Europas künftige Rentenkluft; Europe’s Looming Pension Divide;

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Wirtschaftsdienst 2014 | 5 364 Analysen und Berichte Rentenpolitik dererseits die von der Krise stark betroffenen „GIIPS- Länder“ (Griechenland, Irland, Italien, Portugal, Spa- nien). Mit Ausnahme von Irland werden letztere häufig auch vereinfachend als „Südländer“ tituliert. Auf der Ba- sis dieser Zahlen lässt sich eine vereinfachte Aussage über die Nachhaltigkeit der Rentensysteme treffen. Es ließe sich etwa das Renteneintrittsalter konstant setzen und daraus der Rentnerquotient ermitteln. Zur Beurtei- lung der Politikimplikationen erscheint es jedoch sinn- voller, das Renteneintrittsalter als endogene Variable zu behandeln. Wir betrachten daher verschiedene Szena- rien mit jeweils gleichen und konstanten Rentnerquoti- enten für alle Länder. Das jeweils erforderliche Renten- eintrittsalter ergibt sich dann aus der (sich im Zeitverlauf ändernden) Altersverteilung der Bevölkerung, also der demografischen Struktur. Natürlich können in einem umlagefinanzierten Renten- system neben dem Renteneintrittsalter z.B. auch die Rentenhöhe (relativ zum Einkommen) und der Beitrags- satz angepasst werden, um die Finanzierung zu sichern. Den grundsätzlichen Einfluss der demografischen Struktur auf die Nachhaltigkeