­nomischen Zwänge, die auf einer wachsenden Anzahl von Indi­viduen in allen sozialen Klassen lasten, und die Wertesysteme bzw. die Auffassungen von >>gut<< und >>böse«, nach denen sie ihre eigenen Handlungen beurteilen (also letztlich die Modelle, über die sie bei der Entscheidung, ob ihr Leben >>wertvoll« oder >>le­benswert« ist, verfügen), gleichzeitig betroffen sind, kann Brown von einer neuen Rationalität im philosophischen Sinne des Wor­tes sprechen. Ich möchte hier, wenn auch nur sehr kurz, darauf hinweisen, zu welchen Problemen eine solche Verallgemeine­rung in meinen Augen führt.

In erster Linie sollte man, wie mir scheint, bei der Krisendia­gnose, die sich auf die traditionellen - liberalen oder autoritä­ren - politischen Systeme erstreckt, einen Augenblick innehalten. In der Beschreibung, die ich gerade in Erinnerung gerufen habe, wird diese Krise nicht bloß als unbehagliches oder spannungsge­ladenes Zwischenspiel in einem zyklischen Prozess betrachtet, wie es schon mehrfach aufgetreten ist, sondern als tiefgehende Mutation, als unwiderrufliche Tatsache, die es unmöglich macht,

52

zu den früheren Handlungsmodalitäten zurückzukehren. Doch selbst wenn man diesen Punkt zugesteht, bleiben mindestens zwei Möglichkeiten, die Formen der Subjektivität, die daraus hervorgehen, zu interpretieren. Einer ersten Annahme zufolge (von der, wie mir scheint, zum Beispiel die jüngsten Analysen von Immanuel Wallerstein ausgehen, aber auch die von Robert Castel, der eine aus einer >>globalen« systemischen Perspektive, der andere von einer >>Örtlicheren« historischen Soziologie aus) handelt es sich im Wesentlichen um ein negatives Symptom, das mit der Auflösung der traditionellen Strukturen der Herrschaft und des Widerstands gegen diese Herrschaft einhergeht (selbst wenn die >>Tradition«, um die es hier geht, eigentlich recht jungen Datums, das heißt ein Produkt der >>Modernisierung« der In­dustriegesellschaften ist).62 Für sich genommen führt diese Auf­lösung zu keiner haltbaren gesellschaftlichen Lebensform, sie läuft auf eine höchst instabile Situation hinaus (die man >>ano­misch« nennen oder als >>Ausnahmezustand« beschreiben könn­te), in der auf unvorhersehbare Weise die widersprüchlichsten Entwicklungen möglich werden. Brown selbst neigt in Überein­stimmung mit Foucaults Idee der >>Produktivität« oder >>Positivi­tät« der Macht zu einer anderen Interpretation: Eher als um eine Auflösung handelt es sich um eine Erfindung, die Erfindung einer anderen historischen Lösung für die Anpassungsprobleme des In­dividuums an den Kapitalismus bzw. die Ausrichtung des indivi­duellen Verhaltens an der >>Politik des Kapitals«. Die Annahme, die ich vorhin formuliert habe, dass nämlich die Krise der >>sozia­len Staatsbürgerschaft« als (ungleich entwickeltes) Konfigurati­onsmodell des Politischen nicht nur aus der >>Rache der Kapita­listen« oder aus der Verschlechterung des Kräfteverhältnisses zwischen dem Sozialismus und seinen Gegnern hervorgeht, son­dern aus der Entwicklung ihrer inneren Widersprüche, gewinnt hier ihre volle Bedeutung. Man muss sich aber dessen bewusst

62 Immanuel Wallerstein, After Liberalism, a. a. 0. ; Robert Castel, Die Krise der Arbeit. Neue Unsicherheiten und die Zukunft des Individuums, a. a. 0.

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Page 27: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

sein, was im Endeffekt daraus folgen wird: Eine solche Annahme

konfrontiert uns mit der Möglichkeit von politischen Staatsfor­

men, die nicht nur mittelmäßig demokratisch (bzw. in mit einer

Reproduktion der strukturellen Ungleichheit vereinbaren Gren­

zen demokratisch) sind63 oder anti-demokratisch (nach dem Mo­

dell von Diktaturen, autoritären Regimen oder dem historischen

Faschismus), sondern in Wirklichkeit a-demokratisch in dem

Sinne, dass die mit den Forderungen nach Rechten verbundenen

(bei mir unter dem Namen der Gleichfreiheit versammelten)

Werte für ihr Funktionieren und ihre Entwicklung keinerlei Rolle

mehr spielen (nicht einmal als Widerstands- oder Protestpotenti­

al). Hat die Rede von den »demokratischen Werten« und von der

>>Verbreitung der Demokratie« (ja sogar ihrem >>Export«) aus

diesem Grund so überhandgenommen? Offizialisiert und bana­

lisiert wie sie ist, hat sie in der gegenwärtigen Sprache der Macht

keinerlei Abgrenzungsfunktion mehr und ist in vollem Umfang

Teil der Auflösung der Staatsbürgerschaft Wenn ein solcher

Wandel tatsächlich im Gange ist (was die Modalität des Wandels

selbst nicht unberührt lässt), sollte man ebenso von einem Ein­

tritt in ein >>Post-Histoire« sprechen wie vom Eintritt in eine

>>Post-Politik«, was sehr viel ernster zu nehmen ist als die Visio­

nen eines >>Endes der Geschichte«, wie sie von Ideologen wie Fu­

kuyama in Umlauf gebracht wurden, als das sowjetische System

in Europa zusammenbrach, und die sich ganz im Gegenteil auf

die Idee eines Triumphes des Liberalismus in seiner klassischen

Form stützten.64 Ich bin aber nicht überzeugt, dass sich die Angelegenheit auf

63 Vgl., was Boaventura de Sousa Santos >>Demokratie von geringer Intensi­tät« nennt, Democratizing Democracy, a. a. 0. 64 Die Idee des (entfernt aus Formulierungen von Marx in der Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie von 1844 abgeleiteten) >>Post-His­toire« wurde Anfang der 196oer Jahre von Arnold Gehlen populär gemacht; die des >>Post-Politischen« ist sehr viel jüngeren Datums (vgl. Christopher Hanlon, >> Psychoanalysis and the Post-Political. An Interview with Slavoj Zi­zek<<, in: New Literary History, 32, 2001, S. 1-21) . Sie gibt Anlass zu Wortspie­len mit >>dem Posten des Politischen<< (im Internet).

54

diese Diagnose beschränken lässt. Ich stelle mir einerseits die Frage, ob nicht etwas in der Interpretation des Phänomens der Entdemokratisierung, die Brown vorschlägt, eine Besonderheit der amerikanischen Geschichte und Gesellschaft widerspiegelt, die nicht unmittelbar verallgemeinerbar ist.65 Ich würde dazu neigen, sie mit dem Umstand in Verbindung zu bringen, dass die Verei­nigten Staaten - aus geopolitischen (die Hegemonie, die sie in der kapitalistischen Welt die ganze zweite Hälfte des 20. Jahr­hunderts über ausgeübt haben) wie aus kulturellen (bis zu den Ursprüngen ihrer Ideologie der >>Frontier«, der Grenze, also ih­res kolonialen, >>individualistischen<< Gesellschaftscharakters zu­rückreichenden) Gründen und. trotz der tiefgreifenden egalita­ristischen Tendenzen, die Tocqueville unterstrichen hat - eben

gerade nicht der typische Ort gewesen sind, an dem sich die so­ziale Staatsbürgerschaft und der Sozial-Nationalstaat gebildet ha­ben. Besonders das Prinzip der Universalität der sozialen Rechte ist dort niemals voll und ganz anerkannt worden. Im Gegenzug sind die Schwankungen zwischen Phasen staatlicher >>Regulie­rung<< und >>Deregulierung<< dort außergewöhnlich brutal gewe­sen.66 Es wäre vermessen, Brown vorzuwerfen, dem, was die so genannte >>globale<< Finanzkrise gerade zum Vorschein bringt, im Voraus nicht Rechnung getragen zu haben, nämlich der Existenz von Faktoren äußerster Instabilität und Widersprüchlichkeit im Herzen des reagan-thatcherischen (von den Politikern des »Drit­ten Weges<<, die auf sie folgten, mehr oder weniger vollständig übernommenen) >>neoliberalen<< Modells und womöglich der Tatsache, dass es sich in Wirklichkeit weniger um ein Modell zur Stabilisierung des gegenwärtigen Kapitalismus handelt als viel­mehr um ein Modell der fortwährenden Krise (oder der >>Krise als normaler Kost<<), was uns der Tendenz nach wieder auf die an­dere Interpretationsmöglichkeit (die eines Auflösungssymptoms)

65 Brown selbst weist daraufhin, dass sich ihre Analyse auf den paradigma­tischen Wert des amerikanischen Falles stützt. 66 Margaret Somers, Genealogies of Citizenship. Markets, Statelessness, and the Right to Have Rights, a. a. 0.

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sein, was im Endeffekt daraus folgen wird: Eine solche Annahme

konfrontiert uns mit der Möglichkeit von politischen Staatsfor­

men, die nicht nur mittelmäßig demokratisch (bzw. in mit einer

Reproduktion der strukturellen Ungleichheit vereinbaren Gren­

zen demokratisch) sind63 oder anti-demokratisch (nach dem Mo­

dell von Diktaturen, autoritären Regimen oder dem historischen

Faschismus), sondern in Wirklichkeit a-demokratisch in dem

Sinne, dass die mit den Forderungen nach Rechten verbundenen

(bei mir unter dem Namen der Gleichfreiheit versammelten)

Werte für ihr Funktionieren und ihre Entwicklung keinerlei Rolle

mehr spielen (nicht einmal als Widerstands- oder Protestpotenti­

al). Hat die Rede von den »demokratischen Werten« und von der

»Verbreitung der Demokratie<< (ja sogar ihrem >>Export«) aus

diesem Grund so überhandgenommen? Offizialisiert und bana­

lisiert wie sie ist, hat sie in der gegenwärtigen Sprache der Macht

keinerlei Abgrenzungsfunktion mehr und ist in vollem Umfang

Teil der Auflösung der Staatsbürgerschaft Wenn ein solcher

Wandel tatsächlich im Gange ist (was die Modalität des Wandels

selbst nicht unberührt lässt), sollte man ebenso von einem Ein­

tritt in ein >>Post-Histoire« sprechen wie vom Eintritt in eine

>>Post-Politik«, was sehr viel ernster zu nehmen ist als die Visio­

nen eines >>Endes der Geschichte«, wie sie von Ideologen wie Fu­

kuyama in Umlauf gebracht wurden, als das sowjetische System

in Europa zusammenbrach, und die sich ganz im Gegenteil auf

die Idee eines Triumphes des Liberalismus in seiner klassischen

Form stützten.64 Ich bin aber nicht überzeugt, dass sich die Angelegenheit auf

63 V gl., was Boaventura de Sousa Santos »Demokratie von geringer Intensi­tät« nennt, Democratizing Democracy, a. a. 0. 64 Die Idee des (entfernt aus Formulierungen von Marx in der Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophievon 1844 abgeleiteten) >>Post-His­toire<< wurde Anfang der 196oer Jahre von Arnold Gehlen populär gemacht; die des >>Post-Politischen« ist sehr viel jüngeren Datums (vgl. Christopher Hanlon, >>Psychoanalysis and the Post-Political. An Interview with Slavoj Zi­zek«, in: New Literary History, 32, 2001, S. 1-21) . Sie gibt Anlass zu Wortspie­len mit >>dem Posten des Politischen« (im Internet).

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diese Diagnose beschränken lässt. Ich stelle mir einerseits die Frage, ob nicht etwas in der Interpretation des Phänomens der Entdemokratisierung, die Brown vorschlägt, eine Besonderheit der amerikanischen Geschichte und Gesellschaft widerspiegelt, die nicht unmittelbar verallgemeinerbar ist.65 Ich würde dazu neigen, sie mit dem Umstand in Verbindung zu bringen, dass die Verei­nigten Staaten - aus geopolitischen (die Hegemonie, die sie in der kapitalistischen Welt die ganze zweite Hälfte des 20. Jahr­hunderts über ausgeübt haben) wie aus kulturellen (bis zu den Ursprüngen ihrer Ideologie der >>Frontier«, der Grenze, also ih­res kolonialen, >>individualistischen« Gesellschaftscharakters zu­rückreichenden) Gründen und trotz der tiefgreifenden egalita­ristischen Tendenzen, die Tocqueville unterstrichen hat - eben gerade nicht der typische Ort gewesen sind, an dem sich die so­ziale Staatsbürgerschaft und der Sozial-Nationalstaat gebildet ha­ben. Besonders das Prinzip der Universalität der sozialen Rechte ist dort niemals voll und ganz anerkannt worden. Im Gegenzug sind die Schwankungen zwischen Phasen staatlicher >>Regulie­rung« und >>Deregulierung« dort außergewöhnlich brutal gewe­sen.66 Es wäre vermessen, Brown vorzuwerfen, dem, was die so genannte >>globale« Finanzkrise gerade zum Vorschein bringt, im Voraus nicht Rechnung getragen zu haben, nämlich der Existenz von Faktoren äußerster Instabilität und Widersprüchlichkeit im Herzen des reagan-thatcherischen (von den Politikern des >>Drit­ten Weges«, die auf sie folgten, mehr oder weniger vollständig übernommenen) >>neoliberalen« Modells und womöglich der Tatsache, dass es sich in Wirklichkeit weniger um ein Modell zur Stabilisierung des gegenwärtigen Kapitalismus handelt als viel­mehr um ein Modell der fortwährenden Krise (oder der >>Krise als normaler Kost«), was uns der Tendenz nach wieder auf die an­dere Interpretationsmöglichkeit (die eines Auflösungssymptoms)

65 Brown selbst weist daraufhin, dass sich ihre Analyse auf den paradigma­tischen Wert des amerikanischen Falles stützt. 66 Margaret Somers, Genealogies of Citizenship. Markets, Statelessness, and the Right to Have Rights, a. a. 0.

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zurückbringt. In seiner ursprünglichen Fassung stammt ihr Es­

say, daran sei erinnert, aus dem Jahr 2003. Umso interessanter

wäre es zu sehen, wie sie den im eigentlichen Sinne nordamerika­

nischen Aspekten des Kapitalismus, welche die Krise in den Vor­

dergrund rückt, Rechnung zu tragen wüsste (zum Beispiel der

Verfassung einer ganz und gar auf Verschuldung gegründeten

Gesellschaft),67 ebenso wie den durch deren erste Entwicklungs­

stadien hervorgerufenen politischen Reaktionen. Unter diesem

Gesichtspunkt ist offensichtlich noch nichts eindeutig entschie­

den. Aber wir werden dadurch auf die Untersuchung einer ande­

ren, den Kritiken an der neoliberalen Erneuerung als Auftauchen

von Anti-Politik innewohnenden Schwierigkeit gelenkt, insofern

diese der Idee der »Entdemokratisierung« im Grunde eine apo­kalyptische Dimension verleihen.

Was mich hier bei einem Abstand von beinahe eineinhalb Jahr­hunderten erstaunt, sind die Analogien und Differenzen, die zwi­schen Wendy Browns Thesen und dem wahrnehmbar sind, was man den Albtraum von Marx nennen könnte. Wie man sich erin­nert, hatte dieser in einem »unveröffentlichten Kapitel« des Kapi­tals, das er zum Zeitpunkt von dessen Publikation ( 1867) letzt­endlich nicht in das Erste Buch aufgenommen hat, in dem es hätte stehen sollen, einen Begriff von »reeller Subsumtion« der Arbeitskraft unter das Kapital skizziert.68 Warum hat sich Marx entschlossen, diese Analyse beiseitezulassen, obwohl sie die äußersten Konsequenzen einer Dialektik zeigte, der in seiner ei­gentlichen Analyse vom Kapital als »gesellschaftlichem Verhält-

67 Frederic Lordan (Jusqu'a quand? Po ur en finir avec les crises financieres, Paris, Raison d'agir, 2008) zeigt auf bemerkenswerte Weise, wie die Politik der " Verbriefung« von zweifelhaften Schuldanleihen, die die Bildung von Su­perrenditen bei Geldanlagen erlaubt, und die vollständige Liberalisierung der Konsumentenkredite, die Haushalte ohne festes Einkommen zu lebens­langen Schuldnern macht, zuerst in den Vereinigten Staaten miteinander verknüpft wurden. 68 Kar! Marx, Das Kapitel I. I. Resultate des unmittelbaren Produktionspro­zesses. Sechstes Kapitel des ersten Bandes des »Kapitals<< (Entwurf), Berlin, Dietz Verlag, 2009.

s6

nis« eine zentrale Funktion zukam? Zweifellos sowohl aus politi­schen wie aus wissenschaftlichen Gründen. Für die Idee einer Arbeiterpolitik wären ihre Implikationen verheerend gewesen: Auf Kosten jedweder Aussicht auf eine revolutionäre Organisati­on oder auch nur eines kollektiven Bewusstseins der Arbeiter­klasse hätte er auf die Alternative eines Dahinsiechens der Politik oder einer messianischen Lösung auf der Basis einer Vernich­tung der Bedingungen der Politik selbst zurückkommen müssen, von der er sich seit den Vorschlägen zum »Zerfall der bürgerli­chen Gesellschaft<< in seiner Jugend immer weiter entfernt hat­te.69 Die »reelle Subsumtion«, die Marx im »Unveröffentlichten Kapitel« im Blick hatte, bedeutet, dass der Kapitalismus nicht mehr nur ein System der >>Konsumtion der Arbeitskraft« ist, das durch die Entwicklung verschiedener >>Methoden« der Ausbeu­tung der Arbeiter oder der Erzwingung von Mehrarbeit auf die Maximierung von deren Produktivität abzielt, sondern zu einem System der (Re-)Produktion der Arbeitskraft selbst als Ware wird, das deren >>Qualitäten« konform machen möchte, um sie für ein bestimmtes Produktionssystem >>verwendbar« und >>verwaltbar« zu machen, das heißt, das ihr apriori seine Anforderungen aufer­legt, indem es die >>Fähigkeiten<<, >>Bedürfnisse« und >>Wünsche« der Individuen konditionierU0 Diese Vision von Marx ist sehr wohl apokalyptisch: Sie sieht das Erlöschen der Politik, konstitu­tive Dimension der Vergangenheit, als Resultat einer ins Extrem getriebenen, rein ökonomischen Logik. Genauso sieht der durch Foucault angeregte Diskurs der Entdemokratisierung darin das

69 Etienne Balibar, >>Le moment messianique de Marx<<, in: »Theologies po­litiques du Vormärz. De Ia doctrine a l'action (1817-1850)<<, Revue Germani­que Internationale, 8, 2008. 70 Bekanntlich hatte Marcuse, von dessen Analysen Browns Theoriebil­dung sichtlich beeinflusst ist, obwohl sie deren freudemarxistische Termino­logie in Foucaults Sprache der »Subjektivierung<< als Verhältnis zur Macht umformuliert hat, im Eindimensionalen Menschen versucht, das psycheso­ziologische Gegenstück zu diesen Thesen von Marx zu liefern, indem er zeig­te, dass die sehr allgemeine Prognose von Marx inzwischen zur alltäglichen Realität geworden war, insbesondere in der »Konsumkultur<< amerikanischer Art.

5 7

Page 30: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

Resultat einer bestimmten Logik von Macht und der Erfindung

einer neuen kulturellen »Rationalität«. Offenbar sind beide Vor­

stellungen von der Frage umgetrieben (wer wäre das nicht?), wie

die modernen Gesellschaften ihrerseits freiwillige Knechtschaft

hervorbringen: weniger - wie in der klassischen Darstellung von

La Boetie - als imaginäre Wirkung einer durch eine »souveräne«

Autorität (Gott oder der Monarch) erzeugten Faszination denn

als Zusammenwirken von anonymen Technologien, mannigfa­

chen Massenpraktiken, Mikromächten und alltäglichen Verhal­

tensweisen sowohl auf Seiten der »Herrschenden<< wie auf der

Seite der »Beherrschten<< im Rahmen einer bestimmten Nor­

malität. Daraus hat sich der Kurzschluss zwischen den Analysen

der Alltäglichkeit und den Analysen der Ausnahme (bzw. des

Ausnahmezustands) entwickelt. Ich weiß sehr wohl, dass sich

Brown solchen Antizipationen nur unter größter Vorsicht hin­

gibt. Andere sind weniger vorsichtig, und in der gegenwärtigen

kritischen T heorie lässt sich eine allgemeine Rückkehr zu apoka­

lyptischen T hemen beobachten, die durch eine bestimmte mar­

xistische Tradition oder durch ganz andere Bezugnahmen ange­

regt sind: von der Idee, dass die Geschichte sich nur noch im

Reich des ontologischen >>Simulakrums<< oder des >>Virtuellen<<

abspielt, bis zur Idee, dass die in >>Biopolitik<< verwandelte Politik

eine Selbstzerstörerische Dimension angenommen hat, die aus

dem >>nackten Leben<< den Horizont jeglicher Unterwerfung un­

ter die Macht destilliert.71 Doch die Frage der gegenwärtigen Prozesse der >>Entdemokra­

tisierung<< ruft noch andere Diskussionspunkte auf den Plan, die mir aus der Perspektive einer Auflösung des Sozial-National­staats, die ich hier eingenommen habe, von größter Bedeutung

71 So die jeweiligen Thematiken von Baudrillard und Agamben. In gewis­sem Sinne stellen Negri und Hardt (Empire, dann Multitude) den interessan­testen Versuch dar, diese apokalyptischen Thesen ins Positive zu wenden: im Ausgang von einer Interpretation des >>Virtuellen« als Immaterialität der Ar­beit, aber um den Preis einer unbegrenzten Ausweitung der Kategorie der >>Biopolitik«. Darauf wäre mit mehr Sorgfalt zurückzukommen.

ss

zu sein scheinen, egal ob man meint, dass es sich um eine Ursa­che oder um ein Moment der schleichenden Krise handelt, von der andere Kräfte profitieren. Wie mir scheint, lässt sich nicht be­

streiten, dass ein inneres Band besteht zwischen diesem umge­

kehrten Verlauf des demokratischen Anspruchs und der Intensi­vierung der Kontrollverfahren der Existenz, der geographischen Mobilität, der Meinungen, der sozialen Verhaltensweisen, bei denen immer höher entwickelte Technologien auf territorialer oder nachrichtlicher, nationaler oder transnationaler Basis zum Einsatz kommen. Deleuze konnte diesbezüglich vom Entstehen einer >>Kontrollgesellschaft<< sprechen.72 Denken wir an die ins­besondere von Agamben angeprangerten Techniken der >>Mar­kierung<< und >>Registrierung<<.73 Sie sind dabei, sich zu einer Art allgemeiner Erfassung der Internetnutzer >>in Echtzeit<< auszu­weiten. Aber denken wir vor allem an die bei der Beobachtung von Kindern unter dem Gesichtspunkt ihrer zukünftigen >>Ge­fährlichkeit<< augewandten Methoden der verhaltensmäßigen und psychologischen Eingruppierung, die man in Frankreich für den allgemeinen Einsatz an schulischen Einrichtungen vorge­schlagen hat (nicht ohne eine Kontroverse auszulösen), oder an die neuen Formen der psychiatrischen Diagnostik, bei denen die Klinik das Nachsehen hat?4 Denn im Hinblick auf den Schaden, den das >>Eigentum seiner selbst<< nimmt, das (und sei es ideali­ter) die Grundlage der Subjektivität des klassischen »Bürgers<< bildet, sind sie noch viel destruktiver. Und vergessen wir vor al-

72 Gilles Deleuze, >>La societe de contröle«, in: ders., Pourparlers, Paris, Mi­nuit, 1990 [dt.: >>Kontrolle und Werden<< und >>Postskriptum über die Kon­trollgesellschaften«, in: ders., Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1993, S. 243-253 bzw. S. 254-262]. 73 Giorgio Agamben, >>Non au tatouage biopolitique«, in: Le Monde, 11. Ja­nuar 2004. V gl. auch Didier Bigo, >>Gerer les transhumances. La surveillance a distance dans le champ transnational de la securite«, in: Marie-Christine Granjon (Hrsg.), Penser avec Michel Foucault, Paris, Karthala I CERI, 2005; Michael Foessel und Antoine Garapon, >>Biometrie. Les nouvelles formes de l'identite«, in: Esprit, Juli-August 2006. 7 4 Siehe die Gesamtdokumentation auf der Seite: (http:/ I sauvons-la -clini que.org/).

5 9

Page 31: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

lern nicht, dass es ein positives Gegenstück zur Entwicklung die­

ser Kontrollverfahren gibt, das in gewissem Sinne nicht weniger

unvereinbar mit der politischen Form der Staatsbürgerschaft ist:

die Entwicklung einer neuen Ethik der Selbstsorge, in der es da­

rauf ankommt, dass die Individuen ihr eigenes Verhalten morali­

sieren, indem sie sich selbst dem Kriterium des maximalen Nut­

zens oder Produktivwerdens ihrer Individualität unterwerfen?5

Die Anerkennung der dunklen Seite dieser Ethik stimmt nämlich

mit dem überein, was insbesondere Robert Castel als negativen

Individualismus beschrieben hat, den er mit der Demontage und

dem Zusammenbruch der Institutionen der »Sozialversiche­

rung<< und der Solidaritäts- oder Sozialisationsformen in Verbin­

dung bringt, die über mehrere Generationen die Zugehörigkeit

der Individuen zu einer »Gemeinschaft der Bürger<< ermöglicht

haben (die, wie wir gesehen haben, praktisch mit einer nationa­

len Gemeinschaft zusammenfällt, in der sowohl die Interessen­

konflikte, insbesondere die institutionalisierten Klassenkonflikte,

ihren Platz haben als auch die durch formal egalitäre öffentliche

Dienste sichergestellten Prozesse der Sozialisation, Bildung, me­

dizinischen Überwachung). Das nichtzugehörige, »abgekoppel­

te<< (bzw. nichteingegliederte) Individuum - zum Beispiel ein jun­

ger Proletarier ohne Arbeitsplatz und ohne Aussicht auf einen

festen Arbeitsplatz, ob nun mit Migrationshintergrund oder

nicht - ist ein Subjekt, an das ständig widersprüchliche Direkti­

ven gerichtet werden: Es soll sich gemäß dem neuen Code der

neoliberalen Werte wie ein »Unternehmer seiner selbst<< verhal­

ten und so eine Autonomie an den Tag legen, deren (notwendi­

gerweise kollektive, soziale) Bedingungen der Möglichkeit ihm

7 5 Mir scheint, man beachtet nicht immer genug, dass Foucault in seinen letzten Jahren das Thema der >>Selbstsorge<< ironisch entwickelt hat - sowohl als letzte Geste des Bruchs mit der Heidegger-Schule als auch mit kritischem Blick auf das damalige sprunghafte Anwachsen der ,, Technologien des Selbst<<. Ohne diesen Kontrapunkt läuft man Gefahr, sein Werk in die Hände der postpolitischen, neoliberalen Ethik zu spielen. Dies ist zumindest Gegen­stand einer Schlacht zwischen verschiedenen Erben, die sich auf ihn berufen.

6o

doch allesamt entzogen oder unzugänglich sind?6 Daher die Ver­

zweiflung, aber gelegentlich auch eine extreme Gewalt, die sich

ebenso gegen den Betroffenen selbst wie gegen andere richtet: die

Gewalt der Entwertung selbst?7 Daher auch die Suche nach Er­

satzgemeinschaften, die sich häufig auf eine imaginäre kollektive Allmacht gründen (oder auf >>Autoimmunität<<, wie Derrida oder

Roberto Esposito sagen würden). Solche Gemeinschaften sind genauso negativ und unmöglich wie die >>Unmöglichen Individu­

en« oder »negativen Individuen<<, die die Demontage der sozia­len Staatsbürgerschaft hervorgebracht hat, oder wie es die staatli­chen Gemeinschaften tendenziell geworden sind.78 Im Idealfall können sie sich auf lokaler Basis bilden, in Form von mikroterri­torialen oder ethnokulturellen »Banden<<.79 Oder aber sie können sich über Kommunikationsnetze, die sowohl sie kontrollieren als auch von ihnen benutzt werden, über die ganze Welt erstrecken; so »globalisieren<< sie das (postkoloniale) Imaginäre in Bezug auf Rasse oder Religion.

76 Suzanne de Brunhoff (L'Heure du marche, a. a. 0.) erinnert daran, dass man Hayek die Neuformulierung des Prinzips des homo oeconomicus in der folgenden Form verdankt: Jedes Individuum muss sich verhalten wie eine kleine Bank. Wendy Brown übernimmt von Lemke die Idee einer neolibera­len Rationalität, die die Individuen ermutigt, >>ihrem Leben eine bestimmte Unternehmerische Form zu geben<< (>>Neo-Liberalism and the End of Democracy<<, a. a. 0.). 77 Siehe meine Studie >> Uprising in the Banlieues<<, in: La Proposition de l'Ega­liberte, a. a. 0., S. 281-315 . 78 Ich wäre von daher geneigt, den Komplex der >>Ohnmacht des Allmächti­gen<<, den ich im Mechanismus von Angebot und Nachfrage von fremden­feindlicher Gewalt auf Seiten des Staates und des Verhältnisses zum Staat he­rauslesen zu können geglaubt habe (vgl. >>De la preference nationale a l'invention de la politique<<, in: Droit de cite. Culture et politique en democra­tie, 2. Aufl., Paris, PUF, coll. >>Quadrige<<, 2002), auf die Gesamtheit der Er­scheinungen des >>Kommunitarismus<< auszuweiten. 79 Siehe die sich teilweise widersprechenden (beide auf einem französisch­amerikanischen Vergleich beruhenden) Analysen von Sophie Body Gendrot, Les Villes - La fin de Ia violence ?, Paris, Presses de Seiences Po, 2001, und Loic Wacquant, Parias urbains. Ghetto, Banlieues, Etat, Paris, La Decouverte, 2006 [dt.: Das Janusgesicht des Ghettos und andere Essays, Berlin, Birkhäuser, 2006].

6 1

Page 32: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

Auf diese Weise taucht auch die mittlerweile unumgängiiche Frage nach den Formen und der Funktion auf, die der »Populis­mus« im gegenwärtigen politischen Raum annimmt. Ich denke, dass Ernesto Laclau mit seiner Forderung recht hat, den »Popu­lismus« im Allgemeinen weder zu stigmatisieren noch mit dem Faschismus zu amalgamieren: Nicht nur weil sonst typisch »pro­jektiv« die Partizipation der Massen an der Politik allgemein Ge­genstand eines wirklichen Verbots wird (wir befinden uns mitten in der antidemokratischen »Massenangst«), sondern auch weil es, so schwer das Eingeständnis auch fällt, in gewissem Sinne in der Politik ohne »Populismus« ebenso wenig »Völker« [peuples] gibt, wie es »Nationen<< ohne »Nationalismus« oder »Gemein­schaft« [commun] ohne »Kommunismus« geben kann. Und jedes Mal verursacht die Ambivalenz, die diese Namen des kollektiven Handeins - oder diese Metonymien des ideologischen »Wir« -bergen, die Probleme.80 Trotz ihrer Mehrdeutigkeit oder viel­leicht wegen ihr erscheinen bestimmte Formen des Populismus wie die Bedingung einer Ausweitung des politischen Diskurses über die partikularen Forderungen verschiedener sozialer Grup­pen oder verschiedener Emanzipationsbewegungen hinaus (oder sie einbeziehend), die eine heterogene Vielzahl von Herrschafts­formen in Frage stellen. Das ist Ladaus These, aus der er mit Hil­fe einer Neuformulierung dessen, was Gramsei »Hegemonie« ge­nannt hat, den Begriff der demokratischen Politik selbst macht. Wenn er an diesem Punkt recht hat, müssten wir einräumen, dass das Gespenst des Populismus die Dialektik von Aufstand

So V gl. meine Auseinandersetzung mit Ladaus Versuch La Raison populiste [eng!.: On Populist Reason, London, Verso, 2005] in >>Populisme et politique. Le retour du contrat«, in: La Proposition de l'Egaliberte, a. a. 0., S. 229-238; zu den im Extremfall mörderischen Implikationen der Äußerung des politi­schen »Wir<< (dessen Modell das »We, the people . . . « ist) vgl. J.-F. Lyotard, Le differend, Paris, Minuit, 1984 [dt.: Der Widerstreit, München, Fink, 1987], und Michael Mann, The Dark Side of Democracy. Explaining Ethnic Cleans­ing, New York, Cambridge University Press, 2005 [ dt.: Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung, Hamburg, Hamburger Edition, 2007] - ein Buch über die ethnische Säuberung in der Geschichte, Kapitel 3 handelt von »Zwei Versionen von >Wir, das Volk«<.

und Verfassung, von der ich zu Beginn gesprochen habe, immer schon heimgesucht hat - im Guten wie im Schlechten. Das ist sehr gut möglich. 81 Doch ich stelle mir auch die umgekehrte Fra­ge, auf die ich unabhängig von der Berücksichtigung der jeweili­gen Umstände keine vorgefertigte oder zumindest keine univer­sell gültige Antwort habe: Unter welchen Bedingungen wird (und bleibt) eine >>populistische« Identifikation mit der fehlenden Ge­meinschaft oder mit der imaginären Gemeinschaft ein Rahmen, der für demokratische Ziele mobilisieren kann? Was unterschei­det die und sei es nur utopische Gleichheit (oder Gleichfreiheit) von einer Logik der Äquivalenz zwischen den Diskursen und den Bildern, derer sich verschiedene Gruppen bedienen, um sich mit demselben >>Machtblock<< zu identifizieren? Wann muss man im Gegenteil sagen, dass der Populismus als >>Gemeinschaftsfiktion« nur die Fläche ist, auf die sich die imaginäre Entschädigung oder Vergeltung für die Verarmung oder die Desozialisierung, die Hervorbringung von >>negativen Individuen«, die Stigmati­sierung und die Exklusion von Trägern der >>Andersheit« oder »Fremdheit« projizieren lässt? Doch sind die zwei Seiten dieser Alternative je wirklich so getrennt, dass das politische Kollektiv nur noch die Fähigkeit erlangen müsste, sie praktisch zu unter­scheiden, indem es mittels eines bestimmten Imaginären sowohl eine Mobilisierungsfähigkeit als auch eine Zivilisierungsfähigkeit entwickelt ?82

Es steht, wie mir scheint, nicht wirklich zur Debatte, eine sol-

81 Und das ist bei genauem Nachdenken vielleicht auch einer der Gründe, warum Raueiere gegenüber bestimmten Verwendungen oder Schlussfolge­rungen aus der Formulierung der »Forderung des Anteils für die Anteilslo­sen<<, mit der er Demokratie definiert, misstrauisch ist. Für eine Interpretati­on von Paine als »Populist« vgl. Christopher Lasch, Le Seul et Vrai Paradis. Une histoire de l'ideologie du progres et de ses critiques, Paris, Flammarion, »Champs«, 2006, S. 21of. [eng!.: The True and Only Heaven. Progress and Its Critics, New York, W W. Norton & Company, 1991, S. 177f. ] . 82 Über dieses für die Politik als Revolution in der Revolution (wie Regis Debray in einem anderen Zusammenhang gesagt hat) konstitutive »Diffe­rential« habe ich genauer nachzudenken versucht in Violence et civilite, a. a. O.

Page 33: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

ehe Diskussion über die gewaltsamen Spannungen und ambiva­

lenten Auswirkungen des Zusammentreffens von Zugehörigkeit

und Nichtzugehörigkeit bzw. Abkoppelung, Eingliederung in

eine (besonders nationale) Gemeinschaft und innerer Exklusion,

negativem und positivem Individualismus von der Diskussion

über die Krise der Repräsentation in den gegenwärtigen politi­

schen Systemen abzutrennen. Darin liegt offenbar ein weiterer

Aspekt der Transformationen des Politischen, die man dem

»Neoliberalismus« zuschreiben kann. Tausende von Seiten sind

über das in Umlauf gebracht worden, was mittlerweile vielleicht

zum bevorzugten Gemeinplatz der gegenwärtigen Politikwissen­

schaft gehört. 83 Im Hinblick auf eine Kritik der Politik im Zeitalter

des »Endes der Politik« kann man nicht alles davon vernachlässi­

gen, im Gegenteil. Denn es wäre bei weitem zu voreilig - und re­

duktionistisch -, wie in einer bestimmten marxistischen (oder

rousseauistischen) Vulgata, die Frage der Repräsentation im All­

gemeinen mit der Frage des Parlamentarismus zu vermengen, die

nur einen Aspekt und eine mögliche historische Form der erste­

ren darstellt. Die liberale Politikwissenschaft hat die parlamenta­

rische Repräsentation in ihrer Eigenschaft als Garantirr plura­

listischer politischer Systeme, die von den linken und rechten

»Totalitarismen« im Namen der organischen Einheit ihrer jewei­

ligen »Völker« (bzw. dessen, was sie als »Volk des Volkes« ansa­

hen: der Rasse, der Klasse) abgeschafft worden war, als Prüfstein

für die Demokratie präsentiert.84 Und als solche ist sie vom Korn-

83 Hervorzuheben sind die interessanten, in Italien um Giuseppe Duso, La rappresentanza politica. Genesi e crisi del concetto, Rom, Franeo Angeli edito­re, 2., akt. u. erw. Aufl. 2003, unternommenen philosophischen und histori­schen Arbeiten. 84 Das Interesse der Arbeit von Pierre Rosanvallon besteht darin, dass er die Voraussetzungen und Anwendungsgrenzen dieses Postulats insbesondere für den französischen Fall systematisch untersucht, ohne es in Frage zu stel­len. Das führt ihn schließlich zu dem Versuch, alle Formen der auf der direk­ten Partizipation der Bürger an der Verwaltung oder an der Entscheidungs­findung gründenden >>Gegen-Demokratie« als jeweilige Korrektur- oder Kompensationsmechanismen für das >>Misstrauen« (bzw. den Legitimations­verlust, den die Demokratie erleidet) in die ihrem Wesen nach >mnvollende-

munismus bzw. Anarchismus kritisiert worden, weil sie einen Mechanismus darstellt, der die Bürger ihrer direkten politischen Fähigkeit (ihrer allgemeinen Kompetenz, ihres Rederechts, ihrer Entscheidungsfahigkeit) enteignet. Doch die Krise des Parla­mentarismus ist nichts Neues, und einige ihrer Symptome (ins­besondere die Korruption der »Volksvertreter«, die zwischen ih­ren Mandaten, den wirtschaftlichen Interessengruppen, den Verwaltungen und den Trägern der Staatsmacht eine Zwischen­stellung einnehmen, und die antiparlamentarischen, gerrau ge­nommen »populistisch<< zu nennenden Reaktionen darauf) sind so alt wie er selbst.85 Im Hinblick auf eine Reflexion über die An­tinomien der Staatsbürgerschaft bei weitem interessanter wäre es, über die Krise der Repräsentation als solche zu diskutieren, jen­seits des parlamentarischen Mechanismus, als Fähigkeit, auf je­der institutionellen Ebene, auf der sich eine öffentliche Funktion (das, was früher eine »Magistratur<< hieß oder ein »Amt«) als er­forderlich erweist, Macht an Repräsentanten zu delegieren, und die Ergebnisse dieser Delegierung zu kontrollieren. Denn das ist Teil der »freien und gleichen<< bürgerlichen Grundrechte. Mit an­deren Worten muss man aus demokratischer Perspektive, von unten, auf die grundlegende Frage zurückkommen, die Hobbes zu Beginn der modernen politischen Philosophie von oben, vom

te« parlamentarische Demokratie aufzunehmen (La Contre-Democratie. La politique a l'age de Ia defiance, Paris, Seuil, 2oo6). Genau umgekehrt geht Yves Smtomer vor (Le Pouvoir au peuple, Paris, La Decouverte, 2007), der ausgehend von Beispielen aus dem >>Süden<< wie aus dem >>Norden<< (die Ber­liner >>Bürgerkomitees<<, die >>partizipativen Bürgerhaushalte<< von Porto Ale­gre) versucht, die konkreten Wege zu erkunden, die eine Renaissance der Konfliktdemokratie einschlagen könnte; Repräsentativität ist davon nur ein wenn auch unverzichtbarer Pol. 85 Wenn man über die jüngsten Entwicklungen in der Kontroverse um die Veruntreuung von Subventionen durch britische Abgeordnete liest, denkt man an die »Rotten Boroughs« [ >>Verfaulte Bezirke<<] in der englischen Parla­mentsgeschichte . . . Oder an die Panama-Affäre, wenn man entdeckt, dass die politischen Parteien in Frankreich über >> Retro-Kommissionen<<, also den Rückfluss von Geldern aus dem illegalen Waffenhandel oder der Erdölaus­beutung in Afrika oder Südostasien finanziert worden sind . . .

6s

Page 34: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

Standpunkt einer vollständigen Gleichsetzung von »Öffentlich­

keit« (des commonwealth) und »souveräner Macht« aus, gestellt

hat: die Frage nach einem kollektiven Verfahren zum Erwerb von

Macht in Form ihrer Transferierung oder Übertragung.86 Dabei

stößt man wieder auf die Dialektik von »konstituierender Ge­

walt« und »konstituierter Gewalt«, von Aufstand und Verfas­

sung, diesmal jenseits des Staates bzw. eher unter Abzug seines

politischen Monopols denn in seiner Position als »Grundlage«. A

priori können wir keine Schranke oder innere Grenze für diese

Dialektik festlegen. Nicht zu vergessen, dass in der republikani­

schen Tradition (die nichts eigentlich Französisches ist . . . ) ein

Lehrer oder Richter, egal, ob er Staatsbeamter ist oder nicht, eben­

so wie ein Abgeordneter unter der Voraussetzung ein »Volksver­

treter<< ist, dass die Modalitäten seiner Auswahl und die Auswir­

kungen seines Handeins Gegenstand demokratischer Kontrolle

sein können (was zugegebenermaßen auf sehr ungleiche Weise

geschieht . . . ). Die mit dem allgemeinen Terminus der >>Entde­

mokratisierung« bezeichnete Krise der politischen Institution

beruht nicht nur auf der Entwertung dieser oder jener Form der

Repräsentation, sie beruht auf der Disqualifizierung des Prinzips

der Repräsentation selbst. Denn einerseits geht man davon aus,

dass Letztere aufgrund des Aufkommens von >>Governance«­

Formen, die es erlauben, Sozialprogramme und Verfahren zur

Verringerung von sozialen Konflikten nach Maßgabe ihrer Nütz­

lichkeit zu berechnen und zu optimieren, unnütz und >>irratio­

nal« geworden ist; und andererseits verkündet man häufiger

denn je, dass die Repräsentation eine gefährliche und unprakti­

kable politische Form ist, wenn sich die Verantwortung des >>Bür­

ger-Subjekts« vor allem über die Normalität und die Abweichung

86 An dieser Stelle wäre es angebracht, rund um das entscheidende Problem der Übertragung und der Vergrößerung der Macht der Menge [multitude] detailliert zu untersuchen, worin Hobbes' und Spinozas Erbe sich nahe- und worin sie sich entgegenstehen; ich werde versuchen, später darauf zurückzu­kommen. Es wäre viel zu gewinnen, wenn man das nicht rein spekulativ, son­dern historisch im Zusammenhang mit den revolutionären Bewegungen dis­kutieren würde, zu denen besonders die Levellers gehörten.

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von der sozialen Norm definiert, die es unter Kontrolle zu halten gilt, und sich nicht in seiner >>Stimme« ausdrückt oder ausdrü­cken lässt (was bedeutet, dass der >>Hass der Repräsentation« auch eine Form des »Hasses der Demokratie« ist).87

An diesem Punkt stellt sich natürlich die Frage nach Alternati­ven. Und zwangsläufig die nach >>Hoffnungen«. Diese beruhen vollständig auf der Existenz von Formen des Widerstands, der Solidarität, des kollektiven Erfindungsreichtums und der indivi­duellen Revolte, die die Ausweitung der neoliberalen Gover­nance-Methoden tendenziell selbst hervorbringen. Zusammen genommen zeichnen sich in ihnen und werden sich in ihnen - in aller Heterogenität - die Umrisse einer neuen >>aufständischen« Politik abzeichnen; sie werden es also erlauben, sich für die Ver­fassung der Staatsbürgerschaft neue Modalitäten vorzustellen, die auf noch nicht da gewesene Weise Spontaneität und Instituti­on, Partizipation und Repräsentation miteinander kombinie­ren.88 Vor allem werden sie berücksichtigen müssen, dass mit der Krise der sozialen Staatsbürgerschaft, auf die die weitere Ausbrei­tung der >>Kontrollgesellschaft« und allgemeiner die von Phäno-

8 7 Die neoliberale Governance interessiert sich nicht für eine » Verringe­rung des Konflikts« als solche, im Gegenteil: Sie neigt dazu, ihn in die >>geop­ferten«, weil (im Moment) >>nicht verwertbaren« Zonen zu verbannen, in de­nen der >>Menschenmüll<< einquartiert ist (Bertrand Ogilvie, >>Violence et representation. La production de l'homme jetable«, in: Lignes, Nr. 26, Okto­ber 1995) . 88 Ich verwende absichtlich Formulierungen, in denen die Arbeit von James Halston über die Entwicklung der Strukturen der illegalen Selbstorganisati­on in den brasilianischen Favelas und ihre allmähliche Institutionalisierung anklingt (Insurgent Citizenship. DisjunGtions of Democracy and Modernity in Brazil, Princeton (N. J.), Princeton University Press, 2008). Unabhängig da­von (aber nicht unbedingt zufallig) ist der Ausdruck >>rebellierende Demo­kratie<< auch von Miguel Abensour ins Zentrum der Überlegungen gestellt worden, die er in seiner Lesart der Thesen von Marx über die >>wahre Demo­kratie<< als Alternative zur >>Form Staat<< entwickelt hat (vgl. La Democratie contre l'Etat, Paris, Editions du Fdin, 2004 [ dt.: Demokratie gegen den Staat, Berlin, Suhrkamp, 2012]) . Ich unterscheide mich darin von Abensour, dass ich denke, dass die Institution - Ort des Konflikts - sich weder auf An-archie noch auf Etatismus reduzieren lässt.

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menen der Entdemokratisierung im Rahmen der neoliberalen Rationalitäts- und Gouvernementalitätsformen folgte, die imagi­näre Linearität der » Fortschritte« der Staatsbürgerschaft (bzw. ih­rer Demokratisierung) gesprengt wurde: Die Anzweiflung der bestehenden sozialen Rechte hat de Jacto nicht nur den Inhalt und den Wert der im Laufe der Moderne errungenen »politi­schen Rechte« eingeschränkt, sondern auch die Errungenschaft der >>bürgerlichen Rechte« oder >>Personenrechte<<, die unwider­ruflich zu sein schienen, radikal in Frage gestellt. Die Antinomi­en der Staatsbürgerschaft und zwangsläufig die Forderung nach einer demokratischen Alternative verschärfen sich in allen Di­mensionen auf einmal - ohne hierarchische Ordnung oder stra­tegischen Vorrang.

Doch es gibt mindestens zwei Figuren oder, wenn man so will, zwei symbolische Subjektivierungsmodi, die der Idee einer >>auf­ständischen« oder >>aufrührerischen« Staatsbürgerschaft entspre­chen können. Sie sind heterogen, wie man feststellen muss. Die eine ist die des vom Standpunkt der >>herrschenden Norm« aus abweichenden Subjekts: Es handelt sich um die Figur einer Sub­jektivität, die den von der >>Rationalität« der neoliberalen Ord­nung auferlegten Moralisierungs- und Normalisierungsverfah­ren widersteht, die, wie wir gesehen haben, ebenso zwanghaft sind wie die des Sozial-Nationalstaats, obwohl sie von den Kon­trollmethoden und -disziplinen abrücken, die Letzterer ausgear­beitet hatte. Was ist also ein abweichendes, rebellisches >>Bürger­Subjekt« (oder wiederum in der Terminologie von Deleuze, ein >>minoritäres« Subjekt)?89 Ein Subjekt, das mit anderen weniger Utopien als vielmehr das, was Foucault Heterotopien genannt hat, erfindet und konfiguriert: Orte der Autonomie, die zugleich vor den nihilistischen Formen von negativem Individualismus und

89 Ein im Wesentlichen von Deleuze (mit Guattari) in Mille Plateaux (Capi­talisme et Schizophrenie II, Paris, Minuit, 1980 [dt.: Tausend Plateaus. Kapita­lismus und Schizophrenie II, Berlin, Merve, 1992, 3· Aufl. 2010]) entwickelter Begriff. Mein Kommentar dazu findet sich in dem Buch Violence et civilite, a. a. O.

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selbstzerstörerischer Gewalt aktiv schützen. Von dieser Figur un­terscheidet sich - sowohl in Bezug auf ihre objektiven, sozialen Bedingungen als auch in Bezug auf ihre subjektiven Absichten -die des »majoritären« Subjekts des kollektiven Handelns, das heißt in unserer politischen Tradition des Aktivisten (bzw. der Aktivistin), der sich in den Dienst der demokratischen Sache stellt und sich einer >>Bewegung« oder >>Kampagne« anschließt. Auch wenn solche Angelegenheiten meistens ebenfalls eine moralische Dimension aufweisen: wie die Verteidigung der Um­welt oder die Solidarität mit den Migranten >>ohne Papiere< <, die die militarisierte, sicherheitsfixierte kapitalistische Gesellschaft, nachdem sie sie genötigt hat, ihr Heimatland zu verlassen, und sie in >>die Illegalität« gestoßen hat, zu verbannen und wie ein entmenschlichtes Wild zu jagen sich anschickt.90 Und natürlich die scheinbar traditionelleren Angelegenheiten wie die Verteidi­gung der Rechte der Arbeit oder der Kultur oder die >>Bürger«­oder >>zivilen« Bewegungen für die Gleichberechtigung der Frau­en, in denen sich verschiedene >>Generationen« von Rechten be­sonders anschaulich verdichten.

Ich möchte in keiner Weise behaupten, dass man diese beiden Figuren (die man minoritär und majoritär nennen könnte) in der Praxis radikal voneinander trennen oder unabhängig vonein­ander konkretisieren kann. Schon die klassische Vorstellung der revolutionären Praxis hat die beiden in der Verbindung von >>Revolte« und >>Transformation« idealtypisch miteinander ver­schmolzen. Doch symbolisch gesprochen entsprechen sie sicher­lich unterschiedlichen Handlungsformen, und manchmal wer­den sie von verschiedenen sozialen Praktiken getragen, die in den Erfahrungen und Existenzbedingungen von verschiedenen >>Gruppen« wurzeln, die verschiedenen Bereichen der Gesell-

90 Alessandro Da! Lago und Sandro Mezzadra, »I Confini impensati dell'Europa« (in: Heidrun Friese I Antonio Negri I Peter Wagner (Hrsg.), Eu­ropa politica. Ragioni di una necessita, Rom, Manifestolibri, 2002, S. 143-15 7). Marie-Claire Caloz-Tschopp, Les Etrangers aux frontieres de l'Europe et le spectre des camps, Paris, La Dispute, 2004.

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schaft angehören oder aus verschiedenen Teilen der Welt kom­men und nicht dieselbe politische Sprache oder überhaupt nicht dieselbe Sprache sprechen. Deshalb reicht die einfache Kategorie des »Subjekts« (selbst wenn man sie dynamisch als »Subjektivie­rungs<<-Prozess versteht, der sich unendlich fortsetzt) nicht aus, um die Verfassung der Politik gedanklich zu durchdringen, und deshalb benötigen wir mehrere operative Begriffe (meines Erach­tens mindestens drei: die Träger, die Subjekte und die Handeln­den). Deshalb müssen wir auch an der Erfindung der Demokratie arbeiten, indem wir über provisorische Einheiten nachdenken, die die Träger bilden können, wenn sie durch bestimmte Subjektivi­tätsformen zu Handelnden werden; das werden sie nämlich nicht nach Maßgabe einer prästabilierten Harmonie zwischen »an sich<< bestehenden sozialen Bedingungen, die dank bestimmter Be­wusstseins- oder politischer Organisationsformen vom Stand­punkt des historischen Fortschritts aus auch >>für sich<< bestehen könnten. Die Handlungseinheiten und Bündnisse sind weiterhin durch die Aufdeckung gerechtfertigt, dass die verschiedenartigen Formen der Ungleichheit oder des Ausschlusses Teil desselben >>Systems<< sind, und können dadurch zu ein und demselben Pro­zess der Demokratisierung der Staatsbürgerschaft (oder, wie heu­te einige sagen, der >>Demokratisierung der Demokratie<<) beitra­gen.91 Aber sie haben keine natürliche Grundlage, ob man sich

91 Der Ausdruck >>Demokratisierung der Demokratie<< ist extrem plastisch, dessen bin ich mir bewusst. Eine seiner verbreitetsten Verwendungen heute rührt von den >>Manifesten« des »Dritten Weges« her, den Tony Blair und Bill Clinton Ende der 1990er Jahre gegen den traditionellen Sozialismus ins Feld geführt haben: V gl. Anthony Giddens, Beyond Left and Right. The Future of Radical Politics, Cambridge, Polity Press, 1994 [dt.: Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1997]; The Third Way. The Renewal of Social Democracy, Cambridge, Polity Press, 1998 [dt.: Der Dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, Frank­furt/M., Suhrkamp, 1999] . Und als jüngere Klärung: Ulrich Beck, >>Democra­tization ofDemocracy - Third Way Policy Needs to Redefine Work«, in: The European Legacy, International Society for the Study of European Ideas, Bd. 5, Nr. 2, 2000. Andere, weniger bekannte Autoren haben ihn schon frü­her in einem radikal anderen Sinn verwendet (Renee Balibar, I:institution du

diese nun ontologisch denkt oder als moralische Bestimmung. Die Sphäre des politischen Handeins ist nicht gegeben oder prä­figuriert, sie >>fehlt« wie der oben erwähnten Deleuzeschen For­mulierung zufolge das Volk selbst. Sie bedient sich historisch entstandener Kommunikationsstrukturen und des Rechts auf Meinungsfreiheit, zu dessen Durchsetzung sie selbst beiträgt, um einen hybriden politisch Handelnden zu erzeugen, der sich an einem bestimmten Ort befindet, an dem die Konflikte der Welt auf singuläre Weise, nach transnationalem (und in diesem Sinne immer schon >>kosmopolitischem«) Maßstab aber potenziell wirksam aufeinandertreffen. Er verkörpert keinen empirisch­transzendentalen Typus (den Arbeiter, den Proletarier, den Ko­lonisierten oder den Postkolonisierten, die Frau, den Noma­den . . . ), sondern vereint Unterschiede, bildet sich selbst, indem er sichtbare und unsichtbare Grenzen überschreitet. Seine subjekti­ve Aufgabe und sein permanentes Problem bestehen darin, so­wohl seine eigenen Gespaltenheiten und Interessengegensätze zu überwinden als auch seine Gegner in die Flucht zu schlagen. Aber lassen sich diese beiden Aporien wirklich voneinander un­terscheiden? Ich glaube nicht.

fran�ais, Paris, PUF, 1985, S. 421). Ich für meinen Teil würde versuchen, die Vorschläge von Boaventura de Sousa Santos (Democratizing Democracy, a. a. 0., S. xxxv-lxxiv) weiterzuverfolgen, der einer >>Demokratie von geringer Intensität<<, deren Gehalt durch ihre Anpassung an die Logik der Monopoli­sierung von Macht immer geringer wird, eine >>Demokratie von hoher Inten­sität« gegenüberstellt, die er allgemein definiert als >>den Gesamtprozess, durch den ungleiche Machtverhältnisse durch Verhältnisse geteilter Autori­tät ersetzt werden«, wobei er deren aktuelle Bahnen im Ausgang von der Analyse >>der doppelten Krise der Repräsentation und der Partizipation<< zu präzisieren versucht ( [Übers. C. P. ] vgl. auch seinen auf (http:/ /www.mouve ments.info) ins Französische übersetzten Aufsatz >>Pourquoi Cuba est deve­nu un problerne difficile pour la gauche?«, 2009).

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1 . Die Proposition der Gleichfreiheit1

Ich möchte einige Formulierungen anbieten, mit deren Hilfe wir uns in den Voraussetzungen einer für die achtziger Jahre typi­schen Diskussion besser zurechtfinden werden.2 Diese Diskus­sion, von Spezialisten geführt und zugleich auf die Öffentlichkeit zielend, war dadurch gekennzeichnet, dass sie das Thema der Be­ziehungen zwischen dem Politischen und dem Sozialen tenden­ziell durch das Thema der Beziehungen zwischen dem Ethischen und dem Politischen ersetzte, und tiefgreifender vielleicht da­durch, dass sie dieses zweite T hema dem ersten wieder einbe­schrieb. Dabei löste auf der »Rechten« wie auf der »Linken« die Frage nach der Citoyennete, der Staatsbürgerschaft, die nach der Revolution ab. Sofern es nicht, grundlegender noch, um eine Neuformulierung des Problems der Revolution in Begriffen der

1 [Eine frühere Fassung dieses Aufsatzes wurde von Achim Russer für die Online-Zeitschrift Trivium ins Deutsche übersetzt (Trivium 3, 2009, vom 24. April 2009, (http:/ /trivium.revues.org I 3337) ) . Wir danken der Zeitschrift Trivium und Achim Russer für die Erlaubnis, die Übersetzung verwenden zu dürfen, die hier entsprechend der Buchfassung modifiziert und terminolo­gisch angepasst wurde.] 2 Der folgende Text stellt eine überarbeitete und erweiterte Fassung des Vor­trags dar, den ich am 27. November 1989 im Rahmen der >>Conferences du Perroquet« am Petit Odeon hielt und der erstmals in einer diesen Vorlesun­gen gewidmeten Reihe veröffentlicht wurde ( Conferences du Perroquet, Nr. 22, November 1989). Eine zweite Fassung desselben Vortrags erschien unter dem Titel >>Droits de l'homme et droits du citoyen: Ia dialectique mo­derne de I' egalite et de Ia liberte<<, in: Etienne Ba!ibar, Les Frontieres de Ia de­mocratie, Paris, La Decouverte, 1992 [dt. unter dem Titel >>>Menschenrechte< und >Bürgerrechte<. Zur modernen Dialektik von Gleichheit und Freiheit<< gekürzt in: ders., Die Grenzen der Demokratie, Hamburg, Argument, 1993, und in: Christoph Menke I Francesca Raimondi (Hrsg.), Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, Berlin, Suhrkamp, 201 1 ] .

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Staatsbürgerschaft, also des staatsbürgerlichen Pflichtgefühls [ci­

visme] und Bürgersinns [civilite] ging - sei es, indem eine Erneu­erung der Staatsbürgerschaft (über die Anerkennung individuel­ler Rechte hinaus) angestrebt wurde, sei es durch die Idee einer »neuen Staatsbürgerschaft«.

Es ist daher nicht erstaunlich, dass ein zentrales Thema der laufenden Debatten - von den Zweihundertjahrfeiern einmal abgesehen - Natur, Ablauf und historische Tragweite der Fran­zösischen Revolution betrifft, insbesondere ihren »Gründungs­text<< , die Declaration des Droits de l'Homme et du Citoyen [»Er­klärung der Menschen- und Bürgerrechte<<] von 1789 - einen Text, dessen Bedeutung und universelle Geltung heute erneut be­fragt wird. Wenn auch ich dazu beitrage, die Aufmerksamkeit auf diesen Text zu lenken, bin ich mir der doppelten Gefahr - der Rückwärtsgewandtheit gegenüber den Herausforderungen der gegenwärtigen Geschichte und des Euro- oder gar Frankozentris­mus - bewusst, den ein solches Herangehen an das politische Problem mit sich bringt. Aber selbst wenn die Frage der »Men­schenrechte« nur eine Maske oder ein Köder wäre - was ich nicht glaube -, wäre es immerhin der Mühe wert, die Gründe für die Kluft zwischen dem Text von gestern oder vorgestern und einer aktuellen demokratischen Problematik zu ermessen. Und selbst wenn dieser Text nur der fiktiven Universalisierung einer beson­deren Gesellschaft und Kultur entspräche - was ich auch nicht glaube -, wären auch dafür die Gründe zu ermitteln, und zwar mit erneutem Einsatz, anders als die intellektuellen Bewegungen und sozialkämpferischen Strömungen es taten, die unsere Idee von der »Revolution« im 19. und 20. Jahrhundert konfiguriert haben.

Im Folgenden möchte ich vier Aspekte dieser Frage mehr oder weniger eingehend erörtern:

Erstens: Wenn es zutrifft, dass der Text von 1789 (oder viel­mehr seine aufeinanderfolgenden Formulierungen) für uns seit langem die Evidenz verloren hat, auf die er sich berief, wenn fer­ner zutrifft, dass zwischen den noch unlängst unauflöslich mit-

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Page 38: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

einander verbundenen Forderungen nach Freiheit und nach Gleichheit sich vielfach eine Kluft aufgetan hat - wie haben wir dann die Gründe dafür zu erklären ?

Zweitens: Wie ist die Beziehung zwischen dem Text der Diela­ration und der Spezifität des revolutionären Ereignisses zu inter­pretieren ? Ist die kollektive Praxis, die in diesem institutionellen Text ihren Ausdruck und ihre Waffe findet, unter der Katego­rie eines Subjekts (Menschheit, »Zivilgesellschaft«, Volk, soziale Klasse) zu verbuchen oder eher als zeitbedingt, als Konstellation von Kräften? Eine Analyse des Charakters der Revolution von 1789 bis 1795 kann ich hier zwar nicht vorlegen, aber die Ent­scheidung für den zweiten Teil dieser Alternative wird mich ver­anlassen, einige Worte über die Neuartigkeit der Formulierungen der Declaration im Verhältnis zu den klassischen T heorien vom Naturrecht zu verlieren, die gewöhnlich als ihre ideologische »Quelle« gelten.

Drittens: Um zum vermutlich Wesentlichen zu kommen, wer­de ich Aussagemodalität und -intentionalität jener Proposition prüfen, die, wie mir scheint, den Kern der Declaration ausmacht und deren Logik zu verstehen erlaubt: die Proposition, die - zu­nächst in ihrem Umfang und dann in ihrem Verständnis - »Frei­heit« und »Gleichheit« miteinander gleichsetzt. Mich interessiert vor allem die Wahrheit dieser Proposition (die ich Proposition der Gleichfreiheit nenne) und damit der Riss durch das politische Feld, den sie verursacht; aber auch die Gründe ihrer Unbestän­digkeit, die Entwicklungsformen der unaufhörlichen Trennung dessen, was als eine Einheit von Gegensätzen produziert worden war. Daraus folgt die Skizze eines Referenzsystems, einer » To­pik«, mit deren Hilfe die unterschiedlichen Strategien zu klassifi­zieren und zu interpretieren sind - die theoretischen ebenso wie die politischen -, die sich während mindestens zwei Jahrhunder­ten (in Wirklichkeit sind wir nicht darüber hinaus) diesem Di­lemma gestellt haben.

Viertens: Schließlich, wenn auch unvermeidlicherweise allzu oberflächlich, möchte ich folgendes Problem zumindest an-

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reißen: Wenn die revolutionäre Proposition, die Freiheit mit Gleichheit identifiziert, tatsächlich die unumgängliche und in ge­wissem Sinn irreversible Äußerung einer politischen Wahrheit darstellt, wenn weiterhin zutrifft, dass die Einschreibung dieser Wahrheit in die Geschichte selbst, die sie produziert hat, sich un­mittelbar durch ihre Unbeständigkeit und in gewissem Sinn durch ihren Verfall kennzeichnet, wenn schließlich wahr ist, dass ihre Rückkehr in die politische Aktualität zumindest die Forde­rung nach einer Wiedereinschreibung oder einer neuen prakti­schen Einschreibung indiziert, dann stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen diese am Ende des 20. Jahrhunderts denk­bar wäre. Eine solche Frage muss weitgehend offen und wohl auch aporetisch bleiben. Zumindest wird es jedoch möglich sein, die Gründe dafür zu erhellen, indem negativ benannt wird, wel­che Widersprüche der modernen Politik stillschweigend über­gangen, grundlegender noch: in der um die Declaration konstru­ierten Topik verdrängt wurden.

* * *

Erstens also: Wie stellt die Aktualität der revolutionären Aussa­gen sich dar ? Ich sagte es gerade: in der paradoxen Form einer scheinbar unreduzierbaren Kluft zwischen Begriffen oder Wer­ten, die doch als gleichermaßen notwendig empfunden werden. Zwar bezeugt die Interdependenz von Gleichheit und Freiheit sich a contrario in Gestalt der periodischen Wiederkehr von Au­toritätsideologien, die behaupten, dass das Leben in Gesellschaft oder die menschliche Natur eine Hierarchisierung der individu­ellen oder auch kollektiven Ungleichheit und deren Valorisie­rung erforderlich machten. Aber diese Permanenz der zu Anfang des 19. Jahrhunderts durch das konterrevolutionäre Denken in­augurierten »Kritik der Menschenrechte<< bringt auch keinerlei Kohärenz hervor.3 Nicht nur der zeitgenössische Liberalismus

3 Bertrand Binoche, Critiques des droits de l'homme, Paris, PUF, coll. »Philo­sophies«, 1989.

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behauptet, dass »Freiheit« und »Gleichheit« sich außerhalb sehr enger (rechtlicher) Grenzen gegenseitig ausschließen: Diese Über­zeugung wird auch vom Sozialismus oder allgemeiner vom sozia­len Fortschrittsglauben unterschiedlicher »Minoritäten«4 weit­gehend geteilt, und dies zu einem Zeitpunkt, da sich praktisch zeigt, dass die Forderungen nach Freiheit und Gleichheit einan­der gegenseitig bedingen - dies machen die Kämpfe um die De­

mokratie in den ehemaligen »sozialistischen Ländern« ebenso deutlich wie die antirassistischen Bewegungen Westeuropas oder die Kämpfe der Schwarzen in Südafrika.

Diesen tiefen Widerspruch nähren mehrere selten in Frage ge­stellte, augenscheinliche Gewissheiten: insbesondere die, der zu­folge die Gleichheit (generell wird präzisiert: die »reale Gleich­heit«) wesentlich in der wirtschaftlichen und sozialen Sphäre -ein von Natur aus elastischer Begriff, der heute tendenziell auch das »Kulturelle« einschließt - zu Hause ist, während die Freiheit vor allem der juristisch-politischen und institutionellen Sphäre angehört. Gleichzeitig aber gilt als gewiss oder pseudo-gewiss, worin Liberalismus und Sozialismus schließlich übereingekom­men sind (selbst wenn sie entgegengesetzte Folgen daraus ablei­ten): dass die Gleichheit durch den Eingriff des Staats zu verwirk­lichen ist, weil sie wesentlich mit Verteilung oder Umverteilung zu tun hat, während der Schutz der Freiheit an die Begrenzung dieses Eingriffs, ja an die permanente Verteidigung gegen seine »unbeabsichtigten Folgen«, gebunden ist.5 Ebendieser omniprä­sente, aber unkritische Bezug auf den als Block konzipierten Staat reproduziert, wie mir scheint, unaufhörlich sowohl den Unterschied zwischen »formalem« und »realem« (oder »substan­ziellem«) Recht als auch die Vorstellung von Gleichheit als aus­schließlich kollektivem Ziel, während die Freiheit (jedenfalls die >>Freiheit der modernen Welt«) wesentlich individuelle Freiheit

4 Im qualitativen Sinn des Wortes, wie Kant es in Bezug auf die »Unmündi­gen<< benutzt, und nahe dem, was Gramsei >>subalterne« Gruppen nennt. 5 Im Rückblick scheinen Marat und Saint-Just damit Benjamin Constant an >>Liberalität« zu überbieten !

sein soll, und das selbst in der Sphäre der öffentlichen Freiheiten (die also wesentlich als öffentliche Garantien privater Freiheiten vorzustellen wären).

Von hier aus ist es nicht weit zum Grundparadox, der Kluft, die sich zwischen dem Diskurs der »Menschenrechte« und dem der »Bürgerrechte« auftut - und dies zu einem Zeitpunkt, da eine Moralisierung oder Neubegründung des politischen Le­bens sich auf die Ethik beruft. Der Diskurs der Menschenrech­te (der sich vor allem als Verteidigung, weit weniger als Erobe­rung dieser Rechte gibt) deckt heute ein breites Spektrum ab, das sich von der Gewissensfreiheit oder individuellen Sicher­heit bis zur Forderung nach dem Recht auf Leben oder dem Recht der Völker auf Selbstbestimmung erstreckt. Er bleibt je­doch grundverschieden vom Diskurs der Bürgerrechte, der sei­nerseits zwischen der Forderung nach einer Erweiterung der politischen Sphäre auf neue Bereiche (zum Beispiel die Ökologie) und der nach einer Aufwertung der klassischen Politik - des Sy­nonyms einer kollektiven Institution zur Beratung und Entschei­dung - gegen das Vordringen des Ökonomismus und Techno­kratismus oszilliert. Es scheint äußerst schwierig und vielleicht immer schwieriger, die für die revolutionären Formulierungen von 1789 typische Gleichsetzung zu vertreten, auf die ich zu­rückkommen werde: die von Mensch und (Staats-)Bürger, die un­ter anderem den Gedanken zur Folge hatte, dass die Emanzipati­on der Unterdrückten nur ihre eigene Sache sein kann. Als wäre »der Mensch<< nichts anderes als das, was übrig bleibt, wenn man vom »Staatsbürger« absieht. Es fehlt nicht viel, und die Gleichsetzung von Mensch und Bürger würde nach allgemeiner Übereinkunft als Weg zum Totalitarismus verschrien, zu dem, was oft auch als Imperialismus des »Alles ist politisch« denun­ziert wird: Aber die Kehrseite dieser Übereinkunft ist, dass die Verkündung der Menschenrechte, so natürlich und universell die Forderung nach ihnen auch sein mag, im Wesentlichen ein Ideal darstellt. Dies ist bei näherem Hinsehen eine exakte Verkehrung des »performativen« Textes von 1789, der ihre unmittelbare so-

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ziale Aktualität deklariert und die Notwendigkeit und Möglich­keit ihrer Inkraftsetzung, ihre Materialisierung in einer »Verfas­sung << postuliert. 6

Man kann und muss sich nach den Gründen für diese Kluft fragen, die flagrant erscheint zu einem Zeitpunkt, da der Bezug auf den juristischen Universalismus erneut aktuell wird. Mehrere Erklärungen sind möglich, die wir gut kennen. Die eine beruft sich auf die menschliche Natur: Zwischen »Menschenrechten<< und »Bürgerrechten<< liege dieselbe Kluft wie zwischen der we­sentlichen, theoretischen Güte der menschlichen Natur, ohne die eine wahre Gemeinschaft undenkbar wäre, und der praktischen Bosheit der empirischen Individuen, dieser Opfer ihrer Leiden­schaften, Interessen und Lebensbedingungen. Homo homini deus, homo homini Iupus. An dem unwahrscheinlichen Punkt, an dem diese Gegensätze sich ausgleichen, finden wir das Recht, das J. D. Bredin kürzlich als »Kunst der Lösung unlösbarer Fragen<< zu definieren vorschlug/ was im Grunde auf Kants >>Ungesellige Ge­selligkeit<< hinausläuft. Eine überaus beliebte, ebenso banale Erklärung ist die historizistische: Die Zeit ging vorüber, die ma­teriellen und kulturellen Bedingungen, unter denen die konstitu­tive Evidenz der Formulierungen von 1789 ins Auge sprang, sind nicht mehr. Wir sind gewiss nicht mehr die »Menschen<< des 18. Jahrhunderts, und ob wir noch die »Bürger<< des 19. Jahrhun­derts sind, steht dahin. In gewisser Hinsicht sind wir mehr als das (zum Beispiel leben wir in einer Welt globaler Kommunikation und Kultur, was die Staatsangehörigkeit, diesen unüberschreitba­ren Horizont der revolutionären Periode, relativiert), in anderer Hinsicht sind wir weniger, insofern uns nicht so sehr die Klassen­zugehörigkeit als vielmehr der Status kennzeichnet, den unsere

6 Halten wir im Vorgriff auf spätere Ausführungen die enge Verbindung zwischen der Vorstellung von den Menschenrechten als (bloßem) >>Ideal<< und der Idee fest, sie seien im Wesentlichen - und im Rahmen des Mögli­chen - durch eine politische Kraft zu gewähren und zu gewährleisten. 7 »Enfants de Ia science, question de conscience« (Rezension zu Fran.;:ois Terre, renfant de l'esclave), in: Le Monde, 27. Februar 1988.

»differenzierten<< Gesellschaften ihren Mitgliedern zuweisen. Es ist nicht unmöglich, beide Erklärungstypen miteinander zu kom­binieren: so, wenn wir den ursprünglichen Utopismus der Men­schenrechte hervorheben und postulieren, dass ihre Verkündung von vornherein - da sie der politischen und sozialen Moderne das Mittel lieferte, sich gegen die hierarchischen Sozialordnun­gen der Vergangenheit und ihr eigenes, vor allem theologisch ge­prägtes Imaginäres zu behaupten - selbst nur die Funktion hatte, ein Ideal zu formulieren, das heißt, ein neues Imaginäres zu kris­tallisieren.

Ich gebe einem anderen, dialektischeren oder, wenn man so will, intrinsischeren Erklärungsmodus den Vorzug: dem, dass die »Gründungsformulierungen<< gerade aufgrund ihrer Schlichtheit und revolutionären Radikalität von vornherein einen Wider­spruch in sich bergen, der ihnen verbietet, sich in eine stabile Ordnung umzusetzen. Oder besser noch: dass der Widerspruch auf höherer Ebene in der Instabilität der Beziehung zwischen dem aporetischen Charakter der Formulierungen8 und dem kon­fliktgeladenen Charakter der Umstände besteht, aus denen sie hervorgehen und die ihnen als Bezugsgröße dienen. So dass je­dem sich auf die genuine Wahrheit des Texts der Menschen- und Bürgerrechte gründenden Versuch zu seiner Reaktivierung die Folgen der Entwicklung seiner eigenen inneren Spannungen ent­gegenstehen. Dieser Weg scheint mir der am stärksten Erfolg ver­sprechende; er lässt sich auf verschiedene Weise beschreiten, was ich nicht im Einzelnen erörtern möchte. Hier erlangt vor allem die Interpretation der Entwicklung der Declaration innerhalb des revolutionären Prozesses von 1789 bis 1795 eine entscheidende Bedeutung, namentlich in der Konfrontation des ursprünglichen

8 V gl. meine frühere Untersuchung »Citoyen sujet - Reponse a Ia question de Jean-Luc Nancy: qui vient apres le sujet?<<, in: Cahiers Confrontation, Nr. 20, Winter 1989, S. 23-47 [dt.: »Bürger-Subjekt. Antwort auf die Frage Jean-Luc Nancys: Wer kommt nach dem Subjekt?<<, in: Christoph Menke / Francesca Raimondi (Hrsg.), Die Revolution der Menschenrechte. Grundle­gende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, a. a. 0., S. 411 -441 ] .

7 9

Page 41: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

Textes mit den mehr oder weniger gescheiterten, aber nicht fol­genlos gebliebenen Neufassungen von 1793 (die »jakobinische<<) und von 179 5 (die »thermidorianische<<) . Denn diese Entwick­lung mit ihrem charakteristischen Schwanken zwischen zwei »Lesarten« der Beziehung Mensch I Bürger, einer plebejischen und einer bürgerlichen [ bourgeoise] , stützt sich auf der Revolu­tion selbst innewohnende antagonistische Kräfte und ist bereits aufschlussreich für die Widersprüche, die seit Beginn am Werke

sind. In seinem bemerkenswerten Buch La Revolution des Droits de

l'Homme9 hat Marcel Gauchet sich vom neoliberalen, um nicht zu sagen konservativen Gesichtspunkt aus auf die Suche nach den Gründen gemacht, aus denen die Revolution für uns »been­det<< ist (aber auch nach jenen, die dieses Ende so lange »hinaus­gezögert<< haben). Er hat von Text zu Text verfolgt, was ihm als Entfaltung einer grundlegenden Aporie erschien: dass es sich bei der Declaration von 1789 im Kern um die Formulierung eines absoluten Begriffs von nationaler Souveränität handelt, um die mimetische Umkehrung der Souveränität des Monarchen, der sich die Declaration widersetzt, um die Volksvertretung zu legiti­mieren. Dem (zumindest theoretisch) »einen und unteilbaren<< Willen des absoluten Monarchen muss der Konvent den ebenfalls einen und unteilbaren »Gemeinwillen<<, die volonte generale, ent­gegensetzen, ebenfalls ausschließlicher Hoheitsträger, aber letz­ten Endes einzig auf die Individuen gegründet, aus denen die Na­tion besteht. Ein solcher Begriff, so Gauchet, ist dazu verurteilt, zwischen allem oder nichts, zwischen direkter Demokratie und revolutionärer Diktatur zu schwanken: Im Unterschied zu den partiellen, aber eindeutig festgelegten Freiheiten des ameri­kanischen »Modells<< der Bill of Rights erweist er sich - ob beim Austarieren der Macht der Legislative und der Exekutive oder zwischen Prärogativen des Staats und der Unabhängigkeit der

9 Paris, Gallimard, 1989 [dt.: Die Erklärungder Menschenrechte. Die Debatte um die bürgerlichen Freiheiten 1789, Reinbek, Rowohlt, 1991 ] .

So

Individuen - als unvereinbar mit der pragmatischen Einrichtung

eines rechtlichen Rahmens für die moderne Politik. Deswegen

scheitert die Revolution zunächst, und erst in einem ganz an­

deren Kontext - nach einem Jahrhundert politischer Konfron­tationen und Regimekrisen - erhalten ihre symbolischen For­mulierungen die Funktion eines mehr oder weniger Konsens

stiftenden, regulativen Ideals. Symmetrisch dazu hat Florence Gauthier in einer Reihe von

Beiträgen, 10 in denen sie die Tradition des revolutionären Idealis­mus (die sich von Robespierre und Fichte über den jungen Marx bis hin zu Ernst Bloch erstreckt) aufgreift und erneuert, zu zeigen versucht, dass zwischen der jakobinischen und der thermido­rianischen Phase des Konvents ein Bruch eingetreten ist. Die auf den Primat der Freiheit und das Streben nach ihrer Universa­lisierung ausgerichteten Formulierungen von 1789 stehen in kontinuierlichem Zusammenhang mit denen von 1793, die den latenten Egalitarismus dieser Konzeption als universelle Gegen­seitigkeit oder universelle gegenseitige Anerkennung der Freihei­ten einschließlich der Grundfreiheit zu leben (des »Rechts auf Leben<< mit all seinen ökonomischen Konsequenzen) entwickeln. Sie gehen aus der klassischen, im Wesentlichen Lockeschen Vor­stellung einer Erklärung des Naturrechts hervor, die den Zusam­menschluss oder die Staatsbürgerschaft begründet und der poli­tischen Sphäre und der Rolle des Staats von der menschlichen Natur her Schranken setzt. In der thermidorianischen Declara­tion von 1795 hingegen, in deren Mittelpunkt der unantastbare Charakter des Eigentums und die Reziprozität von Rechten und

10 Florence Gauthier, >>Les declarations du droit naturel 1789-1 793«, in: Mi­chel Vovelle (Hrsg.), L:etat de Ia France pendant Ia Revolution, Paris, La De­couverte, 1988, S. 416-420; Florence Gauthier, >>De Mably a Robespierre. De la critique de l' economique a la critique du Politique«, in: E. P. Thompson et al. (Hrsg.), La guerre du ble au XVIII" siede, Paris, Editions de la Passion, 1988, S. 1 1 1 - 144; Florence Gauthier, >>Le droit nature! en Revolution«, in: Etienne Balibar et al. (Hrsg.), Permanences de Ia Revolution, Paris, La Breche, 1989; Florence Gauthier, Triomphe et Mort du Droit nature/ en Revolution, Paris, PUF, 1992.

8 1

Page 42: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

Pflichten stehen, wird die universelle natürliche Grundlage der

Staatsbürgerschaft durch eine »soziale« Grundlage ersetzt: ein

Bruch, ja eine Umkehrung. Darin findet natürlich die konterre­

volutionäre Reaktion auf die Entwicklung der sozialen Konflikte

ihren Ausdruck, insbesondere die Reaktion auf die Art und Weise,

in der die plebejischen, nicht-»bourgeoisen« Elemente der Revo­

lution den Universalismus der Menschenrechte ständig politisch

eingesetzt haben, und zwar gegen die praktischen Einschränkun­

gen durch deren Verfasser: Unterscheidung von »aktiver« und

»passiver« Staatsbürgerschaft auf der Basis des Zensuswahl­

rechts, Ausschluss der »faktischen Gleichheit« aus dem Bereich

der Naturrechte. Ich mache mir keine dieser beiden Möglichkeiten exakt zu

eigen, den intrinsischen Widerspruch des revolutionären Mo­

ments zu interpretieren. Beide scheinen mir aus ganz unter­schiedlichen Gründen dessen Spezifität zu verfehlen, ohne die weder die unmittelbare Entwicklung der Formulierungen noch ihre nachträglichen, bis auf heutige Tage sich erstreckenden Auswirkungen zu verstehen sind: die Spezifität des Textes der De­claration, die Spezifität der revolutionären Umstände selbst. Lei­der kann ich dies hier nicht im Einzelnen darlegen. Schematisch gesprochen glaube ich weder, dass das 1 789 unter ganz bestimm­ten Umständen geschmiedete Konzept der »Souveränität der Na­tion« die Umkehr der monarchischen Souveränität im Rahmen einer grundsätzlich weiterbestehenden Kontinuität darstellt, gewissermaßen die Ersetzung einer Transzendenz durch eine andere; noch, dass der Bezug auf den Menschen und auf die Uni­versalität seiner die Bürgerrechte »begründenden« Natur hier auf den Durchschnittstenor der ideologischen Quellen zurückführ­bar ist, die sich generisch als klassisches »Naturrecht<< bezeichnen lassen.

Was die Souveränität angeht, so besteht die revolutionäre Inno­vation, wie ich andernorts zu zeigen versucht habe, 11 gerade darin,

11 Etienne Balibar, >>Bürger-Subjekt«, a. a. 0.

82

ihr herkömmliches Konzept durch die höchst paradoxe These ei­ner egalitären Souveränität umzustürzen - praktisch eine contra­dictio in adiecto, aber die einzige Möglichkeit, aller Transzendenz radikal den Laufpass zu geben und die politische und soziale Ord­nung dem Element der Immanenz, der Selbstkonstitution eines Volkes einzuschreiben. Daher aber auch die unmittelbare Ent­wicklung einer ganzen Reihe von Widersprüchen, die daraus her­vorgehen, dass die so genannte »Zivilgesellschaft<< und erst recht der Staat ganz und gar auf Hierarchien oder Abhängigkeiten auf­bauen, die der politischen Souveränität gleichgültig gegenüberste­hen und doch zugleich zu ihrer Institutionalisierung wesentlich

sind, während die Gesellschaft oder moderne Polis nicht mehr über das der antiken Polis eigene Mittel verfügt, diese Widersprü­ehe zu neutralisieren oder aus der öffentlichen Sphäre zu verdrän­gen: die strenge Trennung zwischen oikos und polis.

Was das deklarierte Naturrecht angeht, so halte ich den revolu­tionären Moment der Declaration und sein ungebrochenes Fort­wirken in den soziapolitischen Auseinandersetzungen tatsächlich für wesentlich. Anders gesagt, ich zweifle nicht daran, dass die Ma­terialität des Aktes dieser Äußerung der Punkt war, an dem die im Anschluss daran sofort aufkommenden Forderungen nach Einfü­gung des Frauenrechts, des Rechts der Arbeiter, der kolonisierten »Rassen<< in die Staatsbürgerschaft ansetzten und auf den sie sich beriefen. Ich glaube aber keineswegs, dass er als Endpunkt, Voll­

endung oder schlicht als Radikalisierung des klassischen, ob nun Lockeschen oder Rousseauschen Naturrechts in dessen Kontinui­tät stehtP Welches »Bewusstsein von sich<< auch immer die Ver-

12 Ich tue Florence Gauthiers Idee - deren Stärke ich anerkenne, obwohl ich anderer Auffassung bin - wohl kaum Gewalt an, wenn ich sie folgenderma­ßen umformuliere: Von 1789 bis 1793 haben die revolutionären Wortführer die Form der >>Declaration« des Naturrechts stets beibehalten, die mit der herkömmlichen Legitimation der Macht bricht; sie haben jedoch ihren In­halt vertieft, um ihn mit dieser Form in Einklang zu bringen, und sind dabei über die Formulierung des ursprünglichen Kompromisses hinausgegangen (vor allem bezüglich des »unverletzlichen und heiligen« Charakters des Ei­gentums): Damit haben sie sich vom ursprünglichen Kern der Konzeption

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fasser beim Ringen mit ihrer eigenen, aus der Zeit des Ancien Re­gime stammenden intellektuellen Bildung gehabt haben mögen: Historisch und epistemologisch hat der Kern der Declaration des Droits de l'Homme et du Citoyen nichts mit präexistenten Ideologi­en zu tun, er verlässt den Rahmen der Theorien über die » mensch­liehe Natur« als Grundlage oder Gewähr einer Rechtsordnung, die vom 16. bis zum 18. Jahrhundert die Alternative zu den Theorien vom göttlichen Recht bildete und den Gegnern der absoluten Mo­narchie die Basis ihrer Argumentation lieferte. Greift er ihre Ter­minologie - teilweise - auf, so lediglich, um ihre Logik außer Kraft zu setzen. Unmittelbar löst er nicht den Triumph, sondern die un­widerrufliche Krise des klassischen Naturrechts aus, öffnet er den

Raum für ein neu es ideologisches Feld, in dem die politisch-philo­sophischen Ideologien des 19. Jahrhunderts - ob Liberalismus, Sozialismus oder Konservatismus, ob epistemologisch dem Posi­tivismus oder dem Historizismus, dem Idealismus oder dem poli­tischen Pragmatismus verpflichtet - sich ansiedeln werden.

Das klassische Naturrecht ist durch die extreme Unterschied­lichkeit seiner Konzeptionen der menschlichen Natur und sei­ner Vorstellungen vom ursprünglichen Zustandekommen der Zivilgesellschaft gekennzeichnet, was ebenso vielen Reformstra­tegien für die politische Institution entspricht. Die Formulie­rungen von 1789 hingegen, den Debatten der dreifach - durch die eigenen Interessen, durch den offenen, noch unentschiedenen Konflikt mit der Monarchie und durch die Angst vor Volksauf­ständen - bedrängten »Nationalvertretung« mittels eines wahren Gewaltstreichs entsprungen, kennzeichnet eine bemerkenswerte

des Naturrechts der Individuen - wie es beispielsweise bei Locke zu finden ist, bei dem das einzige universelle Eigentum das »Eigentum seiner selbst« ist, aus dem alle anderen Eigentumsformen hervorgehen - nicht entfernt, vielmehr sich ihm weiter angenähert. Das >>Recht auf Leben<< ist somit die Wahrheit des jakobinischen Egalitarismus und gleichzeitig das Kriterium der Adäquation von Form und Inhalt der Menschenrechte. Nebenbei bemerkt ist dies in etwa auch die Lesart, die Fichte 1793 in seinem Beitrag zur Berichti­gung der Urteile des Publikums über die französische Revolution vertritt.

Schlichtheit (die ich andernorts eine Rechtstatsache genannt

habe),13 von der wir sehen werden, dass sie im Grunde rein ne­

gativ ist, dass sie die Problematik der Ursprünge und der Modali­täten des Zusammenschlusses umgeht. 14 Bemerkenswert ist vor allem, dass der Begriff »Vertrag« hier fehlt.15 Aber selbstver­ständlich >>entspricht« die Komplexität und Heterogenität der Theorien des klassischen Naturrechts, ob kontraktualistisch oder antikontraktualistisch, ob etatistisch oder ökonomistisch, der re­lativen Homogenität einer aufsteigenden sozialen Klasse, die als Bürgertum bezeichnet werden kann, während die vereinheitli­chende Schlichtheit der Declaration im Feld der Ideen oder viel­mehr der Worte - Worte, die sich der Kontrolle ihrer Urheber unmittelbar entziehen - der realen gesellschaftlichen Komplexi­

tät der Französischen Revolution entspricht: der Tatsache, dass sie von vornherein bereits keine >>bürgerliche Revolution« mehr ist, sondern eine vom Bürgertum und dem Volk, oder genauer den nicht bürgerlichen und noch weniger kapitalistischen Mas­sen, in Bündnis und Konfrontation gemeinsam durchgeführte Revolution. Eine Revolution, die unmittelbar mit ihrer eigenen internen Opposition ringt, ohne die sie nicht wäre, und die unab­lässig auf der Suche nach der Einheit ihrer Gegensätze ist.

* * *

13 V gl. meine Studie »Bürger-Subjekt<<, a. a. 0. 14 Die Ausarbeitung der >>Artikel<< der Declaration führt erst am Tag nach der Nacht des 4· August zu einer Lösung. [In der Nacht des 4- August 1789 hob die Assemblee constituante die feudalen Standesrechte auf.] . Marcel Gau­chet hat recht, wenn er die unter diesen Umständen eintretende >>Neutralisie­rung« der ideologischen Unvereinbarkeiteil und die >>Anonymisierung« der von den verschiedenen revolutionären Ideologen vorgelegten persönlichen Entwürfe hervorhebt. 15 Dass die Schlussredaktion der Declaration den Vertrag ausspart, indiziert deutlich ihre Distanz von den naturrechtliehen Ursprüngen und hängt eng zusammen mit der (provisorischen) Aufgabe der Idee einer Erklärung der Rechte und Pflichten. >>Pflichten« sind nämlich das Gegenstück zu >>Rech­ten«, wenn man >>Gegenseitigkeit« zwischen zwei Parteien voraussetzt: ent­weder zwischen den Individuen und »ihnen selbst« oder zwischen Indivi­duen und der >>Gemeinschaft«, der »Gesellschaft« oder dem >>Staat«.

ss

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Kommen wir also zum Kern der revolutionären Formulierungen. Er besteht, wie mir scheint, in einer doppelten Gleichsetzung, von denen die eine die andere erklärt und ihr ihren Inhalt ver­leiht (aber dieser Inhalt bleibt, wie wir noch sehen werden, selt­sam unbestimmt).

Erste Gleichsetzung: die von Mensch und Bürger. Hier müssen wir uns für eine Lesart entscheiden, denn eine lange und quasi­offizielle nationale und internationale Tradition interpretiert den Inhalt der ursprünglichen siebzehn Artikel als Ausdruck einer Unterscheidung der (universellen, unveräußerlichen, von jeder sozialen Institution unabhängigen, also virtuellen usw.) »Men­schenrechte« von den (positiven, instituierten, eingeschränkten, aber realen) >>Bürgerrechten« - eine Unterscheidung, die dazu führt, dass die zweiten auf den ersten gründen.16 Wenn es etwas

16 Ich behaupte nicht, dass diese Tradition willkürlich sei: Nicht allein spie­gelt sie den politisch-juristischen Gebrauch, den man von der Declaration macht und über den man sich Rechenschaft ablegen muss, sie vrorzelt auch in den erklärten Absichten eines großen Teils ihrer Verfasser (vgl. das bereits erwähnte Buch von Marcel Gauchet und das von Antoine de Baecque, Wolf­gang Schmale und Michel Vovelle, rAn 1 des Droits de l'Homme, Paris, Pres­ses du C. N. R. S., 1988). Der Ausdruck dieser Absichten ist eng mit der Tat­sache verbunden, dass die Verfasser die Formulierung der Rechte diskutieren und über sie streiten im Hinblick auf die Verfassung, der sie »eine Grundlage geben« sollen. Bezeichnenderweise zögern sie aus theoretischen Gründen ebenso wie aus Gründen politischer Opportunität unablässig, eine klare Trennungslinie zu ziehen zwischen dem, was zur >>Declaration der Rechte<< (also der Grundlage) gehört, und dem, was der (auf ihr >>gegründeten«) Ver­fassung vorbehalten bleiben soll, anders gesagt: den Punkt zu fixieren, an dem Bürgerrechte beginnen, die keine (universellen) Menschenrechte sind. Hier müssen wir also damit beginnen, zwischen Absicht und Verwendung des Textes einerseits und dem Text selbst einschließlich seiner virtuellen, von den Absichten unabhängigen Auswirkungen andererseits sorgfältig zu unter­scheiden. Fügen wir hinzu, dass die Wahrnehmung eines grundsätzlichen oder graduellen Unterschieds zwischen »Menschenrechten« und »Bürger­rechten« durch ihre Verwendung im Feld des internationalen Rechts und der zeitgenössischen internationalen Politik verstärkt wurde und die ursprüngli­che Idee einer »Grundlegung« dabei fast umgekehrt worden ist: Im Wesent­lichen gilt heute als »Menschenrechte«, was den Individuen außerhalb des nationalstaatliehen Rahmens zuerkannt wird, unabhängig davon, dass sie Bürger dieses oder jenes (National-)Staates sind; aber praktisch auch das, was

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zu >>begründen« gilt, ist die Grundlage in der Tat von dem zu un­terscheiden, was auf ihr gegründet ist. Die Frage ist hier aber eben die, ob wir es im Text selbst eigentlich mit einer »Grundle­gung« zu tun haben.17 Gewiss beinhaltet die Dualität der Begriffe »Mensch« und »Bürger« die Möglichkeit ihrer Dissoziierung -wir werden die Auswirkungen sehen. 18 Im gegebenen Kontext je­doch kann und muss sie anders interpretiert werden. Eine noch­malige Lektüre der Declaration erweist unzweideutig: Zwischen »Menschenrechten« und >>Bürgerrechten« besteht in Wirklich­keit keinerlei Kluft, keinerlei inhaltlicher Unterschied - es sind ge­nau dieselben. Folglich gibt es auch keinen Unterschied zwischen Mensch und Bürger, zumindest insofern, als sie praktisch durch ihre Rechte >>definiert« werden - durch die Natur und den Um-

ihnen durch demokratische (National-)Staaten zuerkannt wird (und in die­ser Hinsicht gründen sie auf der historischen Existenz von Staatsbürger­schaft). Hier ist es auch angezeigt zu vermerken, dass die Formulierungen der Declaration ihrem Wortlaut nach und trotz des Bezugs auf die »Nation«, auf den ich zurückkommen werde (>>Das Prinzip aller Souveränität beruht wesentlich auf der Nation«), weder nationalistisch noch kosmopolitisch sind und, grundsätzlicher noch: dass das Konzept »Bürger«, dem sie Gestalt ver­leihen, nichts mit Zugehörigkeit zu tun hat. Es handelt sich nicht um den Be­griff eines »Bürgers aus« diesem oder jenem Staat, dieser oder jener Stadt oder Gemeinschaft, sondern gewissermaßen um den Begriff eines »Bürgers im absoluten Sinn«. 17 Was in dem definitiv am 26. August 1789 angenommenen (und »am s . Oktober 1789 vom König gebilligten«) Text offensichtlich der Idee einer Grundlegung zuzurechnen ist, ist wohlgemerkt die Präambel. Sie enthält so­gar drei grundlegende Bezugspunkte: das revolutionäre politische Ereignis, die Natur, das höchste Wesen. 18 Es verhält sich nicht anders, wenn man als universelle Begriffe »Mensch« und »Bürger« gleichsetzt und wenn man »Gott« und »Natur« gleichsetzt. Als Spinoza diese letztere Operation vornahm, hat er die Meta­physik unwiderruflich gestürzt und eine Diskussion losgetreten, die kein Ende nehmen wollte. Als die französischen Revolutionäre den »Menschen« und den »Bürger« gleichstellten (Homo sive Civis), haben sie für die Ethik und Politik konkret einen Punkt ohne Wiederkehr markiert. Die »Dialek­tik« der modernen Politik ist nur als eine Reihe von unmittelbaren oder langfristigeren, expliziten oder latenten (ja sogar verdrängten) Auswirkun­gen dieses Bruches zu verstehen. Wir sollten uns also fragen, was er eröff­net und was er beschließt.

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fang der Rechte, deren Inhaber sie sind: Und genau darum geht es in der Declaration. Ich erinnere daran, dass als »natürliche und unantastbare Rechte des Menschen« Freiheit, Eigentum, Sicher­

heit und Widerstand gegen Unterdrückung aufgezählt werden (Ar­tikel 2), das heißt genau die Rechte, von denen die Declaration in ihrem weiteren Verlauf zeigt, dass die soziale Verfassung ihre

Rechtsorganisation darstellt. Welche Probleme stellen sich nun auf dieser Ebene? Zunächst

einmal das angeführte Recht auf Widerstand gegen Unterdrü­ckung. Das mindeste, was man sagen kann, ist, dass es später nicht gerade ausdrücklich verankert wurde. Zugleich liegt aber

auf der Hand, dass es das Korrelat der Freiheit ist, die Gewähr da­für, dass sie tatsächlich existiert - frei sein heißt, jedem Zwang widerstehen zu können, der die Freiheit zerstört -, und eine sprachliche Spur des revolutionären Kampfs, der diese Freiheit

errang und durchsetzte.19 Ferner das scheinbare Fehlen der Gleichheit, ein Hinweis auf innere Schwankungen, von denen noch zu sprechen sein wird. Diesen Eindruck gilt es jedoch sogleich richtigzustellen. Artikel 1 erklärt: »Die Menschen wer­den frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es [ . . . ] « , Artikel 6: »Das Gesetz ist Ausdruck des allgemeinen Willens. Alle Bürger haben das Recht, [daran] mitzuwirken [ . . . ] Es muss das­selbe für alle sein [ . . . ] Da alle Bürger vor ihm gleich sind, gilt es

für alle gleichermaßen [ . . . ] « . Diese Formulierungen gleichen das

19 Bekanntlich war und blieb die Aufnahme dieses Rechts Gegenstand hit­zigster Kontroversen: sowohl zwischen Parteigängern der >>Ordnung« (die 1795 unmittelbar seine Abschaffung erreichten) und denen der »ununter­brochenen Revolution<< (die 1 793 versuchten, seine entscheidende Funktion zu unterstreichen) als auch zwischen Befürwortern der juristischen Logik (es sei »widersprüchlich<< für einen Rechtsstaat, seine eigene Negation zu kodifi­zieren) und Fürsprechern der sozialen Logik (es sei »widersprüchlich<< für kollektiv souveräne Individuen, nicht zu bestätigen, dass jede Regierung, jede Institution von ihrer Freiheit abhängen). Die Festschreibung des »Wi­derstands gegen Unterdrückung<< in den Grundrechten bestätigt daher voll und ganz, dass die Modalität, mit der wir es hier zu tun haben, die einer Ein­heit von Gegensätzen ist.

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»Fehlen« der Gleichheit in Artikel 2 nicht nur aus, sie kehren sei­ne Bedeutung um, indem sie die Gleichheit zum Prinzip oder Grundrecht machen, das alle anderen erst zu einer Einheit ver­knüpft.

Die Art und Weise, wie die Gleichheit in der Declaration be­handelt wird, stellt geradezu die stärkste und präziseste Gleich­setzung zwischen dem Menschen und dem Bürger dar. Dies wird ihr bald schon zum Vorwurf gemacht, und es wird sehr rasch dazu führen, auf die eine oder andere Weise Mensch und Bürger, »Menschen«-Rechte und »Bürger«-Rechte zu dissoziieren, wäh­rend wir hier, im Moment der Revolution, mit dem der Akt des Formulierens (die Declaration) unlösbar verbunden ist, ihr Koin­zidieren bekräftigt finden. Nicht nur etabliert die Declaration keinerlei »menschliche Natur« oberhalb der Gesellschaft, der po­litischen Ordnung, als eine Art Fundament oder äußere Garan­tie, womit sie Theorien über die menschliche Natur wie über das theologische Übernatürliche umgeht: Sondern sie identifiziert Menschenrechte mit politischen Rechten, den individuellen oder kollektiven Menschen mit dem Mitglied der politischen Gesell­schaft. Im Folgenden werde ich diesen B egriff der Menschen­rechte als politischer Rechte und umgekehrt, der politischen Rechte als Menschenrechte, näher ausführen und zeigen, dass er bis zur Idee der Menschenrechte auf Politik reicht: so weit, alle menschliche Tätigkeit politisch, nämlich aus der Perspektive ei­ner Befreiung und Gleichstellung zu instituieren.

Aber zunächst einmal wird es nicht unnütz sein, darüber nach­zudenken, was diesen Begriff so radikal von den - eben gerade »naturalistischen« - Formulierungen der antiken Tradition un­terscheidet. Die Gleichsetzung von Mensch und Bürger aus dem Jahr 1789 ist keine Reprise des zoon politikon, sondern eher eine Umprägung dieses Begriffs, die die Möglichkeit eines Einschnitts voraussetzt. Die Idee des zoon politikon basiert nämlich - sofern sie den Institutionen der griechischen oder römischen »Polis« überhaupt entspricht - nicht auf der Gleichsetzung von Gleich­heit und Freiheit, sondern auf einer ganz anderen These: auf der

Page 46: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

Gleichheit in den Grenzen der Freiheit, wobei Letztere als sozialer

Status betrachtet wird, der je nachdem auf einer Tradition, einer

Verfassung oder einer natürlichen Qualität der Individuen grün­

det (die für sie selbst und für andere aus ihnen ''Herren<< macht).

Die Gleichheit ist hier nur eine Konsequenz, ein Attribut der

Freiheit, das Verhältnis beider Begriffe zueinander ist nicht um­

kehrbar. Daher die seltsame Begrenztheit des Begriffs Bürger­

schaft [ citoyennete] - oder wenigstens das, was dem modernen

Leser retrospektiv so erscheinen muss - bis in die Texte hinein,

die seine demokratischen Potenzialitäten am tiefsten ausloten,

manche Passagen der Politik des Aristoteles zum Beispiel. Dieser

»definiert<< Bürgerschaft durch die abwechselnde Ausübung von

Funktionen des Herrschens und Gehorchens ( archein I arches­

thai), also durch eine starke Form verallgemeinerter Reziprozität

der freien, männlichen und erwachsenen Individuen (die auch

die Basis ihrer philia ist: ein Oberbegriff von »sozialem Band«) .

Dieser Reziprozität entspringt eine anthropologische, ja kosmo­

logische Position des Bürgers zwischen zwei Grenzen, die nach

unten und nach oben gleichzeitig Grenzen der Politik bezeichnen:

der Untermensch in seinen unterschiedlichen Gestalten (Frau,

Sklave, Kind), der Übermensch als Weiser, Gott oder Held. Aber

dort, wo wir retrospektiv nur die widersprüchliche Verbindung

eines Ansatzes zur Universalität mit einer willkürlichen Ein­

schränkung sehen, herrscht in Wirklichkeit eine andere Logik, in

der >>Freiheit<< einen Status darstellt, eine persönliche Rolle, und

>>Gleichheit<< eine mit diesem Status korrelierende Funktion, ein

ihm entsprechendes Recht.20 Umgekehrt wäre es genauso irrig, unter dem Vorwand histori­

schen Bewusstseins den klassischen, aus dem Liberalismus her­vorgegangenen Gegensatz zu übernehmen und zu meinen, im Gegensatz zur griechischen (und mehr noch zur römischen) Ein-

20 Zum Beispiel das, nur von seinesgleichen verurteilt zu werden, Gegen­stand der berühmten provocatio römischer Bürger, die der Bericht über Pau­lus unserem Kulturkreis überliefert hat: civis romanus sum !

heit von Sozialem und Politischem habe die Declaration von 1789 deren Trennung - oder deren >>bürgerliche<< Trennung - institu­iert, die ihrerseits auf der Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre beruhe. Dass Marx sich diese Lesart seiner Zeitgenossen in einer seiner berühmten Frühschriften zu eigen

machte,21 hindert nicht, dass sie zum Wortlaut und zum materi­ellen Gehalt jener Formulierungen in fundamentalem Wider­spruch steht. Der Mensch der Declaration ist nicht das >>private Individuum<< im Gegensatz zum Bürger als Mitglied des Staates. Er selbst ist der Bürger, und diese Feststellung wirft umgekehrt die Frage auf, wie es eigentlich kommt, dass der Staatsbegriff selbst sich derart problematisch ausnimmt - und das in einem revolutionären Text, der als Grundlage einer Verfassung dienen will und dessen Bestimmung (zumindest in den Augen seiner Verfasser) die Errichtung eines neuen Staats ist. Die Antwort auf diese Frage kann nur aus der Prüfung der subversiven Wirkun­gen eines radikal neuen Gedankens hervorgehen, der eben die Beziehung von Gleichheit und Freiheit zum Gegenstand hat und universelle Geltung beansprucht.

Worin besteht dieser Gedanke ? In nichts weniger als der Gleichsetzung beider Begriffe. Das ist die außerordentliche Neue­rung, und sie ist zugleich die Wurzel aller Schwierigkeiten, der

Kern des Widerspruchs. Buchstäblich genommen sagt die Decla­ration tatsächlich aus, dass die Gleichheit der Freiheit gleich, mit Freiheit identisch ist und umgekehrt. Jede der beiden ist das exakte >>Maß<< der anderen. Dafür schlage ich den bewusst baro­cken Begriff Proposition der Gleichfreiheit vor, eine im Franzö­sischen »unmögliche<< Wortzusammensetzung, ein Kofferwort, und doch nur als französisches Wortspiel möglich,22 das für sich genommen bereits die zentrale Aussage enthält. Denn es benennt

21 [Kar! Marx, »Zur Judenfrage«, in: Arnold Ruge I Kar! Marx (Hrsg.), Deutsch-Französische Jahrbücher, 1-2, Paris 1844] 22 Oder vielmehr im franko-lateinischen >>Kolinguismus<< als aequalibertas, damit in allen europäischen Sprachen verständlich, also heute in allen Welt­sprachen. Zum römischen Ursprung des Ausdrucks vgl. Claude Nicolet,

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Page 47: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

die Bedingungen, unter denen der Mensch Bürger ist (und ganz und gar Bürger), und den Grund der Gleichsetzung. Hinter oder vielmehr in der Gleichung Mensch = Bürger steckt die Proposi­tion der Gleichfreiheit als Grund ihrer Universalität.

Diese Proposition hat den Status einer Evidenz (self evident truth, wie die Amerikaner sagen). Oder vielmehr den einer Ge­wissheit, das heißt: Ihre Wahrheit kann nicht in Zweifel gezogen werden. Wie kommt es aber dazu, dass dies trotzdem und sogar ständig geschieht, wiewohl in Negierungsformen, die unaufhör­lich deren Dringlichkeit einräumen, ihre Unwiderruflichkeit nachweisen?

Das kann nicht einfach daran liegen, dass wir hier zwei Wörter haben. Ihre formelle Unterscheidung ist natürlich Voraussetzung dafür, ihre Bedeutungen gleichzusetzen. Besser gesagt: Damit Freiheit und Gleichheit als identisch gedacht werden können, muss eine ursprüngliche semantische Differenz reduziert wer­den, die sich in den relativ getrennten Geschichten der Wörter »Freiheit« und »Gleichheit« vor dem Text von 1789 eingelagert hat, bis sie sich in einer Weise begegnen, die mit einem Schlag das gesamte Bild verändert.23 In anderer Hinsicht ist dies einfach Ausdruck davon, dass die Revolutionäre von 1789 gegen zwei Gegner und zwei »Prinzipien« gleichzeitig kämpften: gegen den Absolutismus, der als Negation der Freiheit erscheint (in den ständigen königlichen Willkürmaßnahmen - bzw. dem, was man

Le Metier de citoyen dans Ia Rome republicaine, Paris, Gallimard, coll. >>Tel«, 1976, S. 527f. : >>Das andere kollektive Anliegen war die Freiheit. Erinnern wir uns, dass das Wort selten einzeln verwendet und meistens durch die Ausdrü­cke aequa libertas und aequum ius, Gleichheit vor dem Recht, rechtliche Gleichheit, ergänzt wurde [ . . . ] .« [Übers. C. P. ] 23 Siehe im Vergleich dazu Pierre Bouretz, der in seinem interessanten Auf­satz >>Egalite et liberte. A Ia recherche des fondements du Iien social<<, in: Droits, Nr. 8, 1988 (Sonderausgabe über La Declaration de 1789), von der >>Verschmelzung<< von Gleichheit und Freiheit und ihrer >>Spannung<< spricht und sich dabei auf Tocqueville bezieht (die Revolutionäre haben die demo­kratische Freiheit im Gegensatz zur aristokratischen Freiheit zwingend als für alle gleich definiert), und Claude Lefort (gegen die Idee einer dem >>sozia­len Band<< äußerlichen >>Natur<<).

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als »Staatsräson« bezeichnen könnte), und gegen die Privilegien, die als Negation der Gleichheit erscheinen (im ständigen »Recht des Stärkeren«, das heißt der »Standespersonen« bzw. Aristokra­tie). Gegen Monarchie und Aristokratie, deren politisch-soziale Einheit von ihnen sofort in dem Begriff »Ancien Regime<< zu­sammengedacht wird, diesem Amalgam, mit dem das konterre­volutionäre Denken bis heute hadert, namentlich indem es die Revolution in eine »Revolution der Freiheit« und eine »Revolu­tion der Gleichheit« auseinanderdividiert Aber die Revolution von 1789 istgleichzeitigdas eine und das andere (und ebendeswe­gen ist sie die Revolution, bewirkt sie augenblicklich eine irre­versible Mutation der Bedeutung dieses Worts): Sie wendet sich gegen »Tyrannei<< wie gegen »Ungerechtigkeit« (gegen eine Gleichheit in der Unterwerfung wie gegen eine mit Privilegien identifizierte Freiheit); sie zeigt, dass eine gerechte Tyrannei (eine aufgeklärte Despotie . . . ) so unmöglich ist wie eine demokrati­sche Ungerechtigkeit.

Aber was tiefgreifender noch der Anerkennung dieser radika­len These im Wege steht, ist das, was man die platonische Lektüre der Texte nennen muss: Man sieht Gleichheit und Freiheit als Ideen oder Gattungen, dem Gesetz von Eigenem und Fremdem

unterworfen. Man sucht die gemeinsame Natur von Gleichheit und Freiheit, sucht nach dem Punkt, an dem sie schließlich ihr gemeinsames »Wesen« enthüllen könnten (und fast ist man ver­sucht, mit einer Tautologie zu antworten: Dieses Wesen, diese »Natur<<, in einem Wort: diese Grundlage, ist der Mensch oder das Subjekt). Es gibt auch einen anderen Grund: Man ahnt, dass man dieser Identität einen »empirischen Inhalt<<, eine positive >>Referenz« nur geben könnte, wenn sich angeben ließe, welche Freiheit, welche Gleichheit identisch sind oder vielmehr - denn offenkundig setzt der eigentliche Text der Declaration sie uni­versell, in allen ihren Formen miteinander gleich - in welchen Grenzen oder unter welchen Bedingungen sie miteinander iden­tisch sind. Kurz, wir stoßen hier auf eine verblüffende Unbe­stimmtheit.

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Page 48: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

In Wirklichkeit handelt es sich um zwei miteinander verbun­dene, aber unterschiedliche Fragen. Für die erste fällt die Antwort

leicht, und doch ist sie folgenschwer, weil sie sich auf nichts weni­ger als den Wahrheitsstatus der Proposition der Gleichfreiheit auswirkt. Was die zweite Frage betrifft, so ist sie praktisch nicht zu beantworten, oder vielmehr: Sie ist dazu bestimmt, durch ih­ren Widerspruch selbst auf unbestimmte Zeit offenzubleiben, unabsehbar vertagt zu werden, was gewiss nicht weniger schwer wiegt, da es bei ihr schlicht um die Anwendung, um den Über­gang von der »Theorie<< zur »Praxis<< einer Proposition geht, die aus der (revolutionären) Praxis selbst hervorgegangen ist.

Greifen wir zunächst die Frage der Natur auf. Meine Position ist eindeutig: Die der Proposition der Gleichfreiheit zugrunde liegende Gleichung (Gleichheit = Freiheit, G = F) ist nicht essen­tialistisch. Was ihr zugrunde liegt, ist nicht die intuitive Ent­deckung oder Offenbarung einer Identität der Ideen Gleichheit und Freiheit, sei es auch nur, weil diese aus ihrer revolutionären Gleichsetzung vollkommen verwandelt hervorgehen. Es ist viel­mehr die historische Entdeckung, die ganz zu Recht experimen­tell genannt werden kann, dass ihr Umfang notwendig identisch ist. Um es noch deutlicher zu sagen: Die Situationen, in denen eine von beiden da ist oder fehlt, sind zwangsläufig dieselben, in denen auch die andere da ist oder fehlt. Noch anders gesagt: Die (faktischen) historischen Bedingungen der Freiheit sind genau dieselben wie die (faktischen) historischen Bedingungen der Gleichheit.

Ich behaupte, dass die so verstandene Proposition der Gleich­freiheit durchaus eine Wahrheit ist, und zwar eine irreversible Wahrheit, entdeckt im revolutionären Kampf und durch ihn -eben die universell wahre Proposition, auf die die verschiedenen »Kräfte«, aus denen sich das revolutionäre Feld zusammensetzte, sich im entscheidenden Moment einigen mussten. Die histori­schen Auswirkungen dieser Proposition wiederum können, so widersprüchlich sie sein mögen, ihrerseits nicht anders begriffen werden denn als Auswirkungen einer Wahrheit oder Wahrheits-

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effekte. Was nicht besagt, dass diese niemals vergessen, niemals

zurückgewiesen worden wäre. Sie werden mir sagen: Welchen Beweis gibt es dafür ? Bei einer

universellen Wahrheit in diesem Sinn (universell a posteriori

oder besser: historisch universell) kann der Beweis nur negativ geführt werden (er kann nur den Status einer »Widerlegung<<, ei­

nes Gegenbeweises, haben, eines elenchos, wie Aristoteles gesagt hätte), aber dies zu jeder Zeit und in allen möglichen Situationen. Negativer Beweis heißt: Wenn absolut wahr ist, dass Gleichheit praktisch mit Freiheit identisch ist, so deswegen, weil das Gegen­

teil materiell unmöglich ist, anders gesagt: Zwangsläufig werden stets beide gemeinsam angefochten. Diese These selbst ist um­fangslogisch zu interpretieren: Gleichheit und Freiheit werden genau unter denselben Bedingungen, in denselben »Situationen<< angefochten, weil es kein Beispiel für Bedingungen gibt, unter denen die Freiheit unterdrückt oder gehemmt und nicht auch die Gleichheit unterdrückt oder eingeschränkt, das heißt abgeschafft wird, und umgekehrt. Weder von der Geschichte der kapitalisti­schen Ausbeutung, die in der Praxis die durch den Arbeitsvertrag proklamierte Freiheit leugnet, um bei der praktischen Negation der Freiheit zur Geltendmachung von Ansprüchen und Meinun­gen zu enden, noch von der Geschichte der sozialistischen Re­gime, die die öffentlichen Freiheiten unterdrücken, um bei der Errichtung einer Gesellschaft noch stärkerer Privilegien und Un­gleichheiten zu enden, habe ich eine Widerlegung zu befürch­ten.24 Offensichtlich hat die Unterscheidung von »individuellen<< und »kollektiven<< Freiheiten wie auch die von »formaler<< und >>realer<< Gleichheit hier keinen Sinn: Eher geht es um die Frage des Grads an Gleichheit, der für die kollektive Umsetzung indivi­dueller Freiheiten unabdingbar, und um die Frage des Grads an

24 Was zur Zeit im Osten vorgeht, dürfte zumindest einem bei der »Rech­ten<< wie bei der >>Linken« gleich beliebten Mythos ein Ende bereitet haben: dem gleicher, aber unfreier Gesellschaften (der unter der Hand zu verstehen gibt, es existierten freie Gesellschaften ohne allzu viel Gleichheit).

9 5

Page 49: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

Freiheit, der für die kollektive Gleichheit der Individuen uner­

lässlich ist. Die Antwort ist jedes Mal dieselbe: das Höchstmaß

unter den gegebenen Umständen. Daher lässt sich der Beweis für

die Proposition der Gleichfreiheit - die negative Erfahrung, der

einzig mögliche, aber als solcher auch hinreichende Beweis -

noch auf andere Weise führen: Die unterschiedlichen Formen

von sozialer »Macht« oder >>Gewalt«, die den Menschen-und­

Bürger sei es Ungleichheiten, sei es Freiheitsbeschränkungen

aussetzen, konvergieren zwangsläufig. Es gibt kein Beispiel für

Restriktionen oder Entzug von Freiheit ohne soziale Ungleich­

heiten und kein Beispiel für Ungleichheiten ohne Einschränkung

oder Abschaffung von Freiheiten (sei es auch nur, um den Wi­

derstand in Schach zu halten), selbst wenn es Abstufungen, se­

kundäre Spannungen, Phasen instabilen Gleichgewichts, Korn­

promisssituationen gibt, in denen Ausbeutung und Herrschaft

sich nicht gleichmäßig über alle Individuen verteilen. Ebendieser

Mechanismus erlaubt die Herausbildung von Klassen oder herr­

schenden Eliten, die Macht unvermeidlich in Übermacht, in He­

gemonie verwandelt. Wenn Freiheit nämlich nicht Gleichheit ist, bedeutet sie entwe­

der Überlegenheit, >>Herrschaft«, oder Unterwerfung und Ab­hängigkeit von irgendeiner Macht, was widersinnig ist. Darum ist Gleichheit korrelativ als allgemeine Form radikaler Negation jeder Unterwerfung und jeder Herrschaft zu denken, das heißt als Befreiung der Freiheit selbst von äußeren oder inneren Mäch­ten, die sie sich aneignen und in ihr Gegenteil verkehren.25

Nun wird verständlich, warum der Text der Declaration, ein >>Gelegenheitsprodukt<< der bürgerlichen Wortführer der Revolu-

25 Heißt das Befreiung von jedem Gesetz? Anders gesagt, heißt Gleichfrei­heit Freiheit ohne Gesetz, ohne »Regel«, >>Zwang« oder »Grenze«? Alle anti­egalitären Argumentationen finden hierin ihren gemeinsamen Fundus. Und das wirft die Frage danach auf, was unter >>Gesetz« zu verstehen ist: Was wäre ein Gesetz ohne bindende Autorität, ohne »Souveränität« ? Erneut ein Wider­spruch in sich ? Von Anfang an hat diese Frage die revolutionäre Erfahrung nicht ruhen lassen.

tion, nicht ihre eigene Beherrschung oder Kontrolle des Prozes­ses, an dem sie teilnehmen, zum Hauptinhalt hat. Es wird ver­ständlich, warum alsbald ein Kampf einsetzt, bei dem es um die Anwendung der »Prinzipien von 1789«, das heißt praktisch um ihre universelle Ausdehnung oder ihre Begrenzung, geht.

Verständlich wird aber auch, was ich gerade vorbrachte: dass

die Bedeutung der Gleichung Mensch = Bürger nicht so sehr die Definition eines politischen Rechts ist als vielmehr die Bekräfti­gung eines universellen Rechts auf Politik. Zumindest der Form nach - aber diese Form ist vom Schlage derer, die zur materiellen Waffe werden können - eröffnet die Declaration eine unbegrenz­

te Sphäre der Politisierung von Rechtsansprüchen, die, jeder auf seine Weise, die Forderung nach Staatsbürgerschaft oder öffent­licher, institutioneller Verankerung von Freiheit und Gleichheit erneuern: Von der revolutionären Phase an machen Lohnarbei­ter, Abhängige, Frauen, Sklaven, später auch Kolonisierte sich diese unbegrenzte Öffnung zu Nutze, um rechtliche Ansprüche anzumelden.

Hier aber nun der zweite Aspekt. Intrinsischen Anteil an der Wahrheit unseres Textes hat seine negative Universalität, das heißt seine absolute Unbestimmtheit. Da wir hier von einer Wahrheit und einem Wahrheitseffekt in der Geschichte sprechen, müssen wir die Ebene der Aussage und die ihrer Äußerung, oder anders gesagt: B edeutung und Referenz in ihrem >>pragmatischen<< Ver­hältnis, mehr denn je miteinander verknüpfen. Die Unbestimmt­heit macht die ganze Stärke der Aussage, aber auch die praktische Schwäche ihrer Äußerung aus. Oder vielmehr: Sie bewirkt, dass die Konsequenzen der Aussage, die ja ganz und garvon >>Kräftever­hältnissen<< und ihrer Entwicklung unter den jeweiligen Umstän­den abhängen, selber unbestimmt sind - von Kräfteverhältnissen, in denen es gilt, die individuellen und kollektiven Bezugspunkte

für die Gleichfreiheit mit mehr oder weniger >> Vorsicht<< und >>Au­genmaß<<, aber auch >>Kühnheit<< und »Dreistigkeit<< gegenüber den etablierten Kräften praktisch zu konstruieren. Zwischen den Bedingungen, die historisch jene Konstruktion von Institutionen

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Page 50: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

determinieren, die der Proposition der Gleichfreiheit entspre­

chen, und der hyperbolischen exzessiven Universalität der Aus­

sage wird permanent Spannung herrschen. Dennoch muss sie

ständig wiederholt, und zwar gleichförmig, unverändert wieder­

holt werden, damit der Wahrheitseffekt eintritt, ohne den es

keine revolutionäre Politik gibt. Es wird also eine ständige Span­

nung zwischen der universell politischen Bedeutung der Men­

schenrechte und der Tatsache herrschen, dass deren Text es völlig

der »Praxis<<, dem »Kampf<<, dem >>sozialen Konflikt« - insbeson­

dere der Entwicklung des Konflikts, der schon bei ihrer Formulie­

rung Pate stand - überlässt, eine >>Politik der Menschenrechte<<

ins Leben zu rufen. Hier wollen wir lediglich festhalten: Diese

Spannung ist so groß, dass das, was den Diskursen über die

>>Menschenrechte<< - diesen Kompromissdiskursen, die die effek­

tive Gleichsetzung von Mensch und Bürger umgehen oder ver­

drängen - im Allgemeinen am meisten mangelt, eben die Politik

der Menschen- und Bürgerrechte ist.

***

Ich komme nun zum letzten Punkt meiner Ausführungen. Ich möchte folgende Hypothese zur Diskussion stellen: Die Gleich­freiheit näher bestimmen oder sie um den Preis von Auseinan­dersetzungen praktisch umsetzen, die sich konkret gegen die his­torischen Negationen richten, deren theoretische Negation diese Proposition selbst darstellt, heißt ihre Wahrheit umsetzen. Eine solche Umsetzung hängt aber von zwei Faktoren ab: von einer Bestimmung der realen Widersprüche der postrevolutionären Politik, das heißt der unter den jeweiligen Bedingungen, unter denen sie sich fortsetzt oder auch wiederherstellt, gegebenen Kräfteverhältnisse und Interessenkonflikte; aber auch von einer Bestimmung der Formen, unter denen solche realen Widersprü­che in dem von der revolutionären Proposition geöffneten Raum denkbar sind. Oder sogar ganz einfach und noch grundsätzli­cher: von der Möglichkeit, solche Widersprüche in diesem ideolo­gischen Raum überhaupt >>adäquat<< zu denken, das heißt, sie

dort zu benennen und ihre Auflösung als Verwirklichung der

Gleichfreiheit zu formulieren. Daraus, dass die Proposition der Gleichfreiheit universell wahr ist, geht nämlich nicht hervor, dass sie >>die ganze Wahrheit« ist (ein in Wahrheit in sich widersprüchlicher Begriff) . Daher die Tatsache, dass sie durch die unmittelbare Öffnung eines Gedankenraums auch dessen Schließung bestimmt, anders gesagt: ihn unmittelbar als ideologi­

schen Raum bestimmt. Abschließend möchte ich mich ausschließlich mit diesem

zweiten Aspekt beschäftigen, und zwar aus folgendem Grund: Die historische Erfahrung hat uns nicht nur zu begreifen ge­zwungen, dass unterschiedliche Widersprüche, unterschiedliche Kämpfe für Gleichheit und Freiheit innerhalb des Felds der revo­lutionären Politik nicht spontan miteinander vereinbar sind, son­dern auch, dass sie nicht in derselben Sprache, in den Elementen ein und desselben Diskurses ausgesprochen werden können, was

doch eine Mindestvoraussetzung für ihre praktische Begegnung wäre - von ihrer >>Verschmelzung<< in ein und derselben demo­kratischen oder revolutionären Bewegung ganz zu schweigen. Die Gründe dafür beruhen zumindest zu einem Teil - und dieser genügt, sich von der relativen Inadäquatheit der revolutionären Idee heute Rechenschaft abzulegen - auf der Heterogenität der >>Widersprüche<<, mit denen wir es hier zu tun haben, und radika­ler noch auf der Tatsache, dass es sich nicht um >>Widersprüche<< im selben Sinn des Wortes handelt. Zur Veranschaulichung wird es genügen, an das zu erinnern, was traditionell als Klassen­widerspruch und als Widerspruch im Geschlechterverhältnis (in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen) bezeichnet wurde. Meinerseits möchte ich aus Gründen, die ich noch deut­lieh zu machen hoffe, einen >>Widerspruch<< hinzufügen, der mir ganz ebenso grundlegend und ganz ebenso heterogen zu sein scheint wie die beiden vorangegangenen, und den Formulierun­gen wie >>Trennung von Hand- und Kopfarbeit<< bzw. Spaltung zwischen körperlicher und geistiger oder intellektueller Tätigkeit ideologisch einordnen helfen.

99

Page 51: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

Unsere Diskussion sollte daher die Form der Konstruktion ei­

ner Konfiguration oder einer Topik annehmen, der allgemeins­

ten Topik der ideologischen Spannungen der modernen Politik

in dem Sinne, wie die revolutionäre Proposition sie umzustruk­

turieren bestimmt hat. Innerhalb einer solchen Topik müssen wir

versuchen, die Formulierung der Widersprüche zu situieren, um

ihre Heterogenität und Distanz zu ermessen.

Meine Konstruktionshypothese lautet schematisch dargestellt folgendermaßen: 1. Die Gleichsetzung von Freiheit und Gleichheit ist für die mo­

derne, »subjektive« Neuprägung des Rechts unerlässlich, aber nicht in der Lage, deren institutionelle Stabilität zu garantie­ren. Eine Vermittlung ist erforderlich, die jedoch die antitheti­schen Formen von »Brüderlichkeit« (oder Gemeinschaftlich­keit) und »Eigentum« (oder Verkehr) annimmt.

2. Jede dieser Vermittlungen ist ihrerseits Konfliktgegenstand und praktisch geteilt: auf Seiten der Gemeinschaftlichkeit zwi­schen Nation und Volk, auf Seiten des Eigentums zwischen Arbeit und Kapital. Die Verbindung dieser beiden Gegensätze ist die allgemeinste ideologische Form des »Klassenkampfs«.

3· Jede dieser Vermittlungen wie auch die Konflikte, in denen sie sich äußern, verdrängen einen anderen Typus von » Wi­derspruch«: die Brüderlichkeit-Gemeinschaftlichkeit den Ge­schlechterunterschied, das Eigentum (Arbeit und/oder Ka­pital) die Trennung zwischen »geistigem« Wissen und »kör­perlicher<< Tätigkeit.

Dementsprechend stehen wir vor zwei völlig heterogenen Ty­pen von »Widersprüchen<<, die sich nicht nur nicht vereinheitli­chen lassen, sondern auch - zumindest so lange, wie die diskursi­ve Matrix politischen Handelns auf dem Konzept des Menschen­und-Bürgers gegründet bleibt, von dem wir ausgegangen sind ­in gewisser Weise nicht zu vereinbarende, obschon untrennbar miteinander verbundene Diskurse auslösen.

Erlauben Sie mir, die drei gerade angesprochenen Punkte kurz zu kommentieren.

100

Beginnen wir mit der Frage der Vermittlungen. Wir haben wieder von der konstitutiven Instabilität der Glei­

chung Mensch = Bürger auszugehen, die auf der Identifizierung von Gleichheit und Freiheit beruht, das heißt auf der Behauptung eines potenziell universellen Rechts auf Politik. Andernorts habe ich nach anderen Autoren (und wenn man die Texte nur recht liest: nach den Revolutionären selbst) zu zeigen versucht, dass diese Be­hauptung ein unbestimmtes Schwanken, eine strukturelle Äqui­vokation zwischen zwei offensichtlich antinomischen »Politiken« mit sich bringt: einer Politik des Aufstands, der Insurrektion, einer Politik der Verfassung, der Konstitution.26 Oder wenn man lieber will, einer Politik der permanenten, ununterbrochenen Revoluti­on und einer Politik des Staats als institutioneller Ordnung.27 Es ist klar, dass eine solche Antinomie den Begriff der Politik selbst zer­teilt, ohne dass jemals eine Synthese zu finden wäre (was vielleicht

den typischen Charakter der Moderne ausmacht). Sie bedeutet auch, dass »Freiheit<< und >>Gleichheit« ständig dazu tendieren, sich zu entzweien, als unterschiedliche Prinzipien oder Werte in Erscheinung zu treten, auf die sich einander entgegengesetzte La­ger oder Kräfte berufen können, sofern ihre Identität - und na­mentlich ihre rechtliche Identität - nicht garantiert oder, wenn man so will, auf die Einführung und den Primat eines dritten Glieds gegründet ist. Dann hätte man nicht mehr die unmittelbare Identität G = F, sondern eine vermittelte Identität: G = F als Äuße­rung oder Spezifizierung eines anderen Prinzips, das zugleich als Voraussetzung oder gemeinsame Essenz der beiden Elemente der Gleichung erschiene. Und gleichzeitig hätten wir die ideologische

26 Vgl. meine bereits erwähnte Studie »Bürger-Subjekt. Antwort auf die Frage Jean-Luc Nancys<<, a. a. 0. 27 Dies hängt auch mit dem zusammen, was wir oben feststellten (und was eine der stärksten Bedeutungen der Idee des Aufstands ist, ein ursprüngli­ches Band zwischen Recht auf Aufstand und generalisierter Staatsbürger­schaft: G = F heißt, dass die Menschen sich selbst emanzipieren, dass nie­mand durch einen anderen befreit werden kann, dass das Recht auf Politik unbegrenzt und überall auszuüben ist, wo eine Autorität herrscht, die Indivi­duen oder Kollektive wie Unmündige zu behandeln beansprucht.

101

Page 52: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

Möglichkeit, von einem negativen, unbestimmten Beweis zu ei­nem positiven, bestimmten (aber vermittelten und infolgedessen nur eine relative Wahrheit erzeugenden) Beweis überzugehen.

Eine derartige Vermittlung kann sich indessen - gewiss auf­

grund der jeder institutionellen Vermittlung sozialer, transindi­

vidueller Beziehung innewohnenden Zweideutigkeit, aber auch

aufgrund der Tatsache, dass jede Institutionalisierung eines revo­

lutionären Einschnitts dem Gesetz der »Wiederkehr des (vor­

revolutionären) Verdrängten« unterliegt - nicht in einer einheit­

lichen Form vollziehen. Historisch nimmt sie ihrerseits zwei

antithetische Formen an: die Vermittlung durch das Eigentum

(und das Eigentum seiner selbst) und die Vermittlung durch die

Gemeinschaftlichkeit (die sich in der Französischen Revolution in

der triadischen Formel »Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit«

äußert, die den drei Polen eines symbolischen Dreiecks entspre­

chen: Aber das Dreieck Freiheit- Gleichheit - Eigentum ist nicht

weniger entscheidend) . Wir können diese Konfiguration so darstellen:

G

G

B (GM)

E

F

F

Halten wir hier einen Augenblick inne. Natürlich ist keiner dieser Begriffe - Freiheit, Gleichheit, Eigentum oder Verkehr, Gemein­schaftlichkeit oder Brüderlichkeit - radikal neu. Was aber neu ist, ist ihre Gruppierung, ihre gegenseitige Definition und die Span­nung, die zwischen zwei möglichen >>Begründungen« für Freiheit und Gleichheit eingetreten ist, zwischen zwei alternativen Wei­sen, den Bürger zu vergesellschaften: dem individuellen oder kol­lektiven Eigentum, der natürlichen oder historischen (oder selbst geistigen) Gemeinschaft. Wir haben hier die Matrix der für die Moderne charakteristischen politischen Ideologien, vom Sozia-

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lismus und Liberalismus (die jeweils auf ihre Art das Eigentum betonen) bis zum Nationalismus und Kommunismus (die jeweils auf ihre Art die Gemeinschaftlichkeit und - namentlich in Frankreich - die Brüderlichkeit betonen). Die Prägnanz dieser Struktur feststellen heißt auch erklären, was es mit der zeitgenös­sischen Verlegenheit gegenüber der Politik auf sich hat. Man glaubt, sie beziehe sich auf die Begriffe Freiheit und Gleichheit: Das ist nicht sicher, eher bezieht sie sich auf deren »Komplemen­te«. Denn als Ort der Verankerung von Individualität, also der

Beziehung Menschen I Dinge oder Mensch I Natur hat das »Ei­gentum<< in all seinen Formen heute viel von seiner Evidenz,

seiner Einfachheit verloren, ist es ein komplexer, opaker Begriff geworden (was heißt es eigentlich, beispielsweise eine Fähigkeit, eine Schuldverschreibung oder ein Recht zu »besitzen<< ?). Die

Brüderlichkeit /Gemeinschaftlichkeit hat indessen sowohl ihre Eindeutigkeit verloren (denn es gibt nicht nur eine kollektivstif­tende soziale Beziehung, sondern mehrere konkurrierende Grup­pierungen oder Zugehörigkeiten, mit denen sich zu identifizie­

ren die Individuen aufgefordert werden) als auch ihre Konsistenz (es gibt soziale Beziehungen, die die Individuen erst allzu gut ge­bunden haben und jetzt gar nicht mehr zu binden scheinen: zum Beispiel der Beruf, die Familie; für die Klasse und die Nation selbst stellt die Frage sich gewiss auch immer mehr). Wir werden aber gleich sehen, dass der tiefste Grund für dieses Wanken der »Grundlagen<< der modernen Politik wohl doch in der Herauf­kunft einer Politik der >>Differenzen<< zu suchen ist, um die es der Freiheit und der Gleichheit vorrangig geht und die die Identität des Eigentümers wie die des Gemeinschaftsmitglieds auflösen.

Überraschenderweise - und das ist nicht nur eine formale Symmetrie - können weder Eigentum noch Gemeinschaftlich­keit ohne ein antithetisches Räsonnement Freiheit und Gleich­heit »begründen« (und folglich Politiken, die auf diesen >>Rech­ten<< des Menschen-und-Bürgers aufbauen). Das möchte ich das Argument der Gefahr des entgegengesetzten Übermaßes nennen. Es besagt: Das Übermaß an Gemeinschaftlichkeit, der absolute

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Page 53: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

Primat des Ganzen oder der Gruppe gegenüber den Individuen

würde die Individualität erdrücken, und daher müssen die Bezie­

hungen der Freiheit und Gleichheit durch das Prinzip der Garan­

tie des Eigentums beherrscht, »gemäßigt« werden, insbesondere

des Eigentums an sich selbst, an den eigenen Existenzbedingun­

gen. Und symmetrisch dazu: Das Übermaß an Eigentum, der ab­

solute Primat der >>egoistischen« Individualität, würde die Ge­

meinschaftlichkeit erdrücken, und daher müssen Freiheit und

Gleichheit wesentlich als Ausdrucksformen des gemeinschaftli­

chen Daseins der Menschen und der Institutionen definiert wer­

den, in denen die Gemeinschaftlichkeit sich verwirklicht. Dann

werden die Systeme komplexer, und die alte Dialektik von Sein

und Haben tritt hervor: Die Gemeinschaft beginnt dann, sich

mittels einer gewissen Reglementierung des Eigentums zu ver­

wirklichen und das Eigentum mittels einer gewissen Form von

Gemeinschaftlichkeit, geregelt durch Effizienz oder Gerechtig­

keit oder gemeinsames Interesse usw. Vor allem aber entwickelt diese Dialektik sich nicht, ohne dass

jede der beiden großen >>Vermittlungen« tendenziell in sich ge­spalten, zweigeteilt wäre. Das liegt wohl daran, dass der Begriff universeller Staatsbürgerschaft zum Streitobjekt zwischen Herr­schenden und Beherrschten und auch zwischen gewaltförmigen und rechtlichen oder legalen Formen von Politik wird - er war ja schon ursprünglich von der Konvergenz völlig heterogener sozia­ler Gruppen und Praktiken getragen. Auf Seiten der Herrschen­den wie auf Seiten der Beherrschten wird Gewalt gegen das Gesetz, gegen die juristische Form, aber auch Legalität gegen Ge­walt angedroht - ohne dass dabei übrigens eine allgemeine Regel, eine ein für alle Mal etablierte Anordnung der Kräfte und Ideen erkennbar wäre.

Was spielt sich also historisch auf Seiten des >>oberen« Dreiecks (Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit) ab ? Schon sehr früh >>pla­gen<< den Konvent in einer Phase innerer Konflikte gleichzeitig Probleme des Kriegs im Ausland, des öffentlichen Wohls, aber auch des patriotischen Revolutionskults und der Klassenunter-

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schiede, die, wie manche sagen, eine >>neue Aristokratie<<, >>neue Privilegien<< hervorbringen. Das System Brüderlichkeit nimmt tendenziell doppelte Gestalt an: die einer nationalen, bald auch staatlichen Brüderlichkeit und die einer sozialen, revolutionären

Brüderlichkeit, bei der extremer Egalitarismus in Kommunismus übergeht. Das Wort Nation ändert seine Bedeutung und meint statt der Gesamtheit der Bürger im Gegensatz zum Monarchen und den Privilegien nun eine historische, auf den Staat zentrierte Zugehörigkeit. Über die Mythifizierung von Sprache, Kultur und nationalen Traditionen geht dies in seiner Extremform in die französische Variante des Nationalismus über: die Idee einer auf institutionellen Traditionen gegründeten moralischen und kultu­rellen Gemeinschaft. Auf der Gegenseite führt umgekehrt der Be­

griff Volk zu der allgemeinen Vorstellung vom >>Proletariat<< als dem Volk des Volks, dem Träger seiner Echtheit und seines wah­ren Gemeinschaftsstrebens. Bei Michelet und vor allem in Hugos Elenden tritt diese Ambivalenz deutlich hervor.

Was geht symmetrisch auf der Seite des >>unteren<< Dreiecks (Freiheit - Gleichheit - Eigentum) vor sich? Auch hier ist eine Spaltung am Werk; dabei geht es um Fragen wie Recht auf Leben, Recht auf Arbeit. Man könnte sagen, dass es tendenziell zwei Rechtfertigungen für die Rechte des Bürgers in Bezug auf das Ei­gentum gibt, zwei Möglichkeiten, das Individuum als Träger der Werte von Freiheit-und-Gleichheit zu denken: entweder das Ei­gentum an Arbeit (und namentlich die Aneignung >>seiner selbst<<, seiner ExistenzmitteL durch Arbeit) oder das Eigentum an Kapital (ob Geldkapital oder symbolisches Kapital, beispielsweise die Un­ternehmensfähigkeit, das Know-how usw.). Auf ideologischer Ebene sind diese Begriffe erstaunlich ambivalent (wie weiter oben das »Volk<<) . Wie der Kapitalist sich als Arbeiter, als >>Unterneh­mer<< definiert, so der Arbeiter als Träger einer Fähigkeit, eines

>>Humankapitals<<. In beiden Fällen kann der Begriff Eigentum formell beibehalten werden, ist er doch anscheinend den Ideo­logien des individualistischen Liberalismus und des kollektivis­

tischen Sozialismus gemeinsam: Beide stimmen formell darin

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Page 54: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

überein, dass das gesellschaftlich Entscheidende das Eigentum, der »Verkehr<< der Eigentümer sei.

Sehr früh schon sind diese beiden offenkundigen Widersprü­

che gewissermaßen politisch verschmolzen. Von 1 789 bis 1793

war das Beherrschende die Frage der Gemeinschaft der Bürger,

das Problem der Brüderlichkeit, im vollständigen Wortlaut der

jakobinischen Formel, die - auf akzeptable Proportionen redu­

ziert - zur »republikanischen Devise<< wurde: »Einheit Unteilbar­

keit der Republik Freiheit Gleichheit Brüderlichkeit oder Tod<<.

Der zweite Widerspruch, der sich von 1789 bis 1795 und im

Code Civil entfaltete, lief auf die symbolische Spaltung zwischen

bürgerlichem [ bourgeois] Eigentum und egalitaristischem Kom­

munismus hinaus. Das ganze 19. Jahrhundert hindurch ent­

wickelte sich, was ich die allgemeine ideologische Formel des

Klassenkampfs genannt habe: nicht einfach nur der Gegensatz

zwischen individuellem und kollektivem Eigentum, zwischen

Arbeit und Kapital, sondern die Addition zweier Widersprüche.

Das »bürgerliche Lager<< ist, ideologisch gesehen und die materi­

ellen Interessen einmal beiseitegelassen, eine Eigentumsform, die

sich einer anderen entgegenstellt, und gleichzeitig eine Gemein­

schaftsform, die sich einer anderen entgegenstellt:28 Liberalismus

plus Nationalismus. Und ebenso ist das >>proletarische Lager<<

eine Eigentums- oder Aneignungsform, die der kollektiven oder

sozialen oder auch planwirtschaftliehen Aneignung, plus eine

Gemeinschaftsform: eben der Kommunismus, Erbe des Ideals

der Brüderlichkeit der revolutionären Massen und der Idee, dass

Bürger im eigentlichen Sinn nur die Menschen aus dem Volk

sind, die Arbeiter.29

* * *

28 Was Marx nicht recht verstanden hat, weil er die Gemeinschaft allein im revolutionären Lager sah: Das liegt daran, dass Marx zuerst Kommunist und dann erst Sozialist war. 29 In dieser Hinsicht ist das »Wortspiel<< wesentlich, auf das sich der Gegen­satz von revolutionärem Kommunismus und Liberalismus gründet: Ist die

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Kann man dabei stehen bleiben ? Ich glaube nicht. Und dies ist ei­ner der Gründe für das, was ich die relative Inadäquatheit der Idee der Revolution am Ende des 20. Jahrhunderts genannt habe, die damit auf ihre eigenen Ursprünge zurückverweist. Die Wi­dersprüche, über die wir gerade gesprochen haben, sind manifest, sie werden seit zwei Jahrhunderten in Diskursen erläutert, aus denen die moderne, die postrevolutionäre Politik besteht. Das

heißt: Sie lassen sich vollkommen in einer Sprache der Freiheit und Gleichheit oder, wenn man lieber will, des Kampfes gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit formulieren. Aber heute stellen wir immer deutlicher fest, dass es noch eine andere Art

von >>Widersprüchen<< oder >>Teilungen<< gibt, die sich in dieser Sprache schwer formulieren lassen (oder die in Formulierungen

wie Unterdrückung und Ungerechtigkeit nie ganz aufgehen). Je­denfalls werden wir uns dessen immer stärker bewusst. Ein Zei­chen der Zeit? Vielleicht.

Ich glaube, es gibt grundsätzlich zwei davon - wer in dem, was bis vor kurzem noch die >>revolutionäre Partei<< hieß, Politik ge­macht hat, hat die eine wie die andere als nahezu unüberwindli­ches Hindernis bei der Bildung einer freien Gemeinschaft von In­dividuen erfahren, die gemeinsam gegen soziale Ungleichheiten kämpfen. Denn gerade diese generell aus dem Bewusstsein und den politischen Diskursen verdrängten oder nur verschämt er­wähnten Widersprüche und Teilungen einer anderen Art stellen den Begriff Individuum selbst, das Modell von Individualität oder, wenn man so will, von >>menschlicher Natur<< in Frage, das heißt schon die Möglichkeit, sich das Individuum im Allgemei-

Qualität »aktiver Bürger« den Eigentümern, den Unternehmern, den >>Fähi­gen« vorzubehalten oder Staatsbürgerschaft durch die Aktivität zu definie­ren, die Arbeit und Initiative zur kollektiven Emanzipation in eins ist, >>Asso­ziation<< ? Vergessen wir andererseits nicht die >>pathologischen<< Varianten dieser ideologischen Konfigurationen, mit denen Liberale wie Sozialisten und Kommunisten stets ähnlich große Verständnisprobleme hatten, zum Beispiel die Addition von Kollektivismus und Nationalismus oder von revo­lutionärem Messianismus und sozialem Konservatismus.

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Page 55: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

nen als Exemplar der menschlichen Gattung vorzustellen.30 Es

handelt sich um die Geschlechterteilung (nicht nur als Teilung so­

zialer Rollen, sondern tiefer greifend als absolute Differenz, als

Dualität von Mann und Frau, als Schnitt, der die menschliche

Gattung - und damit jede Gemeinschaft - in zwei asymmetri­

sche Hälften ohne vermittelnde Instanz zertrennt); und um die

Trennung von Körper und Geist (diese »platonische« Entgegen­

setzung der beiden Seiten der Individualität, die doch ein Spino­

za als miteinander »identisch« zu denken versucht hatte, findet

sich als Teilung von »Handarbeit<< und »Kopfarbeit«, Technik

und Reflexion, ausführender Tätigkeit und Wissen, Sport und

Kunst oder Kultur usw. im gesamten sozialen Feld wieder).

Gewiss handelt es sich um Ungleichheiten, gerrauer gesagt um die zur Einrichtung von Ungleichheit - und damit auch zur Ein­schränkung oder Abschaffung der Freiheit einer ganzen »Klasse« der Menschheit - immer wieder beschworenen Grundlagen. Und doch steht hinter diesen Ungleichheiten ein Typus von Unter­schied, der durch die Instituierung der Gleichheit nicht abzu­schaffen ist. Was nicht heißt, dass nicht auch hier Gleichheit die formale Voraussetzung der Freiheit ist, sondern dass sie rein äußerlich bleibt. Und dieser Unterschied selbst ist in beiden Fällen außerordentlich zweideutig, da er einen biologischen und einen historischen Aspekt, eine doppelte Verbindung der Individualität mit dem Körper und mit der Sprache, einen rea­len und einen imaginären Aspekt miteinander kombiniert: Es handelt sich um die Unterschiede schlechthin, die die Wirk­lichkeit des Imaginären in der menschlichen Erfahrung derro­tieren und deswegen auch das Problem der internen Grenzen der Politik oder einer Transformation der Politik aufwerfen, die nicht nur den Menschen-und-Bürger, sondern auch den Men-

30 Auf deren Verleugnung beruht der Naturalismus konservativer »bürger­licher<< Ideologien (insbesondere der biologisierende Naturalismus des Sozi­aldarwinismus, Rassismus usw.), aber auch der mehr oder weniger messiani­sche Antinaturalismus revolutionärer antibürgerlicher Ideologien (die die christliche Thematik des >>neuen Menschen« transponieren).

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sehen als Subjekt von Phantasien und Wünschen einschließen

·würde. Dafür scheint es im Rahmen der bloßen Gleichfreiheit - ob­

wohl sie eine notwendige Bedingung für die Anerkennung von Rechten ist - keine politische Lösung zu geben: durch »Tren­nung« der Gruppen ebenso wenig wie durch ihre »Fusion« (der Mythos vom totalen, manuell-intellektuellen Menschen trägt auch nicht weiter als der vom androgynen, mit dem er übrigens in Verbindung steht). Die moderne Politik wird von verdrängten Widersprüchen durchzogen, die, obgleich immerzu als äußerlich hingestellt, ihre diskursive, legislatorische, organisatorische, re­pressive Praxis indirekt prägen. Vielleicht lässt sich der Beginn ihrer eigentlichen Äußerung erst von heute her datieren, in dem Maß, wie die Inadäquatheit spezialisierter Diskurse über Familie,

Erziehung, Berufsausbildung manifest wird. Vielleicht können wir auch erst heute die Frage nach einer Mu­

tation der Politik aufwerfen, die eine ihrerseits politische Aner­kennung des Geschlechterunterschieds und des kulturellen oder geistigen Unterschieds - in ihrer Unterschiedlichkeit selbst - im­plizieren würde, das heißt eine tatsächliche Ausdehnung des Rechts auf Politik auf Frauen und >>Handarbeiter« und andere »Ungebildete« oder »Unwissende«, die der faktischen Notwen­digkeit ein Ende bereiten würde, sich innerhalb der Politik von anderen vertreten oder lenken zu lassen. Und doch sind diese Unterschiede von Anbeginn an konstitutiv für die politische Institution als Sphäre der >>Regierung«, der »Politie«, und sie sind seit der Französischen Revolution explizit in Frage gestellt worden: sei es in Form der Forderung nach aktiver Staatsbürgerschaft für Frauen, sei es unter den scheinbar einander widersprechenden

Formen der Forderung nach dem Recht auf Bildung und zugleich des Protests gegen die Macht der Intellektuellen, der »Wortfüh­rer<< und Techniker. Die beiden Jahrhunderte seit 1789 erscheinen uns damit sowohl als Epoche der Verdrängung des Unterschieds (im »Haushalt«, in der »Schule«) als auch seines unaufualtsamen Manifestwerdens.

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Page 56: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

Obgleich diese Unterschiede allemal innerhalb einer Machtbe­ziehung auftreten, haben sie negativ miteinander gemein, ande­res als Ungleichheit darzustellen. Genauer gesagt: Sie wohnen ei­ner Beziehung kollektiver Ungleichheit (Männer und Frauen, Eliten und Massen) inne, die als persönliche, besondere Bezie­hung von Individuum zu Individuum reproduziert, ausgeübt und verifiziert wird, während die moderne Gesellschaft doch jede Abhängigkeit des Menschen vom Menschen formal abgeschafft hat. Deswegen erscheinen sie gegenüber dem Begriff rechtlicher und statusmäßiger Ungleichheit stets gleichsam versetzt: dies­seits oder jenseits des »Sozialen«, befangen in der Kontingenz in­dividueller Prägungen oder der Zwangsläufigkeit transindividu­eller Schicksale. Positiv haben sie miteinander gemein, dass sie ihre Befreiung als >>Recht auf Differenz in der Gleichheit« suchen müssen, das heißt nicht in der Wiederherstellung einer ursprüng­lichen Identität oder Neutralisierung der Differenzen in rechtli­cher Gleichheit, sondern in der Herstellung einer noch nie da ge­wesenen, unter kein Modell subsumierbaren Gleichheit, die die Differenz selbst, die Komplementarität und Reziprozität der Be­sonderheiten darstellt. In gewissem Sinn ist eine solche Rezi­prozität in der Proposition der Gleichfreiheit schon virtuell ent­halten, sie kann aber - paradoxerweise - sich nur unter der Bedingung darauf berufen, dass sie die Frage der Identität von >>Mensch<< und >>Bürger<< neu stellt: nicht um auf die Idee einer anthropologischen Differenzen untergeordneten Staatsbürgerschaft zurückzufallen (wie in deren antiker Fassung), sondern um zu ei­ner durch anthropologische Differenz überdeterminierten Staats­bürgerschaft fortzuschreiten, hin zu einer Transformation dieser Differenz, die weder auf ihre institutionelle Naturalisierung noch auf eine Leugnung oder formale Neutralisierung hinausliefe (die faktisch doch als permanentes Mittel zu ihrer Naturalisierung funktioniert).

Trotzdem gleichen diese beiden >>Differenzen<< einander nicht. Die Gewalt, die von ihnen ausgeht (und die als einseitiger Aus­druck einer >> Kraft<<, einer transindividuellen >>Macht<< erscheint),

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unterwirft nicht dieselben Individuen oder vielmehr nicht diesel­ben >>Klassen<< von Individuen, und vor allem unterwirft sie sie nicht mit denselben Mitteln, obwohl diese sich stets addiert ha­ben.31

So lässt sich zeigen, dass eine Form der Monopolisierung des Wissens (oder seiner Vermännlichung oder der Instituierung spezifisch >>männlichen<< Wissens) stets in dem Maße an der Un­

gleichheit der Geschlechter beteiligt ist, wie diese nicht nur das

>>private<<, >>häusliche« Verhalten, sondern auch das >>öffentliche<<

betrifft (oder auf einem politischen Zwang beruht, der sich im Privaten auswirkt), und dies umso grundlegender, als sie der all­täglichen Gewalt eines die Körper dominierenden Worts inne­wohnt. Ebenso lässt sich zeigen - wenn auch schwieriger: sei es, weil das Motiv dafür weiter verdrängt ist, sei es, weil die Sprache der Unwissenden es in unseren zeitgenössischen technologi­schen Gesellschaften noch schwerer hat als die der Frauen, sich Gehör zu verschaffen -, dass das politische Monopol der Bil­dung, des Sachverstands, der Meritokratie stets unter sehr ambi­valenten Formen ein Modell männlicher Herrschaft impliziert: Verdrängung >>weiblicher Probleme<< aus dem Feld der anerkann­ten intellektuellen Disziplinen, vor allem aber Kompensierung der >>geistigen<< Macht, die manche Männer über andere ausüben, durch die umso stärkere >>körperliche<< Macht, die ebendiese geistig dominierten Männer über >>ihre<< Frauen ausüben. Dies

31 Ich setze >>Klassen<< in Anführungszeichen, weil es sich hier typischer­weise um jene ungebundenen Kollektive handelt, die Jean Claude Milner in Les mots indistincts (Paris, Seuil, 1983) >>paradoxe Klassen<< nennt. Auch bilden die Frauen keine geschlossene Gruppe gegenüber den Männern (das ist nicht einmal tendenziell der Fall), und ebenso wenig die »Unwissenden<< gegenüber den >>Gebildeten<< (wenn unter den Ausgebeuteten die Träger des Bewusstseins und der Organisation einer Klasse, »Unwissende<< der moder­nen Gesellschaft, vom Schulsystem aufgegeben und von der bürgerlichen Kultur ausgeschlossen, sich faktisch zusammenschließen, geschieht dies be­merkenswerterweise im Namen der Wissenschaft und unter der Vorausset­zung, in den eigenen Reihen oder außerhalb »organische Intellektuelle<< zu finden).

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Page 57: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

alles verhindert jedoch nicht, dass die Differenz, die Triebfeder all dieser Machtverhältnisse, letzten Endes auf kein Einheitsmo­dell reduzierbar ist.

Im Geschlechterunterschied haben wir es mit einem Zusatz an Besonderheit zu tun, der es verbietet, der Freiheit der Män­ner und der Freiheit der Frauen denselben Inhalt zuzusprechen und sie also auf ein Modell gemeinsamer Subjektivität zu redu­zieren. Man kann als Bedingung ihrer Handlungsfreiheit wollen, dass Frauen über »gleiche Rechte«, gleichen Zugang zum Wissen, zur Berufsausübung, zu öffentlichen Ämtern verfügen (was eine mehr oder weniger tief greifende Transformation der Bedin­gungen ihrer Ausübung voraussetzt) ; man darf nicht meinen, dass sie von da an als Individuen schlechthin agieren. Gleich­heit ist hier nicht Neutralisierung der Differenzen (Egalisie­rung), sondern Bedingung und Postulat der Diversifizierung der Freiheiten.

Bei der Ungleichheit an Wissen hingegen, die zugleich Repro­duktion der Differenz zwischen einer »Masse« und einer »Elite«, Verwendung der Bildungsinstitutionen zur Einhegung und Hie­rarchisierung sozialer Tätigkeiten, Legitimation »geistiger« Le­bensart (sei sie auch rein formell, jedem Erwerb wirklicher Kenntnisse äußerlich) als Voraussetzung und Berufung zu Auto­rität über »manuelle« Lebensart ist, haben wir es eher mit einem Abzug von Besonderheit zu tun. Geht man (hier wiederum mit einem Philosophen wie Spinoza) davon aus, dass Individualität eine Funktion der Kommunikation ist und Kommunikation sich, wenn überhaupt, nicht zwischen Typen oder vorbestimmten sozialen Rollen entwickelt, sondern zwischen Besonderheiten, »praktischen<< Erfahrungen, von denen jede etwas von den ande­ren lernen und die anderen belehren kann, dann ist zuzugeben, dass die Erweiterung von Wissen als Herrschaftsträger parado­xerweise entindividualisiert. Die Universalität der Wissensfunkti­on in den modernen Gesellschaften, eine positive Bedingung der Konstituierung gemeinsamer politischer Sprache (und auch ihrer »Laizisierung<<), wird mit einer Einschränkung realer Kommuni-

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kationsmöglichkeiten bezahlt - deren institutionelle Form eben das spezialisierte Monopol auf »Kommunikationsaufgaben<< ist. Unter diesem Gesichtspunkt schafft die Ungleichheit eine prak­tisch unreduzierbare Differenz, aber der Kampf gegen Ungleich­heit kann weder zur Beseitigung der Differenzen führen noch dazu, sie in Form einer verallgemeinerten Selektion der Indivi­duen auf »demokratische<< Weise zu reproduzieren. Wenn eine größere Freiheit der Individuen wie auch der Kommunikation selbst sich entwickeln soll, muss eine Neutralisierung und gleich­zeitig Umverteilung des Wissens, eine »Äquivalenz<< zwischen ge­bildeten und unwissenden Individuen im Hinblick auf das Recht zur Äußerung in der Öffentlichkeit und eine symbolische Disso­ziierung der institutionellen Äquivalenz zwischen >>Intelligenz<< und >>Wissen<< erfolgen. Diese Gleichheitsforderung blieb in Wahrheit stets die Aporie der politischen Utopien, denen es um geistige Emanzipation ging.32

Diese Asymmetrie von sexueller und intellektueller Differenz schreibt sich als >>konkrete Politik<< der Beziehung zwischen den entscheidenden Institutionen der modernen Politik ein, der Familie und der Schule. Sie macht verständlich, warum die Fami­lie (eine konstitutiv irregalitäre Institution) bei der Neutralisie­rung der intellektuellen Differenzen als Machtfaktoren zwischen >>Eltern<< eine schwache, >>private<< Rolle spielt, während die (for­mal egalitäre Institution) Schule eine vergleichsweise sehr große, öffentliche Rolle bei der Befreiung der Frauen spielt, freilich auf Kosten einer anhaltenden Tendenz zur Neutralisierung ge­schlechtlicher Subjektivität. Das Gegenstück zu dieser Rolle ist offenbar eine Schwierigkeit, den auf >>unwissenden Frauen<< un­gleich stärker als auf >>gebildeten Frauen<< lastenden Einfluss männlicher Macht zu lockern - und dies trotz der Möglichkeiten,

32 Vgl. die Arbeiten von Jacques Ranciere, zuletzt Le maftre ignorant. Cinq le�ons sur l'emancipation intellectuelle, Paris, Fayard, 1987, Neuausg. 10 I 18, 2004 [ dt.: Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, Wien, Passagen Verlag, 1987, 2. Aufl. 2007] .

Page 58: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

die Arbeit, gewerkschaftliche Tätigkeit, ja selbst die organisierte Politik manchmal bieten. 33

Aus diesen Betrachtungen leite ich im Hinblick auf die Ein­

schreibung der anthropologischen Differenzen in die Topik der

Gleichfreiheit folgende Vermutung ab: Man kann wohl vertreten,

dass die sexuelle ebenso wie die intellektuelle Differenz Funktio­

nen der »Gemeinschaft<< sind, deren konflikthafter Charakter das

Auseinanderbrechen ihrer Einheit virtuell zum Prinzip hat und

nahezu ihre »Unmöglichkeit« dartut. Und dieser Widerspruch

reproduziert sich kreisförmig: Wenn die Kommunikation zwi­

schen Männern und Frauen, Intellektuellen und Handarbeitern

in gewisser Hinsicht unmöglich ist, muss sie dann durch ein

zusätzliches Maß an Gemeinschaftsorganisation, durch soziale

Rollenteilung, durch Ämter und Würden, die zwangsläufig die

Form von Ungleichheit oder Macht annehmen, erzV\rungen wer­

den ? Oder stellt sich die Kommunikation zwischen unterschied­

lichen menschlichen Besonderheiten gerade deswegen als nahe­

zu unmöglich heraus, weil die organische, identitätsstiftende

Gemeinschaft (die »Gesellschaft«, der »Staat«, die >>Nation«, die

>>Klasse«) die Gleichheit in so enge Grenzen fasst, dass die Un­

gleichheit der Geschlechter und der ungleiche Zugang zur intel­

lektuellen Macht weiterbestehen und sogar freien Lauf erhalten

können? Aber auch hier steckt hinter der Analogie eine Asym­

metrie. Mir scheint, die sexuelle Differenz unterhält tatsächlich

eine privilegierte Beziehung zur Institution der Gemeinschaft,

während die intellektuelle Differenz ihre ganze kritische Bedeu­

tung für die Politik aus ihrer Beziehung zur Institution Eigentum

erhält. Sobald alle menschlichen Individuen als freie und gleichbe­

rechtigte Bürger gelten und ihre Rechte virtuell tatsächlich ein­fordern, wird die Teilung der Geschlechterrollen geradezu zur Notwendigkeit, damit die Gesellschaft sich als >>Gemeinschaft«

3 3 Siehe das Buch von Olivier Schwartz, Le monde prive des ouvriers. Hommes et Femmes du Nord, Paris, PUP, 1990.

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darstellen kann (und nicht als ein Nebeneinander >>bindungslo­

ser« Individuen).34 Zwar lässt sich die These vertreten, dass jede historische Gemeinschaft als zugleich reale und imaginäre In­stitution auf der Beziehung der Geschlechter beruht (das heißt

auf Verwandtschaft, Teilung der Aufgaben und Rollen zwischen Männern und Frauen, Bestimmung des symbolischen >>Charak­ters« eines jeden bei Verdrängung von Bisexualität) . Da aber die moderne politische Gemeinschaft nicht nur ein Staat ist, sondern ein Staat, dessen Rechtsform auf der Proposition der Gleichfrei­heit gründet, stellt sie als solche niemals eine geschlechtlich diffe­

renzierte Gemeinschaft dar: Als nationale Gemeinschaft35 basiert sie daher nicht auf der einfachen Beziehung der Geschlechter (sie ist keine erweiterte Familie, außer im metaphorischen Sinn), sondern auf praktischem und ideologischem Sexismus als Struk­

tur des inneren, auf die ganze Gesellschaft ausgedehnten Aus­schlusses der Frauen; also auf dem instabilen Gleichgewicht von Verleugnung und Universalisierung der Geschlechterdifferenz. Damit wird deren Geltendmachen als politische Kraft zum hei­kelsten Punkt der Gemeinschaftskrise (oder der Krise der ge­meinschaftlichen Identität) .

Auf der Gegenseite unterhält die intellektuelle Differenz eine privilegierte Beziehung zum Eigentum als sozialer Vermittlungs­instanz. Es ließe sich zeigen, dass der Begriffgeistige Fähigkeit (im weiten Sinn, unter Einschluss des Wissens und der Willenskraft) als (ontologische) Differenz zwischen menschlicher Persönlich­keit und einem >>Körper«, der an sich nur >>Ding« ist, immer in der Vorstellung von einer menschlichen Aneignung der Dinge

34 Der Unterschied der Geschlechter ist als soziale Teilung der Ersatz für die Transzendenz in der Gesellschaft, in der die Politik immanent ist (der postre­volutionären Gesellschaft), nachdem er in der Gesellschaft, in der die Politik transzendent ist, eine der Metaphern der Macht war. 3 5 Die Erfahrung beweist, dass diese Triebkraft der nationalen Gemein­schaft in der sozialen Klassengemeinschaft ihr gerraues Gegenstück hat, vgl. die Dissertation von Fran.;:oise Duroux, La famille des ouvriers. Mythe ou rea­lite (Universität Paris VII).

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Page 59: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

enthalten war. Das zeigt negativ auch die Gesetzgebung, die Un­mündigkeit oder geistige Verwirrung konstant mit der Unfähig­keit zu besitzen identifiziert. Um Dinge zu besitzen, muss man nämlich zunächst einmal »sich selbst besitzen«, und dieser Besitz ist nichts anderes als der Oberbegriff für Intelligenz. Wenn indes das - individuelle oder kollektive - Eigentum gegenüber der Ge­meinschaft zur Vermittlungsinstanz von Gleichheit und Freiheit, zur Voraussetzung individueller Menschenwürde und Bedin­gung von Staatsbürgerschaft wird, ändert diese Fähigkeit I Unfä­higkeit ihre Bedeutung: Noch einmal tritt sie aus der rein »priva­ten« Sphäre heraus, um »öffentlichen« Wert zu erwerben. Alles Eigentum untersteht den durch das Wissen der politischen Öko­nomie formalisierten Codes und Äquivalenzen; jedes Individu­um ist »Eigentümer« (und wird an seinem Eigentum gemessen), insofern es die theoretische und praktische Wissenschaft des Wertetauschs kennt oder selbst von ihr gekannt und anerkannt wird (das heißt selbst in ihrer Buchhaltung vorkommt). Nur ver­mittels dieses abstrakten Wissens, das sich immer mehr autono­misiert und intellektualisiert, während es sich zugleich immer mehr materialisiert, stehen ein Individuum oder eine Klasse noch in Beziehung zu ihrem eigenen Sein und Haben. Dieser Prozess der Autonomisierung-Intellektualisierung-Materialisie­rung des >>Wissens<< determiniert immer direkter die Ausübung des >>Eigentumsrechts<< und folglich die Individualität. Aber gleichzeitig macht er die Identität der Eigentümer, die Identität des >>Subjekts<< des Eigentums immer ungewisser.

Dieser Prozess überschneidet sich mit dem Klassenkampf. Be­kanntlich wird mit der Konzentration des Kapitals die (reale oder angenommene) technische >>Kompetenz<< auf Kosten von auf Erbschaft oder »persönlicher<< Tätigkeit gegründeten Ansprü­chen zur Bedingung seiner Aneignung. Fraglich ist auch, ob diese Entwicklung nicht einer vollständigen Verkehrung des Rechts der Menschen auf Eigentum von Dingen in eine Verein­nahmung der Menschen (und Bürger) durch das sich bewegende Wertsymbol (das Geld oder die Akkumulation) entspricht: eine

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Beschreibung, die auf den »Kapitalisten<< noch mehr zuträfe als auf den >>Lohnempfänger<<. Korrelativ dazu hat die Ausbeutung der Lohnarbeit bekanntlich immer mehr die Entpersönlichung des Arbeiters in einer entintellektualisierten Masse zum Resul­tat36 und die Akkumulation der »geistigen Potenzen<< der Pro­duktion und des Austauschs außerhalb der ausführenden Tätig­keit der Individuen (heute in der sich selbst reproduzierenden Gesamtheit der Hard- und Software der Computer) zur Bedin­

gung. Ebendiese Spaltung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit identifizierte Marx in der tiefsten Schicht seiner Analyse des Eigentumsverhältnisses als Ausbeutungsverhältnis als den Punkt, an dem Ausbeutung und Herrschaft (oder >>Entfrem­dung<<) miteinander verschmelzen. Für den Arbeiter, dessen Auf­gabe (und folglich auch Ausbildung) völlig entintellektualisiert ist, ist das >>Eigentum seiner selbst<< oder seiner >>Arbeitskraft<< zur totalen Fiktion geworden. Aber man muss wohl einen Schritt weiter gehen und die Autonomisierung des Wissens über die in­dividuelle Intelligenz hinaus (und also auch über die Gestalt des »Intellektuellen<< hinaus) als Auftakt zu einer potenziellen Krise jeder Möglichkeit für das Individuum oder das Kollektiv bezeich­nen, sich als >>Eigentümer<< irgendeines Dings und seiner selbst vorzustellen. Dann haben wir es nicht mehr allein mit einem Me­chanismus zur Teilung der menschlichen Natur zu tun, der der Forderung nach Freiheit und Gleichheit praktisch widerspricht (und den man mehr oder weniger leicht diesseits der Politik, im >>Ökonomischen<<, >>Sozialen« und »Kulturellen<< ansiedeln und dazu ausnutzen könnte, die Monopole politischer Vertretung zu

perpetuieren); wir haben es mit einer Auflösung der politischen Individualität zu tun: Das >>Recht des Bürgers« findet sich, soweit es von Eigentümern ausgeübt werden soll, seiner Substanz be-

36 Dem widerspricht die allgemeine Berufsausbildung keineswegs, insofern ihre Funktion wesentlich die Differenzierung in der Entintellektualisierung ist (dies schließt die Entintellektualisierung der Intellektuellen selbst, der Angestellten, ein).

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Page 60: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

raubt, während die Frage der Gleichheit und Freiheit auf ihre ur­

sprüngliche Formulierung zurückgeworfen ist, ohne dass eine

Antwort darauf absehbar wäre: Was für »Menschen« sind eigent­

lieh die Bürger? Somit ließe sich aus der anfänglichen Topik eine andere ablei­

ten, die sich allmählich Bahn bricht, gewissermaßen als ihre Kehrseite oder die Wiederkehr des Verdrängten:

G

Männer I I Frauen (männlich I I weiblich)

F

(geistig I I körperlich) Gebildete I I Unwissende

Statt »Vermittlungen« für die Instituierung von Gleichfreiheit und ihre ideologische Begründung benennt diese Topik Punkte der Ungewissheit für die vorangegangenen Vermittlungen und Begründungen, Punkte, die mit der anthropologischen Differenz gleichzeitig die moderne individuelle und gemeinschaftliche Identität ins Wanken bringen. Diese Punkte erheben maximalen Anspruch auf Gleichheit und Freiheit (oder gleiche Freiheit), aber die konkreten (ob rechtlichen oder praktischen) Formen ih­rer Befriedigung sind heute in keiner Weise abzusehen. Für eine Neugestaltung der Politik sind dies daher die heiklen Punkte schlechthin.

Indem wir diese Punkte zu der universellen Wahrheit in Be­zug setzen, die der Text der Declaration von 1789 enthält, sind wir mit der Entfaltung der historischen und ideologischen »Dialektik« der Gleichfreiheit an ein Ende gelangt, das nicht ein Ende der Geschichte darstellt, sondern eine Frage, die in der Geschichte und durch sie im Hinblick auf ihre Fortsetzung ge­stellt ist. Diese Dialektik hat uns erlaubt, nacheinander zu situ­ieren:

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- die der revolutionären Politik inhärente Alternative (nicht so sehr die von Gewalt und Recht als vielmehr die von Aufstand und Verfassung, Insurrektion und Konstitution oder, um mit

Lenin zu sprechen, von Staat und Nichtstaat); - den postrevolutionären Widerspruch zwischen einer »for­

malen« Instituierung von Freiheit und Gleichheit und ihrer »Verwirklichung« in den Formen von Eigentum und Gemein­schaft, dessen allgemeinste Form der Klassenkampf ist (Sozia­lismus gegen Liberalismus, Kommunismus gegen Nationalis­mus);

- schließlich die anthropologischen Differenzen, die in das Feld der Politik zurückkehren und damit deren gegenwärtige Un­gewissheit »produzieren«: Ungewissheit bezüglich ihrer Spra­che, ihrer Themen und ihrer Ziele.

Diese Dialektik erlaubt uns auch, drei »Epochen« der Politik nacheinander zu situieren: eine alte Epoche, in der der Begriff vom Bürger anthropologischen Unterschieden, dem ungleichen Status von freien Menschen und Sklaven, von Herrscher und Un­tertan, von »mündiger« und »unmündiger<< Menschheit, unterge­ordnet ist; eine moderne Epoche, in der die Begriffe Mensch und Bürger einander virtuell gleichgesetzt sind und die allen Men­schen das Recht auf Politik eröffnet; schließlich eine postmoderne Epoche, in der sich die Frage nach einer Überwindung des abs­trakten oder allgemeinen Begriffs vom Menschen auf der Basis verallgemeinerter Staatsbürgerschaft stellt. Freilich ist zu be­merken, dass die Epochen zwar aufeinander folgen oder einan­der hervorbringen, aber nicht wie die Szenen eines Theater­stücks einander ablösen: Für uns und folglich für unsere Beziehung zur politischen Frage sind sie in zerfallener Totalität, in einer » Unzeitgemäßheit<<, die eben die Struktur des gegenwär­tigen Moments ist, noch alle gegenwärtig, was besagt: Wir haben es gleichzeitig mit dem Staat, dem Klassenkampf und der anth­ropologischen Differenz zu tun. Unsere Aufgabe besteht darin, ein praktisches Verhalten auf all diesen Ebenen zugleich zu kon­struieren, ohne ihre Synthese herstellen zu können. Das heißt je-

1 19

Page 61: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

doch nicht, dass wir über keinen roten Faden verfügen. An der Nahtstelle zwischen alter und moderner Politik fanden wir die im revolutionären Schnitt implizierte Rechtstatsache: die Propo­sition der Gleichfreiheit und ihren universellen Wahrheitseffekt An der Nahtstelle zwischen der modernen Politik und der, die aus ihr heraus und gegen sie zu entstehen im Begriff ist, finden wir die Problematik einer Neugestaltung: Wie können wir von der universellen zur besonderen Wahrheit gelangen, wie den Be­sonderheiten das Programm und selbst den Namen der Gleich­freiheit einschreiben ? Von jener Tatsache zu diesem Problem gibt es keine Kontinuität, kein einfaches Fortschreiten, erst recht keine Ableitung. Aber es gibt zwangsläufig einen Zusammen­hang, denn ohne die Tatsache würde das Problem sich nicht ein­mal stellen.

120

2. Die Umkehrung des Besitzindividualismus

Dieser Aufsatz verfolgt zwei sich überschneidende Absichten. Die eine besteht in einer Neuuntersuchung des Begriffs des Be­sitzindividualismus, der dabei in seinen ursprünglichen Kontext zurückversetzt, aber auch anhand einer eidetischen Variation überprüft werden soll, deren bevorzugte Gestalt seine »Umkeh­rung<< ist. Die andere besteht darin, den von Robert Castel in sei­nen Metamorphosen der sozialen Frage und anderen neueren Bei­trägen im Rahmen seiner Analyse der Auswirkungen der Krise der Lohnarbeitsgesellschaft und des Prozesses der »Entkoppe­lung<<, den sie mit sich bringt, vorgebrachten Terminus des nega­tiven Individualismus oder der negativen Individualität zur Dis­kussion zu stellen. 1

1 . Macpherson und der »Besitzindividualismus«

Ich weiß nicht, ob Macpherson den Ausdruck »Besitzindividua­lismus<< erfunden hat. Sicher ist aber, dass er, seit Macpherson ihn ins Zentrum seines 1962 erschienenen Werkes The Political

Theory of Possessive Individualism gestellt hat, außergewöhnlich

1 Die erste Fassung dieses Aufsatzes habe ich in der von Etienne Balibar, Ro­bert Castel, Catherine Colliot-Thelene und Bertrand Ogilvie vom 9· bis zum 19. Juli 1999 veranstalteten Reihe Decade de Cerisy-la-Salle über "La Proprie­te<< [Das Eigentum] vorgetragen. Zwei Überarbeitungen sind erschienen: "'Possessive Individualism< Reversed: From Locke to Derrida«, in: Constella­tions. An International Journal of Critical and Democratic Theory, Bd. 9/3, 2002; "Le renverserneut de l'individualisme possessif«, in: Herve Guineret / Arnaud Milanese (Hrsg.), La propriete: le propre, l'appropriation, Paris, Ellip­ses, 2004. Ich danke den für diese Veröffentlichungen Verantwortlichen und nehme hier eine Synthese vor.

121

Page 62: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

erfolgreich war.2 Es ist bemerkenswert, dass er sowohl von Auto­ren geltend gemacht wurde, die in ihm die negativen Züge der Ge­genwart vereint sahen, die es zu kritisieren gälte (absolute Herr­schaft der utilitaristischen Werte, Logik des Profits und der Vermarktlichung usw.), als auch von Autoren, die in ihm eine po­sitive Definition der anthropologischen Voraussetzungen er­kannten, die in ihren Augen für eine Begründung der soziapoliti­schen Theorie notwendig sind (Robert Nozick).

Ich erinnere daran, dass das Wort »Individualismus« zu Beginn des 19. Jahrhunderts erfunden wurde und Begriffe wie Egoismus, self-love oder selfishness usw. (auf Deutsch Eigenliebe*, Selbst­sucht*) ablöste, als man vom moralischen zum analytischen Re­gister überging.3 Die Frage, ob aller »Individualismus« eine Folge der Logik der Appropriation, der Aneignung, ist und ob umge­kehrt das Privateigentum der ausschlaggebende Faktor bei der Isolierung und beim Primat der Individualität ist, lässt sich so auf andere Gebiete verlagern. Dann fragt man sich, ob der Besitz-

2 Crawford Brough Macpherson, The Political Theory of Possessive Individ­ualism. Hobbes to Locke, Oxford, Oxford University Press, 1962 [dt.: Die poli­tische Theorie des Besitzindividualismus. Von Hobbes bis Locke, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1967. Seitenzahlen im Text beziehen sich im Folgenden auf die­sen Band] . 3 Tocqueville ist ein wesentlicher Zeuge dieser Entwicklung. Vgl. Über die Demokratie in Amerika, Zweiter Teil (1840), I!. Teil, 2. Kapitel: »Über den In­dividualismus in den demokratischen Ländern« (»Der Individualismus ist ein noch junger Ausdruck, der aus einer neuen Vorstellung hervorgegangen ist. Unsere Vorfahren kannten nur die Selbstsucht.«), Zürich, Manesse, 1987, S. 147; Der alte Staat und die Revolution, München, dtv, 1978, S. 103: »Unsere Väter hatten das Wort >Individualismus< nicht, weil es zu ihrer Zeit allerdings kein Individuum gab, das nicht zu einer Gruppe gehörte und sich als ganz al­leinstehend hätte betrachten können; aber jede der tausend kleinen Grup­pen, aus denen die französische Gesellschaft bestand, dachte nur an sich selbst. Es war dies, wenn ich mich so ausdrücken darf, eine Art kollektiver Individualismus, der die Gemüter auf den uns bekannten eigentlichen Indi­vidualismus vorbereitete.<< (Robert Castel zitiert und kommentiert diesen Text in Les Metamorphoses de la question sociale, Paris, Fayard, 1995, S. 463 [dt.: Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Kon­stanz, UVK, 2ooo, 2. Aufl. 2008, S. 40 3 ] ) .

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individualismus unter bestimmten historischen oder kulturellen Bedingungen ein Organisationsprinzip für die ganze Gesell­schaft darstellt und dabei die großen binären Gegensätze der soziologischen Tradition nach Bedarf wieder aufnimmt: Gemein­schaft* und Gesellschaft*, Status und Kontrakt, mechanische Soli­darität unter Gleichgesinnten und organische Solidarität unter Verschiedenen, Hierarchieprinzip und Egalitätsprinzip; oder ob er einen bestimmten Bereich des menschlichen Verhaltens charakte­risiert, der mehr oder weniger hegemonial oder autonom auftre­ten kann, aber niemals die Gesamtheit der Verhaltensweisen zu umfassen vermag: entweder den ökonomischen Bereich rund um die Begriffe des allgemeinen Marktes und der Autonomi­sierung des homo oeconomicus ratiocinator oder den rund um das »subjektive Recht<< als zentrale Kategorie sich entfaltenden rechtlichen Bereich.

Macphersons theoretisches Material bildet bekanntlich ein Textkorpus aus der Zeit der englischen Revolutionen: Hobbes, die über ihre Tracts als Kollektiv betrachteten Levellers, Har­rington und Locke. Es geht darum, ihre gemeinsame Axioma­tik freizulegen und so zu zeigen, dass die entgegengesetztesteil Versuche einer Neubegründung der politischen Verpflichtung in der Krise zu Beginn der Moderne mit einer episteme des besit­zenden Individuums unterfüttert sind. Besonders wichtig in die­ser Hinsicht ist der Nachweis, dass der Demokratismus der Level­lers auf der gleichen Grundlage beruht wie die Positionen ihrer republikanischen und konstitutionalistischen Gegner: das freie Verfügen des Individuums über seine Fähigkeiten als Basis der

Partizipation am politischen Kollektiv; und der Nachweis der in­neren Kohärenz der Lehre von Locke, der damit beginnt, das Ei­gentumsrecht auf die persönliche Arbeit zu gründen, um bei der Rechtfertigung der kapitalistischen Akkumulation zu enden.

Am Schluss seines Werkes schlägt Macpherson eine Axiomatik des Besitzindividualismus in sieben Sätzen vor, die man in einer

anderen Sprache Metaphysik der klassischen liberalen Politik nennen könnte (S. 295-296):

123

Page 63: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

- Was einen Menschen zum Menschen macht, ist seine Freiheit von der Abhängigkeit vom Willen anderer.

- Freiheit von der Abhängigkeit von anderen bedeutet Freisein von allen Beziehungen zu anderen, mit Ausnahme jener Bezie­hungen, die das Individuum freiwillig eingeht, im Hinblick auf sein eigenes Interesse.

- Das Individuum ist wesentlicher Eigentümer seiner eigenen Person und Fähigkeiten, für die es der Gesellschaft nichts schuldet.

- Wenngleich das Individuum nicht die Gesamtheit des Eigen­tums an seiner Person veräußern kann, so kann es doch seine Fähigkeit zu arbeiten, seine Arbeitskraft veräußern.

- Die menschliche Gemeinschaft besteht in einer Reihe von Marktbeziehungen.

- Da Freiheit vom Willen anderer das ist, was den Menschen zum Menschen macht, kann die Freiheit eines jeden Individu­ums rechtmäßig nur durch solche Pflichten und Regeln einge­schränkt werden, die nötig sind, die gleiche Freiheit auch den anderen zu sichern.

- Die politische Gemeinschaft ist eine menschliche Erfindung, eine Zwangsmaßnahme zum Schutz des Eigentums des Indivi­duums an seiner Person und seinen Gütern und folglich zur Aufrechterhaltung geordneter Tauschbeziehungen zwischen Individuen als Eigentümern ihrer selbst.

Diese Axiome werden aufbesonders klare Weise bei Hobbes aus­gesprochen. Aber erst bei Locke finden sich ihre Folgen vollstän­dig entwickelt, insbesondere im Hinblick auf die Verringerung des augenscheinlichen Widerspruchs zwischen dem Entstehen von Klassenunterschieden in einer auf dem allgemeinen Markt gründenden Gesellschaft und der Gleichsetzung von Freiheit und Eigentum seiner selbst. Um die Originalität und Solidität von Macphersons Konzeption zu erproben, kann man auf ver­schiedene Weisen vorgehen: extern und intern.

Nachdem sie weit über marxistisch geprägte Kreise hinaus -für die sie in den 196oer Jahren als besonders repräsentativ an-

124

gesehen wurde - geltend gemacht worden war, wurde Macpher­sons Theorie massiv in Frage gestellt, und zwar zunächst unter dem Aspekt ihrer historischen Stichhaltigkeit. Die interessanteste dieser Kritiken geht aus der angloamerikanischen, neorepublika­nischen historiographischen Strömung hervor, deren berühm­tester Vertreter J. G. A. Pocock ist.4 Er erklärt, dass das »Eigen­tum«, das die klassischen Autoren zur Grundlage oder sogar Substanz der individuellen Freiheit gemacht haben, als Recht auf Partizipation an der polity, nicht das Eigentum von bewegli­chen, auf dem Markt zirkulierenden Gütern ist, sondern das traditionelle Grundeigentum, das Patrimonium, das seinem »Herrn« in der Polis persönliche Unabhängigkeit, also einen »politischen« Status zusichert. Dieses Eigentum ist in gewisser Weise untrennbar von der Person des Herrn, dem es Autorität bzw. eine besondere Qualität verleiht, was in dem Wortspiel von property [Eigentum] und propriety [Schicklichkeit, Ange­messenheit] ziemlich klar zum Ausdruck kommt. Auf diese Kritik, die auf immense Gelehrsamkeit und eine extrem scharf­sinnige Lektüre der Texte gegründet ist, kann man auf verschie­dene Weisen antworten. Man kann, wie zum Beispiel Negri, hervorheben, dass Pocock sich als noch strengerer Kontextualist als Macpherson geriert, wenn er die archaischen Elemente des Denkens und der Sprache der klassischen Autoren paradoxer­weise aufwertet, damit er die Existenz einer republikanischen Tradition nachweisen kann, die die Entwicklung des Kapitalis­mus praktisch unangetastet gelassen hat. Man kann auch, wie Macpherson selbst es zweifelsohne tun würde, nahelegen, dass eine axiomatische Methode, wenn sie denn die nötige Strenge aufweist, das einzige Mittel ist, den Zusammenhang von zutiefst rätselhaften Begriffen wie dem des »Eigentums seiner selbst«

4 J. G. A. Pocock, Virtue, Commerce, and History, Cambridge, Cambridge University Press, 1985 [dt.: Die andere Bürgergesellschaft. Zur Dialektik von Tugend und Korruption, Frankfurt/M./New York, Campus, 1993] . Genau ge· nommen hat Pocock eine Professur in Princeton inne, stammt aber aus Neu· seeland.

125

Page 64: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

mit unterschiedlich gestaffelten historischen Tendenzen und Ge­gentendenzen zu erfassen. Das bringt uns auf einen zweiten Auseinandersetzungspunkt, den wir hier kurz anschneiden soll­ten.

Es handelt sich um das Verhältnis, das Macphersons Konzepti­on zu anderen Versuchen unterhält, die Eigentümlichkeit des In­dividualismus herauszuarbeiten, den man häufig als Hauptmerk­mal der Moderne ansieht - im Gegensatz zur »Abhängigkeit« oder Nicht-Trennbarkeit, die den früheren Menschen charakteri­sierte: ob nun vom Stamm, von der Polis oder vom Feudalsystem. Ich möchte hier nur eine Alternative anführen, und zwar unter Bezugnahme auf eine These Webers in der Protestantischen Ethik,5 die Macpherson meines Wissens nur einmal beiläufig er­wähnt, um die Debatte über die >>Ursprünge« des Kapitalismus zurückzuweisen, wobei er die Verwandtschaft von Webers Mo­dell der Sozialbeziehungen mit dem seinen aber zugesteht (S. 63 ) . Bei gerrauerer Überlegung scheint die Divergenz jedoch sehr tief zu sein - dergestalt, dass der Begriff des Besitzindividualismus wahrhaft am Scheideweg steht. Wie wir gesehen haben, sieht Macpherson die Rückwirkung des Marktprinzips der Veräußer­barkeit von Dingen auf die Person selbst als zentral an bzw. die Konstituierung des Subjekts in der Bewegung der Aneignung. Die Akkumulation steht klar im Dienst der Aneignung, die einen neuen Typus von Staatsgewalt oder >>kontraktueller« politischer Verpflichtung begründet. Aber Webers Kopplung von voraus­schauender ökonomischer Rationalität (die letztendlich eine zu­mindest formelle Trennung von Unternehmenseigentum und Privateigentum und eine sehr starke Spannung zwischen ihren jeweiligen Prinzipien voraussetzt) und innerweltlicher Askese (als völlig neuartige Ethik der Selbstkontrolle) scheint in eine diame­tral entgegengesetzte Richtung zu gehen. Weber steht hier Marx

5 Max Weber, >>Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« ( 19041l905), in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen, Mohr I Siebeck, 1920, 6. Aufl. 1972, S. 17-206.

126

viel näher, der im Kapital dem personifizierten Kapital den Be­

fehl >>Akkumuliert, Akkumuliert ! Das ist Moses und die Prophe­

ten !« in den Mund legt.6 Akkumulation um der Akkumulation willen, das Eigentum

wird riskiert und ständig wieder aufs Spiel gesetzt: Darin besteht der Kern des kapitalistischen Ethos und seine eigentliche Askese. Es ist nicht sicher, ob ein solches Prinzip das Subjekt des Eigen­tums bzw. den Eigentümer einsetzt. Es könnte ganz im Gegenteil sein, dass es ihn absetzt, ja sogar enteignet, womit wir bereits den

logischen Raum der Negationen, der Verneinungen betreten. Oder wenn man so will: Die dem Kapitalismus eigene Subjekti­vierung zielt nicht auf die Aneignung seiner selbst ab, sondern auf die Aneignung der Welt mit der Maßlosigkeit und möglichen Antinomie, die einem solchen Ziel innewohnt. Niemand ist da­

her so wenig >>Eigentümer seiner selbst« wie das Individuum bei Weber. Doch lassen wir das so stehen und kommen wir auf Mac­pherson zurück.

Der wichtigste Vergleich für unsere Absichten ist nämlich ei­gentlich der Vergleich mit anderen Arbeiten des Autors, in denen

er ausdrücklich versucht hat, die Formen der gegenwärtigen >> Kri­se« des Besitzindividualismus zu charakterisieren, die aus der konsequenten Anwendung von dessen Prinzipien resultiert, wo­durch Macpherson den theoretischen Rahmen definiert, der die­sem Begriff seinen Sinn verleiht. Ich beziehe mich hier auf das im­mer noch nicht übersetzte Buch Democratic Theoryvon 1973, das sich zum Teil mit Rawls, Nozick, Isaiah Berlin und Milton Fried­man auseinandersetzt und das Projekt einer politischen Theorie des Eigentums definiert, für die die Charakterisierung des Besitz-

6 Siehe die ganzen Ausführungen von Marx über die »Abstinenztheorie<<, Das Kapital. Erster Band, S. 617-625, einschließlich des langen Luther-Zitats (es ist eigentlich verblüffend, dass Weber, der diesen Abschnitt nicht nicht gekannt haben kann, ihn nie zitiert hat, wenigstens in der Protestantischen Ethik . . . ) . V gl. Karl Marx, Das Kapital. Erster Band, in: Marx I Engels, Werke, Bd. 23, Berlin, Dietz, 1971 .

127

Page 65: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

individualismus nur der Ausgangspunkt ist? Der Einwand von

Pocock wird hier abgewendet - abgesehen davon, dass es sich

nicht um denselben Begriff von Politik handelt: nicht um die poli­

teia oder die Mitgliedschaft in der polity, sondern um die Ver­

knüpfung von »Rechten« und »Mächten« bzw. »Gewalten« in der

Gesellschaft. Macpherson definiert das Eigentum im Allgemeinen

(Begriff und Institution) jetzt als »eine menschengemachte Vor­

richtung, die bestimmte Beziehungen zwischen den Leuten her­

stellt«, das heißt als ein Machtverhältnis, das auf dem Gebiet des

Zugangs zu den Arbeitsmitteln (eher als zu den Produktionsmit­

teln) wirksam wird. In seinen Augen führt die Geschichte des Ei­

gentums tendenziell vom klassischen Recht, das als das Recht defi­

niert wird, andere von der Verwendung oder Nutzung (benefit)

bestimmter Dinge auszuschließen, zu einem Rechtsprinzip, das

in der gegenwärtigen Gesellschaft allmählich zum Vorschein

kommt: »Eigentum wird zunehmend wieder als Recht auf Ein­

künfte gesehen [ . . . ] und für die meisten Menschen muss das jetzt

ein Recht auf ein Einkommen sein, was einem Recht auf Zugang

zu den Arbeitsmitteln entspricht« - ein Zugangsrecht zu den Ar­

beitsmitteln aufgrund der Einkünfte, die sie verschaffen. Dieses

Prinzip wird »demokratisch« genannt, und seine Logik führt

dazu, anzuerkennen, »dass das individuelle Eigentum zunehmend

in dem individuellen Recht bestehen muss, nicht vom Zugang zu

den Arbeitsmitteln ausgeschlossen zu werden, die heute haupt­

sächlich in körperschaftlichem oder gesellschaftlichem Besitz

sind: so dass eine demokratische Gesellschaft ihren Begriff vom

Eigentum als eines individuellen Rechts, andere auszuschließen,

wieder um das Eigentum als eines individuellen Rechts erweitern

muss, nicht von anderen ausgeschlossen zu werden« (S. 122).

Von einem individuellen Recht, andere auszuschließen, geht man zu einem individuellen Recht über, nicht von den anderen

7 Crawford Brough Macpherson, Democratic Theory. Essays in Retrieval, Oxford, Oxford University Press, 1973. [Seitenzahlen im Text beziehen sich im Folgenden auf diesen Band. Übers. C. P. )

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ausgeschlossen zu werden; alle beide sind sozial geschaffen und historisch bedingt. Beide sind Gegenstand einer öffentlichen Ga­rantie und korrelieren folglich mit einem System, das die Indivi­

duen in die Pflicht nimmt und die Gewalten staatlich organisiert

(»Der Staat schafft die Rechte, die Individuen haben sie«, S. 124).

In einem bestimmten Verhältnis zu einem Staatstypus nimmt folglich jede Eigentumsform eine Individualisierung vor, aber die eine über einen Ausschluss, eine Exklusion, die andere über eine Inklusion. Die erste hatte die Funktion, zum Arbeiten an­zuregen, die Menschen zum Arbeiten zu bringen. 8 Die zweite mündet in eine Idee der Partizipation bei der Kontrolle der Ver­wendung des akkumulierten Kapitals und in ein Recht auf An­eignung dessen, was Macpherson »a kind of society«, eine Art Ge­sellschaft, nennt - jenen Komplex von immateriellen Dingen, aus dem der »Genuss der Lebensqualität« besteht (enjoyment of the quality of life, S. 1 39).

»Politisch« ist hier vielleicht weniger der intrinsische Gehalt der allgemeinen Definition von Eigentum als vielmehr über­haupt die Idee des Antagonismus der zwei tendenziell ermittelten Eigentumsformen, selbst wenn die zweite zunächst als >>Zusatz« oder >>Erweiterung« der ersten dargestellt wird. Denn sie be­zeichnen eine radikale Alternative bei der Organisation der >>Ge­sellschaft« und der >>Macht«. >>Sozialeigentum« wäre gewisser­maßen eine Tautologie, denn alles Eigentum ist ein soziales Individuationsverhältnis. Ihre Differenzierung indes ist politisch bzw. das Politische. Trotz alledem sieht man, dass Macpherson kein Marxist ist, was immer man darüber gedacht und gesagt hat.9 Er hat nicht vor, die Strukturen der Macht aus der Organisa-

8 Eine Idee, die sofort einen anderen» marxisierenden« Autor derselben Zeit­spanne auf den Plan ruft: Kar! Polanyi, The Great Transformation. The Political andEconomic Origins ofour Time, New York 1944, London 1945 [dt.: The Gre­at Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt/M., Suhrkamp, 9. Aufl. 20 11 ] . 9 Außer Negri, das sei hier vermerkt. V gl. ranomalia selvaggia, Mailand, Feltrinelli, 1981, Anhang [in der deutschen Übersetzung Die wilde Anomalie. Baruch Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft, Berlin, Wagenbach, 1981,

129

Page 66: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

tion des Eigentums oder soziale Beziehungen aus materieller

Aneignung und Tausch abzuleiten. Ihm kommt es weniger da­

rauf an, zu zeigen, dass sich die politische Verpflichtung in den

Dienst der Zwänge des Marktes stellt, als vielmehr darauf, dass

sie die Struktur eines Marktes aufweist, vor allem insofern die

Subjekte, die sie einbezieht, freie, durch ihr Eigentum an sich

selbst definierte Subjekte sind, die in mehr oder weniger gro­

ßem Ausmaß ein subjektives Recht gegen objektive Sicherheit

>>eintauschen«. Letzten Endes ist die Frage des Besitzindividualismus aber

durch diese Perspektivierung womöglich komplizierter und nicht einfacher geworden. Warum ? Nicht nur weil Macpherson sich

veranlasst sieht zu schreiben: »Eigentum kann und sollte wieder ein Recht aufLeben und Freiheit werden« (S. 140), womit er poli­tisch für das Projekt eines >>Zurück zum (emanzipatorischen) Ur­sprung« des Liberalismus eintritt. Sondern weil der Ausdruck von nun an zwischen einem weiteren und einem engeren Sinn schwanken wird. Der weitere Sinn besteht in der formalen Defi­nition des Eigentums, die alle historischen Formen oder zumin­dest seine modernen Formen umfasst. Unter diesem Gesichts­punkt, mit dem >>Recht, nicht ausgeschlossen zu werden<<, haben wir es mehr denn je mit einer Individualität zu tun, die sich auf Eigentum gründet. Der engere Sinn besteht in der ausschließli­chen Anpassung des Subjekts an die Bedingungen der Logik des Marktes, deren Axiome wir aufgelistet haben. Im Zentrum der Schwierigkeit: wie die Kategorie des >>Eigentums seiner selbst<< funktioniert, ihr ein- oder mehrdeutiger Charakter, veränderlich oder unveränderlich. Denn diese Kategorie bildet ihrerseits eine

der Hauptschwierigkeiten der Lesart, die Macpherson für die klassischen Theoretiker vorgeschlagen hat.

wie in der französischen I:Anomalie sauvage. Puissance et pouvoir chez Spino­za, Paris, PUF, 1982, nicht enthalten]: Considerazioni su Macpherson.

130

2. Zurück zu Locke: Individuum, Gemeinschaft, »Eigentum seiner selbst«

Es ist nicht sehr schwer, in Macphersons Systematisierung des pos­sessive individualism um ein gemeinsames Modell herum eine Rei­he von Schwierigkeiten oder >>Forcierungen<< ausfindig zu ma­chen, deren Prinzip darin besteht, Aussagen, die nur auf einzelne Autoren zurückzuführen sind, übergreifend zu lesen. Am schwer­wiegendsten ist das Verhältnis von Hobbes und Locke betroffen.

Gehen wir davon aus, dass bei Hobbes die Postulate des Besitzin­dividualismus auf Anhieb mit einem Maximum an Klarheit und Strenge ausgesprochen werden. Sie bilden ein System, durch das man sich den >>politischen Körper<< als Zusammenschluss von In­dividuen vorstellen kann, die jeweils nur ihr eigenes Interesse ver­folgen, so dass die moralischen Verpflichtungen allein aus dem Konkurrenzverhältnis zwischen den individuellen Kräften abzu­leiten sind. Macpherson schreibt Hobbes aber auch die These oder das Postulat eines »individuellen Eigentums an sich selbst<< zu, das die Fähigkeit, sich zu veräußern, einschließt. Man sieht, dass das notwendig ist, um das Modell immanent abzurunden, aber man dürfte große Mühe haben, eine solche Formulierung bei Hobbes

zu finden. In Wirklichkeit gibt es wesentliche Gründe, warum Hobbes absolut gegen ein >> Eigentum seiner selbst<< gewesen wäre: weil es den Rückzug des Individuums aus dem Konflikt der beiden >>Götter<<, des Weltlichen und des Geistigen, die um sein member­ship, seine Mitglied- oder Anhängerschaft, streiten, unmittelbar möglich macht. Ein solcher Pluralismus der Zugehörigkeiten und Autoritäten, auf die jedes Individuum nach Belieben >>setzen<< kann, ist genau das, was Hobbes unablässig unterbinden wollte. Das Hobbessche Individuum ist »frei<<, es kann sich zusammen­schließen oder nicht, das heißt in Sicherheit oder Unsicherheit le­ben, aber dieser Zusammenschluss muss eindeutig sein . . . Darin besteht die ausdrückliche Lehre des Leviathan.

Müssen wir daraus schließen, dass der Begriff auf Anhieb an

der mangelnden Universalität seines zentralen Merkmals schei-

13 1

Page 67: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

tert? Ich nehme eher an, dass der Besitzindividualismus, obwohl

er real ist, Einheit trotzdem nur um einen Konflikt, eine anfäng­

liche Spaltung herum gewinnt. Einen Besitzindividualismus gibt

es nicht, sondern tendenziell zwei, aber diese beiden sind auf An­

hieb symmetrisch, sie stehen einander eins zu eins um eine zen­

trale Divergenz herum gegenüber, aus der sich der ganze Rest er­

gibt. Sagen wir, es handelt sich um Leben und Tod oder um die

Gleichheit in Bezug auf das Leben und die Gleichheit in Bezug

auf den Tod, was zur Teilung des Begriffes Konkurrenz führt, je

nachdem, ob er auf Formen des Krieges oder auf Formen des

Austausches und Rechtsstreits verweist. Doch zweifellos würden

die Dinge in negativer Form noch viel klarer: Nichts kann »seiner

selbst enteignet« werden, die Grenze des Politischen besteht also

in einem Widerstand des Selbst gegen den Ausschluss von seinen

»Eigenheiten« bzw. seinem »Eigentum«10 und aus der sozialen

Welt, in der es dieses Eigentum aufgrund eines natürlichen cona­

tus ertragreich anlegt; aber im Fall von Locke ist diese Grenze

»voll<< (was später die »natürlichen Rechte des Menschen<< ver­

deutlichen werden, die Rechte aufLeben sind, die eine republika­

nische Verfassung jeweils zu gegenseitig gewährleisteten Bürger­

rechten macht und die die Funktion einer inneren Begrenzung

der Macht übernehmen), während sie im Fall von Hobbes poten­

ziell »leer<< ist (ausgehöhlt durch die These, der zufolge jedes In­

dividuum die Möglichkeit hat, einer als willkürlich empfundenen

Macht im Tod zu widerstehen oder dabei sein Leben aufs Spiel zu

setzen - eine These, die der Idee einer Gleichheit unter den Indi­

viduen erschreckend nahesteht, die einzig darauf beruht, dass je­

der Mensch das Leben eines anderen zu bedrohen vermag, und

folglich der Idee eines gewalttätigen »Naturzustandes<<, den die

Institution des Staates verdrängt, der dessen Autorität aber be­

ständig unterlegt ist).

10 [Frz. proprietes. Balibar spielt hier wie im Folgenden mit der Doppelbe­deutung von >>propriete« als »Eigentum« und >>Eigenschaft« oder >>Eigenheit«, das im Französischen auch als Übersetzung für >>Eigentlichkeit« etwa bei Heidegger verwendet wird, vgl. unten, S. 161.]

1 32

Wenn dieser Gegensatz einen Sinn hat, kann der Begriff des

Besitzindividualismus eine konstitutive Dialektik in Gang setzen. Deren erstes Moment besteht zweifellos darin, die Beziehungen zwischen Macht, Eigentum und Eigentümer zu regulieren. Es be­steht kein Zweifel, dass die klassischen Theorien des Besitzindivi­dualismus immer einen Begriff der Macht und einen Begriff des Eigentums oder der Aneignung miteinander verknüpfen. Ebenso

klar ist aber auch, dass sie dabei entgegengesetzt verfahren, ent­weder in Richtung einer Anerkennung des Eigentums als Macht oder einer Macht des Eigentums. Wenn die Hobbessche Zivilge­sellschaft zumindest per Analogie die Gestalt eines Konkurrenz­marktes annimmt, dann im Sinne eines Marktes der Macht, auf dem das »Eigentum« als Verfügen über ökonomische Reichtü­mer nur eine der Formen des Machterwerbs bildet. Deshalb be­nötigt Hobbes übrigens auch keine langen Vermittlungsschritte, um aus der natürlichen gleichen Freiheit der Individuen die Not­wendigkeit rechtlicher Zwangsmaßnahmen und allmächtiger staatlicher Regulierungen abzuleiten. Denn Macht ist per defini­tionem mehr Macht bzw. die Macht, andere Individuen dem eige­nen Wollen zu unterwerfen, wozu die »Dinge<<, die man besitzt (Reichtümer, Ämter, Wissen . . . ) , jeweils Mittel bilden. Bei Locke scheint mir die Konfiguration umgekehrt zu sein, und deshalb ziehen die Theoretiker des homo oeconomicus sie vor, obwohl sie im Grunde ebenfalls rein politisch ist: Nicht das Eigentum ist hier ein Bestandteil der Macht, sondern die Macht geht auf das Eigentum zurück und gewinnt aus dessen Sozialisierungspotenz die Merkmale, die man gewöhnlich als »liberal<< bezeichnet: Gleichgewicht der Gewalten, Repräsentation und Majoritätsre­gel, mit anderen Worten Selbstbeschränkung des Politischen, die die Notwendigkeit zum Ausdruck bringt, das Eigentum frei zu belassen oder zu bewahren, es zu »konservieren<<.

Nun stellt sich allerdings die Frage, ob das, was bei Locke auf einer grundsätzlichen Ebene »frei<< ist bzw. die Macht verteilt, das Eigentum oder der Eigentümer ist. Mir scheint, dass es grund­

sätzlich das Eigentum ist, insofern es das übergeordnete Wesen

1 33

Page 68: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

des Eigentümers bildet, seine innere Kraft zum Handeln, die Locke selbst sein Leben nennt und die wir gleich in seine Arbeit umberrennen werden.11 Eigentlich dürfte auch Locke selbst an diesem Punkt zwischen zwei Verständnisweisen seiner eigenen grundlegenden »Gleichung« schwanken, deren Bestandteile aus einer schon langen politischen Tradition stammen: Liberty and Property - beides Namen für das Leben, Life.U Das kann man so verstehen, dass die Freiheit durch das Eigentum bedingt ist, und in diesem Sinne ist nur der »Eigentümer« unabhängig, also po­tenziell Bürger, was - möglicherweise um sie zu begrenzen - zur Bemessung der politischen Rechte am jeweiligen Umfang des Ei­gentumsrechts führt, als in Institutionen oder Repräsentationen bereits gegebenes, konstituiertes Eigentum. Aber man kann es auch so verstehen, dass Eigentum Ausübung der Freiheit ist, so dass der freie Mensch (einschließlich des freien Menschen in der Polis, des Bürgers) gewissermaßen notwendig Eigentümer ist. Deshalb muss man den Blick auf ein noch nicht von den bereits vorhandenen Institutionen »kalibriertes«, konstituierendes Eigen­tum richten, und das wäre die Individualität selbst. Unter diesem Gesichtspunkt lässt sich sagen, dass das Eigentum frei ist, nicht der Eigentümer, auch wenn sich zeigt, wie sehr das Individuum (das wir dann Subjekt nennen) sich mit diesem Eigentum, das es ist, identifiziert bzw. die eigene Identität in der eigenen Bewegung der Aneignung und des Erwerbs erkennt.13

1 1 Das berühmte Fragment über die >>entfremdete Arbeit« von Marx (in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844) ist ganz und gar um die >>Momente« der diesbezüglichen Lockeschen Ableitung herumgebaut (vielleicht nur vermittelt durch Hegels Theorie der Bildung*). 12 John Locke, Two Treatises of Government, hrsg. v. P. Laslett, durchges. Ausg., Cambridge I New York, Cambridge University Press, 1963, Second Dis­course, § 123: >>the mutal Preservation of their Lives, Liberties, and Estates, which I call by the generat Name: Property<< [ dt.: Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1977, Zweite Abhandlung, § 123: den »gegenseitigen Schutz ihres Lebens, ihrer Freiheiten und ihres Vermögens, was ich unter der allgemeinen Bezeichnung Eigentum zusammenfasse<< ] . 13 John Locke, »Das Eigentum<<, Kapitel 5 der Zweiten Abhandlung über die Regierung (»Über den wahren Ursprung, die Reichweite und den Zweck der

134

Man kann es wagen, aus dieser konstituierenden Figur des Ei­gentums zwei grundlegende Merkmale des Lockeschen Indivi­dualismus abzuleiten: Das eine werde ich, die Vergleichspunkte mit Robert Casteis Fragestellung schon im Kopf, den radikalen Gegensatz von Eigentum und Mitgliedschaft nennen; das andere beträfe die spekulativen Paradoxien des »sich selbst besitzenden Selbst«.

Über die Mitgliedschaft. Erinnern wir uns daran, dass die (ge­gen die Patriarcha von Filmer verfasste) Erste Abhandlung die Verwechslung der drei Begriffe »politische Gewalt<< oder Macht (political power), »Eigentum« (property) und »väterliche Autori­tät« oder Gewalt (paternal power oder authority, fatherhood) sys­tematisch dekonstruiert, aus der sich die Rechtfertigungen des Absolutismus speisen. Das grundlegendste Dilemma bildet die Entgegensetzung einer Verknüpfung von politischer Macht und Eigentum und einer Verknüpfung von politischer Macht mit Vaterschaft und Abstammung (jiliation) . Tatsächlich realisiert Locke mit Hilfe des konstituierenden Eigentums eine wirkliche theoretische Entkoppelung der Macht von der Abstammung. Das ist nicht ohne praktische Folgen. Keinerlei Einmischung von In­stitutionen familiärer (oder genealogischer) Art in den funktiona-

staatlichen Regierung<<), a. a. 0., S. 215-231 . Einzig dieser Begriff eines »kon­stituierenden<< oder transzendentalen Eigentums scheint mir mit der These vereinbar, dass die Arbeit des Knechts seinem Herrn gehört (allgemeiner ge­sagt liefert die Arbeit einer »abhängigen<< Person in Kombination mit der Ar­beit der Person, von der sie abhängt, ein Produkt oder einen Wert, der voll­ständig der letzteren gehört; sie ist also die wahre »Person«). Über die Möglichkeit, diese Thesen mit Lockes Konzeption der »Identität der Person<< zu verknüpfen, so wie sie im XXVII. Kapitel des Zweiten Buches (»Über Iden­tität und Verschiedenheit<<) des Versuches Über den menschlichen Verstand dargelegt wird, vgl. das Glossar meiner Ausgabe dieses Textes: Identite et dif­jerence. Le Chapitre II, xxvii de l'Essay concerning Human Understanding de Locke. Linvention de Ia conscience, Paris, Seuil, 1998. Ich danke Jeremy Wal­dron für den Hinweis auf eine Parallele zu Lockes Argumentation, der zufol­ge Sokrates und Platon, wenn sie »die gleichen Gedanken gehabt hätten<<, als »eine Person« betrachtet werden müssten. Was sich im Bereich der Gesin­nung als absurd darstellt, ist es nicht mehr im Bereich der Arbeit.

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len Ablauf der »Zivilgesellschaft« kann rechtmäßig sein, es sei

denn, es handelt sich lediglich um technische Absprachen, die

die Übergabe der Exekutive gewährleisten. Hier kommt es be­

sonders darauf an, zwischen diesem »Eigentum«, das sich in

Form der Arbeit auf sich selbst besinnt, und der Idee des >>Patri­

moniums<< zu unterscheiden, das mit dem Patriarchat unter einer

Decke steckt. Als Eigentümer und Bürger ist das Individuum

kein Erbe, und selbst wenn es nach dem Modell eines göttlichen

Arbeiters geformt ist (wie Tully behauptet), ist >>God the maker<<

eben gerade nicht >>God the Father<<.14 Locke arbeitet beharrlich

an der Ablösung einer bestimmten Konzeption der Beziehungen

zwischen Eigentum und Zugehörigkeit durch eine andere, in der

das Modell der Zugehörigkeit der genealogischen Ordnung voll­

ständig entzogen ist. Man kann zwar nicht sagen, dass der Indi­

vidualismus, mit dem wir es hier zu tun haben, die Idee der Ge­

meinschaft negiert. Doch es ist nicht zu verleugnen, dass hier die

grundlegende Unterscheidung von zwei Gemeinschaftstypen an­

gelegt ist, und es dürfte von nun an sehr schwierig sein, sie in Ab­

hängigkeit von- oder miteinander vermischt zu denken. Kon­

trakt, Repräsentation, Eigentum und Freiheit auf der einen Seite,

Herkunft, Erbe, ja sogar Tradition auf der anderen gehören jetzt

heterogenen Ordnungen an. Womöglich ist es übrigens diese

Trennung, die es besonders verdient, »utopisch<< genannt zu wer­

den. Das Lockesche Individuum bezieht seine Autorität also nur aus

sich selbst. Das heißt aus seiner Arbeit und seinem Werk bzw. aus der Aneignungspotenz, die es in sich trägt. Versuchen wir, die Pa­radoxien offenzulegen, die sich aus einer solchen Situation er­geben, die aber eben gerade auch die Dynamik des Begriffs des »Eigentums seiner selbst<< ausmachen. Dessen Schwierigkeit be­steht weniger in einer Verwechslung der Ordnungen von Perso­nen und Dingen (wie Kant, aber auch Marx sagen würde) als in

14 James Tully, A Discourse Concerning Property. John Locke and his adversa­ries, Cambridge (UK)/New York, Cambridge University Press, 1980.

einer schwierigen Verknüpfung von Verfügbarem und Unverfüg­barem, Veräußerlichem und Unveräußerlichem, die die Bedeu­tung der Freiheit selbst zu betreffen scheint. Einerseits ist diese Schwierigkeit nichts anderes als die das moderne >>Subjekt<< be­gründende Einheit der Gegensätze, für die es philosophische Theorien geben wird. Doch der Umstand, dass Locke daraus po­litische Schlüsse ziehen möchte, verbietet ihm die Praxis eines >>Rückzugs<< in den transzendentalen Raum einer rein formalen Bedingung der Möglichkeit von Handlungen und Verantwort­lichkeiteil (wie in Fichtes Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich).

Das Individuum soll sich durch seine Handlungen praktisch en­gagieren und sich in diesem Sinne veräußern und dabei doch unverändert bleiben; eine solche Anordnung wirkt sehr schwer verständlich - es sei denn, sie bildet den Inhalt von normativen Sätzen über die Verantwortlichkeit des Subjekts, die Locke im Herzen seiner Konzeption der Arbeit verankert hat. Diese zielt letzten Ende darauf ab, zu zeigen, wie der Bereich der Freiheit sich von der Tätigkeit vernünftiger Individuen bis hin zu deren Tauschbeziehungen untereinander oder deren Repräsentation im Staat zusammensetzt, wie er sich konstituiert.

Es ist also nicht verboten, die kanonische Formulierung, mit der Locke das jeden beliebigen Menschen (every Man) charakte­risierende »property in one's person<< durch »Lives, Liberties, and Estates<< definiert, nicht als bloße Auflistung von Gegenständen zu lesen, sondern als fortschreitende rechtmäßige Aneignung, als die Bewegung des Lebens selbst, die bis zu den Dingen hinunter­

reicht bzw. sie in sich aufnimmt. In diesem Sinne ist das »Eigen­tum seiner selbst<< keine widersprüchliche These, die Personen in die Ordnung der Dinge zurückversetzt, sondern eher der Kon­taktpunkt von propriety und property, von Eigentümlichkeit und

Eigentum, an dem sich die Personen und die Dinge trennen, be­vor sie einander gegenüberstehen. Locke sagt nicht: Die Perso­nen besitzen sich selbst, sondern der Mensch, jeder Mensch be­sitzt seine eigene Person, das heißt, ausschließlich er verfügt über sie, so wie ausschließlich er über sein Leben, seine Freiheit und

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seine Güter verfügt, und im Grunde laufen diese beiden Formu­

lierungen auf dasselbe hinaus. Das Subjekt ist in der Ursache

ebenso wie in den Wirkungen; es ist innen ebenso wie außen.

Das Geheimnis der Lockeschen Formel besteht darin, in absolu­

ter Umkehrbarkeit die Verbindung erhalten zu haben zwischen

einem Diskurs der Befreiung des Individuums von jeder »Sklave­

rei« (in der Zweiten Abhandlung kommt das Kapitel über die

Sklaverei unmittelbar vor dem Kapitel über das Eigentum, es bil­

det dessen genaues Negativ) und einem Diskurs der Aneignungs­

potenz, der Kraft zur Aneignung (also zur Transformation, zum

Erwerb) der persönlichen Arbeit ebendies es Individuums, so dass

es sich bewusst mit dem Eigentum identifizieren kann, das sei­

nen Daseinsgrund bzw. seine Bedingung der Möglichkeit aus­

macht. An diesem Punkt beginnt jedoch die Schwierigkeit, die es be­

deutet, Veräußerliches und Unveräußerliches zu verknüpfen. Wie Macpherson zu sagen, dass wir hier die allgemeine Form der Lohnarbeit als Kauf und Verkauf von Arbeitskraft vor uns ha­ben, benennt nur die Schwierigkeit, die darin besteht, dieselben Dinge oder dieselben Personen gleichzeitig als verfügbar und un­verfügbar, trennbar und untrennbar, empirisch und transzen­dental zu betrachten. Bekanntlich hat auch Marx an diesem Punkt ernsthaft gezögert, bevor er das Modell einer Energiequel­le, die sich regelmäßig erschöpft und wieder erholt, auf die Nut­zung der Arbeitskraft für einen bestimmten Zeitraum anwandte. Locke hat anscheinend ein anderes Schema im Kopf: das einer Kraft oder Fähigkeit, die ganz und gar in ihren Handlungen auf­ginge, insofern diese auf ein Produktivziel ausgerichtet sind. Die Arbeit ist der Prozess, in dem das Subjekt, das self und das own, kontinuierlich den Ort wechselt: Das Eigene kann sich veräu­ßern, wenn das Selbst immer es »selbst« bleibt. Und das Selbst kann mit sich identisch bleiben, wenn das Eigene von seiner Ver­äußerung immer zu sich selbst zurückkehrt. Das heißt einerseits, dass alle Handlungen des Körpers bei der Arbeit im Bewusstsein in einer Vorstellung gedoppelt werden, die sie demjenigen anver-

wandelt, »aneignet«, der diese Handlungen als seine wahrnimmt,

und andererseits, dass dieser Körper sich als untrennbares Gan­zes formiert; er lässt sich nicht zerstückeln, sondern bringt in den fortgesetzten und vielfaltigen Handlungen »seiner Hände« sein eigenes Leben zum Ausdruck. An ehendiesem Punkt setzt Marx

im Kapital an, um zu zeigen, dass die industrielle Lohnarbeit sehr

wohl eine neuartige Form von Sklaverei ist, weil sie eine immer unwiderruflichere Zerstückelung des Körpers nach sich zieht und zugleich, zumindest während der beruflichen Tätigkeit, aber manchmal auch darüber hinaus, die Aneignung der Handlungen

des Produktivkörpers im Denken zum Problem macht. Jetzt versteht man besser, welche architektonische Funktion der

Begriff des »Eigentums an seiner (eigenen) Person« bei Locke erfüllt (aus dem die analytischen Philosophen der Gegenwart das self-ownership machen werden).15 Er erlaubt auch einen Ausweg aus dem Dilemma von »natürlicher Geselligkeit« und transzen­denter politischer Gemeinschaft. In der Aktivität (und Aktuali­tät) der Arbeit bildet sich das Individuum selbst; aber in der Arbeit bildet es auch die Bedingungen des Umgangs, des »Ver­kehrs«, das heißt einer grundlegenden Form der Gemeinschaft, in der Gegenseitigkeit dauerhaft und zur Bedingung der indivi­duellen Existenz selbst wird. Auf der Grundlage eines immer möglichen Umschlags von Frieden in Gewalt oder Bürgerkrieg

findet sich bei Hobbes die theologisch-politische Vorstellung von der Existenz des Staates als Grenzerfahrung; bei Locke eher eine virtuelle Dekonstruktion und Rekonstruktion der Gemeinschaft, deren Prinzip im »Eigentum« des Individuums besteht. Durch

die Arbeit entzieht das Individuum der (mythisch mit einem >>Ur-

15 Vgl. Robert Nozick, Anarchy, State, and Utopia, New York, Basic Books, 1974 [dt.: Anarchie, Staat, Utopia, München, Olzog, 2006, Neuausg. 201 1]; Gerald A. Cohen, Self-Ownership, Freedom, and Equality, Cambridge, Cam­bridge University Press, 1995; und Carole Paternans kritische Auseinander­setzung damit: >>Self-Ownership and Property in the Person: Democratiza­tion and a Tale of Two Concepts«, in: Journal of Political Philosophy, 10, 1, 2002, S. 20-53.

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sprünglichen«, der Menschheit als Spezies von Gott verliehenen

»Eigentum« identifizierten) Gemeinschaft die für seinen Erhalt

notwendigen Güter, aber durch den Tausch, der sich daraus not­

wendig entwickelt, vergemeinschaftet es seine Erzeugnisse und bil­

det so die historische, weltliche Gemeinschaft. Einerseits privati­

siert es die Natur, andererseits sozialisiert es die Menschheit.

3. Figuren der Umkehrung: Rousseau, Marx, Derrida

Ich wende mich jetzt den »Umkehrungen« des Besitzindividua­lismus zu, dessen Problematik, so wie sie sich vor allem bei Locke zeigt, sie allerdings nicht radikal verändern. 16 Liegt nicht allen Umkehrungen im Grunde ein Begriff der »Negation der Nega­tion« zugrunde, weil es darum geht, zu zeigen, dass die Positivität des individuellen Eigentums auf der Verneinung einer Abwesen­heit oder gewaltsamen Zerstörung aufbaut? Es ist natürlich nicht dasselbe, ob man den Mangel an Eigentum zum Ziel sei­ner Kritik macht oder dessen womöglich intrinsisch diskrimi­nierende »Nichtverallgemeinerbarkeit«, die Verarmung, die aus dem Gesetz der Aneignung folgt, oder ob man das Eigentum als Seinsmangel bezeichnet, Umwandlung von Sein in Haben, Ver­dinglichung der Freiheit. Aber in allen Fällen, selbst aus ganz un­terschiedlichen Perspektiven, taumelt das Subjekt, kehrt es in Form einer Unterwerfung zurück, und dies ist der eigentliche Ge­genstand der Debatte um die Möglichkeit der Gemeinschaft, zu der der Besitzindividualismus tendiert.

Indem ich Rousseau, Marx und Derrida der Reihe nach unter-

16 Der Ausdruck >>Umkehrung des Besitzindividualismus« spielt besonders in Negris Buch über Spinoza eine Rolle, wo es um die Entgegensetzung von dessen Konzeption der Potenz der Menge [multitude] und Hobbes' Kons­truktion einer souveränen Macht geht (Die wilde Anomalie, a.a.O., S. 272, vgl. auch S. 129f., 1 5 2, 16of., 223, 225, 227 und 244f.). Erstaunlicherweise interessiert sich Negri, der das Vorwort zur italienischen Übersetzung von Macphersons Buch geschrieben hat, nicht für Locke, dessen Position den bi­nären Gegensatz, auf den seine Theorie abzielt, in Frage stellen würde.

suche, möchte ich ein System von Gegensätzen und Ähnlichkei­ten herausarbeiten. Wir benötigen diese drei »Fälle«, um die Lo­gik der Unterwerfung des Subjekts freizulegen, die hier am Werk ist. Die historische Reihenfolge ist von Bedeutung: Ohne Rous­seau wäre Marx nicht möglich, und Derrida wäre ohne Rousseau

und Marx nicht möglich. Mir kommt es hier jedoch nicht auf die Abfolge als solche und noch weniger auf die Idee an, dass sie eine

historische Tendenz oder eine Transformation des Zeitgeistes veranschaulichen könnte, sondern vor allem auf die Struktur der Variation als solche, die sich in den jeweiligen Werken entfaltet, die aufeinander »antworten« und für uns doch synchron sind.

Heuristisch bin ich von Marx' Ausdruck der »Expropriation der Expropriateure« und seiner enigmatischen Wiederholung in der

von Derrida erdachten »Exappropriation« zu dem zurückgegan­gen, der mir als ihr gemeinsamer Gesprächspartner erschien: zu dem Rousseau des »Besitzentzugs« oder der »Enteignung«.

Rousseau

Die Bedeutung der politischen Anthropologie von Rousseau ist bekanntlich schwer zu bestimmen, zumindest wenn man ver­sucht, sie als kohärentes Ganzes zu verstehen. Ohne Anspruch auf Lösung aller Schwierigkeiten möchte ich folgenden Interpre­tationsschlüssel vorschlagen: Der Stellenwert, der dem »priva­ten« Eigentum im Gesellschaftsvertrag zugewiesen wird, stellt die heftige Kritik, die im Diskurs über die Ungleichheit entwickelt wurde, nicht in Frage, ganz im Gegenteil: Er radikalisierst sie. 17 So dass die rechtliche Instituierung des Eigentums durch den Staat zugunsten der Bürger (Gesellschaftsvertrag, I, 8) eigentlich

17 Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l'origine et les fondements de l'im!gali­te parmi les hommes ( CEuvres Completes, La P!eiade, Bd. III) [ dt.: Diskurs über die Ungleichheit, Schöningh, Paderborn, 1984, 6. Aufl. 2008]; Discours sur l'economie politique ( 0. C., Bd. III) [ dt.: Abhandlung über die Politische Öko­nomie, in: Politische Schriften, Paderborn, Schöningh, 1977, 2. Aufl. 1995, S. 9-57]; Le Cantrat social (0. C., Bd. III) [dt.: Vom Gesellschaftsvertrag, Stutt-

1 4 1

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auch ein Besitzentzug ist. Unter diesen Umständen muss der durch Hobbes angeregte Ausdruck >>totale Selbstentäußerung«, dessen sich Rousseau zur Bezeichnung des Bildungsmechanis­mus des Gemeinwillens bedient, wörtlich genommen werden. Bei der Bildung des Staates und der Instituierung des Rechtssys­tems wird dem Menschen die Möglichkeit, sich selbst zu besitzen oder sich »eigentlich<< in seinem Eigentum wiederzufinden, für immer entzogen, er existiert nur als Bevollmächtigter jenes uni­versellen Teils seiner selbst, der sich mit allen anderen zu dem zu­sammengeschlossen hat, was Rousseau ein »moi commun«, ein gemeinschaftliches Ich, nennt.

Das Privateigentum ist also nur die Art und Weise, wie das im Staat aufgegangene Volk »jeden zur Freiheit zwingen<< kann. Es hat wesentlich eine öffentliche Funktion. Daher die völlige Am­bivalenz von Rousseaus Konzeption im Hinblick auf die Alter­native von Individualismus und Kollektivismus, die in späteren Zeiten offenkundig wird: Der Individualismus ist immer nur fik­tional, und der Kollektivismus ein Mittel, das >>Dritte«, also das Wir oder das Volk selbst - die Nation, wenn man so will -, von der symbolischen auf die reale Ebene zu überführen bzw. es sei­ner Idealität zu berauben, um es »real<< zu projizieren. Man wird einwenden, dass die Formulierung im unmittelbar folgenden Ka­pitel die Idee eines Austausches zwischen Individuum und Staat glaubhaft zu machen scheint, wodurch das, was die Individuen in Wirklichkeit niemals abgegeben haben, ihre privaten Güter, Rechtmäßigkeit erlangt: >>Jedes Glied überantwortet sich der Gemeinschaft [ . . . dadurch] haben sie sozusagen [ . . . ] alles er­worben, was sie hingegeben hatten<< (Gesellschaftsvertrag, I, 9, »Grundbesitz<<, a. a. 0., S. 23 und 26). Ich glaube dagegen, dass diese Formulierungen den Entzug des Besitzrechts unrettbar im Herzen des Eigentums verankern. Das muss man jedenfalls aus

gart, Reclam, 2011] ; Emile ou de l'education (0. C., Bd. IV) [dt.: Emile oder über die Erziehung, Paderborn, Schöningh, 1971, 12. Aufl. 1995 ] . Victor Goldschmidt, Anthropologie et politique. Les Principes du systeme de Rous­seau, Paris, Vrin, 1983.

Rousseaus Konzeption des Verhältnisses von Besitz und Genuss schließen. Man könnte sagen, dass der Mensch - und zwar nicht nur der Mensch, der vom Besitz ausgeschlossen ist, sondern vor allem der; der sich das >>Seine« aneignet und sagt, »dies ist meins<< - vom ursprünglichen Moment der »Besitznahme<< an dem Trugbild hinterherläuft, dass er das, was er besitzt, wirklich genießen kann. In diesem Sinne >>sagt<< ihm die Institution des Politischen: Du wirst niemals in den Genuss kommen, sie schreibt ihm das rechtmäßige Eigentum als Verzichtsleistung für das private Genießen zu.

Rousseaus Formulierungen spiegeln hier die von Locke (und

die Konfrontation wird umso unvermeidlicher, als er kurz zuvor selbst, wie im Diskurs über die Ungleichheit und im Emile, auf Lockes Begriff der Legitimierung durch persönliche Arbeit Be­zug genommen hat). 18 Während die Arbeit bei Locke das Indivi­duum als Eigentümer von Dingen und sich selbst konstituiert, wobei sie der Gemeinschaft unaufhörlich den Teil der natürlichen Gegenstände entzieht, mit dem sie in Berührung kommt oder den sie in das Leben einbezieht, ist es bei Rousseau die Gemein­schaft, die gewissermaßen der Arbeit unaufhörlich das entzieht, was sie produziert, um es symbolisch dem zum Bürger, das heißt zum untrennbaren Teil des Souveräns, gewordenen Individuum zuzuschreiben. Tatsächlich hat Rousseau, wie er im Zweiten Teil des Diskurses über die Ungleichheit erklärt, den Gedanken nie aufgegeben, dass >>die Erde niemandem gehört« und dass eine Geste des Ausschlusses und der Schließung am Ursprung aller Ungleichheiten im Status und aller Zwänge im Gefolge der Ent­wicklung der Zivilisation steht. Aber er hat auch verkündet (in der Abhandlung über die politische Ökonomie, a. a. 0., S. 3 8 ), dass das Eigentum >>das heiligste von allen Bürgerrechten ist und in gewissen Beziehungen noch wichtiger als die Freiheit selbst [ . . . ]

18 Siehe den wertvollen Kommentar von Catherine Larrere, >>Proprit�te et souverainete chez Rousseau«, in: Droits, Nr. 22, 1995, ebenso wie die klassi­schen Analysen von Victor Goldschmidt.

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die wahre Begründung der menschlichen Gesellschaft« oder dass »das private Eigentum und die bürgerliche Freiheit Grundlagen der Gemeinschaft sind« (Erstfassung des Gesellschaftsvertrages, »Genfer Manuskript«, OC III, S. 3 3 0 [Übers. C. P. ] ) . Unter An­wendung dessen, was Starebinski zu Recht das Verfahren des »Rettenden in der Gefahr« genannt hat, verdoppelt er die Entäu­ßerung, um ihre Auswirkungen symbolisch zurückzunehmen. 19 Was die Aneignung oder der Besitz den Individuen entzogen hat, nämlich den Genuss, entzieht die Institution des Eigentums ih­nen endgültig, um daraus die fiktive Markierung ihrer Zugehö­rigkeit zum Gemeinwesen zu machen.

Die These vom heillosen Abstand zwischen Besitz und Genuss kommt zweifellos am deutlichsten dort zum Vorschein, wo Rous­seau in den Diskursen bzw. Abhandlungen oder in den Bekennt­nissen und noch an anderen Stellen (Neue Heloise) über den wechselseitigen »Besitz« der Geschlechter spricht, denn aus ihr folgt, dass all jene Situationen, in denen es so scheint, als ob im Grunde einzig ihre imaginäre Befriedigung möglich sei, ro­mantisch oder autobiografisch interpretiert wurden. Wir haben jedoch keinen Grund zu der Annahme, dass ein solcher Über­gang vom sexuellen zum ökonomischen Besitz von einer >>Me­tapher« herrührt. Im Gegenteil: Der Diskurs über die Ungleich­heit belegt in aller nur wünschenswerten Deutlichkeit, dass die Gewalt, die der Besitz der Geschlechter hervorbringt, von der gleichen Art und von der gleichen historischen Tragweite ist wie die Gewalt, die die Inbesitznahme des Bodens hervorbringt, und dass letztere nicht mehr reale Befriedigung verschafft als ersterer. In beiden Fällen sind Sein und Schein heillos voneinan­der geschieden. Durch diese Interpretation des juristischen bzw. juristisch-politischen Moments des Eigentums als »Forderung«

19 Jean Starobinski, »Le remede dans le mal: la pensee de Rousseau«, in: ders., Le Remede dans le mal. Critique et Iegitimation de l'artifice a l'age des lu­mieres, Paris, Gallimard, 1989 [dt.: »Das Rettende in der Gefahr. Rousseaus Denken«, in: ders., Das Rettende in der Gefahr. Kunstgriffe der Aufklärung, Frankfurt/M., S. Fischer Verlag, 1990, S. 186-265).

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�es Abstands zwischen Besitz und Genuss - weniger in einer Uberwindung ihres Gegensatzes als in dessen Wiederholung in einer immerwährenden Flucht nach vorn - verstehen wir den Preis besser, den die Institution der bürgerlichen Gesellschaft auf der Ebene des Geschlechtsunterschiedes fordert: eine radikale Asymmetrie der jeweiligen Positionen, da die eine (das Männli­che) der Sphäre des Eigentums und der Staatsbürgerschaft zuge­schlagen wird, während die andere (das Weibliche) der Liebe und der Humanität zugeschlagen wird. Und wenn wir davon ausge­hen, dass Rousseau von allen klassischen Philosophen Sexualität am entschiedensten als »Widerstreit« oder Ambivalenz im Inne­ren der Verfassung des menschlichen Subjekts gedacht hat, sieht man, dass sich diese Teilung des Subjekts in der Institution des Sozialeigentums niederschlägt.

Sind solche Kategorisierungen der Lockeschen Konzeption fremd? Näher liegt der Gedanke, dass sie dort verdrängt worden sind. Uns führen sie jedenfalls zu einer Kehrseite des »Eigentums seiner selbst«, das Individuum und Gemeinschaft verknüpft, in­sofern sie die Einheit oder die Wiedervereinigung mit sich als dessen Bedingung der Möglichkeit aufschieben. 20 Anstatt zu den­ken, dass wir uns hier außerhalb des Gebietes der in der Axio­matik des Besitzindividualismus virtuell enthaltenen Variationen befinden, möchte ich deshalb diese Axiomatik lieber um die Möglichkeit der Negation oder der Negativität erweitern. Die In­dividualität nimmt dann die Form einer Enteignung an, deren Auswirkungen sich an der grundsätzlichen Unzufriedenheit des bürgerlichen Subjekts ablesen lassen, aber auch an der Unvoll-

2o Schieben sie sie unendlich auf? Das ist nicht sicher: In den Träumereien wird Rousseau eine andere Problemstellung in Bezug auf den Genuss auf­greifen, die es ihm erlaubt, von den >>Stunden der Einsamkeit, da ich Gele­genheit zum Nachsinnen habe und mich nichts ablenkt oder stört«, als be­vorzugten Momenten zu sprechen, in denen »ich ganz ich selbst [bin] und [. · .] m1r a:lei� [gehöre] [.' . . und] ehrlicherweise von mir behaupten [kann] zu

. sem, -;1e d1e Natur m1ch wollte<< (Zweiter Spaziergang, in: CEuvres Com­

pletes, Ple1ade, Bd. I, S. 1002 [dt. in: Träumereien eines einsamen Spaziergän­gers, Stuttgart, Reclam, 2003, S. 19] ) .

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ständigkeit des »politischen Körpers<< selbst. Vielleicht sollte man

hier dem Umstand, dass die theoretischen Werke, die davon zeu­

gen, selbst grundsätzlich unvollständig sind, volles Gewicht ver­

leihen: Er markiert ihre innere Verstrickung in den Gegenstand,

den sie in Gedanken zu fassen versuchen.

Marx

Unvollendet endet das Erste Buch des Kapitals mit einer berühm­ten Formulierung, deren politische Kraft und philosophische und womöglich auch theologische21 Resonanz erklären, warum sie so gegensätzlich interpretiert wurde:

[ . . . ] sobald die kapitalistische Produktionsweise auf eignen Füßen steht, gewinnt die weitere Vergesellschaftung der Arbeit und weitere Ver­wandlung der Erde und andrer Produktionsmittel in gesellschaftlich ausgebeutete, also gemeinschaftliche Produktionsmittel, daher die wei­tere Expropriation der Privateigentümer, eine neue Form. [ . . . ] Die Stun­de des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert. Die aus der kapitalistischen Produktionsweise her­vorgehende kapitalistische Aneignungsweise, daher das kapitalistische Privateigentum, ist die erste Negation des individuellen, auf eigne Arbeit gegründeten Privateigentums. Aber die kapitalistische Produktion er­zeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigne Negation. Es ist Negation der Negation. Diese stellt nicht das Privateigentum wie­der her, wohl aber das individuelle Eigentum auf Grundlage der Errun­genschaft der kapitalistischen Ära (Kapital, Erstes Buch, Vierundzwan­zigstes Kapitel, 7· Abschn., a. a. 0., S. 790f.) .

Man könnte denken, dass hier die ausgefeilteste Form der Über­windung des Besitzindividualismus zum Ausdruck kommt, da ja der Nachweis unternommen wird, dass die Kollektivierung oder der Kommunismus aus der Selbstzerstörung des Privateigentums selbst, aus dessen eigener Logik resultiert. Im Großen und Gan-

21 Weil in ihr einige messianische Formulierungen von Jesaja anklingen, 14,1-4; 27,7-9·

zen ist diese Interpretation natürlich richtig: Darin besteht ja ge­rade der Sinn des Rückgriffs auf die Kategorie der »Negation der Negation<<. Die Enteignung der Enteigner ist der Prozess, aus dem die Aneignung resultiert, die durch den Kapitalismus »ne­giert<< worden war (wenn es stimmt, dass die Aneignung für die Enteignung das ist, was eine Affirmation für eine Negation ist, eine Setzung für eine Streichung) .

Der Text gibt jedoch mehrere Hinweise, dass die theoretische Lage ganz so einfach nicht ist. Einer von ihnen ist die »Personifi­zierung<<, die Marx vornimmt, wenn er nicht von einem generi­schen Prozess der Enteignung der Enteignung, der Expropriation der Expropriation, spricht, sondern schreibt: »Die Expropriateurs werden expropriiert<<*.22 Begnügen wir uns hier mit folgender Hypothese: So wie die »Objekte<< der Enteignung letzten Endes Personen oder menschliche Individuen sind, müssen die »Sub­jekte<< der Aneignung, die daraus resultiert, als »Personen<< an­gesehen werden. Damit kommen wir auf die Frage zurück, die die ebenso verblüffende wie rätselhafte Schlussformel aufwirft: »Diese stellt nicht das Privateigentum wieder her, wohl aber das individuelle Eigentum auf Grundlage der Errungenschaft der ka­pitalistischen Ära.<< Diese Formulierung kann als Hinweis auf die Widersprüchlichkeit von Marx' Bezugnahme auf die Tradition des Besitzindividualismus, insbesondere in ihrer Lockeschen Variante, verstanden werden. Es ist, als habe er letzten Endes die auf die wechselseitige Implikation der Aneignung des Selbst und der Aneignung der Dinge gegründete Idee des »Eigentums seiner selbst<< wiederbeleben wollen - allerdings zugunsten eines neuen

22 Dem frankogermanischen Jargon dieser Formulierung ist in den Kom­mentaren noch nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt worden. Unserer Meinung nach erklärt er sich nicht nur durch die Spur, die die Sprache der Französischen Revolution und ihrer kommunistischen Strömungen (bei de­nen >>Expropriateur<< gleich nach >>Akkapareur«, Wucherer, kommt) in Marx' Ausführungen über die Ausbeutung ganz allgemein hinterlässt, sondern durch die darin immer präsente Bezugnahme auf die (von Bazard und En­fantin verfasste) Exposition de la Doctrine Saint-simonienne von 1829 (Erstes Jahr).

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Subjekts, des sozialen oder »generischen« Subjekts, dessen histori­sche Gestalt der in seinem revolutionären Transformationspro­zess der Produktionsweise engagierte Proletarier ist. Das aller­dings wiederum um den Preis einer radikalen Kritik an einem wesentlichen Postulat von Locke, nämlich dem rein persönlichen Charakter der Tätigkeit der Arbeit unter der doppelten Berufung auf die Verantwortlichkeit des Selbstbewusstseins und die Unteil­barkeit des lebendigen Körpers, der für es handelt (was sich bei Locke nicht teilen oder nicht tauschen lässt, um die Tauschge­meinschaft zu ermöglichen). In ihrer eigenen »Lockeschen« Lek­türe von Marx (Vita activa) hat Arendt diesem Punkt sicherlich nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt.

Den negativen Teil dieser Kritik habe ich bereits erwähnt: Locke hat nicht gesehen, dass die kapitalistische Arbeitsorganisa­tion den unversehrten Körper zerstückelt und denaturiert. Phä­nomenologisch handelt es sich nämlich dem Kapital zufolge nicht bloß um eine Disziplinierung der Körper, wie später Fou­cault für deren Ausweitung über die Produktion hinaus auf alle sozialen Praktiken erklären wird, sondern um eine Amputation, die im Extremfall zu einer Trübung des Bewusstseins führen kann. 23 Dem wären die ganzen Entwicklungen hinzuzufügen, die teilweise vielleicht auf phantasmatische Weise nahelegen, dass die Logik des Kapitalismus zu einer absoluten Integration der Re­produktion der Arbeiter in die Warenproduktion führt, und zwar durch die Abschaffung aller autonomen Formen der Konsum­tion der Arbeiter und die vollständige Konditionierung der beruf­lichen Qualifizierung nach Maßgabe der Bedürfnisse des Neuen Leviathan: was Marx im unveröffentlichten »Sechsten Kapitel« des Kapitals »reelle Subsumtion« nennt und was sich unbestreit­bar in den allgemeinen Begriffsrahmen dessen fügt, was Foucault

23 Vielmehr wäre das die unvermeidliche Folge des Prozesses, wenn die Ausbeutungsprozesse, die sich in den Körper des Arbeiters einschreiben, nicht auch kollektiven Widerstand nach sich zögen: Obwohl Marx sie selbst nie so genannt hat, findet die Kategorie des »Klassenbewusstseins« so doch eine anthropologische Grundlage in seinen Analysen.

»Biopolitik<< nennen wird.24 Abgesehen davon, dass nicht der Staat, sondern das Kapital selbst sie ausübt, mit anderen Worten das bis an seine äußersten Grenzen getriebene Eigentum der Ar­beit Wir haben hier die negative Seite des Prozesses vor uns, auf der die unersättliche Vergesellschaftung mit der Vernichtung der individuellen Autonomie zusammenfallt. Marx interpretiert das mit deutlichem Anklang an Locke und seine ökonomischen Er­ben (Smith):

[ . . . ] das auf Warenproduktion und Warenzirkulation beruhende Gesetz der Aneignung oder Gesetz des Privateigentums [schlägt] durch seine eigne, innere, unvermeidliche Dialektik [offenbar] in sein direktes Ge­genteil um. [ . . . ] Ursprünglich erschien uns das Eigentumsrecht gegrün­det auf eigne Arbeit. Wenigstens mußte diese Annahme gelten, da sich nur gleichberechtigte Warenbesitzer gegenüberstehn, das Mittel zur An­eignung fremder Ware aber nur die Veräußerung der eignen Ware, und letztere nur durch Arbeit herstellbar ist. Eigentum erscheint jetzt auf Seite des Kapitalisten als das Recht, fremde unbezahlte Arbeit oder ihr Produkt, auf Seite des Arbeiters als Unmöglichkeit, sich sein eignes Pro­dukt anzueignen. Die Scheidung zwischen Eigentum und Arbeit wird zur notwendigen Konsequenz eines Gesetzes, das scheinbar von ihrer Identität ausging (Kapital, Erstes Buch, Zweiundzwanzigstes Kapitel, 7· Abschn., a. a. 0., S. 6o9f.).

Doch die von Marx eingesetzte Dialektik bringt sogleich das Po­sitiv dieses Negativs zum Vorschein, und das besteht in der abso­lut anti-lockeschen Annahme eines transindividuellen Charak­ters der produktiven Tätigkeit und folglich der Aneignung, die sie vollzieht. Man muss sich die ganze Durchschlagskraft dieser These vergegenwärtigen, um die Schlussfolgerungen daraus zu verstehen, auf die Marx hinauswill: Nicht nur »vergesellschaftet<< sich die Arbeit historisch bzw. wird transindividuelL sondern sie ist es ihrem Wesen nach immer schon gewesen, insofern es Arbeit,

24 Karl Marx, Das Kapital 1 .1 . Resultate des unmittelbaren Reproduktions­prozesses. Sechstes Kapitel des ersten Bandes des >>Kapitals« (Entwurf), Berlin, Dietz Verlag, 2009.

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auch in ihren »primitivsten« Formen, ohne Kooperation nicht gibt und die Vereinzelung des produktiven Arbeiters gegenüber der Natur immer nur Schein ist. Es besteht also überhaupt nicht die Möglichkeit, dass sich das (als vereinzelt und ausschließlich gemeinte) Individuum durch »persönliche Arbeit<< irgendeinen Teil der »Gemeinschaft<< »aneignet<<, und auf dieser Grundlage lässt sich kein Eigentumsrecht aufbauen, es sei denn als ideologi­sche Fiktion. Im Gegenzug wird im Entwicklungsverlauf der mo­dernen vergesellschafteten Produktion immer offensichtlicher, dass das kollektive »Subjekt<< der Produktion, das aus der Soli­darität und der Komplementarität aller Tätigkeiten bei der Ar­beit besteht - einschließlich derjenigen, die sich in Maschinen und überholten Kenntnissen niedergeschlagen haben -, gerade in ebendieser Kooperation, deren Instrumente eigentlich zum Zweck seiner Ausbeutung gegen es geschmiedet worden waren, die effektivste Form des »Eigentums seiner selbst<< realisiert: die in ihren Kreislauf nicht nur das unendliche Netz der verschiede­nen menschlichen »Verkehrsformen<< und alle ihnen dienlichen Tauschbeziehungen einbezieht, das Tun >>Aller und Jeder<<*, wie Hegel sagt, sondern auch den Prozess der Transformierung oder Humanisierung der Natur selbst, der anscheinend kein erkenn­bares Ende aufweist.

Aber handelt es sich wirklich um ein Subjekt ? Das ist im Grunde die ganze Frage, und sie ist keineswegs einfach. Die Negation der Negation vollzieht sich bevorzugt in Gestalt einer tatsächlichen Anerkennung des originär gesellschaftlichen Charakters der Ar­beit oder einer bewussten Planung, die Letztere organisiert (be­wußte planmäßige Kontrolle* heißt es an anderer Stelle bei Marx, Kapital, Erstes Buch, Erstes Kapitel, 1. Abschn., a. a. 0., S. 94), was durch die kapitalistische industrielle Revolution möglich wurde, die die >>persönliche Arbeit<< gewaltsam in Einzelteile zerlegt hat. Spekulativ lässt sich das so ausdrücken, dass die Enteignung der Enteigner eine >>Aneignung<< der Mittel und Formen der Aneig­nung selbst durch die Gesellschaft und die Individuen, die sie bil­den, ist, eine >>Aneignung der Aneignung<< . Und in diesem Sinne

ist sie oder wird sie vielmehr ganz besonders >>Eigentum seiner bzw. ihrer selbst<< oder subjektives Eigentum: Das individuelle oder desozialisierte, >>entgesellschaftete<< Individuum (der vereinzelte Einzelne* heißt es in der Einleitung von 1857, das einzelne Indi­viduum* heißt es im Elften Kapitel des Kapitals über die Koopera­tion) wird durch das vergesellschaftete (bzw. >>frei vergesellschaf­tete<<,freie vergesellschaftete Menschen* heißt es im Kapital, Erstes Kapitel, 1. Abschn., S. 94) Individuum ersetzt. Die wahre >>Gesell­schaft der Individuen<< kann nur in deren tatsächlicher Vergesell­schaftung bestehen. Die Individuen sind nur dann >>Eigentümer ihrer selbst<<, wenn sie sich ihre Arbeitskraft und deren Nutzen, also die Arbeit selbst, wieder aneignen, aber das einzige Subjekt dieses Prozesses ist das tatsächliche >>Sozialverhältnis<<. Nicht nur Locke erfährt hier anscheinend eine Umkehrung, sondern auch Rousseau, bei dem paradoxerweise die Gemeinschaft ein Ver­hältnis des zivilisierten Individuums zu sich selbst notwendig bedingte. So dass sich durch eine >>Negation der Negation<< die Negation in Affirmation zu verkehren scheint, der Entzug des Besitzrechts oder die Enteignung in eine Wiederaneignung.

Faktisch hat Marx seine grundsätzliche Kritik an jeglicher Vorstellung >>der Gesellschaft als Person<< oder als juristisches und moralisches Bezichtigungssubjekt nie wieder aufgegriffen.25 Diese Kritik und die Idee, dass die anonyme Struktur der >> To­talität der Produktivkräfte<<, wie die Deutsche Ideologie es aus­drückt, eine Vielheit (um nicht zu sagen >>Multitude<<) bleibt, die in der Einfachheit und Einheit, die ein solcher Begriff zu vermit­teln scheint, nicht darstellbar ist, sind vollkommen kohärent. Als guter Hegelianer findet Marx dennoch eine Lösung für diese Aporie: Es genügt, das Subjekt nicht als >>Selbstbewusstsein<< oder Individuum unter Individuen zu denken, sondern als immanente Reflexivität, die nur in der >>Sache selbst<< gegeben ist: in seinem

25 Man findet sie insbesondere im Elend der Philosophie von 1847 (Die Me­taphysik der politischen Ökonomie, Sechste Bemerkung) . Bekanntlich wur­de dieses Buch direkt auf Französisch geschrieben.

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Werk oder dessen Realisierungsprozess, soweit dieser einer Te­leologie unterworfen ist. Eine solche Lösung (die Althusser als

Identifizierung des »Subjekts« mit dem »subjektlosen Prozess« selbst bezeichnen wird) geistert ständig durch die Ausführungen von Marx. Sie scheint jedoch einen Haken zu haben, den eine symptomale Lektüre in den Behauptungen über den zukünftigen Kommunismus schnell entdecken würde. In der Unsicherheit bei Formulierungen über das »Ende der Teilung in körperliche und geistige Arbeit« oder über »die Intellektualisierung der Arbeit« (der Negri so wichtige General Intellect) . Oder aber bei dem, was ich den »Rest« der Reproduktion in der Produktion selbst nen­nen würde: dem Problem des Verhältnisses der historisch deter­minierten »Bedürfnisse« des gesellschaftlichen Arbeiters zum Vergnügen oder »Genuss« im rousseauistischen Wortsinn, das heißt zur Fähigkeit des Tätigen, sich voll und ganz mit den kollektiven Arbeitsvorgängen zu identifizieren, die am Ende in Marx' Texten auftaucht. Dieses Problem tritt in einigen Ab­schnitten des Dritten Buches des Kapitals und in der Kritik des Gothaer Programms gerrau dort in Erscheinung, wo es darum geht, das Verhältnis von Arbeitszeit und freier Zeit zu bestimmen. Auf der einen Seite die Idee von der »ZUm primären menschlichen Be­

dürfnis« gewordenen, vom kapitalistischen Leiden zu einer Art fourieristischem Vergnügen am Werk übergegangenen Arbeit; auf der anderen Seite die Idee, dass Freiheit und Befriedigung nur in der freien Zeit liegen können, die allmähliche Verbannung der Ar­beit in »das Reich der Notwendigkeit<<.26 Von Marx' Standpunkt

26 An diesem Punkt erfolgte auch die Spaltung der >>Schule der französi­schen Arbeitssoziologie<< bei ihrer Verwendung von Marx: auf der einen Sei­te Pierre Naville (Le Nouveau Leviathan, I: De l'alienation a Ia jouissance, 1957, Neuausg. Paris, Anthropos, 1977), auf der anderen Georges Fried­mann, Problemes humains du machinisme industriel, Paris, Gallimard, 1946 [dt.: Der Mensch in der mechanisierten Produktion, Köln, Bund, 1952] . Siehe die teilweise konkurrierenden Weiterentwicklungen dieses Problems bei Jean-Marie Vincent, Critique du travail, Paris, PUF, 1987, und Yves Schwartz, Experience et connaissance du travail, Vorwort von G. Canguilhem, Paris, Editions Sociales, 1988.

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aus scheint es daher so, als führe die gewählte Argumentations­form zu einer unmöglichen Wahl, nicht nur für die Zukunft, son­dern auch für die Gegenwart, in der sich die Frage stellt, was dem Kampf der Arbeiter gegen die Ausbeutung Sinn und Energie ver­leiht: Ist es die Verteidigung eines Rechts auf Arbeit (ja sogar einer Freude zu arbeiten) ? Oder die Forderung nach einer Befreiung aus unvermeidlicher Sklavenarbeit ? Letzten Endes haben wir hier ei­nen Hinweis darauf vorliegen, dass die kollektive Aneignung wi­dersprüchlicherweise zugleich als Prozess einer Subjektivierung bzw. einer subjektiven Individualisierung vorstellbar ist und nicht vorstellbar ist. Es sei denn, man zieht die umgekehrte Formu­lierung vor: Die Subjektivierung ist und ist nicht als Aneignung denkbar. Hier liegt die Grenze des »Lockeschen<< Moments bei Marx.27

Derrida

Kann man sagen, dass wir es, wenn Rousseau eine »anthropolo­gische« und Marx eine »dialektische« Umkehrung des Besitz­individualismus vorgenommen hat, bei Derrida mit einer »es­chatologischen« Umkehrung zu tun haben? Mir scheint diese Formel nur sinnvoll, wenn sie uns zu dem Gedanken anregt, dass die Derridasche Dekonstruktion eigentlich das eschatologische Element erst sichtbar macht, das im klassischen Diskurs des Be­sitzindividualismus immer schon am Werk war, und dass sie eine allgemeine Hinterfragung der Funktionen der Eschatologie in­

nerhalb der metaphysischen Tradition betreibt. Diese neue Um­kehrungsstrategie fördert gleichzeitig im Inneren des mit der Idee eines konstituierenden Eigentums einhergehenden »Sub-

27 Dies ist jedoch auch der Moment, in dem die Projektionen von Marx auf den Kommunismus als >>Unteilbar<< individuelle und gemeinschaftliche An· eignung jede vermittelt die Realisierung der anderen, wie die Deutsche Ideologie und das Kommunistische Manifest behaupteten - endgültig proble­matisch werden (wodurch die Unvollendetheit des Werkes intrinsische Be­deutung gewinnt).

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jekts<< dieselben gewaltsamen und antinomischen Elemente zu

Tage wie in der Idee der Souveränität. Die politische Konstruk­

tion des Besitzindividualismus zieht sich so auf sich selbst zu­

rück: Im mit sich selbst identischen und eigenverantwortlichen

(self!own) Eigentümer-Subjekt eröffnet sie die Möglichkeit einer

demokratischen Souveränität als Herrschaft über das dominium,

das Eigentum. Trotz - oder vielleicht gerade wegen - seiner Affinitäten zu be­

stimmten gängigen Formulierungen in der mystischen Tradi­tion28 habe ich, wie ich gestehen muss, den von Derrida ständig (etwa in Sporen, in Randgänge der Philosophie, in Glas, in der Postkarte, in Marx' Gespenster, in Zeit geben) verwendeten Aus­druck »Ex-Appropriation<< lange Zeit für rätselhaft gehalten. Es handelt sich offensichtlich um ein Oxymoron, das seinerseits aus der negativen Logik des »X ohne X<< bzw. des »X, das nicht X ist<< hervorgeht, deren Ursprung bekanntlich bei Blanchot liegt:29 Die Ex-Appropriation wäre also ein »Eigentum ohne Eigentum<<, ein Eigentum, das nicht ohne zu enteignen aneignet, ein um seinen Gegenstand bzw. seine Wirkung auf unbestimmte Weise betroge­ner Aneignungsprozess. Hier macht sich auf Anhieb eine Bezug­nahme auf die transzendentale Tradition bemerkbar, in der die Singularität des »Eigenen<< auf der Stelle in eine Universalitätver­kehrt wird, die als solche niemandem gehört. Aber die eindring­lichsten Bezüge weisen auf eine Ökonomie des Subjekts, die Derri­da ausdrücklich mit dem Vorgriff auf eine Rückkehr (oder ein »Einkommen<<: aber jedes Einkommen ist zunächst eine Rück-

28 Über sein Verhältnis zur Tradition der >>negativen Theologie<< hat sich Derrida insbesondere in >>Comment ne pas parler<< (in: Psyche. Inventions de l'autre, Paris, Galilee, 1996 [ dt.: Wie nicht sprechen. Verneinungen, Wien, Pas­sagen Verlag, 1989, 2., durchges. Aufl. 2oo6] ) und in der Trilogie geäußert, die Saufle nom, Passions und Khora bilden, Paris, Galilee, 1993 [dt.: Über den Namen, Wien, Passagen, 2000 ] . 29 Dieses Verhältnis kommentiert Derrida ausführlich in seiner Aufsatz­sammlung über Blanchot: Parages, Paris, Galilee, 1985 [dt.: Gestade, Wien, Passagen, 1994] .

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kehr zum Ausgangspunkt, zur »Quelle<<)30 gleichsetzt. Als sub­stanzieller Prozess bildet der Prozess des Kapitals so das allgemei­

ne Modell für jede »Subjektivierung<<, von der die Verwendung der Kategorie des »Subjekts<< selbst abhängt. Jedes Subjekt stellt den

Vorgriff auf eine Akkumulierung bzw. Kapitalisierung von »Ei­gentum<< im Sinne von »Eigenschaften<< dar. Und dieser Logik

kann man dann eine Gegenlogik der »Gabe<< gegenüberstellen, de­

ren »unberechenbarer<< Charakter jede Erwartung des Subjekts durchkreuzt und von daher die subjektive Ökonomie von innen dekonstruiert. Ich zitiere dazu zwei charakteristische Abschnitte aus Zeit geben:

Mit der bloßen Intention-zu-geben ist, sofern sie den intentionalen Sinn der Gabe in sich birgt, auch schon die Gegenleistung da. Das bloße Be­wußtsein der Gabe belohnt sich sogleich im Spiegel mit dem Bild von der eigenen Güte oder Generosität, mit dem des Freigebigen, der, sofern er sich als ein solcher weiß, sich zirkulär selbst Anerkennung erweist, in einer Art selbstgefälliger und narzißtischer Dankbarkeit. Und das begibt sich, sobald es ein Subjekt gibt, sobald sich der Geber und Gabenemp­fänger als identische, identifizierbare Subjekte konstituieren, als Subjek­te, die imstande sind, sich zu identifizieren, indem sie sich bewahren und benennen. Dieser Kreis oder Zirkel ist sogar allererst die B ewegung der Subjektivierung, ist jene Retention, die konstitutiv ist für das Sub­jekt, das sich mit sich selber identifiziert. Das werdende Subjekt [le deve­nir-sujet] beginnt mit sich selbst zu rechnen und als Subjekt tritt es ein in das Reich des Kalkulierbaren. Die Gabe, wenn es Gabe gibt, kann des­halb nicht mehr zwischen Subjekten stattfinden, die Objekte, Dinge oder Symbole austauschen. Folglich müßte die Frage nach der Gabe ih­ren Ort vor jedem Subjektbezug suchen, vor jedem Selbstbezug des be-

30 An dieser Stelle sei angemerkt, dass das Englische im Unterschied zum Französischen (retour/revenu) und Deutschen (Rückkehr I Einkommen*) oder Italienischen ( ritorno!reddito) sowohl das Subjektive als auch das Ob­jektive mit dem Wort return bezeichnet: das Zurückkommen, das zu sich Zu­rückkehren, ja sogar das Anerkennen, und das Erhalten, Entschädigen, Ent­oder Belohnen, also das Verdienen. Es handelt sich dabei um ein >> begriffsge­schichtliches Wortspiel<<, dessen sich die Philosophie bedienen kann, um et­was konstitutiv Spekulatives gedanklich zu erfassen, wie im Fall des Subjekts selbst (subjectus und subjectum).

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wußten oder unbewußten Subjekts; [ . . . ] Man könnte sogar versucht sein zu sagen, daß ein Subjekt als solches eine Gabe weder je gibt noch empfängt. Es konstituiert sich im Gegenteil gerade, um durch den Kal­kül und den Tausch die Herrschaft dieser hybris oder >>Unmöglichkeit<< zu bändigen, die sich in dem Versprechen der Gabe ankündigt. Da, wo es Subjekt und Objekt gibt, wäre die Gabe ausgeschlossen [ . . . ] .31 Aber wenn allein eine Problematik der Spur oder der Dissemination die Frage der Gabe und der Vergebung stellen kann, impliziert das nicht, daß die Schrift freigebig oder das schreibende Subjekt ein gebendes Sub­

jekt ist. Als identifizierbares, umrandetes und festgestelltes Subjekt, ge­ben der Schriftsteller und seine Schrift niemals etwas, dessen Wiederan­eignung, Austausch oder zirkuläre Wiederkehr sie nicht, bewußt oder unbewußt, berechnen - und per definitionem dessen Wiederaneignung als Mehrwehrt, als eine bestimmte Kapitalisierung. Wer werden uns nicht scheuen, darin die Definition des Subjekts als solchen zum Aus­druck zu bringen. Man kann es nur als Subjekt dieser Operation des Ka­pitals verdeutlichen. Aber vermittels oder trotz dieser Zirkulation und dieser Produktion von Mehrwert, trotz dieser Arbeit des Subjekts, kann dort, wo es Spur und Dissemination gibt, allein wenn es sie gibt, eine Gabe stattfinden, zusammen mit dem überbordenden Vergessen oder dem vergeßlichen Überborden, das - wir haben daraufbestanden - da­rin grundsätzlich impliziert ist. Der Tod der gebenden Instanz (wir nen­nen hier Tod die Fatalität, die eine Gabe dazu bestimmt, zur gebenden Instanz nicht zurückzukehren) ist kein natürlicher, der gebenden Instanz äußerlicher Zufall; er ist nur denkbar im Anschluß an die Gabe [ . . . ]. 32

Und dennoch kann man sich fragen, ob wir damit nicht schon, und zwar mehr denn je, mitten in die Bewegung hineingezogen worden sind, die das Subjekt (bzw. das Nicht-Subjekt, das Subjekt jenseits der Subjektivierung) aus seiner eigenen >>gegebenen« Em­pirizität zu befreien oder herauszulösen versucht, das heißt aus dem transzendentalen Schein, der es einer >>Ontologie<< zuschlägt (einschließlich der Ontologie des Substanz-Subjekts, die das Ka­pital bildet). Es ginge also darum, es in einer bereinigten Form an

3 1 Jacques Derrida, Donner le temps, I. La fausse monnaie, Paris, Galilee, 1991, S. 38f. [dt.: Falschgeld. Zeit geben I, München, Fink, 1993, S. 36f. ] . 32 Ebd., S. 134f.

seinem Rückzugsort aufzuspüren - nach Bedarf unter einem an­deren, >>unpersönlicheren« Namen (Dasein*, Ereignis*, Diffe­renz, Spur oder Gabe), der zugleich erlauben würde, die Antino­mie inmitten der Bedingungen der Möglichkeit jedes Subjekts freizulegen. Dieser Gestus hat sich bekanntlich in der Philoso­phie unaufhörlich wiederholt: nicht erst seit Kant (in der Transzendentalen Dialektik) den >>Paralogismus« der Substantia­lisierung der Identität des Subjekts mit sich selbst im >>Ich denke<< kritisiert hat, sondern seit Locke seinerseits die rigorose Unter­scheidung von personaler und substanzieller Identität vorge­nommen hat.

Doch wie der Titel des Werkes schon anzeigt (Zeit geben), bie­tet sich hier noch eine weitere Hypothese an, deren paradoxe Fol­gen das Buch unaufhörlich entfaltet. Sie ergänzt die vorherge­hende. Wenn jedes Subjekt faktisch ein »Nicht-Subjekt<< ist, das heißt negativ durch ein Beziehungsgefüge zwischen Menschen konstituiert wird, sofern ihr »Verkehr« (intercourse) faktisch jede Form des Handels ( trade) übersteigt, jede Ökonomie von berech­nendem Vorgriff und Rückkehr I Einkommen, wodurch die anti­nomischen Möglichkeiten von Exzess und Gewalt, von Freund­schaft und Gastfreundschaft entstehen: Liegt das nicht daran, dass die Zeit - zweifelsohne einschließlich der >>Arbeitszeit« -sich intrinsisch der Aneignung widersetzt? Ist die Zeit nicht das >> Unaneigbare<< als solches, das sich niemals (bzw. niemals wirk­lich, vollständig) für ein Kalkül oder ein subjektives Projekt in­strumentalisieren lässt? Dadurch kommen wir wieder auf die Idee zurück, dass >>Menschen<< oder >>Subjekte« sich in diesem Sinne niemals in der gleichen Zeit befinden, »Zeitgenossen<< sind, Urheber eines Werkes oder einer Ganzheit, die sich in der Gegen­wart ihrer gemeinsamen »Gegenwärtigkeit<< (und schon gar nicht in der gegenwärtigen Zukunft des Endes, der Eschatologie) bildet. Aber sie müssen unendlich abwarten, auf die unvorhersehbare An-Kunft der Gemeinschaft warten, in der ihre j eweiligen Sin­gularitäteil >>für<< und >>durch<< einander existieren. Damit ein »Eigentum seiner selbst<< als Aneignung oder Rückkehr endlich

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möglich wird, das dem Verlust des Selbst bzw. der Disseminati­on, der Zerstreuung, ein Ende setzt, bedürfte es also einer Aneig­nung der transzendentalen Zeit selbst: Aber das ist eben gerade unmöglich. Und schließlich, da ja die Ethik ebenso wie die Politik vom Verständnis dieses »Unmöglichen« abhängt, das das Risiko und die Möglichkeit selbst der (nicht auf Anerkennung, Vergü­tung, (Um-)Verteilung rückführbaren) Gerechtigkeit heraufbe­schwört, wäre die Unmöglichkeit des »Zeit-gebens« allegorisch auch ein Ausdruck der radikalen Negativität, die sich Ethik und Politik nicht ersparen können. Was gerade über die Zeit gesagt wurde, gilt gleichermaßen für alle >>Quasi-Transzendentalien«: Sprache, Tod (Zerstörung) (und daher auch Leben).

Lassen sich einige der Hauptthemen von Derridas Werk auf die­se Weise einfach (zweifellos zu einfach) wiedergeben? Ich bin mir da nicht sicher.33 Ich wage trotzdem eine Frage in Bezug auf das

Verhältnis, das die Wortreihe >>Appropriation«, >>Depropriation«, >>Expropriation«, »Ex-Appropriation« mit der Bedeutungskette

. unterhält, die sich unter dem Namen des >>Besitzindividualis­mus« erkennen lässt, wenn man die Bedeutung, die Macpherson ihm gegeben hat, erweitert und den Begriff dialektisch weiterent­wickelt.

Bei Derrida finden wir eine erste Überwindungsbewegung, die zweifelsohne durch die Heideggerschen Assoziationen in Bezug auf das >>Eigene«, >>Eigentum<< und >>Eigenschaft«*, das >>Ereignis<< ebenso angeregt wurde wie durch das Doppel von property und propriety (>>Eigentum<< und >>Schicklichkeit<< oder >>Konvention<<), das in der gesamten klassischen Philosophie englischer Sprache eine entscheidende Rolle spielt: Man muss den Gegensatz von Affirmation und Negation überwinden und einen grundlegen­deren Begriff von Aneignung finden - in fast wörtlicher Entspre­chung zur griechischen (stoischen) oikeiosis -, die, als solche, we-

3 3 Derrida selbst noch weniger, muss ich der Aufrichtigkeit halber sagen, zumindest nach dem >>Knurren<< zu urteilen, mit dem er die ursprüngliche (englische) Fassung dieser Ausführungen aufgenommen hat.

der An-Eignung noch Ent-Eignung ist. Mit ihren negativen und

positiven Seiten finden die Konstituierung und die Identifizie­rung des Subjekts mit sich selbst eben gerade im Prozess der >>Propriation«, der »Eignung« statt. Eine sehr schöne Darlegung dieser Idee findet sich in >>Sporen<<, einem der Texte, in denen Derrida von Heideggers Verneinung des Geschlechtsunterschieds ausgeht und bei der Idee landet, dass ein Eignungs-, ein Propriati­ansprozess der Unterwerfung und Subjektivierung vorhergeht, weil er bereits im Vorfeld ontologisch wirksam wird:

Die Bedeutungen oder die begrifflichen Werte, die, so scheint es, den Einsatz oder die Triebfeder aller Nietzscheschen Analysen des Ge­schlechtsunterschieds bilden, des >>ewigen Kriegs der Geschlechter<<, des >> Todhasses der Geschlechter<<, der >>Liebe<<, der Erotik usw. besitzen alle als Vektor das, was man den Propriations-, den Ereignisprozeß nennen könnte (Aneignung, Enteignung, Zugriff, Besitznahme, Gabe und Tausch, Herrschaft und Knechtschaft usw.). Quer durch zahlreiche Ana­lysen [ . . . ] wird deutlich, daß, gemäß dem schon formulierten Gesetz, bald die Frau Frau ist, indem sie gibt, sich gibt, während der Mann nimmt, besitzt, Besitz nimmt, bald die Frau im Gegenteil, indem sie sich gibt, sich gibt als, sich ausgibt für, vortäuscht und sich so die besitzbe­wußte Vorherrschaft sichert. Das, >>sich-ausgeben-für<<, das für, - wel­chen Wert es auch besitzen mag: sei es, daß es täuscht, indem es einen Anschein erweckt oder daß es irgendeine Richtung, Finalität oder ein durchtriebenes Kalkül, irgendeine Wiederkehr oder Gegenleistung, eine Tilgung oder einen Gewinn in den Verlust des Eigenen einführt - dieses für behält die Gabe einer Reserve zurück und vertauscht von nun an alle Zeichen der Geschlechteropposition. [ . . . ] Wenn die Opposition zwi­schen Geben und Nehmen, Besitzen und Besessenem eine Art von transzendentalem Köder ist, den die Graphik des Hymen hervorge­bracht hat, so entzieht sich der Propriationsprozeß jeder Dialektik und jeder ontologischen EntscheidbarkeiL Man darf sich also nicht mehr fragen, >>was ist das Eigene, die Aneignung, die Enteignung, die Herr­schaft, die Knechtschaft, usw. ?<< Als sexuelle Operation [ . . . ] ist die Pro­priation stärker, weil unentscheidbar, als die Frage ti esti, als die Frage des Schleiers der Wahrheit oder des Sinns von Sein. Und das umso mehr [ . . . ] , als der Propriationsprozeß die Gesamtheit des Prozesses der Spra­che und des Symbolaustauschs im allgemeinen - darin inbegriffen also alle ontologischen Aussagen - organisiert. Die Geschichte (der) Wahr-

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heit (ist) ein Propriationsprozeß. Das Eigene gehorcht keiner onto-phä­nomenologischen oder semantisch-hermeneutischen Befragung. [ . . . ]

Jedesmal, wenn das Problem des Eigenen auf den Gebieten der Ökono­mie (im engeren Sinne), der Linguistik, der Rhetorik, der Psychoanaly­se, der Politik usw., auftaucht, stößt die onto-hermeneutische Form der Befragung an ihre Grenze. [ . . . ] Jedesmal wenn metaphysische Probleme und das Problem der Metaphysik in die schwererwiegende Frage der Propriation eingeschrieben werden, ordnet sich dieser gesamte Raum neu [ . . . ] .34

Zweifelsohne erweist sich Derrida in all seinen Texten als ausge­sprochen misstrauisch gegenüber Umkehrungen aller Art - oder handelt es sich genau genommen nur um die »einfachen« ?35 Fol­gendes dürfen wir allerdings sicherlich annehmen: dass die Ex­Propriation, die Ent-Eignung, notwendig eine paradoxe, kriti­sche Figur in diesem »Prozess« ist, der sich charakteristischer­weise immer wieder verschleiert. Die Bedeutung dieser Frage nimmt in den Randgängen der Philosophie noch zu, in denen die Hegeische Dialektik (und zweifelsohne die Dialektik im Allge­meinen) als unendlicher Prozess einer Enteignung kritisiert wird, der in einer (Wieder-)Aneignung endet (oder danach strebt): wodurch sich eine Teleologie eben gerade definiert. So gelangen wir zu der Idee, dass die »Dekonstruktion«, insofern sie genau auf eine solche wesentliche Verknüpfung von Ursprung und Ende ge­richtet ist, ihrem Wesen nach immer schon eine Dekonstruktion des »Eigenen« im doppelten Sinn von Eigentum und Ordentlich­keit oder Schicklichkeit ist. Was auch immer ihr Ausgangspunkt oder ihr »Gegenstand<< ist: Die Dekonstruktion ist immer schon

34 Jacques Derrida, Eperons. Les styles de Nietzsche, Paris, Flammarion, 1978, S. 89-97 (pass.) [dt.: »Sporen. Die Stile Nietzsches«, in: Werner Harna­cher (Hrsg.), Nietzsche aus Frankreich, Berlin / Wien, Philo, 2003, Neuausg. EVA, [o. 0. ] , 2007, S. 183-224, hier S. 2o8f. und 211 ] . 3 5 >>Dies führt nun nicht dazu, daß man eine einfache Umkehrung vorn eh­men und aus dem Sein einen Sonderfall oder eine Spezies der Gattung eig­nen, das Leben/den Tod geben/nehmen, einen Fall des Geschehens machen müßte, das im allgemeinen Ereignis genannt wird.<< (Ebd., S. 212)

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die Bewegung, die mit dem paradoxen Namen »Ex-Appropria­

tion« bezeichnet wird, in dem sich die widersprüchliche oder dia­lektische Bewegung reproduziert und zugleich zurückhält oder sammelt. Was laut dem Aufsatz »Fines hominis« heute »wankt« oder »erschüttert« ist, ist eben gerade diese »Eigentlichkeit« oder »gemeinsame Zugehörigkeit« von Mensch und Sein (also auch der Natur), die von der metaphysischen Tradition ins Zentrum gestellt wurde und schließlich ihren »absoluten« Ausdruck in der Idee des dialektischen Prozesses gefunden hat. 36

An diesem Punkt beginnt sich jedoch mit der Idee eines >>Unde­konstruierbaren« Elements, die Derrida später als Antwort auf die Unterstellung des Nihilismus oder Skeptizismus gegenüber der Dekonstruktion eingeführt hat (»Gerechtigkeit [ . . . ] läßt [ . . . ] sich nicht dekonstruieren. Ebensowenig wie die Dekonstruktion selbst«),37 eine Rückkehr in Richtung auf die Tradition hin be­

merkbar zu machen, von der sie sich lossagt. Wenn die Dekon­struktion immer Dekonstruktion des »Eigenen« oder der Einheit von Eigentum und Ordentlichkeit ist, heißt das nicht, dass die Möglichkeit von Undekonstruierbarem (die Derrida übrigens mit der stets antinomischen Möglichkeit von »Gerechtigkeit« oder »kommender« Gerechtigkeit gleichsetzt) sich der »Lockeschen« Gleichsetzung von Eigentum und Identität in dem ebenso para­doxen Begriff eines »Eigentums an seiner eigenen Person« sehr stark annähert? Sich annähern heißt nicht sich mischen, viel­

leicht heißt es ganz im Gegenteil, dass sie wie deren Anderes ist, untrennbar und unableitbar, das sie als solche nicht weiterbeste­

hen lässt. Was sie in ihrer Entgegensetzung »gemeinsam« haben, ist allerdings die Form der Einheit von Gegensätzen, das X ohne X: bei Locke soll das »Eigentum seiner selbst« zugleich Veräuße­

rungsprozess und Aufweis des Unveräußerlichen sein, unendli-

36 Jacques Derrida, >>Les fins de l'homme<<, in: ders., Marges de la philoso­phie, Paris, Minuit, 1972, S. 129f. [dt.: >>Fines hominis<<, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien, Passagen, 1988, S. 1 19-141, hier S. 138] . 37 Jacques Derrida, Force de loi, Paris, Galilee, 1994 [dt.: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität<<, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1991, S. 30] .

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ehe Verausgabung des Subjekts in der Ökonomie des Eigentums

und Rückkehr oder Rückzug des Subjekts ins Unveräußerliche

(die Identität); hier kann sich das Unveräußerliche oder Unde­

konstruierbare nicht »Subjekt« oder »Tätiges« im klassischen

Sinne nennen, weil es ja nur deren Verlust oder Preisgabe ist, umso

mehr macht es sich aber als abwesendes Subjekt bemerkbar, sein

Rückzugsort in einem »Eigentum ohne Eigentum<< oder einem

seinem Wesen nach von sich selbst enteigneten »Selbst<<.

Die Frage des Selbst (bzw. des Selbst des Subjekts) lässt sich je­doch nicht von der Frage der Gemeinschaft trennen: Wie Zeit ge­ben deutlich gemacht hat, handelt es sich in gewissem Sinne um dieselbe Frage. Wenn ein Terminus »uneigentlich«, unangemes­sen ist, ist es der andere gleichfalls. Um eine hier notwendige ausführlichere Untersuchung abzukürzen, erinnere ich nur da­ran, dass das schon bei Locke der Fall war - im Gegensatz zu dem, was übereilte Interpretationen seines »Individualismus<< nahelegen. Locke ist auch ein Philosoph der Gemeinschaft, und zwar sogar der eschatologischen Gemeinschaft.38 An dieser Stelle ergänzt die messianische Dimension der Ethik bei Derrida, die ihrerseits in kritischer Absicht geäußert wurde (»messianisch ohne Messianismus<<), die Idee der Ex-Appropriation. Die Ex­Appropriation, die als negativer Charakterzug das Subjekt affi­ziert (bzw. es dekonstruiert und es so der Frage der Gerechtigkeit und den damit zusammenhängenden Fragen der Demokratie und der Gastfreundschaft »übergibt<<) , kommuniziert zumindest theoretisch, spekulativ, mit der Frage einer Gemeinschaft, die selbst über kein »Eigentum« verfügt, also kein »Gemeinwohl<< (bzw. keine »gemeinsame Sache« oder kein »gemeinsames Anlie­gen<<) zu bewahren, sich anzueignen hat, mit dem sie sich identi-

38 Ich erinnere daran, dass der im Versuch über den menschlichen Verstand (II, 27) enthaltene Essay über die Identität der Person voll und ganz auf eine >>entmythologisierende<< Neuinterpretation der Thematik des Jüngsten Ge­richts abgestellt ist: V gl. meine bereits erwähnte Edition. Und jüngeren Da­tums: John Yolton, The Two Intellectual Worlds of John Locke. Man, Person, and Spirits in the Essay, Ithaca (NY), Cornell University Press, 2004.

fizieren kann. Man kann sich ihr nur über einen Befehl, für die Alterität Platz zu machen, nähern, sie überwindet (und verwirft) also die Gegenseitigkeit oder die Anerkennung, aber sie zielt auf eine Gemeinschaft ohne Gemeinschaft, die nur das Nicht-Eigen­turn gemeinsam hat, den Widerstand der eigenen Mitglieder, sich mit einem >>Eigenen<< zu identifizieren.

Jedenfalls herrscht rätselhafterweise weiterhin eine Homologie zwischen der Art und Weise, wie sich bei Derrida die >>undekon­struierbare« Gerechtigkeit mit der Dekonstruktion verknüpft, deren Grenze (Haltepunkt) und Bedingung der Möglichkeit sie gleichzeitig ist, und der Art und Weise, wie bei Locke (und viel­leicht noch allgemeiner in den Theorien des >>Naturrechts«) das Unveräußerliche sich als Grenze und Bedingung der Möglichkeit der Veräußerung selbst, also als deren inneres Prinzip artikuliert. Was mich dazu treibt, hier doch noch von einer >>Umkehrung<< in einem weiteren Sinn zu sprechen. Die Intentionalisteil sind zwar dagegen: Aber bei Locke wird Identität und Identisches (bzw. das Selbe, man erinnert sich an den im Grunde sehr Lockeschen Ti­tel von Paul Ricoeur: >>Das Selbst als ein Anderer«) als >>Selbst« bewahrt, das sich als dem Veräußerungsprozess immanentes Un­veräußerliches entpuppt und so immer wieder in Form einer An­eignung dialektisch auf sich selbst zurückkommen kann; wäh­rend bei Derrida die Dekonstruktion als solche, unendlich, das Undekonstruierbare konstituiert (und daher nie ein Ende findet) und jede Form von Rückkehr zum Ursprung, zum Eigentum als Aneignung oder >>Enteignung der Enteignung<< ausschließt. Sie fällt so mit einer unendlichen Dissemination, Zerstreuung von Identitäten und Eigenheiten zusammen, an der jede Identifizie­rung scheitern muss. Es handelt sich um eine Radikalisierung des von seinen negativen Konnotationen befreiten Themas der Ver­äußerung, was man eine abgründige Veräußerung nennen könn­te (deren Form wiederum an Rousseau erinnert). Ein völliger Gegensatz, aber ich würde vorschlagen, dass eine bestimmte >>Form« gewahrt worden ist, die ihrerseits eine Art Spur abgibt und auf die Einheit der Gegensätze verweist (Verlust und Ge-

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winn, Guthaben und Einbuße). Es ist also vielleicht doch nicht so

überraschend, dass man zunächst geglaubt hatte, dass der ethi­

sche, aber auch der politische Diskurs der Gerechtigkeit und des

Urteils notwendig einem Diskurs der Rechte und Tauschbezie­

hungen verhaftet bleibt, deren Gegenstand und Norm das Eigen­

tum ist, obwohl man von einer transzendentalen Teleologie zu ei­

ner radikaleren Aporetik übergegangen ist.

4. Das »Sozialeigentum« und die negative Individualität

An dieser letzten Station unserer Strecke können wir uns auf theoretische Formulierungen stützen, die auf Robert Castels Hypothesen zurückgehen: » Sozialeigentum «, » Entkoppelung«, »negative Individualität«, um deren Rückwirkung auf die Pro­blematik des Besitzindividualismus zu untersuchen.39 Rein ab­strakt betrachtet, scheint es mir in der Diskussion um Folgendes zu gehen: Haben wir es bei den gegenwärtigen Phänomenen, die Robert Castel präsentiert und analysiert, mit einer »realen« Umkehrung des Besitzindividualismus zu tun, die sich zumin­dest virtuell in eine ähnliche »Dialektik« einschreiben lässt wie die Umkehrungen, die ich schon erwähnt habe, oder mit einer ganz anderen Form des Eindringens des Negativen in die Bewe­gung der Aneignung und des Eigentums seiner selbst? Müsste man dann hier nicht auch eine andere Metapher verwenden, zum Beispiel die einer »Kehrtwendung« ?

Das Sozialeigentum, wie Robert Castel es beschreibt, weist durchaus die Merkmale eines »Rechts, nicht ausgeschlossen zu werden« auf, wie Macpherson es genannt hatte. Es vollzieht eine wirkliche Abschaffung der Unterscheidung von »Anspruchsrech­ten« und »Freiheitsrechten<< (was uns wiederum zu verstehen er­laubt, warum diese ihm immer wieder scharf entgegentritt) ; und wie Castel im zweiten Teil seines Buches vermerkt, kehrt es die

39 Robert Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage, a. a. 0.

Tendenz zum »Kontrakt«, die sich in der ganzen »utopischen«40 Phase der Zerschlagung der Zünfte im Hinblick auf die Schaf­fung eines freien Arbeitsmarktes beobachten lässt, um und er­setzt sie durch eine neue Form von »Status«, 41 die für die Regulie­rung der sozialen Auswirkungen der allgemeinen Lohnarbeit durch politische Instanzen notwendig ist. Die Auswirkungen die­ser (im Rahmen des »Sozial-Nationalstaats« in den ersten beiden Dritteln des 20. Jahrhunderts mehr oder weniger vollständig durchgeführten) institutionellen Transformation sind vor allem unter dem Stichwort der Verkündung und Durchsetzung von Sicherheit als Grundrecht diskutiert worden (man erinnere sich an die von John Stuart Mill in Utilitarismus vorgeschlagene »Definition« von Recht als »einen Besitz, den die Gesellschaft für mich verteidigen sollte«)Y Aber man muss sich auch und vor allem die Frage stellen, welchem Typus von Individualität oder Individualismus sie entspricht. Hier begegnen wir dem Kriterium des »Eigentums seiner selbst« wieder. Ist es auf das Sozialeigentum anwendbar, und wenn ja, in welchem Sinne?

Ich würde folgende Antwort vorschlagen: Das »Sozialeigentum« (als »Transfereigentum« oder Zuweisung eines garantierten Zu­gangs zu »kollektiven«, aber teilbaren »Diensten« an den lahnab­

hängigen Bürger, die das Privateigentum zugunsten der »gesell­schaftliche[n] Funktion« des Eigentums relativieren, Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage, a. a. 0., S. 271 ) ist zweifellos

nicht auf den Begriff eines reinen Privateigentums rückführbar (nicht nur im Hinblick auf den Genuss, den es verschafft, son­dern auch im Hinblick auf seine Verfügungsgewalt oder »Macht«

40 Mit Pierre Rosanvallons Ausdruck, den Castel wieder aufnimmt (vgl. Le Capitalisme utopique, Paris, Seuil, 1981). 41 [Frz. Statut, im Deutschen auch >>Stand«.] 42 >>To have a right [ . . . ] is, I conceive, to have something which society ought to defend me in the possession of« ( Utilitarianism, 1863, Kap. V: On the connection between Justice and Utility, Online-Edition <http:/ /www.utili tarianism.com/milll .htm)) [dt.: John Stuart Mill, Utilitarismus, Hamburg, Meiner, 2006, 5· Kapitel: Über die Verbindung von Gerechtigkeit und Nütz­lichkeit, S. 82] .

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über Personen und Dinge); es markiert die Grenzen der Geltung eines solchen Begriffs auf den Gebieten des Rechts und der Öko­nomie. Es ist auch keine » transindividuelle Aneignung« im Sinne von Marx, sondern bringt (so wie es politisch dem Entstehen ei­nes »dritten Weges<< oder einer >>gemischten Verfassung<< zwi­schen der »ungeteilten Herrschaft<< der Kapitalisten und der >>revolutionären Alternative<< eines Umsturzes dieser Herrschaft entspricht) die neue (oder erneuerte ?) Figur eines bedingten Ei­gentums zum Vorschein, das immer schon die institutionelle Ver­mittlung von >>Dritten<< einschließt: des Staats, der öffentlichen Dienste (und vielleicht auch in schwer zu bestimmenden dehn­baren Grenzen der Staatswirtschaft) .

Vor allem hier würde die Annäherung nicht nur an Durkheim, dessen Verbindungen zum französischen Solidarismus offen­kundig sind, sondern abgelegener noch an Hegel, der versucht hat, Lockes Konzeption des >>Eigentums seiner selbst<< im Rah­men einer >>Sittlichen Verfassung<< des Staates neu zu begründen, eine gründliche Erforschung lohnen. Dabei geht es um nichts we­niger als um eine Aufhebung der abstrakten Gegensätze, die wir zu Beginn angeführt haben: zwischen Gemeinschaft* und Ge­sellschaft*, Kontrakt und Status, Individualismus und >>Holis­mus<< (oder Kommunitarismus) usw. Auf einer nicht mehr rein spekulativen Ebene, und zwar nicht vor, sondern nach den gro­ßen Entwicklungsschritten im Klassenkampf um die Lage der Arbeiter, besteht hier eine dynamische (oder wenn man so will: offene) Korrelation zwischen der Entwicklung der Individuali­tät und der Entwicklung der >>Sozialität<< oder >>Sozialisierung<< von Interessen und Verhaltensweisen. Ein institutioneller Äuße­rungsprozess von >>Eigenheiten<< des Individuums, der deren >>Anerkennung<< und folglich Aneignung bedingt. Wovon aber die seit den 197oer Jahren zu beobachtende Verschlechterung der Arbeitnehmerlage (und des Status des Lohnarbeiters) gerade bei­de Seiten in Frage stellt: Desindividualisierung und Desoziali­sierung (>>Selbst<<enteignung und Auflösung oder Zerschlagung der Zugehörigkeit) gehen dabei Hand in Hand und liefern im

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Umkehrschluss den Beweis, dass die Konstitution des »Selbst<< von der Konstitution der symbolischen und materiellen >>Bezie­hungen<< zum >>Sozialkörper<< untrennbar, ja ununterscheidbar ist - sogar und vor allem, wenn diese von Grund auf konfliktge­laden sind.

So wie auch Castel daraufbesteht (vgl. vor allem ebd., S. 279 f.), muss man dem Moment der Universalisierung der sozialen Siche­rungssysteme grundlegende Bedeutung beimessen. Sie löst deren Modalitäten aus aller lokalen Zugehörigkeit oder persönlichen Abhängigkeit in Bezug auf ein bestimmtes Unternehmen heraus, >>nationalisiert<< sie und verschiebt sie so tendenziell auf die Seite der Staatsbürgerschaft oder wirft zumindest wieder die unum­gängliche >>politische Frage<< nach ihrer Einbeziehung in die De­finition des Bürgers selbst auf.43 Aber diese (dem Aufkommen der >>Lohnarbeitsgesellschaft<< entsprechende) Universalisierung

lässt die Zweideutigkeit des Verhältnisses der Aneignung zur Ar­beit und zur Arbeitsteilung, das indirekt geworden ist, ein Ver­hältnis zweiter Ordnung (das also politisch ist und nicht ökono­misch), nur umso stärker hervortreten: da es sich nicht um eine

Aneignung durch die Arbeit (entweder die individuelle wie bei Locke oder die kollektive wie bei Marx) in ihrer eigenen Sphäre handelt, sondern um eine durch die formale, zum Status erho­bene Qualifikation des >>Arbeiters<< bedingte Aneignung, die am Schnittpunkt von >>Gesellschaft<< und >>Staat<<, also in einer >>ge­mischten<<, zugleich öffentlichen und privaten Zone erfolgt. Hier liegt so etwas wie eine in drei Schritten fortschreitende Dialektik vor: Aneignung von Rechten, und über das Anrecht auf Dienste,

43 So sind auch die Analysen von Donald Sassoon, One Hundred Years of Socialism. The West European Left in the Twentieth Century, New York, The New Press, 1996, S. 1 37f. (»Building Social Capitalism 1945-50<<), anlässtich des Konflikts, den in England die Anwendung des Beveridge-Planes auslöste, zu verstehen: Beschränkung der Welfare auf die Notleidenden oder im Ge­genteil >>Allgemeinheitsprinzip<< der sozialen Sicherung, trotz starker Geg­nerschaft auf Seiten der Arbeitgeber und der Gewerkschaften zugunsten des Letzteren entschieden.

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Aneignung von sozialen Diensten, und über die Dienste Aneig­

nung des »Selbst« oder der individuellen Fähigkeit, sich selbst zu

formen und zu bewahren, indem der »Gemeinschaft« die dafür

erforderlichen Mittel »entzogen« werden. Schon hier also, in dem

Moment, wo sie sich zu dessen Erweiterung anschickt, beginnt

die historische Institution, für die wir uns hier interessieren, dem

»Paradigma« des klassischen Besitzindividualismus und seiner

Umkehrungen zu entgleiten. Doch die Verschiebung wird noch sehr viel deutlicher, wenn

wir uns der Umgestaltung des Verhältnisses von Veräußerlichem und Unveräußerlichem zuwenden, die das »Sozialeigentum« mit sich bringt. »Unveräußerlich« ist nun nicht mehr der »persönli­che« Hintergrund (Verantwortlichkeit, Bewusstsein, in Bezug auf das Verfügen über den Körper des Individuums) - der die Kritik von Marx gerade möglich gemacht hatte: Die Formen der indust­riellen Arbeitsteilung verhindern die Selbstbeherrschung des Ar­beiters bei der Arbeit und versagen ihm physisch die körperliche Unterstützung, während die Vermarktlichung der bis zum Äu­ßersten getriebenen Arbeitskraft seine Reproduktion auf »totali­täre<< Weise in den Kreislauf von Reproduktion und Akkumula­tion des Kapitals einschreibt. »Unveräußerlich« ist jetzt nicht mehr das lebendige und bewusste Substrat der Tätigkeit, sondern der Rest (bzw. von einem anderen Standpunkt aus: der Über­schuss) aller »Nutzung« der Arbeitskraft: weil die sozialen Rechte die Existenz des Individuums da bewahren, wo seine ökonomi­sche Funktion unterbrochen ist, ja sogar zu existieren aufhört (wie bei Arbeitslosigkeit, Krankheit); und weil ihre Kombination (einschließlich der Wohnsituation, also der familiären Existenz­grundlage, der medizinischen Versorgung, der Beschulung) die individuelle Fähigkeit zur »Reproduktion der Arbeitskraft« au­ßerhalb des Produktionskreislaufs bewahrt und ihm dabei gleichzeitig eine sozial anerkannte Funktion im Dienst der natio­nalen Ökonomie zuweist.

In dieser Verschiebung von Aneignung und Arbeit (durch Vermittlung des Staates), die zur Bedingung ihrer Verknüpfung

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wird, liegt offenkundig der Hintergrund für den Widerspruch, der die »soziale Staatsbürgerschaft« befällt; der Ausdruck Ent­koppelung, den Castel als Ersatz für die in seinen Augen irrefüh­rende Exklusion oder Ausschließung vorschlägt, gibt das gut wie­der: Wenn der Arbeiter (wieder) zum »Nicht-Arbeiter« wird, und das Gleiche gilt für den Fall, dass er ein »potenzieller Arbeiter« ist, bleibt die Zugehörigkeit zu einer durch das System der sozia­len/öffentlichen Dienste und durch die personalisierten (obwohl in ihrer Durchführungsform bürokratisierten) Abhängigkeits­verhältnisse, die diese zwischen dem jeweiligen Individuum und dem demokratisch konstituierten politischen »Körper« herstel­len, strukturierten »Quasi-Gemeinschaft« von Arbeitnehmern.44 Castel spricht höchstens von negativer Individualität und nennt als Symptom die verschiedenen Äußerungen des (paradoxen und meistens unrealisierbaren) Befehls, ein Individuum zu sein, das heißt, sich zu individuieren, indem man »wird, was man ist<< (Eigentümer >>Seiner selbst«), ohne in gleichem Maße über die kollektiven Bedingungen des Individualismus zu verfügen. Ein solches Paradox ließe sich vielleicht entlang einer theoretischen Linie aufziehen, auf der zwei extreme Auswüchse aufeinander­treffen: einerseits die Tatsache, dass der Staat den Individuen eine Pseudo-Mitgliedschaft gewährt (er ist eine >>Zweite Natur«, in der Praxis eine Nation) oder auf einer sich unaufhörlich er­weiternden Skala Mechanismen kontrollierter Individualisie­rung entwickelt, um den Individuen die Mittel zur Verfügung zu stellen, die sie für ihre Autonomie brauchen, aber auch um darüber zu wachen, dass sie sie gut verwenden, >>produktiv« oder »normal« (in gewisser Weise das Gegenteil dessen, was sich klassi­sehe republikanische Theoretiker wie Rousseau vorgestellt hatten,

44 Robert Castel, »Rencontre avec Robert Castel« (Gespräch mit Marine Zecca), in: Ville -Ecole - Integration, Nr. ll5 , Dezember 1998, »Gerer l'exclu­sion: entre droit commun et specificite«. Siehe auch sein neueres Buch Linse­curite sociale. Qu'est-ce que'etre protege?, Paris, Seuil, 2003 [ dt.: Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat, Hamburg, Hamburger Edition, 2005 ] .

169

Page 86: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

bei dem die Bildung des Individuums im Dienst der Entwicklung des Gattungswesens Bürger steht); andererseits die Tatsache, dass die öffentlichen und vor allem sozialen Dienste auf die erfolgrei­che Mobilisierung der Arbeitskraft im Rahmen einer Produkti­onsweise ausgerichtet sind, die vollständig kapitalistisch bleibt: Es genügt also, dass der Wirtschaftskreislauf aus konjunkturellen oder strukturellen Gründen stockt und die Arbeitskraft »nutzlos« oder »unbrauchbar« (und schließlich überflüssig) wird, damit sich, zumindest tendenziell, die Teleologie in ihr Gegenteil ver­kehrt. Ebenso wie die Nützlichkeit aus den Institutionen des So­zialeigentums auf die tätigen Subjekte oder »Sozialbürger« nieder­ging, steigt die Nutzlosigkeit auf destruktive Weise aus der Nicht­Arbeit und den neuen Fördermaßnahmen für die Armen, die die­se »erträglich« machen sollen, zu einer Art staatlichem Mechanis­mus der Konstituierung des individuellen »Selbst« und der Aneig­nung seiner selbst auf. Das enthüllt eine wesentliche Schwäche des Sozialeigentums nicht nur im Hinblick auf die Habenseite oder das » Patrimonium«, sondern auch im Hinblickauf die Autonomie und die Potenz, das heißt das »Sein«.

170

3. Neue Überlegungen zur Gleichfreiheit

Zwei Lektionen1

Vor mittlerweile dreizehn Jahren (zur Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution) habe ich im Rahmen der Reihe >>Con­ferences du Perroquet«, die von Alain Badiou, Natacha Michel und ihren Freunden im Theatre de l'Odeon organisiert wurde, einen Vortrag gehalten. In dem von mir gewählten Titel >>Die Proposition der Gleichfreiheit« war der Terminus >>Proposition« in dem doppelten Sinne gemeint, den er im Französischen haben kann: als eine Aussage, die durch ihre Bedeutung und ihre Form gekennzeichnet ist, und als eine Einladung oder ein Vorschlag, den man anderen macht. Danach ist der Text auf Französisch und in verschiedenen anderen Sprachen unter dem konventio­nelleren Titel >>Menschenrechte und Bürgerrechte. Die moderne Dialektik von Freiheit und Gleichheit<< wieder erschienen. Seit ich mich mit dem Schmieden eines >> KofferwortS<< derart weit aus dem Fenster gelehnt habe für den Vorschlag, dass die Kombinati­on der beiden Schlüsselbegriffe der klassischen politischen Phi­losophie den Kern jener Vorstellung vom Bürger bildet, die in der Moderne ohne Unterlass eingefordert wurde und seit zweihun­dert Jahren unsere Idee vom >>Menschen<< völlig verändert hat, ist mir die Idee selbst weiterhin zutiefst rätselhaft erschienen, wie ich eingestehen muss. Jedenfalls habe ich nicht aufgehört, über

1 Third Essex Graduate Conference in Political Theory, University of Essex, Department of Government, 17 . - 18 . Mai 2002; Centro de Investigaciones y Estudios Superiores en Antropologia Social und Institute de Investigaciones Sociales der UNAM, Mexiko, 25.-26. März 2003 (unveröffentl.) . Die vorlie­gende Fassung enthält die für eine Teilveröffentlichung in Bertrand Binoche I Jean-Pierre Clero (Hrsg.), Bentham contre les droits de l'homme, Paris, PUF, coll. »Quadrige Manuels«, Februar 2007, vorgenommenen Korrekturen.

Page 87: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

die Schwierigkeiten, die mit ihr verbunden sind, nachzudenken.

Gleichzeitig fanden andere sie jedoch erhellend und übernah­

men sie in verschiedenen Kontexten, insbesondere um die Mög­

lichkeit einer »egalitaristischen<< Alternative zur vorherrschen­

den Konzeption politischer Philosophie aufzuzeigen, die auf dem

Primat der Idee der Freiheit gegenüber der der Gleichheit beruht ­

wenn nicht sogar auf der Kritik der »Illusionen« von Gleichheit

und Egalitarismus zugunsten des Freiheitsprinzips, das absolut

gesetzt wurde. Einige haben auch angeregt, dass das Konzept oder

der Begriff der »Gleichfreiheit« zu einem nützlichen Instrument

werden könnte, um offenzulegen, dass zwischen der »formalen«

Kombinationsweise von Freiheit und Gleichheit (von der man im

Allgemeinen annimmt, dass sie die konstitutionellen, aus »bür­

gerlichen« [bourgeoises] Revolutionen hervorgegangenen Syste­

me kennzeichnet) und den »materiellen« oder »substanziellen«

Forderungen der Emanzipationsbewegungen der ausgebeuteten

Klassen, sexuell oder kulturell unterdrückter Gruppierungen oder

anderer »Minoritäten<< ein Zusammenhang möglich oder sogar

intrinsisch notwendig ist.2 Dass meine Formulierungen auf diese Weise sowohl in theore­

tischen wie auch in politischen Kontexten aufgegriffen worden sind, hat mich zwar überzeugt, dass es sich hier nicht bloß um begriffliche Spitzfindigkeiten handelt, aber das hat die Schwie­rigkeiten, die ich von Beginn an wahrgenommen hatte, nicht in gleichem Maße gelöst. Die Einladung, die Sie an mich gerichtet haben, gibt mir nun die Gelegenheit zu einem Nachschlag. Unter Beibehaltung der Idee einer »Grundlegung« der politischen Phi­losophie zumindest in dem Maße, wie sie es mit den historischen Gestalten der Emanzipation zu tun hat, möchte ich den Begriff der Gleichfreiheit und den ihm zugrunde liegenden Gedanken­gang erneut zur Diskussion stellen.

2 Siehe die Kommentare von Alex Callinicos, Equality, Cambridge, Polity Press, 2000, und von Frieder 0. Wolf, »>Gleiche Freiheit< als Motiv der Philo­sophie«, in: ders., Radikale Philosophie. Aufklärung und Befreiung in der Neu­en Zeit, Münster, Westfalisches Dampfboot, 2002, S. 37f.

172

Die folgenden Betrachtungen sind in zwei Momente unterteilt, was zwei aufeinanderfolgenden »Lektionen« entspricht, auf de­ren Zusammenhang ich zu Beginn kurz hinweisen möchte. In beiden Fällen handelt es sich darum, sowohl an der historischen als auch an der logischen Dimension der Frage der Gleichfreiheit festzuhalten. In der ersten Lektion werde ich mich aber im We­sentlichen dem Dilemma zuwenden, das der modernen Instituti­on der Staatsbürgerschaft innewohnt: In ihm stehen sich ein uni­versalistischer Begriff des Bürgers (wie ihn die bedingungslosen Erklärungen der »Menschenrechte« begründen) und ein materia­listischer Begriff >>sozialer Rechte« (oder »sozialer Gerechtigkeit«)

gegenüber, woraus die Unterscheidung (und im Allgemeinen auch die direkte Entgegensetzung) von »formalen« und »substanziel­len« Konzepten der Freiheit und der Gleichheit hervorgeht. Ich werde zeigen, dass sich dieses Dilemma mit einer Spannung im Wesen der politischen Philosophie in Verbindung bringen lässt, von der besonders Bannah Arendt gezeigt hat, dass sie den typisch modernen Begriff der » Revolution« selbst von innen berührt. Das ist es auch, was ich an anderer Stelle mit der Entgegensetzung eines

Begriffes der Politik als Emanzipation und eines Begriffes der Poli­tik als Transformation gerrauer zu fassen versucht habe. 3 In der

zweiten Lektion werde ich mich dagegen bemühen, in einem wei­teren Rahmen bis zu den anthropologischen Bestimmungen des Zusammenhangs von Subjektivität und Gemeinschaft zurückzu­gehen, so wie sie die Verschiebungen des Gegenstandes und der Ziele der Emanzipationsbewegungen, die Freiheit und Gleichheit

einfordern, »vor« und >> nach« der Wende zur Moderne offenlegen. Zwischen diesen beiden formal voneinander unabhängigen Lek­tionen wird es gleichwohl ein Verknüpfungselement geben, das in einer Hinterfragung der Normalität bestehen wird, von der ich zu zeigen versuchen werde, dass sie das ethische Gegenstück zu jeder

3 Etienne Balibar, >> Trois concepts de Ia politique<<, in: ders., La Crainte des masses. Politique et philosophie avant et apres Marx, Paris, Galilee, 1997 [dt.: Der Schauplatz des Anderen. Formen der Gewalt und Grenzen der Zivilität, Hamburg, Hamburger Edition, 2006].

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Page 88: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

»Majoritäts«-Konzeption von Politik bildet, das heißt besonders einer demokratischen Politik »durch und für das Volk<<.

I. Formale und materielle Rechte Die » soziale Staatsbürgerschaft« und die Frage

der sozialen Rechte

Wie ich gerade angekündigt habe, nimmt diese erste Lektion die Untersuchung der klassischen Entgegensetzung von Freiheit und Gleichheit unter einem »formalen<< und einem »materiellen<< (oder substanziellen) Gesichtspunkt wieder auf. Aus Gründen, die sich hoffentlich nach und nach erhellen werden, wird die Beto­nung manchmal mehr auf der Freiheit und manchmal mehr auf der Gleichheit liegen. Letztendlich muss man allerdings trotzdem auf die logische Interdependenz zurückkommen, die man sich, wie ich in meinem ursprünglichen Vortrag vorgeschlagen hatte, gedanklich nach dem klassischen elenchos-Schema vorzustellen hätte, das heißt als gleichzeitige Widerlegung der zwei möglichen >>Negationen<<: dass nämlich die Negation der Freiheit faktisch die Gleichheit zerstört und die Negation der Gleichheit faktisch die Freiheit zerstört. Ebendeshalb ist es auch unmöglich, der einen gegenüber der anderen den Vorzug zu geben.

Der genaue Ursprung der - im Allgemeinen als Entgegenset­zung verstandenen - Unterscheidung einer formalen und einer materiellen Konzeption von Freiheit und Gleichheit liegt in der Geschichte der politischen Ideen: Sie tritt als unmittelbare Folge der so genannten >>bürgerlichen<< [bourgeoises] Revolutionen in Erscheinung, die im Namen sowohl universalistischer wie in­dividualistischer Werte erfolgen. Diese geben dem, was Gerald Stourzh den Prozess der Konstitutionalisierung der Menschen­rechte genannt hat,4 einen entscheidenden Impuls und bestim-

4 Gerald Stourzh, Wege zur Grundrechtsdemokratie. Studien zur Begriffs­und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaates, Wien, Böhlau Verlag, 1989.

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men die Zugangsbedingungen zur Staatsbürgerschaft als voll­ständiger Partizipation am politischen Leben - was ich Fähig­keiten zu nennen vorgeschlagen habe (ein im 19. Jahrhundert in Frankreich durch Guizots und Proudhons so gegensätzliche Werke bekannt gewordener Ausdruck, der im 20. Jahrhundert auf Englisch von Amartya Sen unter dem Namen capability wie­der aufgegriffen wird).5

Genauer können wir die Bedeutung dieses Ursprungs verste­hen, wenn wir auf die Darstellung zurückgreifen, die sich in den frühen Schriften von Marx findet, in denen der formale Charak­ter der >>bürgerlichen<< [ bourgeois] politischen Rechte unter dem Gesichtspunkt der materiellen Substanz des sozialen Konflikts und der revolutionären Forderungen, die dieser nach sich zieht, kritisiert wird. Wie wir wissen, lässt sich die Marxsche Kritik auch umkehren, sie wird dann zu einer Verteidigung des Forma­lismus der Rechte wie in der (im angelsächsischen Sinn) >>libera­len<< und >>libertären<< Tradition des 19. und 20. Jahrhunderts, ohne dass die allgemeine Problematik sich dadurch wirklich än­dern würde. Eine aufmerksame Lektüre der Texte von Marx (vor allem der Judenfrage) zeigt auch, dass diese Debatte in den Di­lemmata und Konflikten der bürgerlichen Revolutionen selbst wurzelt (ob es sich nun um die Holländische, die Englische, die Französische oder sogar die Amerikanische Revolution han­delt) - und auf das vorausweist, was kurz darauf zur >>sozialen Frage<< wird. Mit anderen Worten nimmt sie den neuen Typus von Konflikten und Dilemmata im modernen demokratischen Staat vorweg - dessen Krise wir heute erleben - und trägt we­sentlich zur Bestimmung von deren Form und Sprache bei. Doch eines sei hier gleich vermerkt: Die utopische und messianische Form, die Marx der Zukunft der sozialen Frage gab, mag den Diskurs der Emanzipationspolitik tief beeinflusst haben; sie hat sich aber, und zwar aus ehendiesem Grund, für deren politische

5 Amartya Sen, Inequality Reexamined, Cambridge (Mass.), Harvard Uni­versity Press, 1992 [frz.: Repenser l'inegalite, Paris, Seuil, 2000].

1 75

Page 89: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

Gestalten und reale Entwicklungen als immer weniger angemes­sen erwiesen.

Die Unterscheidung von formaler und materieller Freiheit

und Gleichheit hat jedoch auch einen theoretischen Gehalt, und

es genügt nicht, diesen aus seinen historischen Bedingungen

abzuleiten, sondern man muss ihn für sich diskutieren. Denn

dieser Gehalt bezieht sich meines Erachtens weniger auf die in

der politischen Philosophie und in der Moralphilosophie seit

mehreren Jahrzehnten allgegenwärtigen Dilemmata - Individua­

lismus oder Kommunitarismus, Primat der Freiheit oder Primat

der Gleichheit, »libertäre« und »egalitäre« Positionen usw. -,

sondern eher auf sehr viel kniffligere Fragen »zweiter Ordnung«,

die die für die Individualität selbst (oder wie ich in meinem eige­

nen philosophischen Jargon sage: für das »Transindividuelle«)

konstitutiven sozialen Beziehungen betreffen. Indem sie die

Staatsbürgerschaft, den politischen Status, die aktive Partizipati­

on an der öffentlichen Sphäre nicht nur vom Genuss bestimmter

Rechte aus definiert und von der Zugehörigkeit zu einer be­

stimmten Gesellschaft oder vom Teilen bestimmter Fähigkeiten,

bestimmter Verantwortlichkeiteil und bestimmter Pflichten, son­

dern aktiver, von der Art und Weise aus, wie die Individuen diese

Rechte und diese Fähigkeiten einander, gegenseitig, gewähren,

um eine Gemeinschaft zu bilden, hat die Moderne eine entschei­

dende Schwelle überschritten. Und eine der größten Aufgaben

der »Philosophie« in dieser Hinsicht ist es, zu zeigen, dass es auf

der spekulativen Ebene so etwas wie eine reine, unilaterale Theo­

rie nicht gibt, in der der Wert eines Individuums sich nur um den

Preis eines absoluten Verzichts auf die Gemeinschaft erweisen

würde (nicht einmal bei Robert Nozick ist das der Fall).6 Das

Umgekehrte übrigens auch nicht. Das Problem für jede große

Philosophie besteht immer darin, ein Mittel zu finden, diese ab­

strakte Alternative zu überwinden. Und je mehr ein Philosoph in

6 Robert Nozick, Anarchy, State, and Utopia, New York, Basic Books, 1974 [dt.: Anarchie, Staat, Utopie, München, Olzog, 2006, Neuausg. 2011 ] .

diesem Sinne anfänglich auf dem grundlegenden Wert eines der beiden Extreme beharrt, desto mehr wird er am Ende auf der

Notwendigkeit beharren, das andere neu zu konstituieren und praktisch zu bestimmen.

Doch die Dinge laufen nicht nur in der Philosophie auf diese Weise ab. Ebenso verhält es sich mit der Funktionsweise und der Entwicklung von Institutionen - außer dass in diesem Fall die

Spannungen, Mehrdeutigkeiten, anhaltenden Konflikte zwischen verschiedenen Fassungen, verschiedenen Vektoren und Polaritä­

ten des transindividuellen Feldes, das die moderne Erfindung des Bürgers eröffnet hat, in den Vordergrund treten. Was das, was

ich hier »das Transindividuelle«. nenne, grundsätzlich bedeutet,

ist nichts Essentielles oder Prinzipielles und bildet (im Unter­

schied zu Termini wie »die Gemeinschaft«, »die Menschheit«, die »Gesellschaft« oder das »Soziale<<, denen seine Bedeutung nahe­kommt) keinen eindeutig definierten teleologischen Horizont, sondern ist ein Problem. Besser gesagt: Was als Problem und womöglich unlösbare Aporie (aber eine Aporie, aus der sich die

moderne Politik speist und die sie in einen unendlichen intellek­tuellen und praktischen (Er-)Findungsprozess verstrickt?) offen­bleibt, ist die Frage, wie man das Transindividuelle instituieren kann, eine politische Institution finden kann, in der weder das Individuum noch die Gemeinschaft, weder die Freiheit noch die Gleichheit ohne ihr Gegenteil zu existieren vermag.

Wie wir Gelegenheit haben werden zu sehen, hat sich die Mo­derne an diesem Punkt gespalten. Der Tendenz nach hat sie sich nicht nur in Richtung auf die wachsende Bejahung der ausschlag­

gebenden politischen Bedeutung der »sozialen Frage<< (und im Gegenzug auf den immer wieder neu bekräftigten Widerstand gegen die politische Anerkennung der sozialen Frage) entwickelt, sondern auch in Richtung auf eine Umkehrung in Bezug auf die Verwendung der Termini »abstrakt<<, »formal<<, »materiell<<, »sub­stanziell«. Auch unter diesem Gesichtspunkt sind die Formulie-

7 Vgl. Claude Lefort, I:invention democratique, Paris, Fayard, 1981.

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rungen von Marx symptomatisch. Sie halten sich genau auf der Linie, auf der die Umkehrung stattfindet. Marx (hier Rousseau ganz dicht folgend) erklärt, dass der Universalistische Begriff der »Menschenrechte«, aus denen sich die Bürgerrechte mit den ih­nen eigenen Beschränkungen ableiten sollen, in Wirklichkeit in der Geschichte entgegengesetzte Rollen spielen kann: Manchmal wird man in ihm den wahren Ausdruck der Bewegung sehen, die zu einer radikalen Emanzipation führt, manchmal wird man ihn als Illusion oder Maske brandmarken, die die bürgerliche [ bour­

geoise] Herrschaft über das »Eigentum« verschleiert und mystifi­ziert. Er kann also sowohl eine authentische Anerkennung des »Gattungswesens« des Menschen bezeichnen als auch der Bil­dung einer entfremdeten politischen Gemeinschaft dienen, in der die zivilgesellschaftlichen Konflikte imaginär überwunden werden.8 Marx beharrt jedoch auf der Notwendigkeit, dass diese Art Philosophie »die Kluft überbrücken<< muss zwischen der for­malen Einforderung der Gleichfreiheit (die wir heute auch sym­bolisch nennen könnten) und der praktischen Umsetzung dieses Prinzips in der Realität - in dem, was im Deutschen Wirklichkeit* heißt. Deshalb geht er von einer notwendigen Beziehung zwi­schen der Fähigkeit des Individuums, sich »bis zum Stadium der Totalität« zu entwickeln, und der Assoziationsform aus, die er mit dem »Kommunismus« gleichsetzt und in der »die freie Ent­wicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung al­ler wird«.9 Diese Formulierungen liegen voll und ganz auf der Li­nie der in der »Ersten Moderne« und im Zeitalter der Autklärung herrschenden universalistischen Tradition und des Staatsbürger-

8 Diese Spannung der beiden Gesichtspunkte, die das Denken von Marx nicht zur Ruhe kommen lässt, steht im Zentrum des >>Manuskripts von 1843«, das der >>Kritik der Regelsehen Staatsphilosophie« gewidmet ist. Vgl. Etienne Balibar I Gerard Raulet (Hrsg.), Marx democrate. Le Manuscrit de 1843, Actes de la Journee d'Etudes de l'ENS, Januar 2000, Paris, PUF, coll. >>Actuel Marx Confrontation<<, 2001 . 9 Die erste Formulierung stammt aus der Deutschen Ideologie (1845), die zweite aus dem Kommunistischen Manifest ( 1847). Beide haben ihren tiefe­ren Ursprung in den zeitgenössischen Texten zum >>utopischen Sozialismus«.

schaftskonzepts, das ihr entspricht. Sie sind in den Debatten der so genannten »bürgerlichen« [ bourgeoises] Revolutionen verwur­zelt, und zwar in ihren radikalsten Strömungen. Denn die Erste Moderne hat sich den Sinn und Zweck der Geschichte als einen kontinuierlichen Verwirklichungs- und Materialisierungsprozess formaler (»symbolischer«) Rechte vorgestellt, dessen Wesen die Kombination von Gleichheit und Freiheit bildet, und folglich als einen Prozess, der darauf abzielt, »die Welt zu verändern«: nicht zufällig, denn diese Formulierung (deren Ursprünge zweifellos im Denken von Bacon liegen dürften) geht wörtlich von Kant auf Fichte und von Fichte auf Marx über.

Doch Marx hat die Bedeutung und praktische politische Trag­weite der Proposition der Gleichfreiheit noch auf andere Weise entwickelt, die bereits in die Richtung der Zweiten, postrevolutio­nären Moderne weist und der Tendenz nach eine Umkehrung des Verhältnisses des formalen und des materiellen Aspekts bzw. des Symbolischen und des Realen enthält. Das ist, wie mir scheint, der Fall, wenn Marx als politische Parole die These vorbringt, dass »die Emanzipation der Arbeiterklasse das Werk der Arbeiter selbst sein werde«, in der der Terminus Werk (work in der engli­schen Originalfassung der Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation 1864) gleichzeitig auf die »Arbeit« und auf die »Tätigkeit« verweist. Diese Idee ist so zu verstehen, dass die Praxis und die ihr eigene Materialität nicht von außen zu Grund­sätzen hinzugefügt zu werden brauchen, deren formaler Charak­ter auf diese Weise kompensiert, deren Abstraktheit korrigiert oder deren Leere gefüllt werden soll. Die Politik spielt sich viel­mehr immer schon in der Praxis ab, und es sind ihre materiellen Bedingungen, die ihr ihre Energie verleihen und sie in Bewegung versetzen. Man muss jedoch auch zugeben, dass im Herzen die­ser zum Wesen der Praxis gehörenden Materialität (die Marx letzten Endes aus dem produktiven Wesen des Menschen und der Gesellschaft, der Arbeit und der Produktionsverhältnisse - was Saint-Sirnon »die Industrie« genannt hatte - als dem bei der Konstituierung der Gesellschaft ausschlaggebenden Faktor ablei-

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tet) das durch Ideen, Bewusstsein und Prinzipien repräsentierte formale Element eine entscheidende Rolle spielt. Es bildet das »subjektive« Moment, das, was man auch das differenzierende Element der Praxis selbst nennen könnte, das in ihrem Zentrum

»den Unterschied macht« - also das Äquivalent zu dem, was He­gel »Negativität<< genannt hatte. Es ist offenkundig kein Zufall, dass Marx die Idee der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse in ei­nem engen Verhältnis zur zeitgenössischen »Arbeiterbewegung<< entwickelt hat, in der die Namen »Bürger<< und »Bürgerschaft« [citoyennete] weithin verwendet wurden, um die Art von Gleich­heit und Brüderlichkeit zu bezeichnen, die unter den revolutio­nären Kämpfern herrschte. 10 Wir haben es hier weniger mit der Idee einer kontinuierlichen materiellen Verwirklichung von Ide­en als mit der Idee einer Bewusstwerdung von Widersprüchen zu tun, durch die diese Widersprüche erst die subjektive Kraft er­zeugen, die zu ihrer Auflösung führen wird. Also bereits durch­aus mit einem charakteristischen Ausdruck dessen, was ich die Umkehrung des Verhältnisses zwischen dem formalen und dem materiellen Aspekt bei der Instituierung der Rechte und ihrer Verfassung in einem transindividuellen System genannt habe, obwohl dies allem Anschein nach nicht das letzte und historisch auch nicht das durchschlagendste Stadium ist, und sei es nur auf­grund der Zögerlichkeit, mit der Marx das Element des Rechts berücksichtigt, und seiner beständigen, unnachgiebigen und un­differenzierten Kritik am »rechtlichen Formalismus<< bzw. an der rechtlichen Form von Politik.

Diese auf eine kurze Erinnerung an wohlbekannte Marxsche Themen gestützten Vorbetrachtungen sollten uns beim Verste-

10 Siehe insbesondere zu diesem Punkt die Arbeiten von Edward Thomp­son über die >>englischen Jakobiner« (The Making of the English Warking Class, 1963 [ dt.: Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1987]), und von Jacques Ranciere ab La Nuit des proletaires. Ar­chives du reve ouvrier ( 1981, Neuausg. Paris, Hachette, 2005), sowie meinen Essay >> Un Jacobin nomme Marx« (in: La Crainte des masses, a. a. 0. [ dt.: Der Schauplatz des Anderen, a. a. 0.] ) .

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hen eines systematischeren Vergleichs der beiden historischen Momente helfen, die ich jeweils als Erste und Zweite Moderne bezeichnet habe, vor und nach der politischen und der industri­ellen Revolution.U Es gibt sicherlich keine starre Trennung zwi­schen beiden. Die »Zweite Moderne<< ist aus dem Ideal einer universellen Staatsbürgerschaft hervorgegangen bzw. eher aus deren inneren Spannungen, aus der Interpretation der Rechte als jeweilige Mittel, die historische Praxis und ihre materiellen Be­dingungen von innen zu transformieren. Und das von der Auf­klärung formulierte Programm der Verwirklichung der »Men­schen- und Bürgerrechte« hat offenkundig unaufhörlich Einfluss auf die Geschichte der »sozialen Frage<< genommen, und sei es nur durch die Bekräftigung des »ursprünglichen<< oder »grund­sätzlichen« Charakters der sozialen Rechte. Unsere Entgegenset­zung der beiden Momente genügt also einzig den Erfordernissen der begrifflichen Analyse: Vor der Untersuchung ihrer prakti­schen Interferenz handelt es sich darum, zu zeigen, dass jede Mo­derne, jede neue Weise, die Wechselseitigkeit von Gleichheit und Freiheit gedanklich zu erfassen, potenziell ihre eigenen Folgen und ihre eigenen Probleme nach sich zieht und von daher ihre ei­gene >>Dialektik<< enthält.

Die >>universelle« Staatsbürgerschaft: Anthropologischer Dualismus und Begründungsdilemmata

der demokratischen Politik

Erste Moderne (vor und nach den »bürgerlichen [ bourgeoises] Re­volutionen<<, die sich selbst als >>Aufstand der Menschenrechte<< bezeichnet haben, durchgeführt von Aufständischen [insurges] , im Englischen insurgents, im Spanischen insurgentes . . . ) habe ich

1 1 Die gemeinsamen Auswirkungen dieser beiden >>Revolutionen«, deren Überlagerung die Zweite Moderne erzeugt, werden immer noch am besten allgemein dargelegt von Immanuel Wallerstein, The Modern Ward-System, Bd. III. The Second Great Expansion of the Capitalist World-Economy, 1JJ0-184o's, San Diego, Academic Press, 1989 [dt.: Die große Expansion. Das mo-

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den Moment genannt, in dem die Idee der >>Staatsbürgerschaft«

nicht mehr länger auf einen geschlossenen, privilegierten Status

verwies und zum ersten Mal in der Geschichte mit dem Prinzip ei­

nes universellen Rechts auf politische Partizipation in Verbindung

gebracht wurde. Wie man aber sehen wird, hat sie das paradoxer­

weise keineswegs daran gehindert, die alten Ausschließungen

weiterhin fortzusetzen und, was vielleicht noch bezeichnender ist,

neue Ausschließungsgrundsätze entstehen zu lassen, die in gewis­

sem Sinne noch tiefer in einem anthropologischen >>Essentialis­

mus« verwurzelt sind als die vorhergehenden.

Um den tiefen Widerspruch innerhalb der »universellen Staats­bürgerschaft« (und damit auch im politischen Universalismus) in der Ersten Moderne zu verstehen, muss man zunächst zwei Ver­stehensweisen des Universalismus und seiner Anwendung auf die Condition humaine gut voneinander unterscheiden. Deren Spannung ist bereits in dem präsent, was wir gewöhnlich >>uni­versalistische Religionen« nennen (im Wesentlichen den christli­chen und den muslimischen Monotheismus, vielleicht auch den Buddhismus, insofern es sich dabei um eine >>Religion« im glei­chen Wortsinn handelt), aber sie entfaltet sich vollständig erst in der modernen Ethik und Politik in ihrer säkularisierten Form. Der Universalismus hat einen extensiven und einen intensiven Aspekt. Ersterer (der sich nur schwer von einer Institution staat­licher Art trennen lässt) verweist auf die Idee eines Raums ohne Beschränkungen oder Grenzen, in dessen Gesamtheit dasselbe >>Prinzip« herrscht oder dasselbe positive >>Gesetz« Anwendung findet. Das ist das Reich des Gesetzes. Letzterer tritt dagegen ne­gativ als Widerlegung oder Verneinungl2 von Unterscheidungen

derne Weltsystem III. Die Konsolidierung der Wirtschaft im langen 18. Jahr­hundert, Wien, Promedia, 2004]. Zur Frage der >>Phasen« der Moderne: Fre­dric Jameson, A Singular Modernity. Essay an the Ontology of the Present, London, Verso, 2002. 12 Mögliche Äquivalente des von mir oben angeführten griechischen Ter­minus elenchos, den vor allem Aristoteles beim Aufstellen des >>Satzes vom (Nicht-)Widerspruch<< verwendet hat (Metaphysik, Viertes Buch).

auf, die ihrerseits von zweierlei Art sind: Zwänge und Diskrimi­nierungen. Der intensive Universalismus ist also der, der im poli­tischen Bereich die willkürliche Macht verwirft, das, was er >>Ty­rannei« oder »Despotismus« nennt, und die >>Privilegien« des Standes, des Rangs oder der Kaste abschafftY Nicht-Zwang und Nicht-Diskriminierung gelten für jede Gemeinschaft, und vor al­lem für jede >>Nation<<, was aus dieser im Prinzip ein Ebenbild der menschlichen Gemeinschaft als >>ultimativer« oder >>absoluter« Gemeinschaft macht. Und dieses Prinzip intensiver Universalität habe ich nun gerade mit einem >>universellen Recht auf Politik« verwoben, man könnte sogar genauer sagen: auf aktive Politik, das >>Recht aufRechte«, von dem Arendt spricht. Deshalb neigt sie zu­mindest potenziell dazu, Mensch und Bürger [citoyen] gleichzu­setzen, den Menschen im Horizont der Staatsbürgerschaft [ci­toyennete] und der politischen Partizipation (neu) zu denken, die ihn >>autonom« macht, zum Herrn über sein eigenes Schicksal. Sie macht aus jedem Menschen einen >>potenziellen Bürger« und weist

13 Außer man gesteht nachträglich eine >>legitime« Macht zu, die auf der Übereinkunft der Bürger gründet, ja sogar auf deren ausdrücklicher Forde­rung nach Schutz, aber unter der Bedingung, dass sie unter deren Kontrolle ausgeübt wird, und, nach dem Wortlaut der französischen Erklärung der Menschenrechte von 1 789, in Verbindung mit der Einführung von >>sozialen Unterscheidungen, die auf dem gemeinschaftlichen Nutzen gründen«, das heißt von Funktionen, die allen zugänglich bzw. nach nicht diskriminieren­den Kriterien zugänglich sind. Der größte Theoretiker der zunächst negativ (bzw. als in der Willkür und den Privilegien enthaltene >>Negation der Nega­tion«) gefassten Gleichfreiheit im klassischen, mit den bürgerlichen [bour­geoises] Revolutionen zeitgleichen Sinne ist zweifellos Thomas Paine: Rights of Man ( 1791/1792). Seine Formulierungen schöpfen nicht nur aus dem Dis­kurs der Amerikanischen und der Französischen Revolution, sondern auch aus der radikalen Tradition der englischen Revolutionäre des 17. Jahrhun­derts (siehe die Putney debates. Frieder Wolf hat die Nachdrücklichkeit des Syntagmas >>equal liberty« in den Tracts der Levellers herausgearbeitet, vgl. >> The International Significance of the Levellers«, in: Tony Benn I Frieder Otto Wolf, The Levellers, Spokesman Pamphlet, Nr. 92, Nottingham, The Russell Press, Mai 2000). Sie sind noch bei Spencer zu spüren, der in Social Statics ( 18 5 1 ) die equal liberty als >>Gesetz« der modernen Gesellschaft defi­niert (vgl. Frederic W Maitland, Liberta e uguaglianza nella filosofia politica inglese, hrsg. u. übers. v. Mario Piccinini, Turin, La Rosa, 1993, S. 1 3 3 f.).

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die anthropologischen Unterschiede, die in der antiken Polis vor allem den Zugang zur Bürgerschaft [citoyennete] einschränkten, von vornherein ab.

Diese schnelle Charakterisierung der intensiven Universalität, deren Idee heute mit der modernen Staatsbürgerschaft untrenn­bar verbunden ist, erlaubt uns nun, neu über die Konflikte und Gegenargumente nachzudenken, die ihre philosophische Artiku­lation in den großen klassischen Systemen auslöst (deren Erben wir selbstverständlich immer noch sind): nicht nur über den Dualismus der institutionellen Vermittlungen, durch die sich der Prozess der »Konstitutionalisierung der Menschenrechte« voll­zieht (Staat und Markt, der »politische Körper« und die zivile Marktgesellschaft), oder über deren Formalisierung als Bürger­rechte; sondern auch über den anthropologischen Dualismus, der zurückgeht auf die tendenzielle Entgegensetzung eines Dis­kurses der Subjektivität (und in diesem Sinne der Innerlichkeit) und eines Diskurses der Individualität (der praktisch den Primat einer Philosophie der Äußerlichkeit impliziert).

Es stellt sich nämlich in der Tat die Frage, wie es sein kann, dass der Begriff der Gleichfreiheit der Bürger, dessen praktische Im­plikationen in verschiedenen Rechtssystemen bzw. den moder­nen demokratischen »Verfassungen<< weitestgehend gleich sind, sich auf zwei in Bezug auf die Vorstellung von den philosophi­schen Grundlagen und den entsprechenden institutionellen Ver­mittlungen so grundverschiedene »Paradigmen<< gründen kann wie den utilitaristischen Individualismus und die republikanische Gemeinschaft der Bürger. Die Gründe dafür liegen in meinen Au­gen nicht nur in unterschiedlichen nationalen Traditionen (dem »Pragmatismus<< und »Individualismus<< der angelsächsischen Tradition, dem »Idealismus<< oder »Subjektivismus<< der ansons­ten heterogenen, kontinentalen Traditionen) und in unterschied­lichen politischen und sozialen Geschichtsverläufen, sondern in der Bedeutung von wirklichen metaphysischen Alternativen auf beiden Seiten dessen, was man mit Michel Foucault die »häreti­schen Punkte<< der Moderne nennen könnte. Wie immer treiben

die Philosophen diese Alternativen ins Extrem, so dass sich erken­nen lässt, was darin auf dem Spiel steht: auf der einen Seite Locke und Adam Smith, auf der anderen Rousseau und Karrt - aber im Detail ist das häufig weniger einfach, weil sich diese Diskurse nicht unabhängig voneinander entwickeln, sie neigen dazu, die eigene Entgegensetzung zu verinnerlichen, und nehmen so nichtklassifi­zierbare Gestalten an. Letzten Endes geht es darum, zu verstehen, wie die Verknüpfung von Gesellschaft und Staat sich »konstitu­iert<<, aber dafür muss man über die »Grundlage<< der Universali­tät nachdenken oder über den metaphysischen Ursprung des »Rechts<<, der Politik-Fähigkeit eines jeden Menschen oder seines Bürger-Werdens (was in der Antike der Bildung des Bürgers vor­behalten war, paideia, cultura, und heute der »Ausbildung<< des Humanen im Menschen selbst unterliegen soll). In diesem Sinne gehen die sowohl diskursiven wie institutionellen »Vermittlun­gen<< der universellen Staatsbürgerschaft der »aufständischen<< Praxis voraus, dem revolutionären Emanzipationsmoment, wo der moderne Bürger sich als solcher gegen den Despotismus und die Privilegien behauptet, aber sie folgen dieser Praxis auch, sie hö­ren nicht auf, deren »konstitutionelle<< Verwirklichung zu beein­flussen, und daher begrenzen sie sie. Was wir versuchen müssen zu verstehen oder zumindest zu beschreiben, ist die Weise, wie die anthropologische Grundlage sich in zwei Teile teilt.

Der Leitfaden, dem ich hier zu folgen vorschlage, beruht auf der Verknüpfung von zwei philosophischen Kategorien, an de­nen sich in der klassischen Philosophie tendenziell die Geister scheiden - der Kategorie des Subjekts und der des Individuums -,

mit zwei Weisen, das konstitutive Verhältnis von Gesellschaft und Staat (aber auch ihrer Ablehnung, wie wir sehen werden) zu hierarchisieren: Die eine setzt die Frage der Gemeinschaft an die erste Stelle, die andere setzt die Frage des Eigentums an die erste Stelle. So habe ich jedenfalls in meinen ursprünglichen Vortrag von 1989 versucht, in einem Diagramm die Symmetrien zwischen dem Diskurs schematisch abzubilden, der die Äquivalenz von Freiheit und Gleichheit als »Gemeinwohl<< für alle Mitglieder ei-

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ner Gemeinschaft versteht (einer Nation, aber auch einer Klasse bzw. einer »universellen<< revolutionären Klasse, auf der Grund­lage des Begriffs der Brüderlichkeit), und dem Diskurs, der diese Äquivalenz als jene »Wechselseitigkeit« von Bedingungen und Rechten unter Eigentümern versteht, die mit der Praxis des Tau­sches einhergeht.14 Diese Terminologie lässt sich präzisieren, denn die klassischen Ansätze verankern auf der einen Seite das Subjekt - traditionelles Korrelat zum Souverän in einer »Ge­meinschaft von Bürgern<<, die ein Staat sein kann (dessen for­male Gestalt hier dem Muster von Rousseaus Gesellschaftsver­trag folgt)15 oder ein Jenseits des Staates (eine kommunistische oder kommunitaristische Utopie), und auf der anderen Seite das Individuum oder den Handelnden in einem Netz von (intel­lektuellen wie marktförmigen) Tauschbeziehungen, für die sich die Wiederaufnahme des klassischen Begriffs des »Verkehrs<< in seiner ganzen Bandbreite förmlich aufdrängt. 16

Rousseaus »Subjekt<< (Rousseau ist verantwortlich für die Mu­tation der Bedeutung der Kategorie des Subjekts in der philoso­phischen Terminologie, insofern er - durch eine brutale Verkür­zung der Vertikalität - die individuelle » Unterwerfung<< mit einer Partizipation am kollektiven »Souverän<< gleichsetzt) ist unmit­telbar ein Gesetzgeber, dessen anthropologisches Kennzeichen

14 [Vgl. S. 102 in diesem Band.] 15 V gl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, FrankfurtiM., Suhrkamp, 1992. Zur Symmetrie von »Subjekt« und >>Souverän<< vgl. Etienne Balibar, >>Citoyen Sujet - Reponse a la question de Jean-Luc Nancy: qui vient apres le sujet?<< , in: Cahiers Confrontation, Nr. 20, Winter 1989 [dt.: »Bürger-Subjekt. Antwort auf die Frage Jean-Luc Nancys: Wer kommt nach dem Subjekt ?<<, in: Christoph Menke I Francesca Raimondi (Hrsg.), Die Revolution der Men­schenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, Ber­lin, Suhrkamp, 2011, S. 41 1-441] . 16 V gl. J . G. A. Pocock, Virtue, Commerce, and History. Essays an Politicial Thought and History. Chiefly in the Eighteenth Century, Cambridge I New York, Cambridge University Press, 1985 [dt.: Die andere Bürgergesellschaft. Zur Dialektik von Tugend und Korruption, FrankfurtiM./New York, Campus, 1993 ] .

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par excellence ein moralisches Bewusstsein (conscience im Engli­schen, Gewissen* im Deutschen) ist, das den Unterschied von Partikularinteresse und Allgemeininteresse im Innersten des In­dividuums zum Ausdruck bringt, also von »Einzelwillen« und »Volonte generale«, »Gemeinwillen<<, wobei Ersterer Letzterem untergeordnet wird, so dass sich die höheren Rechte der Gemein­schaft im Herzen der Individualität geltend machen. Lockes »In­dividuum<< dagegen und erst recht das der klassischen Ökono­men (Smith) ist ein Handelnder, dessen autonome Entscheidung auf der von Locke ins Zentrum der politischen Philosophie ge­rückten Idee des »Eigentums seiner selbst<< (Proprietor of one's Person, was Macpherson das Prinzip des »Besitzindividualismus« genannt hat) beruht. 17 Es verfügt selbstverständlich auch über ein Selbstbewusstsein, allerdings ein im Wesentlichen psychologi­sches, als Sitz einer universellen »Verantwortlichkeit<< des Indivi­duums in Bezug auf seine Handlungen und die guten oder schlechten Folgen, die sie für es selbst oder andere nach sich zie­hen können; gewissermaßen unterfüttert es die grenzenlose Be­wegung der Erlangung von »Gütern« und Eigentum, die das »Le­ben<< des Individuums ausmacht, rechtlich und moralisch.

Der Mensch der Ersten Moderne als potenzieller Bürger hat deshalb zwei Möglichkeiten, auf die soziale Norm Bezug zu neh­men: eine subjektive Möglichkeit, die sich auf die Innerlichkeit und die Verinnerlichung des Gesetzes im Selbstbewusstsein gründet, und eine objektive Möglichkeit, die sich auf den Utili­tarismus und die Einhaltung der »Regeln« und »Konventionen<< gründet. Diese zwei verschiedenen Verknüpfungsweisen von In­dividuum und Gesellschaft werden von der Klassik bis in unsere

Tage als gegensätzlich wahrgenommen, aber es macht sich un-

17 V gl. Robert Castel I Claudine Haroche, Propriete privee, propriete sociale, propriete de soi. Entretiens sur la construction de l'individu moderne, Paris, Fa­yard, 2001; Etienne Balibar, »Le renversement de l'individualisme possessif<<, communication au colloque de Cerisy La propriete ( 1999), überarbeitete Fas­sung in: Herve Guineret / Arnaud Milanese (Hrsg.), La Propriete. Le propre, l'appropriation, Paris, Ellipses, 2004, S. 9-30. Siehe Kapitel 2 in diesem Band.

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mittelbar bemerkbar, dass eine wie die andere in gleichem Maße

universalistisch ist und vor allem dass sie beide die Möglichkeit

zur Exklusion in sich tragen, die dem Inklusionsprinzip selbst

zentral eingeschrieben ist. Diese Möglichkeit ist seither nicht all­

gemein auf diejenigen gemünzt, die der Gemeinschaft der Bürger

»fremd« sind, sondern auf die Individuen und Gruppierungen,

die in Bezug auf die Norm der Humanität und ihre vollständige

Verwirklichung als »fremd« wahrgenommen oder »ZU Fremden«

erklärt werden: Frauen, Kinder, Kriminelle, Geisteskranke, Ver­

treter »niederer Rassen« usw. Genevieve Fraisse und andere femi­

nistische Historikerinnen haben sie auf bemerkenswerte Weise

dargestellt und interpretiert, und zwar in Bezug auf die anthropo­

logischen Wurzeln der Exklusion, des Ausschlusses der Frauen

von der aktiven Staatsbürgerschaft in den klassischen Verfassun­

gen (dessen Spuren immer noch nicht vollständig getilgt sind,

wie klar zu erkennen ist), die nicht auf ein »Patriarchat« oder

eine traditionelle genealogische Ordnung zurückgehen, sondern

auf eine Doktrin der öffentlichen Vernunft, des unterschiedlich

gehandhabten Zugangs zum Denkvermögen und zur Rationalität

selbst. 18 Diesen Ausschluss kann man - gemeinsam mit anderen

ähnlichen, auf die ich zurückkommen werde - nun aber entwe­

der als Verfall der Subjektivität verstehen, als Auftreten eines aller

Vernunft beraubten »Nicht-Subjekts« in Gestalt des universellen

Subjekts selbst (oder als Umkehrung der konstitutiven Beziehung

zwischen dem universellen, »transzendentalen« Subjekt und dem

»empirischen«, in seinen Interessen partikularen und beschränk­

ten Subjekt) oder als Verfall der autonomen Individualität, der

»Handlungsfähigkeit<< (agency). Es stellt sich also die Frage, ob

sich in der paradoxen Logik der klassischen Universalität die

Spur einer klaren Grenze zwischen Humanem und Inhumanem

18 G. Fraisse, Muse de la raison, Paris, Flammarion, 1995; Les Deux Gouver­nements. La famille et la cite, Paris, Gallimard, >>Folio<<, 2001; Joan W. Scot-t, Only Paradoxes to Offer. French Feminists and the Rights of Man, Cambridge (Mass.), Harvard University Press, 1996, frz.: La Citoyenne paradoxale. Les feministes franraises et les droits de l'homme, Paris, Albin Michel, 1998.

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(bzw. Infrahumanem) finden lässt, aber vor allem - was unter

dem Gesichtspunkt der Institution der Staatsbürgerschaft sehr viel entscheidender ist - zwischen Gegensätzen, die gewisserma­ßen dialektisch sind, das heißt einen grundsätzlichen Konflikt zwischen »Recht« und »Faktizität« bergen (und eben dadurch einen Kampf zwischen jenen implizieren, die sich für die Beibe­haltung der Unterschiede einsetzen, und denjenigen, die sie in Frage stellen möchten: Herren und Knechte, Unternehmer und Arbeiter, Männer und Frauen . . . ) , und anderen Gegensätzen, die ihrem Wesen nach nicht dialektisch sind und der Tendenz nach auf die Natur zurückgehen, ja sogar auf die Naturalisierung von Ausschließungspraktiken, die verschiedene »Anomale<< und >>Minoritäten« aus dem Bereich der menschlichen Natur heraus­komplementieren. Darin liegt das ganze Problem der Geistes­krankheit und der Kriminalität und womöglich mehr noch der Kindheit, in der die >>Vorläufigkeit« der Exklusion die >>Natür­lichkeit« nur umso stärker hervorhebt (dass die Kinder gegen die Erwachsenen kämpfen, um der Minorität zu entkommen, oder gleiche Rechte einfordern, stellt man sich nicht vor, jeden­falls noch nicht . . . ) . 19

Der klassische Universalismus, dessen von mir als >>intensiv« be­zeichnetes Emanzipaticnsprinzip auf der Idee eines universellen Rechts auf Politik beruht, mündet so in eine Dialektik von Befähi­gungen und Ausschließungen (die im Verfassungs- und Zivilrecht häufig gerrau >>Unvermögen« im Sinne von >>Unfähigkeiten« ge­nannt werden), in der das Paradox einer Staatsbürgerschaft zur Entfaltung kommt, die bedingungslos einforderbar und dennoch mit Bedingungen belastet ist. Aber diese Bedingungen sind nicht historisch (werden also nicht unmittelbar als veränderbar einge­schätzt: Später wird zur eng mit dem sozialistischen Denken ver­bundenen >>Sozialkritik« der Versuch gehören, den größten Teil

19 Die liberalen Diskurse neigen zu einem »dialektischen<< Verständnis von »nicht-dialektischen<< Gegensätzen, vgl. meinen Essay »Crime prive, folie publique<<, in: Nathalie Robatel (Hrsg.), Le Citoyen fou, Paris, PUF, coll. »Nouvelle Encyclopedie Diderot<<, 199 1.

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von ihnen als »Epiphänomene<< des Kapitalismus oder der unglei­

chen Bedingungen erscheinen zu lassen). Sie werden auf eine tief­

liegende anthropologische Ebene zurückverwiesen, auf der die

menschliche Natur sich angeblich selbst »begrenzt« oder »wider­

spricht<<, was zur Unterscheidung von Normalem und Anorma­

lem, von Humanem und seinem Doppel, seiner Rückseite oder

seiner Pervertierung führte. Alles Figuren, wohlgemerkt, die in

Bezug auf die klassische Staatsbürgerschaft auf die verschiedenen

»Minoritäten<< projiziert worden sind, einschließlich der Frauen,

doch niemals ohne Protest oder Unbehagen, und die Einfluss auf

das paradoxe Ziel einer »Erlangung<< von politischen Rechten

nehmen, die rein rechtlich bereits erlangt worden sind (»birth­

rights<<), oder aber ihren Genuss insbesondere einigen Individu­

en zu verwehren, obwohl sie doch als universell und »unantast­

bar<< gedacht gewesen waren.20

Die »soziale Staatsbürgerschajt<< und die Frage der sozialen Rechte

Ich komme jetzt zur Untersuchung des zweiten Moments, der dem entspricht, was ich hypothetisch >>Zweite Moderne<< genannt habe, und in dem das Problem der Staatsbürgerschaft untrenn­bar mit den Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit verbunden zu sein scheint und folglich mit einer »unendlichen<< Dialektik von Universalität und Praxis bzw. einer sozialen Transformation, bei der die Gleichheit eher als historische Konstruktion erscheint denn als >>gegeben<< und die Freiheit eher als materielle Eroberung denn als >>Prinzip<<.

20 Der auffalligste all dieser Widersprüche betrifft zweifellos die Sklaverei, aber aus ehendiesem Grund hat er sich - übrigens unter völlig gleichen Be­dingungen - auch am schnellsten als unhaltbar erwiesen (wenngleich diese Schnelligkeit sehr >>relativ<< und mit gewaltsamen Konflikten belastet ist, wie die Geschichte der die Sklaverei betreffenden revolutionären und postrevo­lutionären Politik in Frankreich zeigt, vgl. Louis Sala-Molins, Le Code noir ou Le calvaire die Canaan, Neuausg. Paris, PUF, coll. >>Quadrige«, 2002).

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So wie ich im ersten Teil dieser Ausführungen den anthropolo­gischen Dualismus von Subjekt und Individuum mit der Art und Weise in Verbindung gebracht habe, wie die klassische Verfas­sung der Gleichfreiheit eine für die Erste Moderne charakteristi·· sehe Figur universeller Staatsbürgerschaft hervorbringt, möchte ich jetzt die mit der sozialen Frage einhergehenden Spannungen und die für die Zweite Moderne (oder Spätmoderne) typischen Debatten, wie zwingend die so genannten sozialen Rechte sind, also zum Beispiel das Recht auf Arbeit, das Recht auf Sozialversi­cherung und auf Bildung, das Recht auf kulturelle Güter, aber auch das Versammlungs- und Demonstrationsrecht, mit einer Figur des Bürgerlichen in Verbindung bringen, die ich T. H. Mar­shall und seinen Nachfolgern entsprechend soziale Staatsbürger­schaft nennen werde. 21 Meiner Einschätzung nach weisen >>soziale Rechte<< und >>soziale Staatsbürgerschaft<< eine so enge Beziehung auf, dass man die beiden Probleme historisch wie theoretisch notwendig gemeinsam diskutieren muss. Schlicht und einfach gleichsetzen möchte ich die beiden Begriffe trotzdem nicht; ich will vielmehr versuchen, die Dialektik ihrer Interaktion zu verste­hen, die sowohl ihre gegenseitige Verstärkung als auch die Weise betrifft, wie sie einander begrenzen.

Um aber diese Dialektik vollständig beschreiben, die neue Be­deutung, die sie der Idee der Gleichfreiheit verleiht, und die As­pekte eines transindividuellen Verhältnisses, die sie zu Tage för­dert, verstehen zu können, muss man noch einen dritten Term

21 Der grundlegende Essay von T. H. Marshall, Citizenship and Social Class (Cambridge, Cambridge University Press, 1950, Pluto Press, 1992 [dt.: Bür­gerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates, Frankfurt/ M./New York, Campus Verlag, 1992]) ist immer noch nicht ins Französische übersetzt worden ! Es gibt eine bemerkenswerte neuere kritische Ausgabe auf Italienisch: Cittadinanza e classe sociale, hrsg. v. Sandro Mezzadra, Rom -Bari, Laterza, 2002. V gl. auch Margaret Somers, >>Constituting Citizens in History and in Theory. Civil Societies, Law, and the Place of the Public Sphere<< (1998), mit anderen Essays der Autorirr kürzlich wieder erschienen in ihrem Buch Genealogies of Citizenship. Markets, Statelessness, and the Right to Have Rights, New York, Cambridge University Press, 2008.

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heranziehen, der in der einfachen Diskussion der Ideen und kon­stitutionellen Perspektiven leicht übergangen wird, der aber eine wirklich handelnde historische Kraft bildet, die in jede Beziehung zwischen Individuen und Gruppen und sogar, wir werden es se­hen, zwischen Individuen untereinander und zwischen Gruppen untereinander eindringt (bzw., wenn man so will, notwendig in die Bildung jeder »Individualität« sowie jeder »Kollektivität« ein­fließt): Ich spreche vom Staat. Damit soziale Rechte definiert und praktisch anerkannt werden können, damit eine rein »politische« Definition von Staatsbürgerschaft auch zu einer »sozialen<< Defi­nition wird (die natürlich stärker denn je auch eine politische De­finitionsweise der Staatsbürgerschaft ist bzw. einer Politisierung des Sozialen ebenso entspricht wie einer Sozialisierung des Politi­schen), muss der Staat selbst sich in einen (mehr oder weniger de­

mokratischen) Sozialstaat verwandeln. Und das ist natürlich ein politisches Faktum. Doch muss der Staat selbst offenbar nicht nur seine Interventionsbereiche »erweitern<<, um als Agent einer neu­en sozialen Gouvernementalität auftreten zu können, sondern er muss auch dazu gedrängt, ja sogar gezwungen werden. Als Folge daraus zeichnet sich eine neue Dialektik ab, deren Momente die folgenden sind: 1) Wir müssen schematisch in Erinnerung rufen, wie die Kritik des »formalen« Charakters der Freiheits- und Bür­gerrechte sich unter dem Einfluss der sozialen Frage bzw. genauer gesagt der Frage der Differenzen und Klassenkämpfe inhaltlich verändert hat; 2) Wir müssen uns dem konzeptuellen Unter­schied von Rechten, Staatsbürgerschaft und Staat zuwenden,

über die das Adjektiv »sozial<< jetzt so verteilt ist, dass das Politi­sche sich in seiner Gesamtheit nur noch über soziale Prozesse und Konflikte begrifflich fassen lässt; 3 ) Wir müssen den entscheiden­den Dreh herausarbeiten, wie die Sozialpolitik (oder Welfare-, Wohlfahrtspolitik) sich im Gegensatz zu Wohltätigkeit oder hu­manitärer Hilfe in Form einer Universalistischen sozialen Staats­bürgerschaft umsetzen lässt, und bei dieser Gelegenheit die Ar­gumente untersuchen, die in dieser neuen Konfiguration Rechte mit Tätigkeiten oder Taten in Verbindung bringen: der politische

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Status von »Arbeit<<, die Verknüpfung von Individuellem und Kollektivem in den revolutionären Kämpfen und schließlich die Wiederbelebung des Konzepts der »positiven Freiheit<< (im Ge­gensatz zu Lien bloß »negativen« Freiheiten im Liberalismus).

Bekanntlich steht die Kritik der formalen Freiheiten am Ur­sprung der Renaissance des Problems der Gerechtigkeit in den modernen Gesellschaften, wenn auch in einem vollkommen an­deren Sinne, als die antiken Theoretiker oder die Theologen ihm zugewiesen hatten. Diese Reaktivierung geht nämlich aus dem Auftauchen des sozialen Klassenantagonismus (Teilung, Un­gleichheit, Konflikt) hervor, der für die Verwirklichung der für universell »erklärten<< Rechte ein Hindernis darstellt bzw. deren symbolischer Universalität widerspricht. Aus dieser Schwachstel­le innerhalb der Emanzipationsproblematik geht nun die durch­aus kritische (bzw. sich als eine Kritik der Kritik, mit Hegel gespro­chen als eine Negation der Negation verstehende) Idee einer Politik der » Transformation<<, der Veränderung (der Gesellschaft,

der gesellschaftlichen Verhältnisse, wenn nicht der »Welt<<) , her­vor. Bei allen sozialistischen Denkern des 19. Jahrhunderts, aber auch bei einigen ihrer liberalen und konservativen Widersacher gelten die Klassenwidersprüche als strukturelle Widersprüche, insofern sie diesseits des Staates, der »politischen Repräsentati­on«, in der »Gesellschaft<< selbst verwurzelt sind. Aber aus genau diesem Grund erlauben sie es, den Staat »dialektisch<< oder »or­ganisch<< zu denken, nicht als eine den gesellschaftlichen Verhält­nissen externe Instanz, sondern als die Instanz, die deren Regu­lierung und Reproduktion selbst in die Hand nimmt.22

Überwiegend erscheinen sie darüber hinaus als Folgen der Art

und Weise, wie die Arbeit gesellschaftlich organisiert ist: nicht nur

22 Diesbezüglich (und in Bezug auf die Ursprünge des französischen >>Soli­�arismus<<, aus dem Durkheim hervorgeht und folglich auch die kritischen Uberlegungen von Robert Castel) ist das Buch von großem Interesse, das Bruno Karsenti vor nicht allzu langer Zeit über Auguste Comte als den Erben einer bestimmten >>Kritik der Menschenrechte<< veröffentlicht hat: Politique de l'esprit, Paris, Hermann, 2006.

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die Industriearbeit oder die Lohnarbeit, sondern allgemeiner die

sozial nützliche Tätigkeit, die sich in Richtung auf die Hausarbeit,

die Arbeit in der Verwaltung und in der Chefetage (ja sogar bei der

Ausbeutung) oder auf intellektuelle und künstlerische Arbeiten

ausweiten kann. Politische und ethische Bedeutung verleiht ihnen

zunächst die Art und Weise, wie sich in ihnen Phänomene der

Herrschaft und der Entfremdung, des Kampfes und der Anerken­

nung23 bemerkbar machen, die sich auf das ganze menschliche Le­

ben erstrecken, aber auch der Umstand, dass die moralischen

Konflikte und Spannungen, die bei der Arbeit entstehen, nach und

nach zu einer >>Kategorisierung<< oder »Klassifizierung<< der Ge­

samtgesellschaft führen. Das Problem der Gerechtigkeit stellt sich

seither nicht mehr im Zusammenhang mit besonderen individu­

ellen Verdiensten oder Verfehlungen oder mit der transzendenten

Bestimmung der Gesellschaft aus eschatologischer Perspektive,

sondern in Form von immanenten Hindernissen, die es politisch,

durch die direkte oder indirekte Intervention des Staates (zum

Beispiel durch Bildung), zu überwinden gilt, so dass für die Indivi­

duen und für die Gruppierungen oder Klassen, denen sie angehö­

ren, die größtmögliche Verwirklichung ihrer Fähigkeiten erreicht

wird. Das Problem der sozialen Gerechtigkeit erscheint so bevor­

zugt, wenn nicht einzig und allein, als Neuformulierung der Frage

der Gleichfreiheit, selbst wenn im Versuch, die Unterschiedlich­

keit der Standpunkte zu markieren, mitunter andere Ausdrücke

verwendet werden (zum Beispiel »Fairness<<, »Würde<< usw. - inte­

ressanter- und bemerkenswerterweise alles Ausdrücke, die einer

früheren Tradition entnommen und für die moderne Staatsbür­

gerschaft mit einer neuen Bedeutung versehen worden sind).

23 Siehe das mittlerweile klassische Werk von Axel Honneth: Kampf um An­erkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1992. Und die für die zeitgenössische politische Philosophie grundlegende Diskussion zwischen Honneth und Nancy Fraser, Redistribu­tion or Recognition ? A Political-Philosophical Exchange, London, Verso, 2003 [dt.: Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontro­verse, Frankfurt/M., Suhrkamp, 2003] .

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Soziale Rechte, soziale Staatsbürgerschajt, Sozialstaat - alle die­se Begriffe sind wechselseitig voneinander abhängig und eng mit der Gerechtigkeitsproblematik verbunden, aber trotzdem sind sie nicht synonym. Am schwersten zu fassen und zu definieren ist nun gerade der Ausdruck »soziale Staatsbürgerschaft<<, weil er zwischen Idee, Einforderung und Definition der »sozialen Rech­te<<, die ihrerseits bedingungslos auftreten und von daher Druck ausüben, in das, was man mit Claude Lefort L'invention demo­cratique, demokratische »Erfindung<< oder »Findigkeit<<, nennen könnte - die nichts anderes ist als eine Geschichte des Universel­len -, Eingang zu finden, und der Konstitution eines neuartigen Staates vermittelt, der die Machtverhältnisse festschreibt und sie in einer historischen »Hegemonie<< zu formalisieren wagt.24 Ent­scheidend scheint mir in dieser Hinsicht zu sein, dass der Staat, mit dem wir es hier zu tun haben, immer schon ein Nationalstaat ist. Die Institution der sozialen Staatsbürgerschaft resultiert, zu­mindest indirekt, aus Kämpfen und manchmal sogar Aufstän­den, aber sie »nutzt<< die Notwendigkeit, die für den National­staat besteht, jenseits der Klassenunterschiede, aber ohne sie gleich abzuschaffen (und sogar in bestimmten kritischen Situa­tionen durch ihren revolutionären Ausdruck), eine gemeinsame nationale »Zugehörigkeit<< zu schaffen. Und der Nationalstaat »nutzt<< wiederum die Sozialpolitik und die Vermittlung bei oder die Verschiebung von sozialen Konflikten, um als gemeinschaft­liche Instanz auftreten zu können, die höhere Interessen vertritt. An a,nderer Stelle habe ich dafür die Bezeichnung »Machiavelli­Theorem<< vorgeschlagen - unter Bezugnahme auf die Anfangs-

24 Diesen Terminus von Gramsei hat Nicos Poulantzas in den siebziger Jah­ren wieder aufgegriffen und ausgeweitet (siehe vor allem Pouvoir, politique et classes sociales, Paris, Maspero, 1968 [ dt.: Politische Macht und gesellschaftli­che Klassen, Frankfurt/M., Athenäum Fischer Taschenbuchverlag, 1974, 2., überarb. Auf!. 1975, Neuausg. Frankfurt/M., Europäische Verlagsanstalt, 1980]; L'Etat, le pouvoir, le socialisme, Paris, PUF, 1978 [dt.: Staatstheorie. Poli­tischer Überbau, Ideologie, sozialistische Demokratie, Hamburg, VSA, 1978 und Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, autoritärer Etatismus, Harn­burg, VSA, 2002] .

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Page 99: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

kapitel der Erörterungen über die erste Dekade des Titus Livius, in denen die Machtvergrößerung der römischen Republik durch die Institution des »Volkstribunals« und der Vertretung der Volksin­teressen gegenüber dem Senat beschrieben wird.25 Die Anerken­nung von sozialen Rechten (oder einigen von ihnen, vom Recht auf Arbeit bis zum Recht auf Bildung, Gesundheit, Kultur) ist aber natürlich niemals unwiderruflich erreicht, sie bleibt Gegen­stand von Kämpfen und eine Frage der Machtverhältnisse. Aber insofern sie ein ganzes System sozialer Staatsbürgerschaft bildet, das zur Legitimität des Staates gehört - der eben dadurch zum National- (und) Sozialstaat wird -, verstärkt sie (und erneuert sie in Wahrheit) die moderne Gleichsetzung von Staatsbürgerschaft und Nationalität.26

Diese Gleichsetzung oder Gleichung kann jedoch immer noch in beide Richtungen gelesen (und interpretiert, im politischen Bereich geltend gemacht) werden, und vor allem hat sie ebenso eine exkludierende wie eine inkludierende Seite. Sie ordnet die In­stitution der Rechte, deren Anerkennung für Individuen und Gruppen, der Zugehörigkeit zur Nation unter, also der Ausbil­dung einer kollektiven Identität. Sie hört aber auch nicht auf, die­se Identität oder deren imaginäre Repräsentationen in Frage zu stellen, denn sie nimmt intrinsisch Bezug auf eine menschliche Existenzform und einen Ausdruck der Individualität, der, von neuem, einen transindividuellen Charakter und ein unbegrenz­tes Erweiterungspotenzial aufweist: die Arbeit bzw. noch allge-

25 Etienne Balibar, >>La democratie conflictuelle et le theoreme de Machia­vel«, in: ders., I:Europe, l'Amerique, Ia Guerre. Reflexions sur Ia mediation eu­ropeenne, Paris, La Decouverte, 2003. 26 Nachdem er in seinen Metamorphosen der sozialen Frage (Konstanz, UVK, 22oo8) noch ganz klassisch vom Sozialstaat gesprochen hatte, hat Ro­bert Castel in Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat (Hamburg, Hamburger Edition, 2005) den Terminus des >>Sozial-National­staats« übernommen, den ich in verschiedenen früheren Essays vorgeschla­gen hatte (darunter Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen, Hamburg, Hamburger Edition, 2003) . Er wird auch von anderen Autoren verwendet: vgl. Christophe Ra­maux, Emploi. Eloge de Ia securite, Paris, Mille et une nuits, 2oo6.

meiner die transindividuelle oder »kooperative« Tätigkeit. Was bedeutet, dass die »soziale Staatsbürgerschaft<< in Form einer moralischen und politischen Spannung zugleich nationaler (und nationalistischer, weil sie beim Recht auf Arbeit und den sozialen Rechten zur Idee »nationaler Bevorzugung<< tendiert) und weni­ger national (seit Inkrafttreten der Regelungen der Internatio­nalen Arbeitsorganisation (ILO) der Vereinten Nationen sogar »internationalistischer<<) wirken kann als die klassische Staats­bürgerschaft. Im Grunde unterstreicht sie die widersprüchlichen Züge der Idee der Staatsbürgerschaft im Allgemeinen. Daher die sehr starke moralische und politische Spannung.

Historisch hat die entscheidende Debatte in dieser Hinsicht im Moment der Durchsetzung des » Welfare State<<, des Wohlfahrts­staates, in Westeuropa kurz vor und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden. Dabei ging es darum, ob die Sozialge­setzgebung (einschließlich der Arbeitslosenversicherung, des Rechts auf medizinische Versorgung und längere Pflichtschulzei­ten) auf der Basis von Segregation, Exklusion und Stigmatisie­rung von bestimmten sozialen Gruppen (den »Armen<<) erfolgt

oder aber auf universalistisch-staatsbürgerlicher Basis unter Ein­beziehung bzw. Integration der ganzen Bevölkerung. Diese De­batte begann bekanntlich an den Ursprüngen der »sozialen Fra­ge<< selbst: Sie läuft seit der Einführung der zugleich repressiven wie wohltätigen Gesetzgebung zur sozialen Steuerung, die mit der industriellen Revolution in England einherging (»Speedham­land<<)/7 bis zur sozialdemokratischen »reformistischen Revolu­tion<< kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, die in England der Beve­ridge-Plan veranschaulicht; Marshalls Theorie nimmt dessen gerraue Formalisierung vor. 28 Damals haben sich die grundlegen-

27 Vgl. Karl Polanyi, The Great Transformation. The Political and Economic Origins of our Time, New York 1944, London 1945 [dt.: The Great Transfor­mation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirt­schaftssystemen, Frankfurt/M., Suhrkamp, 9. Aufl. 2011 ] . 28 V gl. Donald Sassoon in One Hundred Years of Socialism. The West Euro­pean Left in the Twentieth Century, New York, The New Press, 1996.

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Page 100: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

den Daten der Debatte zwischen »revolutionärem« Marxismus

und »reformistischem<< Sozialismus durch die Anwendung neuer

widersprüchlicher Konzeptionen in Bezug auf den »öffentlichen

Dienst« und den Gegenstand der Sozialpolitik gewandelt. Der

Sozial-Nationalstaat setzt die »soziale Staatsbürgerschaft<< mehr

oder weniger vollständig und konfliktträchtig zwischen zwei ent­

gegengesetzten Wegen, die »soziale Frage<< anzugehen, um oder

vielmehr jenseits von deren Symmetrie: auf der einen Seite die

paternalistische, sowohl der etatistischen wie der religiösen Tra­

dition entstammende Armenhilfe, die sich der disziplinatori­

schen, ja sogar repressiven Ordnung anpasst; auf der anderen die

Arbeitersolidarität revolutionärer oder libertärer Art (die auf der

Idee der Autonomie der Arbeiterklasse gegenüber dem Staat und

der Staatsbürgerschaft gründet) . Die theoretischen Folgen dieser Debatte sind beträchtlich, und

natürlich sind sie keineswegs hinfällig, auch wenn die aktuelle Si­tuation in Europa und den anderen Teilen der Welt, in denen das Prinzip der sozialen Rechte mehr oder weniger identisch über­nommen wurde, durch eine tiefe Krise der Staatsbürgerschaft ge­kennzeichnet ist, die man gewöhnlich auf die Auswirkungen der »Globalisierung<< und der Politik der »Deregulierung<< zurück­führt, der sie Vorschub leistet, die aber sicherlich auch interne Ursachen hat, die von der dieser Institution eigenen Instabilität herrühren. Es geht, wie gesagt, um eine neue Grundlage für die Gleichfreiheit, die auch ein ganz anderes Konzept von Tätigkeit impliziert. Die erste Frage ist offenbar, in welchem Sinne die so­zialen Rechte und die soziale Staatsbürgerschaft an die Arbeit als historische und anthropologische » Transzendentalie<< par excel­lence gebunden sind/9 das heißt letzten Endes: Was ist die »Ar-

29 Damit spiele ich auf Michel Foucault an, der in der Ordnung der Dinge (1966) drei »quasi-transzendentale« Felder unterscheidet und damit die Fra­ge nach dem Wesen des Menschen zu einer Frage der empirischen Verfas­sung macht: Arbeit, Leben und Sprache. Foucault selbst hat sich natürlich vor allem für die beiden letzten interessiert, deren Überschneidung konstitu­tiv für die Sexualität ist.

beit<< ? Man könnte den Sachverhalt auch auf folgende Weise ausdrücken: Sowie die »Arbeit<< zum grundlegenden sozialen Bezugspunkt der Institution des Politischen wird, stellt und ver­kompliziert sich die Frage, worin ihr »Wesen« besteht, welches ihre phänomenologischen Merkmale sind, ihre typischen Träger, wann und wie sie »erscheint<< und »verschwindet<< (die Thematik des Endes der Arbeit ist womöglich genauso alt wie die politische Bedeutung der Arbeit selbst . . . ). Das Konzept einer zum Wesen des Menschen gehörenden und zugleich den Rechten zugrunde liegenden und in den gesellschaftlichen Konflikten und im politi­schen Leben (bei der Bildung der »Parteien«) verborgenen Ar­beitskraft oder Arbeitsfähigkeit ist erneut zugleich potenziell inklu­dierend (es ist möglich, den Begriff der Arbeit zu erweitern oder die Arbeit in Tätigkeit umzuwandeln, je nachdem, ob man eine »sozialistische<< oder eine »liberale<< Perspektive einnimmt, so dass darin alles Leben, jede Interaktion, eingeschlossen ist und nie­

mand ausgeschlossen wird) und potenziell exkludierend (auf viel­fältige Weisen: indem es nicht nur nützliche und unnütze Arbeiter unterscheidet, sondern auch tätige und untätige, produktive und unproduktive, die am gesellschaftlichen Konflikt aktiv Beteiligten und die »begünstigten<< oder »diskriminierten<< Individuen oder Gruppierungen . . . ). Die direkt aus der Wirksamkeit der Klassen­kämpfe hervorgegangene zentrale Bezugnahme auf die Arbeit zieht eine Reihe wohlbekannter Folgen nach sich: die Ausweitung des Modells (und des Namens) der » Arbeit<< auf eine potenziell un­endliche Reihe von Tätigkeiten und Verhaltensweisen (das »ohne Beruf<< wird zur Ausnahme, wenn es nicht sogar die Anormalität ist); die Beschränkung von anderen sozialen »Qualitäten<< des In­dividuums auf Bedingungen der Reproduktion der Arbeitskraft; umgekehrt die Konzentration der Exklusion auf die Nicht-Arbeit (die mehr oder weniger anhaltende Arbeitslosigkeit oder die Ar­beitsunfähigkeit) . 30

30 Anscheinend befinden wir uns so vor mindestens drei in Sachen Institu­tionalisierung der sozialen Rechte voneinander abweichenden Wegen, auf denen sich in gewisser Weise die für die Zweite Moderne charakteristischen

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Doch das philosophische Problem, das die »sozialen Rechte« aufwerfen und das den konstitutionellen Rahmen der Staats­bürgerschaft wieder in Frage stellt, besteht vor allem darin, dass sie in gewisser Weise weder rein individuell noch rein kollektiv sind (selbst wenn ihre liberalen Gegner sie als Ruin des im Kol­lektiv aufgehenden Individuums beschreiben und die sozialis­tische Tradition sich ebenfalls dieser Alternative verschreibt, stimmt das eher für die Auswirkungen auf das »Eigentumsrecht« als für die sozialen Rechte selbst) . An dieser Stelle übernimmt die Existenz eines konfliktgeladenen Verhältnisses zwischen Staat und sozialen Bewegungen und letzten Endes zwischen Staat und Revolution offenbar eine wesentliche dialektische Funktion. Be­sonders Foucault hat gezeigt, dass der moderne Staat dazu neigt, >>das Individuum« durch Disziplinarmaßnahmen und »Gouver­nementalitäts«-Formen >>ZU individualisieren«, die die transzen­dente Souveränität durch eine in sich differenzierte Verwaltung von Sozialpraktiken ersetzen,31 aber das Umgekehrte trifft nicht zu: Die sozialen und revolutionären Bewegungen neigen nicht dazu, >>das Kollektiv zu kollektivieren« (oder die Gruppe, die Ge­meinschaft), sie neigen eher dazu, es zu subjektivieren, was auch eine starke Tendenz zur wechselseitigen Assoziierung von indivi­duellem Widerstand und Solidarität (der Klasse oder anderer

»drei Ideologien<< wiederfinden: die Idee des Rechts auf ein »Existenzmini­mum<<, in der sich die konservative und >>paternalistische<< Konzeption der Wohltätigkeit fortzusetzen scheint, die eine öffentliche Wohltätigkeit gewor­den ist (aber häufig auf private, vor allem konfessionelle Verbände rücküber­tragen wird, wie in den Vereinigten Staaten) und aus der immer Projekte ei­ner >>Minimalallokation von Ressourcen« hervorgehen; die sozialistische Idee eines Rechts auf Arbeit, die mit der revolutionären Tradition, aber auch mit dem Keynesianischen Ziel der »Vollbeschäftigung« verbunden ist; schließlich die Idee eines Rechts auf Ausbildung, das heißt auf das individuel­le Verfügen über die Arbeitsfahigkeit, das es den Individuen erlaubt, auf dem Markt und allgemeiner in der Gesellschaft >>ihr Glück zu versuchen«, deren liberale Inspiration klar genug ist. 3 1 Vgl. Nr. 22 (3, 2005) der Zeitschrift Labyrinthe, die von Diogo Sardinha herausgegeben wurde: »La biopolitique (d')apres Michel Foucault« (jetzt im Netz abrufbar unter (http:/ /labyrinthe.revues.org/index1o1o.html) ).

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Gruppen, die für ihre Rechte »aufstehen«), kollektiver Praxis, impliziert, die man als >>emanzipatorisch« bezeichnen kann. Des­halb ist es so wichtig - wie Marx nicht müde wurde zu betonen -, dass die revolutionären Bewegungen und generell die sozialen Bewegungen selbst demokratisch sind und sich autonom, >>au­ßerhalb des Staates«, wie Althusser sagte, aber eben so um Gleich­heit und Freiheit bemühen, dass im Staat und in der Gesellschaft mehr Gleichheit und Freiheit entsteht: was aus dem >>Aktivisten<< oder » Revolutionär<< im vollen Wortsinn einen Bürger macht, eine der historischen Gestalten der Staatsbürgerschaft Gleichheit und Freiheit erscheinen so nicht als >>angeborene Rechte<< ( birthrights) des Menschen, sondern als politische Konstruktionen. Eher als von >>anthropologischen Grundlagen<< der modernen Politikmuss man also von (praktischen) Konstruktionen der Politik sprechen, deren anthropologische Implikationen grundlegend sind (schließ­lich verändern sie in gewisser Weise die Vorstellung von der >>menschlichen Natur<< selbst) .32

Im äußersten Fall könnte dies heißen (und ein ganzer Teil der liberalen Kritik hat es anscheinend auch so wahrgenommen), dass der Staat von nun an die menschliche Natur »macht<< und »neu macht<<. Deshalb nehmen die extremen (»libertarianischen<<) Strömungen des Liberalismus jeglichen Sozialstaat als totalitär wahr und sehen dessen perverse Matrix in der Verwechslung von >>sozialen Rechten<< und >>Menschenrechten<< . Doch wiederum scheint es mir angebrachter zu sein, Raum für eine Reihe von Spannungen und Alternativen zu schaffen. Die Anerkennung der sozialen Rechte führt zur Entstehung einer Form der Staatsbür­gerschaft, die deren tatsächliche Umsetzung möglich macht, und es sind diese Rechte, die jetzt als >>neue Grundrechte« das Huma­ne definieren. Aber diese Staatsbürgerschaft setzt ihrerseits den

3 2 Dies ist - gegen die Absichten von Arendt selbst (die bekanntlich die Be­reiche der Arbeit und der Tätigkeit streng voneinander trennte) - eine Erwei­terung dessen, was man das >> Arendt-Theorem« nennen könnte: Der Mensch macht nicht die Institution, sondern die Institution macht den Menschen (oder zerstört ihn gegebenenfalls).

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Page 102: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

Staat voraus bzw. tritt in Form einer Zugehörigkeit zu einem be­

stimmten Staat auf: Es stimmt also wirklich, dass der Staat dazu

neigt, das Humane konform zu machen, wie eine »zweite Natur<<,

indem er den ganzen, die kollektive Identität und die staatliche

Normalität betreffenden anthropologischen Normenkatalog auf­

stellt.33 Aber den Staat gibt es wiederum nicht ohne die Gegen­

figur des »Volkes«, der »Multitude«, Menge, oder der »Masse«,

die er in dem Maße zu kontrollieren sucht, wie er deren Fähigkeit

zum Aufstand fürchtet, die aber als konstituierende bzw. gesetz­

gebende Gewalt oder Gegenmacht manchmal durchaus in der

Lage ist, die Kontrollmächte selbst zu kontrollieren. Bleibt an die­

ser Stelle gleichwohl die Frage, was uns ermächtigt, uns die »Mul­

titude« (Negri) als Fähigkeit vorzustellen, die als solche subversiv

ist. Vor allem Foucault, der dabei einen tiefen libertären, vom

fortgesetzten revolutionären Optimismus eines Negri grundver­

schiedenen Pessimismus an den Tag legte, hat sich darum be­

müht, zu zeigen, dass sie in Sachen Normalisierungsforderungen

häufig dem Staat sogar vorausgeht.34

Zum Abschluss dieses Punktes möchte ich jedoch noch eine al­ternative Darstellung anführen, die sich im Werk des großen Ökonomen und Wirtschaftsphilosophen Amartya Sen findet, insbesondere in Inequality Reexamined.35 Es sieht in der Tat so aus, als ob Sen in seiner Argumentation, die auf der Untersu­chung der Probleme beruht, die nicht der Sozial-Nationalstaat bereitet, sondern das, was in vielerlei Hinsicht sein historisches »Gegenstück« in den Ländern der Dritten Welt ist, ich meine die Entwicklungspolitik, als ob Sen (der nichts von einem »Marxis­ten« hat, sondern aus dem klassischen Utilitarismus eine Kritik am Rawlsschen Sozialliberalismus »von links« entwickelt, so wie

3 3 Bertrand Ogilvie, >>Anthropologie du propre a rien<<, in: Le Passant ordi­naire, Nr. 38 , Januar-März 2002.

34 V gl. besonders die Vorlesung über Les Anormaux, Cours au College de France de 1975, Paris, Gallimard-Seuil, 1999 [dt.: Die Anormalen. Vorlesung am College de France 1974 / 1975, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1999] . 35 Frz.: Repenser l'inegalite, a. a. 0.

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Nozick »von rechts« eine libertäre Kritik daran entwickelt hatte) an die Notwendigkeit einer neuerlichen Umkehrung der Begriffe »Rechte« und »Tätigkeit« gedacht hat. Das Ziel von Sen besteht anscheinend in der Korrektur der formalen, univoken und glo­balen Bestandteile der von der Sozialphilosophie verwendeten »Definitionen« von Gleichheit. Für ihn geht es darum, dieses Konzept zu konkretisieren und zu einem materiellen Gleich­heitsbegriff zu gelangen, der präzise genug ist, um Ziele für die Sozialentwicklungspolitik zu liefern. Doch in Wirklichkeit ver­folgt Sen ein tieferes Ziel: Er bekräftigt die Proposition der Gleich­freiheit, indem er sie auf eine Weise neu formuliert, die zeigt, dass Freiheit (jreedom) selbst im Fall der klassischen »Freiheiten« (liberties) wie der Meinungsfreiheit, der Freiheit des Ausdrucks oder der Versammlungsfreiheit nicht als bloße negative Freiheit

verstanden werden sollte, sondern allein als positives Können, eine » Fähigkeit« ( capability) im Sinne einer Befähigung zum Han­deln oder aber als ein Vermögen des Individuums, Einfluss auf die kollektiven »Entscheidungen« zu nehmen, von denen sein Leben und sein persönliches Glück abhängen. Und die Bedingungen für diese Fähigkeit liegen nun ihrerseits im »interaktiven« Kampf, im subjektiven Bemühen und im Vorgehen der öffentlichen (politi­schen) Institutionen gegen die vielfältigen Herrschafts- und Dis­kriminierungsstrukturen, die je auf ihre Weise zur Bildung der konkreten Persönlichkeit von Individuen beitragen und ihnen ei­nen Platz oder Status in der Gesellschaft zuweisen. Aus der Per­

spektive von Sen schafft die Tätigkeit par excellence also Hand­lungsmöglichkeiten oder, wie Spinoza gesagt hätte, vergrößert das Handlungsvermögen der Individuen auf der Basis ihrer sozialen Solidarität (insbesondere im Bereich der Gesundheits- und der Bildungspolitik). Und diese Konzeption ist für uns besonders inte­ressant, weil sie - die durch die Unangemessenheit der mit der Bil­dung des » Welfare State« in den Sozialdemokratien des »NordenS<< verbundenen Konzeptionen von sozialer Staatsbürgerschaft im

Hinblick auf die »Entwicklungs«-Probleme im >>Süden« verur­sacht worden ist - in einer typisch » postkolonialen « Konstellation

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Page 103: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

eine mögliche Ausgangsbasis für das Verständnis und die Be­

kämpfung der Krise abgeben könnte, die nunmehr die Institu­

tionen eben dieses Welfare State ebenso angreift wie seine philo­

sophischen und anthropologischen Grundlagen. Diesbezüglich

sei angemerkt (bevor wir in der nächsten Lektion darauf zurück­

kommen), dass diese Konzeption eng mit einer Perspektive der

»Normalisierung« verbunden ist: Sen stellt die Verknüpfung der

Idee des Handelns oder individuellen Tätigseins (agency) mit

Normalität und Rationalität offenkundig nicht in Frage, sondern

versucht klarerweise die Kriterien dafür zu erweitern, jedenfalls

im Vergleich zu den Abstraktionen der offiziellen liberalen Wirt­

schaftsphilosophie. 36

Abschließend drei Bemerkungen für den Moment: Erstens besteht eine deutliche Kontinuität zwischen dem bei

der Bildung der klassischen Staatsbürgerschaft eingesetzten auf­ständischen Prinzip der Gleichfreiheit und den späteren Ent­wicklungen des Konzepts der Staatsbürgerschaft, was dessen an­haltende Aktualität erklärt. Die Politik der Gleichfreiheit enthält eine Ethik der Immanenz bzw. der Selbstbefreiung. Doch es wird auch eine Diskontinuität oder eine anhaltende Spannung zwi­schen den beiden Politikkonzepten deutlich, die ich schematisch als Politik der Emanzipation und Politik der (sozialen, institutio­nellen) Transformation bezeichnet habe. Deshalb ist das Konzept der Revolution selbst - aber das Gleiche gilt für das der Reform -sicherlich ein komplexes, ja vieldeutiges Konzept geblieben, was Harrnah Arendt gerrau wahrgenommen hat. 37

Zweitens kann der Prozess, den ich in groben Zügen zu umrei-

36 Müsste man nicht sagen, dass die unterschiedlichen Diskurse von Marx und Sen weniger auf eine abstrakte Entgegensetzung von Revolution und Re­formismus verweisen, sondern eher den auf das >>Eigentum seiner selbst« gründenden Gegensatz der beiden >>Paradigmen<< von Subjektivität - Ge­meinschaft und Individualität - Tätigkeit reproduzieren? 37 V gl. Etienne Balibar, '' Trois concepts de la politique<<, in: ders., La Crainte des masses, a. a. 0. [dt.: Der Schauplatz des Anderen, a. a. 0. ] .

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ßen versucht habe, nicht als Fortschrittsbewegung beschrieben werden: nicht nur, weil die »Kräfteverhältnisse«, die in ihm zum Tragen kommen, sich nicht linear entwickeln, sondern weil die klassische Alternative von Subjekt und Individuum ebenso wie die verschiedenen Konzepte von »Tätigkeit« in die Vorstellung einer »sozialen Emanzipation der Individuen« einfließen; und weil, obwohl sich die für die klassische Rationalität typischen Ge­gensätze in der Spätmoderne verschieben, die Assoziierung der Idee der Staatsbürgerschaft (einer Gemeinschaft von >>freien und gleichen Bürgern«) mit der der Normalität nicht nur nicht ver­schwindet, sondern in gewisser Weise intensiviert und »naturali­siert« wird.

Drittens wird das Prinzip der »anthropologischen« Exklusion, das in der den »Bürgerrechten« zugrunde liegenden Idee der »Menschenrechte« latent vorhanden war, nicht etwa abgeschafft, sondern verschoben und seinerseits verstärkt, wenn der Forma­lismus in Frage gestellt wird und die sozialen Rechte als »Grund­rechte« anerkannt werden. Darauf werde ich weiter unten zu­rückkommen, wenn ich näher auf die Frage des Verhältnisses von »Minoritäten« und »Majoritäten<< eingehe. Aber es sollte von vornherein ganz klar sein, dass dies kein moralischer oder rheto­rischer Einwand gegen die Problematik der Gleichfreiheit ist. Es handelt sich vielmehr im Gegenteil um ein Problem, dem sie sich stellen muss, und zwar womöglich um das schwierigste von allen.

II. Subjektivität und Staatsbürgerschaft Die anthropologischen Dilemmata der Gemeinschaft

Meine bisherigen Ausführungen enthielten einige allgemeine

Lehren, die ich jetzt noch einmal zusammenfassen und neu for­mulieren möchte. Ich bin davon ausgegangen, dass die allgemei­ne Grundlage der modernen Demokratie bzw. der Institution der Politik in Form einer allgemeinen Staatsbürgerschaft und eines universellen Rechts auf Politik durch die Proposition der Gleich-

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Page 104: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

freiheit gebildet wurde, die ich als vollkommene Äquivalenz von Freiheit und Gleichheit definiert habe. Ich habe erklärt, dass die­se Äquivalenz nur in Form einer Widerlegung oder doppelten Negation unzweifelhaft gegeben ist: keine Freiheit ohne Gleich­heit, keine Gleichheit ohne Freiheit. Ich habe vorgeschlagen, in der historischen Äußerung dieser Proposition ein doppeltes, zu­gleich politisches und philosophisches Ereignis zu sehen, das uns unwiderruflich erscheint - was nicht heißt, dass es niemals wie­der in Frage gestellt wird, sondern, dass seine Widersacher ihrer­seits gezwungen sind, die Proposition der Gleichfreiheit auf der Grundlage der ihr eigenen Implikationen in deren eigener Spra­

che zu kritisieren. 38 Was auch nicht heißt, dass sie keine internen

Schwierigkeiten aufwirft. Und natürlich haben mich besonders diese Schwierigkeiten interessiert. Ich habe mich daher lange bei zwei Debatten aufgehalten, die historisch betrachtet nicht vonei­nander unabhängig sind und sich unaufhörlich überlagern und über determinieren, die man aber dennoch idealiter mit zwei auf­einanderfolgenden Momenten der politischen Moderne in Ver­bindung bringen kann, vor und nach dem Auftauchen der »so­zialen Frage<< im Zentrum des politischen Raums der sich als »demokratisch« verstehenden modernen Staaten.

Die erste dieser beiden Debatten betraf die anthropologischen Grundlagen der klassischen Gleichfreiheit, mit anderen Worten die Voraussetzungen des Satzes, der besagt, dass »alle Menschen frei und gleich an Rechten geboren sind und bleiben«. Ich möch­te hier erneut betonen, dass das Problem der »Grundlagen«, das heute insbesondere im Rahmen der Debatten um die Mög­lichkeit wieder auf der Tagesordnung steht, postnationale oder transnationale Gebilde (wie die Europäische Union) mit einem Verfassungsgesetz auszustatten, nicht bloß von spekulativer Be­deutung ist. Das Problem der Grundlagen betrifft den Aufbau der institutionellen Vermittlungen der Gleichfreiheit, vor allem

38 Das scheint mir auf ausgesprochen verblüffende Weise bei Robert No­zick, dem brillantesten zeitgenössischen Theoretiker des Neokonservatis­mus, der Fall zu sein (Anarchie, Staat, Utopie, a. a. 0.)

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in Form von Rechtssystemen, und von daher hat es durchaus praktische Folgen auf nationaler wie auf internationaler Ebene. Ich habe unterstrichen, dass es historisch nicht ein einziges Ver­mittlungssystem gab, sondern zwei teilweise miteinander konkur­rierende Systeme: Das erste beruht auf der Annahme, dass der Mensch als potenzieller Bürger ein Subjekt im Rousseauschen Sinne ist, das heißt ein Individuum, das sich aus jeder äußeren oder transzendenten Unterwerfung befreit und sich so >>ent­scheidet«, aus freien Stücken einem Gesetz zu gehorchen, das es als Mitglied einer >>souveränen« Gemeinschaft von gleichen Bürgern selbst macht; das zweite beruht auf der Annahme, dass der Mensch als potenzieller Bürger wie ein >>Eigentümer seiner eigenen Person« im Sinne Lackes handelt, was heißt, dass er und seinesgleichen das gleiche Recht haben, eine äquivalente Fähig­

keit, im allgemeinen Sinne dieses Wortes >>commerce« unter­einander zu betreiben (Verkehr* im Deutschen, intercourse im

Englischen) - auf der Basis des absoluten Verfügens über die ei­gene Person und der unbegrenzten Verantwortung, die das nach sich zieht.

Auf diese Weise wollte ich nahelegen, dass die Dualität der anthropologischen Grundlagen der Staatsbürgerschaft in der Ge­schichte der Ideen und Institutionen verschiedene Folgen hat: den Konflikt der Verfassungslehren, die in der Demokratie vor allem den Ausdruck des Gemeinwillens und der Souveränität des Volkes sehen, oder umgekehrt das politische System, das sich sel­ber zwingt, bestimmte grundlegende menschliche Rechte zu re­spektieren und deren Umsetzung zu gewährleisten;39 oder aber die verschiedenen Weisen, wie man die ebenso maßgebliche wie paradoxe >>Grenze zieht« zwischen Humanität und Inhumanität, die sich als die einzige Möglichkeit erweist, ein universelles (oder universell menschliches) politisches Vermögen [ capaeitel von in­nen zu begrenzen oder es für bestimme Gruppen von Individuen

39 Vgl. die Wiederaufnahme dieses Dilemmas bei Habermas in Faktizität und Geltung, a. a. 0., Kap. III.

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Page 105: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

oder Subjekten in ein Unvermögen zu verkehren. Offensichtlich

läuft es keineswegs auf dasselbe hinaus, wenn man sich diese De­

markationslinie zwischen Humanem und Inhumanem moralisch

denkt, unter Bezugnahme auf »entfremdete (entäußerte*) Sub­

jekte«, oder pragmatisch und utilitaristisch unter Bezugnahme

auf »abhängig Handelnde« bzw. »das Außerstandesein, autonom

zu handeln<< ( impeached). Und es zieht nicht dieselben prakti­

schen Folgen nach sich. Danach habe ich mich mit einer zweiten Debatte in Bezug auf

die Institution der sozialen Staatsbürgerschaft bzw. auf die Ver­wandlung der sozialen Frage in den grundlegenden Gegenstand des Verhältnisses von Gesellschaft und Staat, von Individuum und Kollektiv, beschäftigt: mit dem, was ich (anderen folgend) Zweite Moderne genannt habe. Ich habe die Hypothese formu­liert, dass sich im Laufe der Auseinandersetzungen um die Klas­sendifferenzierungen, die Klassenkämpfe und die sozialen Un­gleichheiten im Allgemeinen, also um die Diskrepanz von >>aktiver Partizipation<< und »passiver Partizipation<< an den öffentlichen Belangen, die verschieden abgestufte Repräsentation der sozialen Gruppierungen in Staat und Politik, eine Umkehrung vollzogen hat, die unser Verständnis des Verhältnisses der >>abstrakten<< bzw. symbolischen Begriffe von Gleichheit und Freiheit zu ihrer materiellen Verwirklichung berührt oder aber die Grenzen, in­nerhalb derer sie tatsächlich in Kraft gesetzt werden. Letzten En­des münden diese Auseinandersetzungen (an denen der Marxis­mus großen Anteil hat, die sich aber auf das gesamte >>soziale Denken« und die Soziologie des 19. und 20. Jahrhunderts erstre­cken) in eine neue Interpretation der Proposition der Gleichfrei­heit, eine Neubegründung der politischen Bedingungen der De­mokratie, in deren Zentrum die kollektive Anerkennung der >>sozialen Rechte<< der Individuen als neuartige Grundrechte steht (die von der Sozialversicherung über die kollektiven Rechte der Arbeiter gegenüber ihren Arbeitgebern, die durchaus auch Kol­lektive oder öffentliche Personen sein können, bis zum Recht auf Bildung gehen), die ebenfalls zu politischen Rechten oder poli-

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tisch umgesetzt werden müssen - denn wenn sie nicht politisch sind, haben sie faktisch keinerlei Realität, weil allein eine be­stimmte Intervention des Staates bzw. eine bestimmte Interakti­on von Staat und Zivilgesellschaft zu ihrer Inkraftsetzung führen kann. Mir ist klar, dass es sich hier um ein komplexes Problem handelt. Der »grundlegende<< und »politische<< Charakter der so­zialen Rechte wird ebenso wenig einhellig anerkannt wie ihr In­halt (sollen sie >>kulturelle<< Rechte umfassen oder nicht, usw.). Aber ich möchte eine Tendenz beschreiben und die Frage nach deren Unwiderruflichkeit aufwerfen.

In dieser Hinsicht habe ich nahegelegt, dass die entscheidende historische Wende - was man die >>sozialdemokratische Revo­lution<< im etymologischen Wortsinn von >>Revolution<< nennen kann - erfolgt ist, als der Welfare State oder Sozialstaat nicht mehr nur als Hilfs- oder Schutzsystem für die Armen eingesetzt wurde - was im Gegenzug unmittelbar zu deren Stigmatisierung und Herabstufung zu >>Bürgern zweiter Klasse<< (second class citi­zenship) führte -, sondern als universelles System der Abdeckung von Risiken und öffentliches Programm zur Entfaltung oder zur Gleichheit von »Chancen<< für alle Individuen, wobei alle Indivi­duen aktiv zum gesellschaftlichen Leben beitragen sollen (natür­lich handelt es sich hier erneut um ein Kriterium, das in der Pra­xis sehr unterschiedliche Interpretationen erfahren kann und auf theoretischer wie juristischer Ebene Gegenstand nie abreißender Streitigkeiten ist).40 Und wiederum wollte ich darauf hinweisen, dass man diese Universalisierung der sozialen Rechte mit einan­der entgegengesetzten Grundlagen versehen kann. Trotzdem, ob­wohl ich überzeugt bin, dass die neue Dichotomie, mit der wir es hier zu tun haben - die eine Sprache der revolutionären Praxis

40 Siehe besonders die Diskussion in Anthony Crosland, The Future of So­cialism (1956), New York, Shocken Paperback, 1963. (Zur Definition der >>Grundrechte«: >>Droits de l'homme et du citoyen, Grundrechte et Civil Rights«, Dossier der Revue Universelle des droits de l'homme, Bd. 16, Nr. 1-3, 29. Oktober 2004 (Aufsätze von E. Balibar, 0. Jouanjan, 0. Beaud, C. Grewe, C. M. Herrera, P. Wachsmann, M. Coutu und M. H. Giroux).)

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und eine Sprache der Handlungsfähigkeit und sozialen Gerechtig­

keit entgegensetzt -, in wesentlichen Zügen die duale Grundlage der Menschenrechte als gemeinschaftliche Subjektivität einer­seits und als Individualität und »Eigentum seiner selbst« ande­rerseits verlängert und reproduziert, denke ich, dass es wichtiger ist, zunächst ihren politischen Aspekt zu untersuchen, der die po­litischen Beziehungen zwischen »Rechten«, »Staatsbürgerschaft« und >>Staat« betrifft und dann erst ihren anthropologischen As­pekt. Der anthropologische Aspekt kommt nachträglich, eher als notwendige Folge denn in Form einer Grundsatzerklärung. Zur Veranschaulichung habe ich mich bei dem Versuch, die beiden Problemstellungen, mit denen wir es hier zu tun haben, zu cha­rakterisieren, indem ich sie mit den Werken bestimmter Philoso­phen in Verbindung gebracht habe - so wie ich vorher schon die Namen von Rousseau und Locke/Smith genannt hatte -, diesmal einerseits auf das Erbe von Marx bezogen und andererseits auf die gegenwärtigen Vorschläge von Amartya Sen. Auf Seiten von Marx oder vielmehr der teilweise unvorhergesehenen und unbe­absichtigten langfristigen Folgen seiner Ideen und seines Wir­kens habe ich ein aus der Intervention der sozialen Bewegungen und revolutionären Kollektive hervorgehendes Paradigma der Praxis skizziert, dessen praktische Wirkung - im besten Fall und für mehr oder weniger lange Zeit - darin besteht, die Gesell­schaften und die Staaten zu demokratisieren, indem es eine An­erkennung von Individuen als >>autonome, soziale Wesen<< prak­tisch vorwegnimmt und eben dadurch zu deren Durchsetzung beiträgt. Auf der anderen Seite habe ich (wenn auch zu kurz) die

Analysen und theoretischen Vorschläge von Amartya Sen ange­führt, die nicht auf das Paradigma der Praxis verweisen, sondern auf das Paradigma der Handlungsfähigkeit von Individuen, deren Wahlmöglichkeiten es zu erhöhen gilt, denen man mit anderen Worten positive Freiheit gewähren sollte, indem die Herrschafts­strukturen, die im Hinblick auf die Wirtschaft, die Bildung und die Kultur Ungleichheiten erzeugen, systematisch zerstört wer­den.

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Zum Abschluss habe ich mehrere Punkte hervorgehoben. Ers­tens besteht eine Kontinuität zwischen dem Geltendmachen und der Verteidigung der Proposition der Gleichfreiheit, das heißt des »aufständischen« Prinzips, das universell das Recht aufRech­te geltend macht. Das erlaubt es, die anhaltende Aktualität dieser Proposition in der demokratischen Tradition zu verstehen -jeden­falls in ihrer radikalen Fassung. Da aber ihre Interpretation und politische >>Übersetzung<< auch Umkehrungen und Diskontinui­täten enthält, müssen wir über eine Historizität der Proposition der Gleichfreiheit nachdenken, deren Geschichte offen und noch nicht vollendet bzw. frei von ihren Ursprüngen zu sein scheint.

Zweitens können wir uns diese Geschichte nicht als bloßen Fortschritt denken nach dem teleologischen Schema, das die Phi­losophie der Aufklärung auf sie angewendet hat, deren Voran­nahmen Marx in dieser Hinsicht völlig geteilt hat, auch wenn er sich deren Verwirklichung dialektisch dachte, wobei er das Sche­ma der Negation der Negation von Hegel übernahm. Die >>Dia­lektik<< der Gleichfreiheit ist weniger linear und komplexer, als die klassischen Geschichtsphilosophen dachten. In ihr wiederho­len sich dieselben anthropologischen Dilemmata wie in den ju­ristischen, sozialen und politischen Debatten: Der beste Beweis dafür ist der Umstand, dass das Marxsche kommunistische Mo­dell zu einem bedeutenden Teil direkt aus dem rousseauistischen Staatsbürgerschaftsmodell hervorgeht und dass der >>häretische<< bzw. radikaldemokratische >>Utilitarismus<<, von dem Amartya Sen sich anregen lässt, zum Teil aus dem Lockeschen Individuali­tätsmodell hervorgeht. Aber andererseits muss man doch zuge­ben, dass das Verhältnis zwischen der Frage der Rechte und der Existenz des Staates - das heißt für den ganzen vergangenen Zeitraum des Nationalstaats - den Sinn der Verfassungsdebatten, die die Transformation der sozialen Kräfteverhältnisse der Ten­denz nach ausblenden, vollkommen verändert hat.

Und abschließend ist hervorzuheben, dass das, was ich die in der Institution der modernen Staatsbürgerschaft zum Ausdruck kommende »intensive<< Universalität der Proposition der Gleich-

211

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freiheit genannt habe, ebenso wie deren fortwährende Neufas­

sungen, die die Forderung nach Gleichheit und die Forderung

nach Freiheit auf individueller oder kollektiver Ebene miteinan­

der verbinden, dauerhaft an die Bedingung von Normalität (was

je nach Zusammenhang auch heißt: von Moralität, Rationalität)

geknüpft ist. Deshalb ist die Staatsbürgerschaft auch historisch

in einen ununterbrochenen Ausweitungs-, Vertiefungs- und An­

passungsprozess von Normen eingelassen. Für die Individuen

oder Subjekte muss die soziale Norm eine Repräsentation erfah­

ren, um (»humane«) »Menschenrechte« und »soziale Rechte«

definieren oder abgrenzen zu können, das heißt, um deren

(transzendentale) Bedingungen der Möglichkeit zu definieren.

Ansonsten so unterschiedliche kritische philosophische Ansätze

wie die Freudsche Tradition, die Frankfurter Schule und die von

Foucault entwickelte post-nietzscheanische »Genealogie« kom­

men in dem Punkt überein, dass dieser Instituierungsprozess der

Norm der >>Konstruktion des Universellen«41 und der Institution

der modernen Staatsbürgerschaft in keiner Weise äußerlich ist.

Die Bestimmung der Haltungs- und Verhaltensnormen ist die

verborgene Seite der Staatsbürgerschaft, aber auch ein dauerhaft

offenes Problem für sie. Vielleicht könnten wir hier also vorschla­

gen, dass die Grundsätze der demokratischen Politik in ihrer mo­

dernen Form nicht nur in der Idee der Emanzipation oder der

Transformation der Gesellschaft bestehen, sondern auch in der

Normalität und der Normalisierung. Diese These möchte ich jetzt darauf beziehen, dass Rechte und

eine Staatsbürgerschaft, die sich als >>universell« verstehen, nur auf ambivalente Weise, zugleich >>inklusiv« und >>exklusiv«, einge­fordert und umgesetzt werden können. Vielleicht ist die Idee ei­ner Form von politischer Universalität, die absolut >>un-exklusiv« wäre oder würde, in Wirklichkeit eine anthropologische Absur­dität. Das ethische Problem, vor dem die Politik steht, besteht

41 Monique David-Menard, Les Constructions de l'universel. Psychanalyse, philosophie, Paris, PUF, 1997.

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nicht darin, auf absolute Weise, >>glatt«, zwischen Inklusion und Exklusion zu entscheiden, sondern eher darin, herauszufinden, wer ausgeschlossen ist, warum, von was und durch welche Mecha­nismen . . . Aber vor allem sehe ich darin ein Merkmal jener ty­pisch modernen und von daher typisch >>aufständischen« oder >>revolutionären<< Politikform, die man Majoritätspolitik nennen könnte - wobei man natürlich mit den verschiedenen Konnota­tionen des Begriffs >>Majorität« im Sinne von >>Mehrheit« und >>Mündigkeit« >>spielt«, der in verschiedenen Bedeutungen bei al­len bereits erwähnten Autoren vorkommt: Locke, Rousseau, Kant, Marx, Foucault . . . 42 Das Kriterium dafür wird uns im Um­kehrschluss durch die Art und Weise geliefert, wie ein kontrare­volutionärer Denker wie Nietzsche Normalisierung und Demo­kratie mit demselben Abscheu verbindet - und eine der größten kritischen Philosophien der Moderne daraus gewonnen hat.

Diese Frage möchte ich jetzt also untersuchen, wobei ich meine Aufmerksamkeit auf das Verhältnis von Subjektivität und Staats­bürgerschaft konzentriere. Ich habe bisher schon so viel gesagt, dass die Vermutung naheliegt, dass diese beiden Termini nicht ohne einen dritten auskommen: nämlich den der Gemeinschaft. Formal müssen wir uns fragen, welche Art von Subjektivität bzw., noch direkter mit Foucault gesprochen, welche Art von Subjekti­vierung, das heißt des >>Übergangs« von der Passivität zur Aktivi­tät bzw. von der Unterwerfung zur autonomen Subjektivität, bei der Bildung dessen im Spiel ist, was Dominique Schnapper die »Gemeinschaft der Bürger« genannt hatY Umgekehrt gilt es da­bei auch herauszufinden, inwiefern die normativen Bestimmun­gen der modernen Staatsbürgerschaft, die sich sowohl auf juristi­scher wie auf politischer und moralischer Ebene entfalten, das

42 Der wesentliche Autor fehlt jedoch womöglich auf dieser Liste: Tocque­ville als Theoretiker des individualistischen Massen-»Konformismus<< in den postrevolutionären demokratischen Gesellschaften, vgl. Nestor Capdevila, Tocqueville et les frontieres de la democratie, Paris, PUF, 2007.

43 Dominique Schnapper, La Communaute des citoyens, Paris, Gallimard, >>Folio essais«, 1991.

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Page 108: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

Verhältnis des Subjekts zur Gemeinschaft und die Art und Weise

berühren, wie die Gemeinschaft die Subjektivierung einfordert.

Diese staatsbürgerlichen Normen, die der Definition von »Ver­

mögen« [capacites] und »Unvermögen« als Grundlage dienen,

haben den Platz dessen eingenommen, was die Philosophen der

antiken Polis (die Stoiker und Cicero) den Stand bzw. Status oder

die Rolle (persona) der Bürger im Verhältnis zu ihren Aufgaben

oder Funktionen und Pflichten (officia) nannten. Noch anders

ausgedrückt, unter Einschaltung einer Kategorie, die zum Voka­

bular sowohl von Freud als auch von Norbert Elias gehört: Bis zu

welchem Punkt ist das Subjekt als durch einen Prozess der »Zivi­

lisation« konstituiert zu betrachten, der die Verinnerlichung der

für die Gemeinschaft konstitutiven (oder, wenn man so will, als

sein »Ideal-Ich« - oder sein »Ideal-Wir«, wenn diese Ableitung

gestattet ist - vorstellbaren) moralischen Normen erlaubt? Und

welche aktiven oder passiven »Widerstände«, »Dissidenzen«, er­

zeugt die Tatsache, dass die moralische Norm der Gemeinschaft

auf diese Weise immanent ist ? Und schließlich stellt sich auch das

Problem, wie ein internes Verhältnis zwischen Subjektivität und

Gemeinschaft, das zudem zweideutig und konfliktgeladen ist,

dazu kommt, die charakteristische Spannung zwischen Staatsbür­

gerschaft und »laizistischer« politischer Universalität zu überde­

terminieren, die Spannung zwischen dem aufständischen Mo­

ment und dem konstitutionellen Moment oder, wenn man will,

dem Moment der Utopie, der unendlichen » Negativität«, und dem

positiven Moment bzw. dem Moment der institutionellen Begren­

zung, die uns als wesentliches, immer wieder neu entstehendes

Merkmal von dessen Historizität erschien? In der durch das ge­

genwärtige Werk von Antonio Negri bekannt gewordenen Spra­

che könnte man auch von einer Spannung zwischen »konstituie­

render Gewalt« und »konstituierter Gewalt« sprechen.

Wir haben den Verdacht, dass die emanzipatorische Logik, die wir bei der Bildung einer politischen Gemeinschaft (policy) am Werk gesehen haben, von dem Moment an wieder ernsthaft in Frage gestellt wäre, wo wir die Dialektik der Gemeinschaft und

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vor allem die normativen anthropologischen Voraussetzungen vollständig entfalten, die die Symmetrie der Gleichfreiheit kom­plizierter machen und für die unmittelbare Äquivalenz von Frei­heit und Gleichheit hinderlich sind. Muss uns das aber gleich zu der Schlussfolgerung führen, dass die Staatsbürgerschaft in gewis­ser Weise »unmöglich« ist ? Muss uns das dazu führen, von den »Bürgern« (ob sie nun »Franzosen« sind oder »Engländer« oder »Amerikaner« oder »Europäer« oder »Mexikaner<<) nach dem berühmten Ausspruch des Marquis de Sade, den vor allem Blan­chot wieder aufgegriffen hat, >>noch eine Anstrengung, wenn ihr Republikaner sein wollt<<, zu verlangen ? Müssen wir Montaignes Satz »Ü meine Freunde, es gibt keinen Freund<<, den Derrida mit einem langen Kommentar versehen hat,44 gewissermaßen in Be­zug auf den Bürger wiederholen und ausrufen »Ü meine Mitbür­ger, es gibt keine Bürger« ? Ich glaube, dass diese skeptische For­mulierung durchaus vermeidbar ist, genauer gesagt, dass sie andersherum gelesen werden kann. Wenn wir dem in Arendts Formel vom »Recht auf Rechte« enthaltenen Hinweis und dem Prüfstein folgen, den Individuen »ohne Staat<< für die Institution des Politischen darstellen - was Giorgio Agamben in unseren Ta­gen zu verallgemeinern versucht hat45 -, können wir sagen, dass in gewissem Sinne heute das politische Subjekt par excellence nicht das Norm-Subjekt ist, sondern der Flüchtling, homeless oder heimatlos*, »ohne Papiere« oder »ohne Staat<<, also staaten­los. Oder wir können einen ähnlichen, aber nicht deckungsglei­chen Hinweis bei Jacques Raueiere wieder aufgreifen, der den unendlichen Charakter des Emanzipationsprozesses mit der Auf­

forderung verknüpft, in der bestehenden Gemeinschaft den »An­teil der Anteilslosen« anzuerkennen. Wir können mit anderen Worten den »unmöglichen<< oder »unpolitischen<< Charakter der Gemeinschaft der Bürger nicht im Sinne einer faktischen oder

44 Jacques Derrida, Politiques de l'amitie, Paris, Galilee, 1994 [dt.: Politik der Freundschaft, Frankfurt/M., Suhrkamp, 2ooo] . 45 Giorgio Agamben, La comunita ehe viene, Turin, Einaudi, 1990 [dt.: Die kommende Gemeinschaft, Berlin, Merve, 2003] .

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materiellen Unmöglichkeit interpretieren, sondern im kritischen Sinne einer Unmöglichkeit, die Gemeinschaft zu konstruieren und die Staatsbürgerschaft zu konstituieren, ohne zugleich die Ge­meinschaft ebenso wie die Staatsbürgerschaft zu dekonstruieren. Und genau an dieser Stelle möchte ich versuchen, eine die Politik betreffende Frage mit einer die Anthropologie betreffenden Fra­ge zu verknüpfen.

Letzten Endes stelle ich diese Frage mit Blick auf den politi­schen Status der anthropologischen Unterschiede, indem ich zei­ge, dass die Verknüpfung der zur demokratischen Tradition ge­hörenden »Majoritäts«-Politik mit einer »Minoritäts«-Politik (in dem Sinne, den zum Beispiel Deleuze diesem Wort gibt) oder, wenn man so will, die Verknüpfung der Norm und der Ausnah­me, des Universellen und der Besonderheiten eben gerade »un­möglich«, das heißt schon bei ihrer Realisierung von ihrem Ge­genteil durchdrungen ist. Den Terminus »minoritär« im Sinne von minderheitlieh und unmündig bzw. »Minoritär-Werden« entlehne ich Deleuze, den Terminus »majoritär« im Sinne von mehrheitlich und mündig Kants Text über die Aufklärung und dessen Kommentierung durch Foucault - was die Termini oder Ausdrücke Gleichfreiheit, Transindividualität und »anthropolo­gischer Unterschied« angeht, verwende ich sie, obwohl sie leicht zu identifizierende Quellen haben, in meiner eigenen Bedeu­tung.

Aufgrund der Unmöglichkeit, die Frage hier in all ihren kon­kreten, juristischen und soziologischen Aspekten zu erörtern, werde ich mich auf einer allgemeinen, »metahistorischen« Ebene bewegen, wenn ich den Status der anthropologischen Unter­schiede vor und nach dem, was ich Moderne genannt habe, sche­matisch vergleiche, das heißt vor und nach der Erfindung der universellen Staatsbürgerschaft und der sozialen Staatsbürger­schaft, also vor und nach der Formulierung von natürlichen Hu­manitätsnormen und sozialen Normen, die eine Grenze zwi­schen Humanem und Inhumanem, dem sozialen Wesen und dem asozialen oder desozialisierten Wesen ziehen, um daraus die

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Bedingungen für die aktive Staatsbürgerschaft oder tatsächliche Partizipation an der Politik abzuleiten. Einerseits (»davor«) wer­de ich mich auf die antike Welt beziehen, deren Auffassungen über die Polis und die menschliche Vielfalt sich bis ins Mittelalter und in die Renaissance fortsetzen, andererseits (»danach«) werde ich mich auf die postmoderne Welt beziehen, deren Entstehen eben gerade durch die zunehmende Bedeutung signalisiert wird, die den verschiedenen durch die Kultur, die Sexualität, den »be­

hördlichen Status«, aber auch durch den biologischen und bio­politischen Unterschied definierten »Minoritäten<< im politi­schen Denken zukommt. Diese »Minoritäten<< verlangen nicht

nur Rechte oder »negative<< Freiheiten, das heißt die Abschaffung bestimmter Einschränkungen ihrer Fähigkeiten und bestimmter Repressalien, sondern sie verlangen sehr viel grundlegender die

Möglichkeit, an einer Umgestaltung des Politischen mitzuwirken, und eben dadurch »untergraben<< sie die Proposition der Gleich­freiheit zutiefst. Was auch heißt, dass sie ihr einen Weg in ihre

teilweise unbekannte und unvorhersehbare Zukunft weisen. Ich wähle diesen Zugang, weil ich zunächst den Eindruck korri­

gieren möchte, den meine bisherigen Ausführungen unvermeid­lich hinterlassen haben müssen: dass nämlich die Verknüpfung von Subjektivität, Gemeinschaft und Staatsbürgerschaft vollkom­men deckungsgleich mit der Moderne (oder vielmehr mit einer ihrer Seiten, ihrer »Vermittlungen<<) sei. Außerdem möchte ich er­neut die Idee vorbringen, dass die Geschichte der Staatsbürger­schaft offen ist, so wie die Geschichte der Gleichfreiheit ebenfalls offen ist. Sie haben eine Vergangenheit vor der Moderne mit ih­

ren bürgerlichen [bourgeoises] oder sozialistischen Revolutionen, Erklärungen von Rechten usw., aber sie haben sicherlich auch eine Zukunft nach der Moderne, wie auch immer wir dieses Wort »Zukunft<< bzw. »nach<< philosophisch verstehen, das seine eige­nen Probleme aufwirft, und wie auch immer wir die Vergangen­

heit berücksichtigen, ohne die die Bezeichnung und Anerken­nung einer An-Kunft, die in gewisser Weise immer schon da ist, nicht möglich wäre. Und schließlich möchte ich versuchen zu be-

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ginnen, die Gründe zu erhellen, die einen Philosophen wie Mi­chel Foucault dazu gebracht haben, in einer Weise zum Studium der Antike zu »konvertieren«, die nicht wenige seiner Leser über­rascht hat.

Die allgemeine Idee, die ich entwickeln werde, lässt sich ganz einfach darlegen: Eine »postmoderne« Problemstellung der Staatsbürgerschaft (das heißt eine Problemstellung, in der die Zukunft der Moderne als kontingent bzw. zufällig bezeichnet wird, und es ist womöglich gerade das, was viele >>Modernisten<< und >>Universalisten<< stört, die ich für meinen Teil lieber als nostalgi­sche Verteidiger der Moderne und der Universalität bezeichne) ist eine Problemstellung, in der die anthropologischen Unter­schiede wieder zu ausschlaggebenden Faktoren der Staatsbürger­schaft werden, so wie auf ganz andere Weise, sowohl subjektiv als auch objektiv, moralisch und juristisch in der Antike. Wenn ich von Antike spreche, denke ich hier im Wesentlichen an die grie­chische Konzeption der politeia, der >>Bürgerschafts-Verfassung<< [ constitution-de-citoyennete] . Es besteht jedoch ein beträchtlicher Unterschied zwischen dem Vorher und dem Nachher, den man als >>Wiederkehr des<< vom (theologischen wie vom laizistischen) Universalismus >>Verdrängten<< ebenso interpretieren kann wie als Auftreten neuer kultureller Modelle, neuer Formen von Zivi­lität oder Biopolitik Der Unterschied beruht darauf, dass die anthropologischen Unterschiede in der Antike - zum Beispiel (nach der Aristotelischen Typologie) der Unterschied von Herr und Knecht, Mann und Frau, Erwachsenem und Kind (was aus der Perspektive des Zugangs zur Bürgerschaft im Wesentlichen heißt: von Vater und Sohn) - Status-Unterschiede sind, die die Menschen auf verschiedene Räume zu verteilen erlauben - den öf­fentlichen Raum (polis) und den häuslichen oder privaten Raum (oikos) - und ihnen verschiedene, hierarchisch genau abgegrenz­te Funktionen zuzuweisen. Der Prozess der paideia, der Zivilisie­rung, Emanzipation und Reproduktion des Bürgers, erfordert ge­nau diese Komplementarität von Räumen und Funktionen. In dem, was ich den postmodernen Moment nenne oder die post-

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moderne Wende der Moderne selbst (denn mit der Postmoderne >>verlassen« wir die Moderne nicht im eigentlichen Sinne, son­dern entdecken ihre kritische Seite, den Prozess fortwährender Dekonstruktion), erscheinen die anthropologischen Unterschie­de dagegen mehrdeutig, problematisch, unmöglich zu definieren und auf eine Bedeutung festzulegen. Trotz aller Disziplinar- und Wegschließinstitutionen (Militär, Schule, Familie, Krankenhaus, Gefängnis . . . ) sind sie niemals wirklich lokalisierbar oder territo­rialisiert, durch Grenzen in rein dichotomischen Räumen verort­bar. Sie sind, wie Foucault in anderem Zusammenhang sagt, ih­rem Wesen nach >>heterotopisch<<, denn sie erfüllen, zumindest offiziell und explizit, keine positive Funktion bei der Reproduk­tion des Bürgers und der Aktualisierung des bürgerlichen bzw. politischen Potenzials, das der menschlichen Natur und der menschlichen Gesellschaft innewohnt.

Zu den von mir so genannten >>anthropologischen Unterschie­den<<, die ich nicht geschlossen und erschöpfend in radikal vonei­nander abweichenden Begriffen aufzulisten gedenke (das wäre äußerst widersprüchlich), zähle ich selbstverständlich nicht nur den Geschlechtsunterschied als Unterschied von >>Gender<< und von >>Sex<<, den >>biosozialen<< Unterschied von >>Normalem<< und >>Pathologischem<< oder von körperlicher ebenso wie geistiger Gesundheit oder Krankheit, den Unterschied des Ehrlichen und des Kriminellen und auch die Unterschiede dieser Unterschiede (wie den zwischen Geisteskrankem und Kriminellem), sondern auch >>kulturelle<< Unterschiede, die entweder auf dem Gegen­satz von Geist und Körper, von >>manuellen<< oder >>physischen<< und >>intellektuellen<< Kompetenzen, kognitiven Kompetenzen »mündlicher<< Art und >>schriftlicher<< Art usw. beruhen oder auf dem Abstand zwischen ethnischen oder ethnisch-religiösen Kul­turen, den gemeinschaftlichen Identifikationsmodellen im Sinne von Devereux usw.46 Solche Unterschiede verbleiben - zumin-

46 Georges Devereux, Ethnopsychanalyse complementariste, Paris, Flamma­rion, >>Champs«, 1985 [dt.: Ethnopsychoanalyse. Die komplementaristische Methode in den Wissenschaften vom Menschen (1978), Frankfurt/M., Suhr-

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dest zunächst, denn mit den »Institutionen«, die sie unter Kon­trolle bringen sollen, verhält es sich nicht so - außerhalb des Re­produktionsprozesses des Bürgers. Aber sie veranschaulichen und verdeutlichen jeweils wie Fluchtpunkte die Trennung oder Spaltung, die verhindert, dass diese »Reproduktion« (besonders als Erziehung) ihre Ziele auf gleichförmige und universelle Weise erreicht. Es sei denn, wir nehmen sie - wie es die »Minoritäten«, manchmal antinomisch, direkt oder indirekt verlangen - eben gerade als Hinweise darauf, dass sich die Gleichfreiheit nur um den Preis einer Subversion der Normen und bestehenden »Codes« verwirklichen lässt, die die Staatsbürgerschaft und die Kommunikation unter den Bürgern gewährleisten.

Die Griechen hatten unbestreitbar selbst einen sehr starken Begriff von Gleichfreiheit, den sie isonomia nannten. Und in vielen Hinsichten repräsentiert die isonomia (wie zum Beispiel jene, deren Einforderung Herodot in einem Abschnitt der His­torien, der von Rousseau in der ersten Anmerkung zum Diskurs über die Ungleichheit zitiert wird, Otanes in den Mund legt, als er sich gleichermaßen weigert, den anderen zu gehorchen, wie ihnen zu befehlen: oute gar archein oute archesthai ethelo [»ich will weder herrschen noch dienen«]47) auch die aufständische oder »revolutionäre« Seite der griechischen Institution der poli­teia. Doch die isonomia oder »Gleichheit vor dem Gesetz« be­stand und hatte Sinn nur für einen kleinen Teil der Menschheit, nämlich für die männlichen, erwachsenen, freien Bürger, die untereinander ein Verhältnis der philia aufbauten, das heißt der Gegenseitigkeit, Freundschaft, Wertschätzung und Anerken­nung. Vor allem aber bestand sie nur unter der Bedingung, dass andere, untereinander und im Vergleich mit den Bürgern grund­legend ungleiche Menschen - Sklaven, Frauen und Kinder - auf je ihre Weise eine unverzichtbare Funktion bei der Schaffung der

kamp, 21984] , besonders Kapitel VI: »Die ethnische Identität. Ihre logischen Grundlagen und ihre Dysfunktionen<<. 47 Herodot, Historien, Buch III, 83, in: Historien, Erster Band, griech.-dt., Zürich, Artemis, 5· Auf!. 1995, S. 441.

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Individualität des Bürgers, im Dienste seiner Autonomie erfüll­ten. Und diese komplexe Aufteilung von anthropologischen Unterschieden bildete eben gerade den Bereich der »Mensch­heit« bzw. definierte die »menschliche Natur« rund um die zen­trale Figur des Bürgers herum. »Menschen« oder »menschliche Wesen« waren demnach gerade diejenigen, die als Gleiche oder als Ungleiche zur Bildung der Sphäre kollektiver Autonomie bei­trugen, in der ein Zivilisationsprozess ablief (den die Römer eben gerade Humanitas nennen werden), und die menschliche Wesen

mehr oder weniger sicher von anderen natürlichen Wesen wie Göttern und Tieren unterschieden, die Gleichheit ebenso wenig kennen wie Ungleichheit, weder absolut frei noch absolut unfrei sind . . . 48

Das »postmoderne« Modell anthropologischer Unterschiede

und die Beziehung, die es zur Staatsbürgerschaft unterhält, erin­nert stark an dieses antike Modell und die ihm eigene Komplexi­tät. Aber letzten Endes unterscheiden sie sich umso radikaler voneinander, denn die »anthropologischen Unterschiede«, von

denen wir jetzt sprechen, sind ihrem Wesen nach mehrdeutig, deterritorialisiert. Ein fortwährender Double bind charakterisiert sie: Es ist ebenso unmöglich, ihre Existenz zu leugnen, wie sie ge­nau zu lokalisieren, oder wenn man so will: Es ist sowohl notwen­

dig als auch unmöglich, sie als feststehende, rein dichotomische Unterschiede zu verwenden. Sie sind notwendig, weil sich nie­mand die Menschlichkeit der Menschen ohne Rückgriff auf diese wesentlichen Unterschiede vorstellen kann: Menschen sind »ma­

nuell<< oder »intellektuell« veranlagt, »männlich« oder >>weib­lich«, >>gesund« oder >>krank«, >>Vernünftig« oder >>geisteskrank«, >>ehrlich« oder >>kriminell« usw. Diese Unterschiede in der Vor­stellung aufheben zu wollen (ganz zu schweigen von dem Ver-

48 Emma Dench, Romulus' Asylum. Roman Identities from the Age of Alex­ander to the Age of Hadrian, Oxford I New York, Oxford University Press, 2005 , zitiert nach Jane Burbank I Frederick Cooper, »Empire, droits et ci­toyennete, de 212 a 1946<<, in: Annales, Histoire, Seiences Sociales, 63. Jg., Nr. 3, Mai-Juni 2008, S. 502.

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such, sie real, »in echt<< aufzuheben) hieße, die Menschlichkeit der Menschen selbst aufzuheben, sie manchmal sogar gewaltsam zu zerstören. Nur im Unbewussten sind diese Unterschiede in ge­wisser Weise abgeschafft oder werden sie gerrauer gesagt bestän­dig untergraben und überschritten, wechseln sie ihre Plätze (und vielleicht ist dies gerade das für das Unbewusste konstitutive Phä­nomen, wie Freud manchmal nahelegt).

Niemand kann uns jedoch jemals genau sagen, wo die grundle­genden anthropologischen Unterschiede verlaufen und folglich worin ihr wesentlicher Inhalt besteht. Niemand kann wirklich sa­gen, was »ein Mann<< ist oder was »eine Frau<< ist (außer ironisch, tautologisch, wie im Titel von Godards Film mit Anna Karina: Eine Frau ist eine Frau). Ebenso wenig wie man sagen kann, »was die Identität der Person ist<<, was »ein Geisteskranker<< ist usw. Die einzige Möglichkeit ist daher, Identitäten zu forcieren, die in der sozialen oder psychischen Wirklichkeit einer idealen oder in­stitutionellen Definition von Unterschieden entsprechen, und zwar durch soziale Kategorisierungen und stereotype, kodifizier­te, »fetischisierte<< Verhaltensmodelle, symbolische Bezugnah­men, Markierungen, die manchmal in den Körper der Individuen selbst eingeschrieben, eingraviert sind. Was auch zu verstehen erlaubt, warum der Sozialstaat, der, wie wir gesehen haben, auf die Anerkennung der sozialen Rechte der Individuen ausgerich­tet ist, ständig dazu neigt, die unklassifizierbaren »Minoritäten<< in Sozialkategorien zu verwandeln. Vielleicht rührt übrigens schon der Terminus »Minorität<< selbst von dieser sowohl schüt­zenden wie repressiven sozialen und institutionellen Kategorisie­rung her: Wir stehen hier einer manifesten Grenze des Universa­lisierungsprozesses der sozialen Rechte gegenüber, die eine bleibende Spur von Fürsorge und Stigmatisierung mitten in der Staatsbürgerschaft selbst hinterlässt.

Meine eigentliche Schlussfolgerung lautet also wie folgt: Ich weiß nicht, wie eine Proposition der Gleichfreiheit zu definie­ren und begrifflich zu fassen ist, die eine derartige Umkehrung der Umkehrung umfassen würde: nämlich die Verwendung

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von anthropologischen Unterschieden nicht als jeweilige interne Hindernisse bei der Universalisierung der Bürgerrechte und

beim »Bürger-Werden<< des Subjekts, sondern als Ansatzpunkt für ein >>Subjekt-Werden des Bürgers« im aktiven Sinne des Wor­tes, und ich glaube nicht, dass jemand anders es weiß. Aber ich nehme an (und ich glaube, wir nehmen alle an), dass dieser Pro­zess bereits im Gange ist und in diesem Sinne das »Unbehagen<< in unserer politischen Kultur selbst so verstanden werden muss, dass es vom Auftreten neuer Transindividualitätsformen zeugt. Ich weiß auch nicht genau, wie man >>Majoritäts-<< und »Minori­täts<<-Politiken politisch verknüpfen kann, deren jeweilige Ein­stellungen gegenüber der Rolle von Normen beim Aufbau der Gemeinschaft einander absolut entgegengesetzt sind, wenn ich auch, abstrakt oder spekulativ gesprochen, glaube versichern zu

können, dass das - im Gegensatz zu dem, was Viele glauben oder zu glauben vorgeben - keinem Verzicht aufs Universelle gleich­kommt. Man kann und muss darin im Gegenteil - auch wenn der Ausdruck paradox ist - so etwas wie einen Universalitätszusatz sehen, der der Einbeziehung von Unterschieden und Besonder­

heiten bei der Bildung des Universellen selbst entspricht. Wie die Erfindung und Einsetzung eines >> Äquivalenzsystems ohne allge­meines Äquivalent<<, aber mit unendlichen Übersetzungen und Neuübersetzungen des Menschlichen in der Gesamtheit seiner >>Varianten<<.49 Ich kann aber durchaus sagen, dass dieses Prob­lem, gemeinsam mit anderen, die eng mit ihm verwandt sind, wie das der Gewalt (bzw. der extremen Gewalt) und der Zivilität, nun

49 In seinem mittlerweile berühmten Buch Provincializing Europe. Postcolo­nial Thought and Historical Dijference (Princeton N. J., Princeton University Press, 2000 [dt.: Buropa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichts­schreibung, Frankfurt/M./New York, Campus, 2010], hat Dipesh Chakrabar­ty die Analogie zwischen dem Problem, das übersetzungsmodelle aufwer­fen, und dem Problem, das Modelle der Warenzirkulation und die Institution des allgemeinen Äquivalents aufwerfen, lange erörtert (S. 72f., »Translating Life-Worlds into Labor and History<< [Kapitel 3 der englischen Ausgabe, das in der deutschen Fassung nicht enthalten ist] ) .

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gerade den Horizont der politischen Philosophie bildet, insofern sie der Erhellung der Probleme verbunden bleibt, die ihre eigene grundlegende Formel aufwirft. 5°

so Siehe meine >>Wellek-Lectures« von 1996: Extreme Violence and the Prob­lem of Civility. Eine französische Bearbeitung ist 2010 unter dem Titel Vio­lence et civilite et autres essais de philosophie politique bei den Editions Galilee (Paris) erschienen.

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Schluss: Widerstand Aufstand Ungehorsam 1

Wer spricht hier heute Nachmittag, meine Damen und Herren ?2 Leider nicht der kleine Junge, der vor nahezu 5 5 Jahren mit weit aufgerissenen Augen eben diesen Hof betrat, um hier dann Jahr

für Jahr Macbeth, Lorenzaccio oder Mutter Courage zu sehen und zu hören - gespielt von Vilar und seinen Mitstreitern mit Trompeten und Mistral im Hintergrund. Obwohl dieser kleine Junge mich sicherlich immer noch begleitet. Doch wenn Sie mir gestatten, wird hier heute eher ein »werter Herr Professor« spre­chen - weitab von seinem Schreibtisch oder Seminarraum. Und dieser Formulierung, die einst der Charakterisierung eines unse­rer Lehrmeister diente,3 möchte ich aus folgendem Grund meine Reverenz erweisen.

Im Juni letzten Jahres habe ich mit vielen anderen Schriftstel­lern, Künstlern und Lehrenden einen in übereinkunft mit der GISTI [Groupe d'information et de soutien des immigres, Grup­

pe zur Information und Unterstützung von Immigranten] und dem Reseau Education Sans Frontieres [Netzwerk Erziehung ohne Grenzen] erarbeiteten Aufruf unterzeichnet, der die Regie­rung dazu aufrief, auf die Festnahme von Schulkindern »ohne Papiere« zu verzichten, die man manchmal sogar in der Schule

1 [Frz. insoumission, militär. >>Dienstpflichtverweigerung<< wie im Manifest der 121, auf das sich Balibar weiter unten explizit bezieht, hier aber auch all­gemeiner ähnlich wie desobedience im Sinne von >> Unbeugbarkeit<< und >> Un­gehorsam<<.] 2 Vortrag am 17. Juli 2007 im Hof des Papstpalastes, Festival von Avignon, im Rahmen von Frederic Fisbachs Theaterinszenierung von Rene Chars »Feuillets d'Hypnos<< [dt.: »Hypnos<<] . Fußnoten wurden nachträglich einge­

fügt. 3 Es handelt sich um Professor Henri-Irenee Marrou, der in Erwiderung sei­nes Protests gegen die Anwendung von Folter in Algerien von General de Gaulle so bezeichnet wurde.

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abholen kommt, um sie von französischem Boden zu vertreiben. 4 Dieser Aufruf bestand im Wesentlichen in einem langen Zitat aus Robert Antelmes nach seiner Rückkehr aus den Lagern ver­öffentlichten Buch Das Menschengeschlecht, in dem er daran er­innerte, dass es deren Erfindern letzten Endes nicht gelungen ist, die Menschheit durch ihr Unternehmen nach dem Kriterium ih­rer Hautfarbe, Sitten oder Klassen in verschiedene Arten zu un­terteilen, und dass aus diesem Grund ihr System schließlich be­siegt worden ist. Diese nachdrückliche Erinnerung hat meinen Mitunterzeichnern und mir als Argument gedient, wachsam ge­genüber jeder »ausgewählten« bzw. selektiven Politik zum Bei­spiel in Bezug auf die Immigration zu sein, die auf ihre Weise und auf ihrer Ebene die auf sozialen und naturalisierten anthro­pologischen Unterschieden gegründete Idee eines ungleichen

Zugangs zu den Grundrechten reproduziert. In meinem Kom­mentar zu dieser Schlussfolgerung auf der Pressekonferenz, auf der unser Text präsentiert wurde, habe ich darauf hingewiesen, dass in meinen Augen zwar ein gewaltiger Abstand zwischen der

in unseren Gesellschaften herrschenden ökonomisch-polizeili­chen Verwaltung der Immigration und dem Vernichtungs- und Selektionsmechanismus besteht, der in den Lagern der Nazis am Werk war. Dass aber dennoch eine Art roter Faden von einem

Punkt zum anderen führt und man große Risiken eingeht, wenn man ihn ignoriert. Daraus habe ich geschlossen, dass es legitim ist und folgerichtig, Akte des zivilen Widerstands in Betracht zu ziehen, sobald man denkt, dass man es mit dieser Logik zu tun

hat, das heißt, sobald sie sich andeutet. Einige Tage später erhielt ich in der Universität einen vom damaligen Innenminister unter­zeichneten Brief, in dem er mir meine Stellungnahme aufs Schärfste vorwarf. Die Politik und die Projekte der Regierung

4 >>Parce qu'il n'y a pas d'especes humaines«, Aufruf vom 12. Juni 2006, ab­rufbar auf der Website (http://appel.rezo.net); siehe auch (http://www.con treimmigrationjetable.org/article.php3 ?id article=6s6), wo die Beiträge von Ariane Ascaride, Etienne Balibar, Pascal Thomas, Jean-Pierre Alaux im Na­men der Unterzeichner aufgeführt sind.

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seien im Namen des nationalen Interesses und der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt und die Kontroll- und Entfernungsmaß­nahmen entsprächen den republikanischen Rechten und Grund­sätzen, versicherte Herr Sarkozy, erklärte die von uns vorgeschla­gene Analogie zwischen den historischen Zeitabschnitten für schändlich und schloss mit den Worten: »Sie haben Ihre Ehre verloren, Herr Professor.«

Unter anderem aus diesem Grund habe ich mich entschieden, nachdem ich die Einladung von Frederic Fisbach, zum Beipro­

gramm seiner Inszenierung von Hypnos beizutragen, dankbar angenommen hatte, folgende drei Ideen oder vielmehr folgende drei Wörter zum Thema meines Vortrags zu machen: Wider­stand, Aufstand, Ungehorsam in der ganzen Bandbreite und folg­lich der ganzen Unschärfe ihrer Verwendungen. Vielleicht ist es keine Frage der Ehre, aber es ist eine Frage des intellektuellen An­spruchs, was ich vielleicht nicht als Einziger so empfinde.

* * *

Obwohl wir offensichtlich kein Monopol darauf haben, macht sich die Notwendigkeit, die Verwendung dieser Ausdrücke zu klären, besonders in Frankreich bemerkbar, wie mir scheint. Die Geschichte unseres Landes ist durchzogen von Episoden, in de­nen der Ungehorsam gegenüber den etablierten Mächten und besonders gegenüber dem Staat den Wechsel des politischen Sys­tems ermöglicht oder extrem beschleunigt hat, auch wenn das nachträglich in einem legalen Verfahren sanktioniert wurde. Das ist bei allen republikanischen Regierungsformen von der aus dem Sturm auf die Bastille 1789 und der Massenaushebung von 1792 hervorgegangenen Ersten Republik bis zur Fünften Repu­blik der Fall, die aus dem Staatsstreich vom 13 . Mai 1958 hervor­

ging - wieder eine etwas gewaltsame Zusammenstellung, das gebe ich zu, aber sie dürfte hinreichend zeigen, wie zufällig sogar unsere nachträglichen politischen Urteile über die Revolutionen in der Geschichte sind. Die Unsrige ist reich an Momenten des Aufstands, Tagen auf den Barrikaden und blutigen Wochen, aber

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auch an Generalstreiks oder Selbstverwaltungsversuchen, in de­nen einige unserer politischen Mythen entstanden sind, die von einer Generation auf die nächste übergehen und je nach sachli­cher und individueller Lage noch immer Begeisterung oder Ab­scheu hervorrufen. Und schließlich enthält sie - teilweise mit den vorhergehenden vermengt - eine Reihe von Momenten, die ich trotz des Schattens, den Peguys berühmte Unterscheidung auf die gesamte Diskussion wirft, nicht als »mystisch«, sondern schlicht als »moralisch« bezeichnen würde, um zu markieren, dass die beiden möglichen Orientierungen von Handlungen - die auf ein Werturteil verweisen können oder auf die Analyse von politi­schen Wirkungen - nicht schlicht und einfach konträr zueinan­der verlaufen, sondern einander überschneiden und sich gegen­seitig bestimmen. Die Dreyfus-Affäre, in der eine bestimmte linksintellektuelle Tradition den wahren Gründungsakt der Drit­ten Republik sieht, auf jeden Fall das Ereignis, das sie unmissver­ständlich von den mehr oder weniger autoritären und oligarchi­schen vorherigen Regimen abhob, gilt als Symbol für alle diese Momente. In meiner Generation fügt man dem gerne noch den Moment des Protestes gegen den Kolonialkrieg und die Folter in Algerien hinzu, dessen institutionelle Wirkung in gewisser Weise umgekehrt war, weil er dazu beitrug, die Legitimität der Fünften Republik mit einer immer noch nicht vollständig abgelösten Hy­pothek zu belasten.

Revolutionen und Staatsstreiche, Aufstände und Rebellionen, Widerstand und Ungehorsam, Sie ahnen schon, wie lang die Lis­te der großen und kleinen Ereignisse wäre, die vor Augen führen, dass sich die Politik nicht auf das Recht und schon gar nicht auf die Vollstreckung des Rechts reduzieren lässt, ohne dass sich da­bei, selbst wenn man sich auf die moderne und zeitgenössische Geschichte beschränkt, die Rollen, was dieses Recht festigt und was seinen Rahmen sprengt, genauso leicht verteilen ließen. Wa­rum übrigens diese Beschränkung, als hätte der Vergleich von ähnlichen Problemen, vor denen die Alten und die Modernen standen, nicht schon mindestens seit Machiavelli den eigentli-

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chen Hintergrund für die Überlegungen der politischen Philoso­phie abgegeben, wenn sie über die Paradoxien und das letztendli­che Rätsel der Staatsbürgerschaft nachgedacht hat ? Und warum sich einzig auf französische Beispiele beschränken, als seien die Amerikanische Revolution oder die russische Oktoberrevolution in Bezug auf die Souveränität des Volkes nicht ebenso lehrreich wie die Französische Revolution; als gäben die Unabhängigkeit Indiens, der algerische Befreiungskrieg oder der Kampf der Charta 77 nicht auch - und zwar auch für uns - Schlüssel an die Hand, um was es sich beim » Widerstand« gegen eine Fremdherr­schaft handelt, der zugleich Züge eines Bürgerkriegs annimmt; als seien die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA oder der Protest gegen den Vietnamkrieg nicht in gewisser Hinsicht in Bezug auf die Formen des »zivilen Ungehorsams<< und des »ge­waltlosen Widerstands« erhellender und theoriegesättigter als die sehr viel flacher angelegten Episoden, mit denen wir es im 20. Jahrhundert in Frankreich zu tun hatten ?

Es wäre daher reizvoll, sich auf zwei in gewisser Weise unbe­streitbare Feststellungen zu beschränken:

Erstens: Die Konfrontation von institutionellen Logiken, deren universelle Verpflichtungskraft durch das Gesetz sanktioniert wird, und sozialen Kräfteverhältnissen, zu denen auch morali­sche oder ideologische Kräfte gehören, bildet eine Art Struktur oder dauerhafte Bedingung der Politik.

Und zweitens: Jede der durch diese Konfrontation veranlassten Episoden, die je nach Fall mit Knechtschaft oder Befreiung endet, mit Erweiterungen oder Beschneidungen der Demokratie, mit der Widerherstellung oder der Erschütterung der Ordnung, bleibt unwiderruflich singulär. So dass wir, ebenso wenig wie die­jenigen, die sich seinerzeit jedes Mal neu entschließen, sich »für ein Lager entscheiden«, kurz: für oder gegen Vichy sein mussten, für oder gegen de Gaulle und die Resistance, für oder gegen den de Gaulle von 1949 und den von 1958 oder von 1962 oder 1968, dass wir selbst ebenso wenig wie sie über eine übergreifende Ur­teilsregel verfügen, die es uns erlauben würde, die historischen

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Ereignisse und die mit ihnen einhergehenden Verbindlichkeiten

in ein endgültiges Interpretationsschema einzuschreiben: weder

um deren Resultat zu billigen und die historische Überlegenheit

vollendeter Tatsachen zu verkünden noch um die erhabene Größe

der emanzipatorischen Absichten zu rühmen, die Begeisterung

für die »himmelstürmenden« revolutionären Utopien neu zu ent­

fachen oder desillusioniert zu konstatieren, dass die Ideale regel­

mäßig von denen, die sie vertreten haben, verraten werden, wenn

Revolutionäre sich in Diktatoren verwandeln, Widerstandskämp­

fer in Berufspolitiker oder wenn libertäre Philosophen im Politzir­

kus hausieren gehen . . . Aus der grundlegenden Ungewissheit der Beziehungen zwi­

schen Institutionen und Kräfteverhältnissen einerseits und der absoluten Singularität von Situationen und Entscheidungen an­dererseits ließe sich, wie man sieht, die Lehre einer radikalen Endlichkeit, ja unüberwindbaren Mehrdeutigkeit der politischen Bedeutungen ziehen, mit denen wir es zu tun haben. So etwas wie »der Widerstand«, »der Aufstand<<, »der Ungehorsam<< an sich würde dann nicht existieren: keinerlei allgemeine Wahrheit, die wir mit diesen Namen verbinden könnten und erst recht keine Theorie des Politischen, die sich aus ihrer Analogie konstruieren ließe. Und, ich wiederhole es, in gewisser Weise ist dies durchaus unstrittig, wenn man nicht ideologische Stereotypen produzieren möchte, und seien sie noch so progressiv. Ich werde abschließend darauf zurückkommen, um dem untilgbaren Risiko Nachdruck zu verleihen, mit dem unsere Entscheidungen wie unsere Überle­gungen behaftet sind und das die Politik als solche kennzeich­net.

Ich bin aber eigensinnig und greife die drei Worte Widerstand, Aufstand, Ungehorsam wieder auf, nach Art einer Frage, über die ich von vornherein weiß, dass es keine einfache oder endgültige Antwort auf sie geben wird. Denn ich glaube nicht an die absolu­te Unabhängigkeit der historischen Ereignisse voneinander.

Auch in ihrer Singularität wiederholen sie sich, kehren sie sich um, antworten sie aufeinander, hinterlassen sie eine manchmal

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traumatische Spur, verketten sie Erfahrungen, die zwischen dem Bewusstsein von Individuen und von Gruppen, Geschlechtern, Klassen oder Nationen hin- und herwandern, geben sie diesen eine Sprache, Werkzeuge für ihre Anerkennung - was man manchmal >>Identität<< nennt - an die Hand, aber auch kritische und selbstkritische Werkzeuge.

Die Männer und Frauen, Militärs und Zivilisten, die sich gegen die Anwendung der Folter in Algerien gewandt und in Frank­reich für das Ende der Kolonialherrschaft demonstriert haben, konnten diejenigen sein - und waren oft diejenigen -, für die die erlittene Besatzung und der Widerstand gegen die Nazis es schon der Möglichkeit nach unerträglich gemacht hatten, Einheiten der französischen Armee zu erleben, die gegen die, die man damals >>Eingeborene« nannte, oder gegen deren Verteidiger die gleichen Methoden anwandten wie die Gestapo. Oder es konnten ihre Kinder sein - so wie es heute algerische Bürger gibt, die es uner­träglich finden, wenn der militärische Sicherheitsdienst angebli­che Islamisten oder deren Eltern in denselben Villen in El Biar und Hydra foltert, deren sich schon die Massus, Charbonniers und Aussaresses gegen ihr Volk bedient haben . . . Sie konnten auch aus den Reihen derjenigen stammen, die mehr oder weni­ger lange kollaboriert und an die Möglichkeit geglaubt hatten, >> Vichy gegen Vichy auszuspielen<<, und sich nicht ein zweites Mal in Bezug auf den Standort von Wahrheit und Gerechtigkeit täu­schen wollten. Nichts ist einfach an diesen Verkettungen, aber auch nichts absolut zufällig oder unbedeutend. Man muss diese Spuren entziffern, sie einschreiben in eine nationale, internatio­nale Geschichte oder mehrere solcher Geschichten, ja sogar Weltgeschichten. Man muss noch mehr machen, versuchen, ein Problem zu formulieren, das vermutlich jedes Mal in immer neu­en, das heißt unvorhersehbaren und trotzdem vom ganzen Ge­denken und Verleugnen, von allen Traumatismen früherer poli­tischer Erfahrungen umgetriebenen Formen vor den Untertanen des Gesetzes, die wir alle sind, aufgetreten ist, sobald dieses Ge­setz nicht ausreichend vorschreibt, was gerecht oder legitim ist,

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oder es auf widersprüchliche Weise anzeigt. Das ist offenkundig in Extremsituationen, Notfallsituationen und in Situationen der Fall, in denen die Gemeinschaft sich spaltet, aber womöglich auch in sehr banalen, sehr alltäglichen Situationen. Womöglich immer

oder sobald das Gesetz wirklich das Leben der Menschen zum Ge­genstand hat, ihre Würde, ihre Grundrechte auf Existenz, Aufent­halt, Bewegungsfreiheit, Arbeit, Bildung, Glaubensfreiheit, Mei­nungsfreiheit . . .

Was wäre also dieses immer neu sich stellende und immer wiederkehrende Problem? In unserer »westlichen<<, heute globa­lisierten Tradition würde ich sagen, es ist das Problem der bürger­lichen Tugend, und dabei greife ich absichtlich auf eine Sprache zurück, die auf die antiken Ursprünge des Staates in der »Polis<< oder der »Gemeinschaft von Bürgern<< [communaute civique] zu­rückgeht. Der Begriff Tugend ist dabei natürlich in einem star­ken, aktiven und kollektiven Sinne zu verstehen. Es handelt sich nicht um das, was ein Individuum tun muss, um als »guter Bür­ger<< zu gelten, wenn es zum Beispiel alle seine Pflichten erfüllt und sich keine Unannehmlichkeiten einhandelt, sondern darum, was ein Bürger kann, besser noch: was Individuen können, um kollektiv Bürger zu werden und zu bleiben, das heißt, was sie ma­chen, damit die Gemeinschaften, zu denen sie gehören (heute sind es mehrere: die Nation, Europa, vielleicht noch andere), wirklich politisch sind. Es handelt sich also um das aktive, wo­möglich konfliktgeladene, sicherlich problematische Verhältnis des Bürgers zur Macht und zu den Gewalten, insbesondere zur Macht der Gesetze und der Institutionen, die auf sie gegründet sind (wie das Militär, die Polizei, die Justiz, die Schule . . . ), inso­fern diese Macht nichts ist, was uns äußerlich wäre, etwas, das uns fertig gegenübersteht, etwas, das wir erleiden, was wir nicht zu erörtern (höchstens in regelmäßigen Abständen durch die Teilnahme an Wahlen zu erneuern) hätten, sondern etwas, das wir konstituieren, zu dessen Entstehung, Formung und Verände­rung wir beitragen, entweder weil wir es ausüben bzw. auf die eine oder andere Weise ein Bruchstück davon ausüben oder weil

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wir es gelten lassen, weil wir ihm gehorchen (es gibt ziemlich viele Arten des Gehorchens) oder auch nur weil wir ihm widerstehen bzw. weil wir ihm die Stirn bieten. Etwas, für das wir in diesem Sinne immer verantwortlich sind. Das ist ganz alltäglich, ich wie­derhole es: Sogar die Jungs in den brennenden Pariser Vororten vom November 2005, die wie »Abschaum<< [racailles] behandelt wurden und sich selbst umgekehrt als »Schaumab<< [cailleras] be­zeichneten, waren in ein dialektisches Verhältnis zur Macht und zum Gesetz verstrickt, sie waren - willentlich oder nicht, aus freien Stücken oder nicht, nachhaltig oder nicht - Teil einer be­stimmten Reproduktion der Macht des Gesetzes.5 Sie haben eine Verantwortung ausgeübt - bzw. haben vielleicht erst nachträglich gemerkt, dass sie eine ausgeübt haben.

Aber natürlich wird das, was bei diesem internen Verhältnis

der Staatsbürgerschaft zur Macht des Gesetzes und zum rechtli­chen Ausdruck der Machtstrukturen auf dem Spiel steht, deutli­cher unter dramatischeren Umständen, die man gewöhnlich »historisch<< nennt; dann zerbirst die Frage der bürgerlichen Tu­gend und Verantwortung in Dilemmata, für die es keine vorge­fertigte Lösung gibt und die dazu verpflichten, andere Formen von Staatsbürgerschaft als die kodifizierte und normalisierte zu (er-)finden. Deshalb habe ich in der Ankündigung dieses Vor­trags, die vielleicht einige von Ihnen gelesen haben, eine Verbin­dung der Namen »Widerstand«, »Aufstand<<, »Ungehorsam<< -jeweils als Modalitäten des kritischen, negativen Verhältnisses des Bürgers zum Gesetz und zur Macht verstanden - mit symbo­lischen Ereignissen unserer jüngeren Nationalgeschichte von gestern und vorgestern vorgeschlagen, von denen es unter uns

5 Das Verlan [frz. Jugendsprache, in der die Silben wie eben in >>racailles« und >>cailleras<< meist nach phonetischen Gesichtspunkten vertauscht wer­den] ist wie eine Allegorie dessen, was ich an anderer Stelle >> performative Umkehrung des Namens der Rasse<< genannt habe (>>Capovolgimenti perfor­mativi del nome razza e dilemma delle vittime<<, in: Iride, XIX, Nr. 49, Bolo­gna, Il Mulino, September-Dezember 2006). Vgl. auch Etienne Balibar, >>Up­risings in the Banlieues<<, französische Fassung in: Lignes, Nr. 21 , November 2006, und in: La Proposition de l'Egaliberte, Paris, PUF, 2010, S. 28 1-315 .

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(und in diesem Hof, da bin ich mir sicher) noch lebende Zeugen gibt.6 Ich habe mich auf Texte und emblematische Werke von Rene Char und von Camus in der Resistance, von Sartre und von Maurice Blanchot (Unterzeichner des Manifestes der 121), von Michel Foucault und von Godard als Interpreten des friedlichen Aufstands vom Mai 68 berufen, um nahezulegen, dass sich die Staatsbürgerschaft dabei jedes Mal mit der Frage konfrontiert sah, wer sie konstituiert, und in der mehr oder weniger langen, mehr oder weniger riskanten, weder ihres Sinnes noch ihrer Ergebnisse jemals sicheren Erfahrung der Anfechtung des Gesetzes ihre »Tu­gend« erweisen musste - einer Anfechtung, die im Grunde auch ihre eigene Neugründung oder Transformation war und ihr in­ternes Verhältnis zur Macht eben gerade unter Beweis stellte.

* * *

Halten wir zunächst einmal inne oder versuchen wir vielmehr, auf der Basis dessen, was gerade gesagt worden ist, weiterzukom­men. All das ist vielleicht etwas abstrakt: die Singularität und Mehrdeutigkeit von neuen historischen Situationen, die nach dem Modell vergangeuer Erfahrungen verstanden werden, die bürgerliche Tugend und das problematische Verhältnis, das sie zur Macht und damit zum Gesetz unterhält, die kritische Figur des verantwortungsbewussten Bürgers, der vom Widerstand zum Ungehorsam übergeht . . . Worauf steuern wir also zu, wenn nicht auf eine kaum veränderte Wiederaufnahme der klassischen Idee des Bürgers gegen die Macht, deren große Stunde schlug, nach­dem sie 1926 von Alain als Parole für den radikalen und pazifisti-

6 »Die Weigerung, den Befehlen der Macht zu gehorchen, hat sich in der Geschichte des zeitgenössischen Frankreichs mehrmals im Denken und Schreiben niedergeschlagen: Char, Camus und die Resistance, Blanchot, Sartre und das Recht aufUngehorsam in Algerien, Foucault, Godard und der Aufstand vom Mai 68 . . . Diese Begegnungen haben Bewunderung und Ab­scheu hervorgerufen und gehören heute fast zum Mythos. Wir werden ver­suchen zu sagen, was ihre Einzigartigkeit ausmacht, aber auch - wer weiß ? -, was ihnen noch eine Zukunft sichert.«

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sehen Republikanismus ausgegeben worden war/ oder der der angelsächsischen und insbesondere amerikanischen Verfas­sungstradition näheren Idee, der zufolge der Kern der Demokra­tie in der Existenz von Gegenmächten liegt, die die Allmacht des Staates beschränken und deren äußerste Quelle in der Fähigkeit der Bürger zum zivilen Ungehorsam liegt, die so ihrer grundle­genden Unabhängigkeit Ausdruck verleihen (self-reliance in der Terminologie von Thoreau und seinen Nachfolgern) ?8

Nur wenn man nicht aufhalbem Wege stehenbleibt, liegt darin etwas Wahres. Ich würde so weit gehen zu sagen, dass es sich um eine Art verlorenen Schatz des Anarchismus handelt, den man wiederzufinden und neu zu erfinden wissen muss, um dem in der Idee der »aktiven« Staatsbürgerschaft enthaltenen paradoxen Ele­ment seine volle Bedeutung zu verleihen. Der aktive Bürger ist demnach nicht der, der durch sein Gehorchen die Rechtsordnung oder das System der Institutionen sanktioniert, denen er selbst di­rekt oder indirekt durch einen ausdrücklichen oder stillschwei­genden »Vertrag« Rechtmäßigkeit verliehen hat, indem er sich an den repräsentativen Verfahren beteiligt hat, die in der Abtretung von Macht münden. Sondern er ist seinem Wesen nach ein Rebell, der Nein sagt oder zumindest die Möglichkeit dazu hat (wenn er aber diese Möglichkeit niemals ausübt, fallen wir zurück auf die Abtretung von Macht, die »passive« Staatsbürgerschaft, die rein theoretisch unter Rückgriff auf die Souveränität der Basis, auf deren absolute, aber fiktive Macht gerechtfertigt ist). Darin be­steht das Paradox der politischen Staatsbürgerschaft Um auf eine Weise, die tatsächliche Macht zum Ausdruck bringt, Ja sagen zu können, muss man gelegentlich und womöglich regelmäßig Nein sagen. Um an der Polis teilnehmen zu können und nicht bloß als Name in einem Familienstandsregister zu stehen, muss man sich

7 Alain (Emile Chartier), Le Citoyen contre les pouvoirs, 1926, (elektronische Fassung: (http:/ I classiques. uqac.ca/ classiques/ Alain/ citoyen_ contre_les_pou­voirs/citoyen_contre_pouvoirs.html)). 8 Vgl. Sandra Laugier, »Le modele americain de la desobeissance civile, de Thoreau a nos jours«, in: Multitudes, Nr. 24, Frühjahr 2006.

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daraus zurückziehen können oder besser noch eine alternative Kraft verkörpern, notfalls mit Gewalt und wenn möglich gewalt­los, jedenfalls durch Opposition und Dissidenz. Man muss eine Gegen-Polis oder Gegenmacht einsetzen, die zunächst in den Augen der legitimen Macht illegitim ist, welche schlicht zum Ei­gentum derjenigen geworden ist, die sie ausüben, oder zum Aus­druck einer Regierungs- oder Verwaltungsroutine.

Dieser logischen Notwendigkeit kann man auch die Form ei­ner gesetzmäßigen Teilung inmitten des politischen Körpers ge­ben, mit allen Risiken, die das für ihn bereithält: Wenn einige, die zunächst niemals die Gesamtheit der Bürger sind und am Anfang sogar nur eine winzige Minorität sein dürfen, obwohl sie objektiv im allgemeinen Interesse handeln, es nicht auf sich nehmen, zu opponieren und die Funktion des Dissidenten auszuüben, dann gibt es nur passive Bürger und schließlich überhaupt keine Bür­ger mehr, sondern nur noch mehr oder weniger teilnehmende, mehr oder weniger leicht »regierbare« Verwaltungsbürger oder Untertanen der Macht. Die demokratische Staatsbürgerschaft ist also konfliktgeladen oder sie ist nicht. Aber das heißt auch, dass die demokratische Staatsbürgerschaft - wie die revolutionären Episoden par excellence veranschaulichen - ein bestimmtes in­trinsisches Verhältnis zum tatsächlichen oder möglichen Tod aufweist. Um sich als Gemeinschaft von Bürgern zu retten bzw. am Leben zu bleiben, muss sich die Polis in Konfrontation mit ihren eigenen Mitgliedern dem Risiko der Zerstörung oder der Anarchie aussetzen, wovor nichts sie bewahren kann, vor allem nicht die Kriminalisierung der Dissidenz oder der Versuch, in je­der Befehlsverweigerung aus Gewissensgründen gleich Verrat zu wittern. Diese Notwendigkeit erscheint umso größer, je massiver und bürokratischer der Machtapparat ist oder - was häufig damit Hand in Hand geht - je größer die sozialen Ungleichheiten öko­nomischer, kultureller oder ethnischer Art beim Zugang zu den verschiedenen Staatsorganen sind, was auf die Behauptung hi­nausläuft, dass bestimmte majoritäre oder minoritäre Klassen sich die Politik zu eigen machen, sie »privatisieren« und sie in

diesem Sinne zerstören. Gegen diesen vorprogrammierten Tod der Politik, den man mit allen möglichen Ersatznamen versehen kann - früher sprach man von Verwaltung, heute spricht man von Governance -, gibt es zwar Behelfsmittel, die sich Volksbe­fragungen nennen, Wiederaufnahmeverfahren, Rechte der Op­position und der Minoritäten usw. Aber letztendlich, ich wieder­hole es, bleibt nur die Fähigkeit, einer anderen Art »Tod« die Stirn zu bieten, das heißt der reale Konflikt und die Teilung der Polis in sich selbst, verwirklicht im Recht auf Ungehorsam - ein Recht, das nicht bewilligt wird, sich aber auf eigenes Risiko und eigene Gefahr seiner Inhaber nehmen oder ausüben lässt und das genau aus diesem Grund das eigentliche Recht auf Rechte, gewis­sermaßen das Recht des Rechts ist.

Die politische Philosophie hat, das muss man schon sagen, die­ses Paradox, von dem die demokratische Staatsbürgerschaft lebt, ebenso wenig überwunden wie die Rechtswissenschaft. Sie haben es aber auch nicht vollständig verhehlen oder neutralisieren kön­nen. Die Staatsbürgerschaft oder der Staat als Gemeinschaft der Bürger ist sicherlich keine Anarchie im etymologischen Sinne ei­ner Suspendierung der Autoritäten, angefangen mit der Autorität des Gesetzes. Es ist leicht sich vorzustellen, wie eine Gesellschaft ohne öffentliche Autorität aussehen würde oder eine, in der das Recht der Institutionen, das Handeln der Bürger durch Gewalt, Bildung, Interesse, Gewohnheit und Regeln zu steuern, dauerhaft ausgesetzt wäre. Und wem es schwerfällt, sich das vorzustellen, kann ein Auge auf die Beispiele dieser Erschütterung von Gesetz und Ordnung werfen, die im Wechsel mit deren Missbrauch überall auf der Welt anzutreffen sind. Wer nicht glaubt, dass der Mensch von Natur aus gut ist oder dass seine Handlungen durch eine wundersame Fügung mit dem Allgemeininteresse konver­gieren, hätte es - und hat es zuweilen - mit einer selbstzerstö­rerischen, selbstimmunisierenden, wie Jacques Derrida sagt,9

9 Jacques Derrida, Voyous. Deux essais sur Ia raison, Paris, Galih�e, 2003 [ dt.: Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt/M., Suhrkamp, 2003] .

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Maschinerie zu tun. Tatsächlich kann die Demarkationslinie zwischen Staat und Anarchie nicht im Voraus ein für alle Mal ge­zogen werden, und manchmal neigen sie sogar dazu, die Rollen zu tauschen. Womöglich deshalb bezichtigt der Staat die individu­ellen und kollektiven Ungehorsamsbekundungen, die ihn vor sei­ner eigenen Degenerierung bewahren wollen, der Anarchie oder gegebenenfalls des Verrats. Verräter die Widerstandskämpfer, die sich der Besatzung und der neuen, durch den europäischen Fa­schismus auferlegten Ordnung widersetzen, Anarchisten und Ver­räter die Befehlsverweigerer und Deserteure, die den Widerspruch zwischen Entkolonialisierungsdiskurs und kolonisierender Pra­xis aufbrachen, zwischen der Verkündung von Menschenrechten und rassistischer Gewalt, Anarchisten die Aufständischen und Streikenden vom Mai 68, die den Ermessensspielraum der Regie­rung und die archaischen Autoritätsstrukturen in der Familie, den Universitäten oder den Unternehmen in Frage stellten.

Wenn aber die politische Philosophie das Paradox nicht »auf­lösen« bzw. den Widerspruch nicht aus der Welt schaffen konn­te - weil das in Wirklichkeit auf die Abschaffung des demokrati­schen Horizonts selbst hinausgelaufen wäre -, so hat sie doch umgekehrt nie aufgehört, über dieses Paradox nachzudenken, es zu verschieben, neue Ausdrucksmöglichkeiten für es zu suchen, durchaus auch literarische. Ich erinnere an ein schönes und tief­gehendes, aber auch verwirrendes Beispiel, das uns aus einer fer­nen Epoche überliefert ist, in der die Bedingungen der politi­schen Tätigkeit zwar sicherlich ziemlich anders waren als das, womit wir es heute zu tun haben, da es sich um die griechische Polis handelt. Aber das, was darin zum Ausdruck kommt, hat als eine Art Frage oder Herausforderung gleichwohl die Zeiten überdauert.

In einem berühmten Abschnitt seiner Historien10 hat Herodot, den man häufig >>Vater der Geschichte« nennt, Schüler der So-

10 Herodot, Historien, Buch Ill, 80-84, in: Historien, Erster Band, griech.­dt., Zürich, Artemis, 5· Auf!. 1995 , S. 435 -443. Man lese auch den Kommen­tar von Emmanuel Terray, La Politique dans Ia caverne, Paris, Seuil, 1990.

phisten, die das demokratische Denken begründeten, Freund von Sophokles und Perikles, allegorisch eine Debatte inszeniert, die nach dem Tod von König Kambyses und dem Scheitern einer

Palastrevolution am Hof von Persien unter den Thronanwärtern stattgefunden haben soll, von denen jeder zu einer Lobrede auf

eines der gängigen politischen Systeme anhebt - Monarchie, Aristokratie und Demokratie -, das einzuführen er vorhat, wenn seine Kandidatur Anklang findet. Der Terminus, den wir mit

>>Demokratie« wiedergeben, griechisch isonomia, häufig mit >>Gleichheit vor dem Gesetz« übersetzt, entspricht dem, was die moderne westliche Tradition mit dem Doppel >>Freiheit und

Gleichheit« verbindet, gleiche Freiheit (aequa libertas) oder so­gar, in einem einzigen Wort, Gleichfreiheit, wie ich einmal vorge­schlagen habe.11 Erstaunlich an dieser fiktiven Erzählung ist, dass der Grieche Herodot diese Debatte bei den Orientalen, dem per­sischen Erbfeind, stattfinden lässt: Eine solche Inszenierung er­zeugt einen Verfremdungs- oder Distanzierungseffekt, sicherlich um den zumindest dem Prinzip nach universellen Charakter der gestellten Frage kenntlich zu machen, was dem Standpunkt der Sophisten entsprach. Doch die historische Wirklichkeit fordert ihr Recht, und die Versammlung der Notabeln verwirft den de­mokratischen Vorschlag und bringt Darius an die Macht, der >>König der Könige<< wird und die Perserkriege führt. Als er auf seine Ansprüche verzichtet, stellt der demokratische Prinz, dem Herodot den Namen Otanes gibt, jedoch eine bemerkenswerte Forderung, die gewissermaßen den Rest des aufgegebenen demo-

1 1 Etienne Balibar, >>La Proposition de l'Egalibertt�«, Conferences du Perro­quet, Nr. 22, November 1989. Eine andere Fassung desselben Vortrags ist un­ter dem Titel >> Droits de l'homme et droits du citoyen: la dialectique moderne de !' egalite et de la liberte« in Les Frontieres de Ia democratie, Paris, La Decou­verte, 1992 erschienen [dt. unter dem Titel >>>Menschenrechte< und >Bürger­rechte<. Zur modernen Dialektik von Gleichheit und Freiheit« gekürzt in: Die Grenzen der Demokratie, Hamburg, Argument, 1993, und in: Christoph Menke I Francesca Raimondi (Hrsg.), Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, Berlin, Suhrkamp, 201 1] . Siehe Kapitel l in diesem Band.

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kratischen Projekts bildet. Er verlangt, dass er und seine Nach­kommen in den Genuss des Rechtes kommen, niemandem zu ge­horchen, und verzichtet dabei seinerseits darauf, Befehle zu geben: »ich will weder herrschen noch dienen« (oute gar archein oute archesthai ethelo ) . Die Interpretation dieses Abschnitts ist si­cherlich nicht einfach. Die Tatsache, dass diese Forderung eigent­lich ein Privileg darstellt, und zwar sogar ein vererb bares, was im Widerspruch zu dem Egalitarismus steht, den Otanes anführt, und dass sie ins Spiel kommt, nachdem das demokratische Prin­zip zugunsten des monarchischen Prinzips verworfen worden ist, könnte nahelegen, dass sie eine Grenze repräsentiert, an der die Idee einer verabsolutierten Staatsbürgerschaft mit der Abschaf­fung jeglicher sowohl erlittener wie ausgeübter Autorität zusam­menfallt, und so ihre intrinsische Unmöglichkeit verrät und sich letztendlich selbst disqualifiziert. Aber man kann das auch um­gekehrt lesen: An diesem Grenzpunkt zeigt sich die Unnachgie­bigkeit der Forderung nach Gleichheit und Freiheit der Bürger, deren Gespenst alle autoritären und nicht egalitären Regime von dem Moment an heimsucht, wo sie sich nicht mehr allein auf das Kräfteverhältnis stützen können. Diese Heimsuchung wird durch die Widerstände, Akte des Ungehorsams und Aufstände immer wieder neu entfacht, die das Streben nach Demokratie wiederbeleben bzw. das demokratische Prinzip neu erfinden. Und die Spur dieser Äußerung und ihrer seltsamen Inszenierung kann man erstaunlicherweise durch die ganze Geschichte der po­litischen Ideen hindurch verfolgen - in Großbuchstaben oder kleingeschrieben. Sie findet sich in der Argumentation von La Boeties Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft, Contr'Un. Sie findet sich angedeutet, als ein Spinoza das Angebot, Universi­tätsprofessor zu werden, mit der Erklärung ablehnt, dass die phi­losophische Haltung darin bestehe, für sich selber zu denken und im Übrigen davon abzusehen, anderen Menschen Denkmodelle aufzuzwingen.12 Sie wird ausdrücklich bei Rousseau erwähnt

12 Brief an Rektor Fabricius, 30. März 1673.

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werden, 13 aber sie findet sich schon bei Machiavelli, der in seinen Erörterungen über Titus Livius erklärt, dass das Wesen einer freien Regierungsform darin bestehe, dass die Masse des Volkes - die, die er die »kleinen Leute« oder die » Bedürftigen« nennt - weniger um

ihrer selbst willen nach Machtausübung strebt oder um sie den Großen und Mächtigen zu entziehen, als vielmehr aus »Furcht, unterdrückt zu werden«, das heißt, um Widerstand gegen die Macht zu leisten und möglicherweise Institutionen und eine Ge­setzgebung einzusetzen, die Gegenmächte legitimieren, die Mög­lichkeit zum Widerstand maximieren und in gewisser Weise die Fähigkeit zum Ungehorsam von einer destruktiven Kraft in eine schöpferische, konstruktive politische Tugend verwandeln. 14

Und es ist immer noch, wobei wir einige Zwischenstationen überspringen, dieses an-archische bzw. für die Konstituierung

13 Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (1755 ), Anmerkung I: »Herodot erzählt, daß nach der Ermordung des falschen Smerdis, als sich die Sieben Befreier von Persien versammelt hatten, um über die Regierungsform zu beraten, die sie dem Staat geben soll­ten, Otanes sich nachdrücklich für die Republik aussprach: eine um so au­ßerordentlichere Ansicht aus dem Munde eines Satrapen, als - vom An­spruch, den er auf das Reich erheben konnte, einmal abgesehen - die Großen eine Regierungsart, welche sie zwingt, die Menschen zu achten, mehr fürch­ten als den Tod. Otanes fand, wie man sich leicht denken kann, kein Gehör, und da er sah, daß man im Begriff war, zur Wahl eines Monarchen zu schrei­ten, trat er, der weder gehorchen noch befehlen wollte, sein Recht auf die Krone freiwillig an die anderen Mitbewerber ab und verlangte als einzige Entschädigung, daß er und seine Nachkommenschaft frei und unabhängig wären, was man ihm zubilligte. Wenn Herodot uns über die Einschränkung, die diesem Privileg hinzugefügt wurde, nicht unterrichtete, müßte man sie notwendigerweise voraussetzen; andernfalls wäre Otanes, da er keinerlei Ge­setz anerkannt und niemandem Rechenschaft abzulegen gehabt hätte, im Staat allmächtig gewesen und mächtiger als der König selbst. Aber es bestand kaum die Wahrscheinlichkeit, daß ein Mann, fahig, sich in einem derartigen Fall mit solch einem Privileg zu begnügen, fahig sein würde, es zu mißbrau­chen. In der Tat vermag man nicht zu sehen, daß dieses Recht jemals die ge­ringste Mißhelligkeit im Königreich verursacht hätte, weder durch den wei­sen Otanes noch durch irgendeinen seiner Nachkommen.« (Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, Paderborn, Schöningh, 1984, 6. Aufl. 2008, S. 196) 14 Machiavelli, Discorsi, Erstes Buch, Kap. 4-5 .

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von Macht paradoxerweise unverzichtbare Prinzip von Nicht­Macht, ohne das die Macht sich nicht von Unterdrückung unter­scheiden bzw. unvermeidlich darin zurückfallen würde, das sich bei einem Philosophen unserer Tage wie Jacques Ranciere fin­

den lässt, wenn er über die Gründe für den »Hass der Demo­kratie<< nachdenkt, der in unseren Gesellschaften und in den Dis­kursen unserer Regierenden oder Intellektuellen regelmäßig hochkommt, und über die Mittel, ihm die Stirn zu bieten. 15 Nicht nur ist die Demokratie eine immer wieder neu zu unternehmen­de Anstrengung, diejenigen in den politischen Raum miteinzu­beziehen, die vorher davon ausgeschlossen waren, nach Ran­cieres inzwischen berühmt gewordenen Worten den »Anteil der Anteilslosen<< zu gewährleisten, sondern man muss auch sagen, dass es in Wirklichkeit keinen Staat gibt, der für sich genommen bzw. allein durch seine institutionelle Form demokratisch wäre. Alle Staaten sind, allerdings zu sehr ungleichen Graden (die ich keineswegs zu verwischen gedenke), oligarchisch und autoritär, auf Klassen- oder Sachverständigenprivilegien gegründet, die meistens unter einer populistischen oder demagogischen Rheto­rik verborgen liegen - das heißt auf den Anspruch der Regieren­den, »laut auszusprechen, was das Volk denkt<<, bzw. es besser zu verstehen, als es sich selbst versteht. Was es dagegen gibt oder im­mer wieder von neuem geben kann und was aus der Staatsbür­gerschaft nicht nur eine Idee oder einen formalen Status macht, sondern eine gemeinsame Tätigkeit der Mitglieder der Polis, sind Kämpfe für die Demokratisierung, Widerstände gegen die Macht, die die Macht zur Kenntnis nehmen und berücksichtigen muss, um ihre Legitimität zurückzugewinnen, mehr oder weniger auf­ständische, aber nicht notwendigerweise gewalttätige Umvertei­lungs- oder Machtaufteilungsprozesse, insbesondere der Macht bzw. Möglichkeit, sich auszudrücken, seine Meinung zu sagen und seine eigenen Interessen zu vertreten. An diesem Punkt

1 5 J. Ranciere, La mesentente, Paris, Galilee, 1995 [dt.: Das Unvernehmen, Frankfurt/M., Suhrkamp, 2002]; La haine de Ia democratie, Paris, La fabri­que, 2005 [dt.: Der Hass der Demokratie, Berlin, August Verlag, 201 1 ] .

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taucht die anarchische Figur des beliebigen Menschen wieder auf, der nicht mehr, aber auch nicht weniger ist als ein Bürger unter anderen im radikal egalitären Sinne des Wortes und als solcher nicht befehlen und auch nicht gehorchen möchte. Deshalb stehen einfache, ja sogar sehr einfache Ideen im Zentrum von Rancieres Vorschlägen zum Widerstand gegen die Aneignung und die Ent­eignung der Macht, von denen viele nur insofern utopisch er­scheinen, als sie die strukturelle Trägheit der Institutionen, die tief verwurzelte Eindeutigkeit der sozialen Kräfteverhältnisse in Frage stellen: wie rotierende Verantwortlichkeiten, das Verbot von deren Anhäufung und die Auslosung der Regierenden. Es ist sicherlich kein Zufall, dass derartige Ideen in den meisten der großen Momente des Volkswiderstands oder demokratischen Aufstands eine bedeutende Rolle gespielt haben, auf die ich ange­spielt habe, als ich zu Beginn über die Geschichte Frankreichs und anderer Länder sprach.

* * *

An dieser Stelle möchte ich ein zweites Mal innehalten. Ausge­gangen bin ich von der Untersuchung des historischen Konflikts zwischen der Ordnung des Gesetzes und der Gewalt der Kräfte­verhältnisse, der von den Institutionen immer wieder aufgefan­gen wird, sich aber in je nach Lage der Dinge singulären Formen

immer wieder neu Bahn bricht und den wir uns - als Bürger -nicht aussuchen, sondern der über uns kommt wie eine Katastro­phe oder eine Gelegenheit, die man ergreifen kann. Ich habe Ih­nen nahegelegt, dass man diese Untersuchung radikalisieren und mit einem minoritären, aber durchaus nicht zu verachtenden Teil der politischen Philosophie zu der Frage gelangen muss, ob das Prinzip einer authentisch freien und egalitären Staatsbürger­schaft, das sich zumindest teilweise in den geregelten Funktions­ablauf eines Staates oder einer Gesellschaft übersetzen können lassen muss, nicht paradoxerweise in der Verankerung und Be­wahrung einer sich verweigernden Gegenmacht, einer Kraft zur Anarchie oder zum Aufstand inmitten der staatsbürgerlichen

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»Tugend« liegt. Und ich bin zu der Feststellung gelangt, dass sich die politische Körperschaft unter diesen Bedingungen zumindest in regelmäßigen Abständen dem Risiko ihres eigenen Todes aus­setzen muss bzw. ihres Zerfalls durch das Aufbrechen des Kon­senses und die Berufung auf das Recht gegen das Recht. Diese gefährliche Nähe von Institution und Anarchie, die die Instituti­on mit allen denkbaren Mitteln vermeiden will und die eine be­stimmte positivistische Definition des Gesetzes für a priori un­denkbar und entsetzlich erklärt (»das Gesetz ist das Gesetz«, sagt sie), wird bemerkenswerterweise ebenso von den unversöhnli­chen Gegnern der Demokratie anerkannt - sie sehen darin den Zerfall der Autorität gären, woraus früher oder später unver­meidlicherweise Tyrannei und Unterjochung in brutaleren For­men denn je folgen werden - wie von ihren Verfechtern - nach einer bestimmten radikalen Tradition, für die im Grunde hier zwei Formen der Anarchie zur Wahl stehen, die sich den Staat streitig machen: die eine steht für die Unabhängigkeit und Krea­tivität der Bürger, die andere für institutionelle Zufälligkeit und freiwillige Knechtschaft. Doch in meinen beiden Interpretations­versuchen der positiven Bedeutung des Bandes der negativen oder scheinbar negativen Kontinuität zwischen den einzelnen Episoden des Widerstands, Aufstands und Ungehorsams spielt anscheinend noch ein dritter, in den betreffenden Diskussionen andeutungsweise immer präsenter Terminus eine Rolle, ohne den sie keinen Sinn haben. Weder symbolischen noch histori­schen, noch politischen Sinn und daher unmittelbarer Streitge­genstand in der Praxis. Dieser dritte Term ist die Gemeinschaft. Oder besser gesagt: die »Gemeinschaft der Bürger«16 - aber eine

16 Dominique Schnapper hat die republikanische Konzeption dieses Be­griffs schön dargestellt: La Communaute des citoyens. Sur l'idee moderne de nation, Paris, Gallimard, 1994; ich habe das in >>Une citoyennete sans com­munaute ? « in: Etienne Balibar, Nous citoyens d'Europe? Les frontieres, l'Btat, le peuple, Paris, La Decouverte, 2001, S. 93-126, diskutiert [dt.: >>Eine Bürger­schaft ohne Gemeinschaft?<<, in: Etienne Balibar, Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen, Hamburg, Hamburger Edition, 2003, S. 101-140] .

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solche Formulierung ist redundant, denn die Idee der Staatsbür­

gerschaft selbst enthält schon die Vorstellung von gemeinsamen Taten und Verantwortlichkeiten, von gemeinschaftlich eingegan­genen wechselseitigen Rechten und Pflichten, die das Individu­um an sich binden und es dazu bringen, sein Privatinteresse in Richtung auf das Allgemeininteresse zu überwinden. Wenn wir die Praktiken des Widerstands, die Errungenschaften der Auf­

stände, die Risiken des Ungehorsams als äußerste Lebensgrund­lage der dem Tode oder der Anarchie in den verschiedenen Be­deutungen dieses Wortes ausgesetzten Institutionen, wenn wir all dies nicht an eine bestimmte Konzeption von politischer Ge­meinschaft und an Ziele koppeln, die diese Letztere anstrebt, ha­ben wir nur Paradoxien aufgezählt und ein Denken des Politi­schen nicht einmal angerissen.

Zum Abschluss werde ich mich daher mit Ihnen wieder jener Frage zuwenden, die vielleicht die schwierigste von allen ist. Ich

werde sie nur streifen, aber ich würde folgende allgemeine Idee vertreten: So wie sie geltend gemacht wird und sich am Horizont von Akten des Widerstands und Ungehorsams abzeichnet, ist die politische Gemeinschaft nicht gegeben, sondern muss immer weiter an-kommen oder erfunden werden; sie ist nicht vollstän­dig oder selbstgenügsam, sondern unvollendet, konfliktträchtig, dem Eindringen des Anderen ausgesetzt, das sie benötigt, um sich zu konstituieren, das sie aber in den meisten Fällen dennoch in Unruhe versetzt und ihre Identität in Frage stellt. Wenn ich diese beiden, einander ergänzenden Merkmale in einem einzigen Ausdruck zusammenfasse, den ich von dem Philosophen Gilles Deleuze übernehme, würde ich sagen, dass die Gemeinschaft der Bürger - was er selbst auch das Volk nennt - ihrem Wesen nach »fehlt«.17 Insbesondere in seinem großen Buch über das Kino hat

Deleuze diese Idee des »fehlenden Volkes« entwickelt, die zur

17 V gl. Gilles Deleuze I Claire Parnet, Dialogues, Paris, Flammarion, >>Champs<<, 1996 (1. Aufl. 1977), S. 1 5 lf. [dt.: Dialoge, Frankfurt/M., Suhr­kamp, 1980, S. 140 ff.] . Über die Politik von Deleuze vgl. Fran<;ois Zourabich-

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Dichtung, zur Erfindung von Sprachen, Erzählungen und kollek­tiven Vorstellungen anregt, die im Werden begriffen sind, zur Su­che nach einer Identität, die auf dem Gefühl des Intolerablen gründet und einen Ausweg anbietet, wofür die »minoritäre Lite­ratur« eines aus seiner eigenen Sprache vertriebenen und in ihr fremden Schriftstellers wie Kafka ebenso als Beispiel dient wie die Entwicklung des Dritte-Welt-Kinos (Glauber Rocha, Sem­bene Ousmane), das vom einhelligen Lob nationaler Aufstände bis zur Darstellung vielfaltiger Geschichten, heterogener Identi­täten und explosiver Kombinationen von Archaismen und Mo­dernismen reicht, die die Realität dessen ausmachen, was wir Kultur eines Volkes oder einer Nation nennen.18 Und wenn man genau darüber nachdenkt, gilt dies nicht nur für die Dritte Welt oder für das, was sich einst so nannte, sondern für alle Kulturen -sogar für die so genannten »herrschenden<<. Bekanntlich bereiten heutzutage alle Begriffe, die sich auf die Gemeinschaft der Bürger und ihre eigentliche Identität beziehen, überall auf der Welt Pro­bleme und zwingen dazu, ihre Geschichte zu überdenken. Ge­nauso verhält es sich mit dem Anteil, den Mythos und Realität an der Idee einer Souveränität des Volkes als Grundlage der Institu­tionen der Gemeinschaft haben. Und genauso verhält es sich mit der Frage, ob das Volk, von dem wir hier sprechen, eine »Nation<< ist, ob also die politische Staatsbürgerschaft als solche eine natio­nale Staatsbürgerschaft, ein Recht der Nationalität ist und was geschehen würde, wenn die Nation, wie einige befürchten und andere triumphierend verkünden, aus irgendeinem Grund eben gerade »fehlen<< oder allmählich ihren politischen Charakter ver­lieren würde. Aber vielleicht findet sie paradoxerweise gerade in der Anerkennung dessen, was ihr konstitutiv fehlt oder ihre Voll-

vili, »Deleuze et le possible (de l'involontarisme en politique)«, in: Eric Alliez (Hrsg.), Gilles Deleuze. Une vie philosophique, Paris, Institut Synthelabo, coll. >>Les empecheurs de penser en rond«, 1988, S. 3 3 5 -3 57. 18 Über das "fehlende Volk<<, vgl. Gilles Deleuze, Cinema 2, I..:image-temps, Paris, Minuit, 1985, S. 28If. [dt.: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/M., Suhr­kamp, 1997, S. 278ff.] .

endung, Exklusivität, Selbstgenügsamkeit verhindert, die Fähig­keit, als politischer Körper zu handeln und zu existieren. Diese offenen Fragen bilden den Horizont des Versuches, den ich hier unternehme, um der Idee einer »Gemeinschaft der Bürger« als >>fehlender Gemeinschaft« einen positiven Gehalt zu geben, in­dem ich mir das Wort, dessen sich Deleuze bedient hat, und eini­ge seiner Vorschläge zu eigen mache.

Der Frage, die ich stellen möchte, liegt zunächst die ganz eigen­tümliche und womöglich verräterische Form zugrunde, in der das, was man allgemein den konstruktiven Ungehorsam gegen­über dem Gesetz nennen könnte, das Verhältnis des Individu­ums zum Kollektiv bestimmt, wodurch die individuelle Verant­wortung mit der Solidarität, der Waffenbrüderschaft oder dem Gemeinschafts- und Zugehörigkeitsgefühl verknüpft wird. Vom Leben in der Gemeinschaft ist weder eine vollständige Absorbie­rung in der Gruppe noch eine Vereinzelung des Individuums in einer den persönlichen Nutzen kalkulierenden Konkurrenzbe­ziehung zu erwarten. Widerstand ist per definitionem kollektiv, er hat nur Sinn, wenn er sich potenziell auf alle erstreckt, darauf abzielt, dass sich die Gemeinschaft anschließt und sich neu kon­stituiert. Darin bestand die Antriebskraft und der Opfergeist der Widerstandskämpfer gegen die Nazi-Besatzung im besetzten Frankreich, und man würde dasselbe in allen vergleichbaren Si­tuationen feststellen. Doch im Moment der Entscheidung, des Risikos zu irren, das es in dem Wissen eingeht, dass alle den Preis dafür zahlen müssten (vielleicht das größte Risiko von allen), ist

das Subjekt mit sich allein. Und jeder auch noch so geringe Wi­derstand enthält eine solche Entscheidung. Es soll nicht theatra­lisch oder pathetisch klingen, wenn ich hier an die großen Ver­weigerungsformein erinnere, die sowohl eine Gewissheit zum Ausdruck bringen, eine Notwendigkeit konstatieren als auch eine Entschlossenheit verraten, die auch nicht hätte sein, die hätte aufweichen oder gebrochen werden können, dies aber nicht tat oder wurde. Zum Beispiel der Ausspruch von Luther in Witten­

berg: Hier stehe ich, ich kann nicht anders*, mit anderen Worten:

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Ich kann mir nicht helfen, ich werde mich nicht von dem Punkt wegbewegen, den ich als Grenze dessen festgesetzt habe, was ich für mich und für euch ohne Erniedrigung akzeptieren kann. Blanchot bezieht sich auf diese Formel, als er die Bedeutung des Wortes Ungehorsam bzw. »Dienstpflichtverweigerung« erklärt, das, wie er sagt, den gesamten Inhalt der auch unter dem Namen »Manifest der 121« bekannten »Declaration sur le droit a l'insou­mission dans la Guerre d' Algerie« [Erklärung des Rechts auf Dienstpflichtverweigerung im Algerienkrieg] zusammenfasst, deren Hauptverfasser er gewesen war. 19

Hier bleiben die Dinge jedoch nicht stehen, denn woher nimmt das Subjekt die Fähigkeit oder Kraft, gegen etwas zu opponieren, anstatt es hinzunehmen, und eine Grenze gegenüber dem Uner­träglichen festzusetzen ? Auf dieser Ebene treffen wir abermals auf ein Kollektiv oder jedenfalls etwas Transindividuelles, ein Ge­dächtnis und Unbewusstes, das dem zugrunde liegt, was von der privatesten, ureigensten Subjektivität herzurühren scheint. Die Fähigkeit zum Widerstand gegen erlittene Ungerechtigkeit und gegenüber dem Intolerablen, das man um sich herum feststellt, hat bekanntlich ihren Ursprung in den Verwurzelungen, aber auch den Entwurzelungen, im emotionalen Festhalten an, aber auch der intellektuellen Gewissheit der scientia intuitiva (Rene Char hat gesagt, es sei poetische Notwendigkeit, und Cavailles hat gesagt, es sei mathematische Notwendigkeit) . Aber in jedem Fall ist sie von Überlieferungen und Hinterlassenschaften - mit oder ohne »Testament« - nicht zu trennen. Am Maximum seiner Autonomie, seiner Subjektivierungsfähigkeit, liegt dem Individu­um weiterhin Gemeinsames, wenn nicht Kommunitäres oder Ge­meinschaftliches zugrunde, das Widerstand leistet, auch wenn

19 Vgl. Maurice Blanchot, Ecrits politiques 1958-1993, Paris, Lignes-Edi­tions Leo Scheer, 2003, S. 3 5 [dt.: Politische Schriften 1958-1993, Zürich I Ber­lin, diaphanes, 2007, S. 45 ] . (Luther wiederholte seinerseits das non possumus der Apostel. V gl. meinen Essay >>Blanchot l'insoumis«, Akte(n) des Kolloqui­ums >>Maurice Blanchot<<, Cerisy-la-Salle, Juli 2007, in: Christophe Bident (Hrsg.), Blanchot dans son siecle, Lyon, Sens public-Parangon I Vs, 2009).

dieses Gemeinsame unteilbar und in den meisten Fällen nicht auf die Einfachheit eines Namens, eines einzigen Systems von Bezie­hungen und Zugehörigkeiten reduzierbar ist. Vielleicht hatte Spi­noza das im Blick, als e r, wiederum Deleuze zufolge, die Indivi­dualität nicht als »Punkt« charakterisierte, sondern als ein bestimmtes Minimum an unbeschränkten Sozialbeziehungen, eine Fähigkeit, zu handeln und zu erleiden bzw. andere zu affizieren und von ihnen affiziert zu werden.20

Dies alles scheint zunächst nur die Vergangenheit zu betreffen oder, wenn man so will, den Ursprung, die Quelle, die Wurzeln der Fähigkeit zum Widerstand gegen Unterdrückung oder Unge­rechtigkeit, und die »Identitäts«-Diskurse neigen weiterhin dazu, die Dinge in diesen buchstäblich »rückläufigen« Rahmen zu zwängen. Aber in Wirklichkeit ist die Gemeinschaft, aus der der Widerstand des Individuums hervorgeht, seine Fähigkeit zur Un­terwanderung der bestehenden Ordnung oder Unordnung, nie­mals allein eine gegebene Gemeinschaft, eine mit einem Namen (wie »französisch« oder »deutsch«, »jüdisch<< oder »palästinen­sisch<<) versehene, zu bewahrende oder wiederherzustellende Zu­gehörigkeit. Sie ist immer auch und mehr noch eine kommende Gemeinschaft, die es zu erfinden und durchzusetzen gilt. Mit all seinen Widersprüchen, seiner »Innen<<- und »Außen<<-Abteilung, seinen potenziell konkurrierenden politischen Strömungen, sei­ner unentwirrbaren Mischung aus Nationalismus und Antifa­schismus inmitten desselben Patriotismus ist der französische Widerstand ein eklatantes Beispiel dafür. Das »Frankreich<< sei­ner Projektionen, das er mit universeller Bedeutung versah, war keine rein historische Nation, keine bedrohte kollektive Identität, die gegen das Fremde verteidigt werden musste. Sondern es war ein anderes, bis dahin »fehlendes<<, noch zu erfindendes Frank-

20 Gilles Deleuze, Spinoza et le problerne de l'expression, Paris, Minuit, 1969, S. 184f., 201 ff. [dt.: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philoso­phie, München, Fink, 1993, S. 178f., 194ff.] ; im Ausgang von einer Neulek­türe Spinozas hat Fran<;oise Proust die ontologische und ethische Frage des Widerstands ausführlich erörtert: De Ia n!sistance, Paris, Cerf, 1997.

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reich, auf das man sich gegen die Ungerechtigkeiten und die Nie­dertracht des vorherigen eben gerade berufen konnte und das denselben Namen trug. Selbst um den Preis eines Stücks Illusion und Mythos knüpft der Widerstand damit an die Geschichte der Aufstände an, die die Republik konstituierten und in Sachen Staatsbürgerschaft per definitionem nichts verschonen und alles neu erschaffen mussten. Was danach daraus wurde, ist eine ande­re Angelegenheit . . .

Aber diese Beschreibung ist noch unvollständig. Sie lässt den zweiten Aspekt dessen, was ich >>fehlende Gemeinschaft« ge­nannt habe, im Dunkeln: dass sie sich nämlich nicht hinreichend und sogar absolut nicht allein durch ihr Verhältnis zu sich selbst definieren lässt, sondern nur durch die Berücksichtigung des An­deren und des Rechts des Anderen. Und an dieser Stelle erlangen der Protest gegen die koloniale Unterdrückung und der Ungehor­sam, zu dem er (in Wirklichkeit in vielfältigen Formen) geführt hat, in der Geschichte unseres Landes zweifellos eine besondere Bedeutung: desto heftiger haben sich nämlich die Befreiungs­kämpfe der kolonialisierten Völker über Jahrzehnte fortgesetzt und manchmal barbarische Formen angenommen zu einem Großteil aufgrund der Art und Weise, wie die Ideale oder Emanzi­pationsgrundsätze der Resistance von den Regierungen der Libe­ration sofort wieder >>vergessen« worden waren (die Massaker von Setif und Madagaskar, die Bombardierung von Hai Phong und al­les, was dann kam, legen Zeugnis davon ab). Und was wiederum jeweils aus der kolonialen Unabhängigkeit wurde, ist noch eine andere Geschichte, in der die Infamie nicht ausbleibt, wie Achille Mbembe schreibt. Im >>Manifest der 121« von 1960 und den Kommentaren, mit denen seine Verfasser es versehen haben, bestätigt sich, dass eine Bewegung der Unbeugsamkeit gegen­über der Macht oder des Ungehorsams gegenüber dem Gesetz vielleicht zum ersten Mal nicht die Rechte derer geltend gemacht hatte, die der Bewegung angehörten, und nicht durch den Protest gegen die Ungerechtigkeit motiviert war, die sie selbst erlitten hatten, sondern durch - wie dreißig Jahre später wiederum

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Jacques Ranciere in einem sehr schönen Aufsatz über die Beson­derheit des französisch-algerischen Verhältnisses und die Bedeu­tung der algerischen Geschichte für die französische Politik er­neut sagen wird - die Sache der Anderen?1

Offen gestanden lassen sich, wie immer, Vorläufer dieser Idee eines Protests oder Widerstands gegen eine Ungerechtigkeit fin­den, die ein Anderer erlitten hat, insbesondere gegen die Unge­rechtigkeit, die ihm in meinem Namen in unserem Namen ange­tan wird und mit der wir nicht länger in Verbindung gebracht werden wollen, was zwischen ihm und mir, >>ihnen<< und >>uns« eben gerade eine bis dahin fehlende, aber von nun an unabweis­bare politische Gemeinschaft schafft. Einem alten internationa­listischeil Grundsatz zufolge kann ein Volk, das ein anderes unterdrückt, selbst kein freies Volk sein, was ein Band zu den emanzipatorischen Aufständen und ihrem kosmopolitischen Horizont herstellte. Aber genau genommen bezieht diese For­mulierung das Motiv des Ungehorsams immer noch auf sich bzw. auf eine gegebene Zugehörigkeit und verringert eben dadurch die Bedeutung der Dezentrierung, des Übergangs zur Alterität, der Einbeziehung eines Teils des Anderen als solchen in die De­finition der politischen Identität. Sie läuft Gefahr, die entschei­dende Tatsache zu verhehlen - die mit den Widerstandsbewe­gungen gegen die Imperial- und Kolonialkriege aufgetreten bzw. wieder aufgetreten ist und über deren eigentliches Vorhanden­sein hinaus insbesondere durch die Bewegungen zur Verteidi­gung der Rechte von verfolgten oder diskriminierten Ausländern und Immigranten fortgesetzt wurde -, dass die Staatsbürger­schaft, deren Institutionen es hier auf die Gefahr eines Konflikts mit einigen bereits bestehenden Maßnahmen und legalen For­men hin zu konstruieren gilt, sich nicht mehr als ausschließliche, exklusive Zugehörigkeit oder vorbehaltlicher Status definieren lässt, sondern allein als eine - ich suche nach Worten - Mit-Bür-

21 Vgl. Jacques Ranciere, >>La cause de l'autre<<, in: Algerie-France: Regards croises, Lignes, Nr. 30, Februar 1997.

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gerschaft [con-citoyennete] oder Ko-Bürgerschaft [co-citoyennete], eine grenzüberschreitende Gemeinschaft von Mit-Bürgern. Was auch erklären würde - aber dafür bräuchte es einen weiteren Vortrag - , warum das Verhältnis eines solchen Ungehorsams im Sinne einer Befehlsverweigerung zur Idee der Souveränität so komplex, mehrdeutig geworden ist und diese bis an die Grenzen ihrer Geltung treibt. Indem er das Risiko der Beteuerung eines Ausnahmezustands eingeht, um seinen Ungehorsam zu rechtfer­tigen (ich habe einmal den Ausdruck »demokratischer Ausnah­mezustand« verwendet)22 - ein Risiko, das man gemeinschaftlich eingeht, das aber immer in der Verantwortung eines »beliebigen« Individuums liegt -, stellt sich der Befehlsverweigerer, der die ak­tive Staatsbürgerschaft verkörpern möchte, nämlich einerseits »souverän« über das Gesetz bzw. genauer gesagt neben es: In Er­wartung von dessen Korrektur und grundsätzlicher Neubegrün­dung nimmt er sich davon aus. Andererseits jedoch - und wir fänden darin jene sehr tiefgehende Idee einer Macht wieder, die eine Nicht-Macht bzw. nicht Gegenstand eines Monopols, einer Aneignung, ist und die wir in der Rede von Otanes oder in Ma­chiavellis Konzeption der Republik wahrgenommen haben -wird die Gleichsetzung von Gemeinschaftszugehörigkeit und Souveränitätsanspruch selbst hier zerschlagen oder zumindest relativiert.

* * *

Nun habe ich aber wirklich genug geredet, es ist mehr als Zeit, den rechtmäßigen Besetzern dieser Bühne das Wort zu erteilen, von denen wir heute Abend Texte des Widerstandsdichters hören und sehen werden, die in Zeiten des Ungehorsams und des Risi­kos geschrieben wurden. Ich tue das, indem auch ich Rene Char zitiere: »Die Freiheit ist alsdann die Leere, eine Leere verzweif-

22 Etienne Balibar, >>Etat d'urgence democratique<<, Artikel vom 19. Februar 1997, unter dem Titel >>Sur Ia desobeissance civique<< wiederabgedruckt in: ders., Droit de cite, La Tour d'Aigues, Editions de l'Aube, 1998, S. 17-22.

25 2

lungsvoll zu verrechnen. Nachher, ihr teuren eingemauerten Eminenzen, ist es der starke Geruch eurer Auflösung. Wie könn­te er euch überraschen?« Das ist aus Auf ein trocken gebautes Haus.23

23 Frz. >>Contre une maison seche<<, frz.-dt. in: Akzente, 29. Jg., Heft 4, August 1982, S. 290-299, hier S. 291.

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Namenregister

(Kursiv gesetzte Seitenzahlen verweisen auf die Fußnoten des Textes)

Abensour, Miguel u, 19, 67 Agamben, Giorgio 58f., 215 Alain, Emile Chartier 234f. Alaux, Jean-Pierre 226 Alliez, Eric 246 Althusser, Louis 32, 42, 152, 201 Altvater, Elmar 32 Antelmes, Robert 226 Arendt, Hannah 7, 1 1 , 14, 29 f.,

148, 173> 183, 201, 204, 215 Aristoteles 13 , 23 , 29, 90, 95, 182 Ascaride, Ariane 226 Bacon, Fancis 179 Badiou, Alan 171 Baecque, Antoine de 86 Balibar, Renee 70 f Basterra, Gabriella 1 1 Baudrillard, J ean s 8 Bazard, Saint-Amand 147 Beaud, Olivier 209 Beck, Ulrich 70 Benn, Tony 183 Benveniste, Emile 22 f Berlin, Isaiah 12 7 Bernstein, Eduard 47 Bident, Christophe 248 Bigo, Didier 59 Binoche Betrand 75, 171 Blair, Tony 70 Blanchot, Maurice 1 54, 215 , 234,

248 Bloch, Ernst 81 Boetie, Etienne de La 58, 240 Bordes, Jacqueline 12 Bosniak, Linda 12 Bouretz, Pierre 92 Bredin, Jean-Denis 78 Brown, Wendy 15 , 49, 51-53 , 5 5-58,

61

Brunhoff, Suzanne de 38, 61 Burbank, Jane 221 Callinicos, Alex 172 Caloz-Tschopp, Marie-Claire 29,

69 Camus, Albert 234 Capdevila, Nestor 213 Castel, Robert 34f., 40, 43, 53, 6o,

12lf., 135 , 164 f., 167, 169, 187, 193, 196

Chakrabarty, Dipesh 223 Char, Rene 225, 234, 248, 252 Chatterjee, Partha 33 Cheng, Anne 21 Cicero, Marcus Tullius 16, 2 14 Clero, Jean-Pierre 171 Clinton, Bi11 7o Cohen, Gerald A. 139 Colliot-The!i;ne, Catherine 10, 28,

2 5 5

45, 121 Comte, Auguste 193 Constant, Benjamin 76 Cooper, Frederick 221 Coriat, Benjamin 42 Costa, Pietro 12 Crosland, Anthony 36, 209 Da! Lago, Alessandro 69 David-Menard, Monique 212 de Sousa Santos, Boaventura 28, 32,

54, 71 Debray, Regis 63 Deleuze, Gilles 26, 32, 59, 68, 71,

2 16, 245-247, 249 Delphy, Christine 38 Dench, Emma 221 Derrida, Jacques 61 , 121, 14of.,

153 L 154, 156, 158-163, 215 , 237 Deschaumes, Gishlaine Glasson 11 Devereux, Georges 219

Page 129: Etienne Balibar, Gleichfreiheit

Duprat, Gerard 28 Durkheim, Emile 41, 43, 166, 193 Duroux, Fran<;:oise llS Duso, Guiseppe 64 Elias, Norbert 214 Enfantin, Barthelemy Prosper 147 Engels, Friedrich 14, 127 Esposito, Roberto 61 Fichte, Johann Gottlieb 9, 81, 84,

137, 179 Fisbach, Frederic 225, 227 Foessel, Michael 59 Foucault, Michel 37, 41, 48, 5 1, 53 ,

57, 59/, 68, 148, 184, 198, 200, 20� 212f, 216, 218f, 234

Fraisse, Genevieve 38, 188 Fraser, Nancy 194 Freud, Sigmund 57, 212, 214, 222 Friedmann, Georges 152 Friedman, Milton 127 Friese, Heidrun 69 Fukuyama, Francis 54 Gaille-Nikodimov, Marie 27 Garapon, Antoine 59 Gauchet, Marcel 24, So, 8sf Gaulle, Charles de 225, 229 Gauthier, Florence 81, 83 Gehlen, Arnold 54 Gendrot, Sophie Body 61 Godard, Jean-Luc 222, 234 Goldschmidt, Victor 142j Gramsci, Antonio 3 0, 62, 76,

195 Granjon, Marie-Christine 59 Guattari, Felix 68 Guineret, Herve 121, 187 Guizot, Fran<;:ois 28, 175 Habermas, Jürgen 186, 207 Halperin, Sandra 45 Hanlon, Christopher 54 Hardt, Michael s8 Haroche, Claudine 187 Harrington, James 123 Harvey, David 49 Haug, Wolfgang Fritz 10 Hayek, Friedrich August von 37, 61

Hege!, Georg Wilhelm Friedrich 13, 27, 37, 54, 134, 1 5of., 160, 166, 178, 180, 193, 211

Heidegger, Martin 6o, 132, 158f. Herodot 220, 238f., 241 Herrera, Calros M. 209 Hobbes, Thomas 22, 6sf., 122-124,

13 1-133 , l39f., 142 Holston, James 67 Honneth, Axel 194 Hugo, Victor 105 Hume, David 27 Ivekovic, Rada 11 Jameson, Fredric 182 Jouanjan, Olivier 209 Kafka, Pranz 246 Kallscheuer, Otto 32 Kant, Immanuel 76, 78, 136, 1 57,

179> 185, 213, 216 Karsenti, Bruno 193 Kelsen, Hans 28, 39 Keynes, John Maynard 40, 42, 200 Laclau, Ernesto 7, 62 Larrere, Catherine 14 3 Lasch, Christopher 63 Laugier, Sandra 235 Laugstien, Thomas 10 Lefort, Claude 23f., 92, 177, 195 Legrand, Stephane 41 Lemke, Thomas 51, 61 Lenin, Wladimir Iljitsch 119 Linhart, Robert 42 Locke, John 3 0, 81, 8 3 f., 121- 124,

131 -140, 143> 145> 147-149> 1 5 1, 153 > 1 57> 161-163, 166f., 185, 187, 207, 210f., 213

Lordan, Frederic 56 Luther, Martin 127, 247f. Lyotard, Jean-Fran<;:ois 62 Machiavelli, Nicolo 27, so, 195,

228, 241, 252 Macpherson, Crawford Brough

121-131, 138, 140, 158, 164, 187 Magnette, Paul 12 Maitland, Frederic W. 183 Manchev, Boyan 1 1

Mann, Michael 62 Marat, Jean-Paul 76 Marcuse, Herbert 57 Marrou, Henri-Irenee 225 Marshal, Thomas Humphrey 35,

191, 197 Marx, Karl 1 3 f., 30, 32, 38, 40, 44,

48, 54, s6f., 67, 81, 91, 1 06, 1 17, 126f., 129, 134, 136, 138-141, 146-1 54, 166-168, 173> 175> 178-180, 198, 201 f., 204, 208, 210f., 213

Mbembe, Achille 250 Menke, Christoph 10, 21, 72, 79,

186, 239 Merck, Mandy 11 Mezzadra, Sandro 35, 69, 191 Michea, Jean-Claude so Michel, Natacha 171 Michelet, Jules 105 Michels, Robert 30 Milanese, Arnaud 121, 187 Milner, Jean Claude 1 1 1 Montesquieu, Charles-Louis 27 Montaigne, Michel de 27 Moore, Stanley 44 Mortati, Costantino 27 Mouffe, Chantal 12, 20 Nancy, Jean-Luc 19-21 , 79, 1 01 , 186 Naville, Pierre 152 Negri, Antonio 37, 40, 42, 58, 69,

125, 129, 140, 152, 202, 214 Nicolet, Claude 21, 91 Nozick, Robert 122, 127, 139, 176,

203, 206 Ogilvie, Bertrand 67, 121, 202 Ousmane, Semene 246 Paine, Thomas 63, 183 Parnet, Claire 245 Pateman, Carole 139 Peguy, Charles 228 Perildes 239 Piccinini, Mario 183 Piketty, Thomas 38 Platon 135 Pocock, John Greville Agard 125,

128, 186

Polanyi, Karl 129, 197 Poulantzas, Nicos 7, 195 Proudhon, Pierre-Joseph 175 Proust, Fran-;:ois 249 Raimondi, Francesca 10, u, 72, 79,

186, 239 Ramaux, Christophe 196 Ranciere, Jacques 1 1, 13, 17, 19, 28,

48, 63 , 1 13 , 180, 215, 242f., 251 Raulet, Gerard 178 Rawls, John 9, 11, 127, 202 Reagan, Ronald 49 Renault, Emmanuel so Ricceur, Paul 163 Riesenberg, Peter 23 Robatel, Nathalie 189 Robespierre, Maximilieu de 8 1 Rocha, Glauber 246 Rosanvallon, Pierre 28, 37, 64, 165 Ross, Kristin 41 Rousseau, Jean-Jacque 83, 140-145,

1 5 1 , 153 , 163, 169, 178, 1Ss f., 207, 210, 213, 220, 240f

Ruge, Arnold 91 Saint-Just, Antoine de 76 Sala-Molins, Louis 190 Samaddar, Ranabi 33 Sardinha, Diogo 200 Sarkozy, Nicolas 227 Sartre, Jean-Paul 234 Sassoon, Donald 3 6, 167, 197 Schmale, Wolfgang 86 Schnapper, Dominique 12, 213, 244 Schumpeter, Joseph 28 Schwartz, Olivier 1 14 Schwartz, Yves 152 Segal, Naomi 1 1 Sen, Amartya 38, 175, 202-204,

257

210f., 248 Sintomer, Yves 65 Smith, Adam 149, 185, 187, 210 Smith, Rogers M. 12 Sokrates 135 Somers, Margaret 29, 35, 55, 191 Sophokles 239 Spencer, Herbert 18 3

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Spinoza, Baruch de 13 , 66, 87, 108, 1 12, 129f, 140, 203, 240, 249

Starobinski, Jean 144 Stourzh, Gerald 47, 174 Terray, Emmanuel 238 Terre, Fran<;:ois 78 Thatcher, Margaret 49 Thomas, Pascal 226 Thompson, Edward Palmer 81, 180 Thoreau, Henry David 235 Tocqueville, Alexis de 55, 92, 122,

213 Tronti, Mario 42

Tully, James 136 Vincent, Jean-Marie 152 Vovelle, Michel 81, 86 Wachsmann, Patrick 209 Wagner, Peter 69 Waldron, Jeremy 135 Wallerstein, Immanuel 17, 53, 1 81 Waquant, Lok 50 Weber, Max 19, 24, 28, 48, 1 26f. Wolf, Frieder Otto 9, 172, 183 Yinde, Zhang 21 Yolton, John 1 62 Zourabichvili, Fran<;:ois 245!

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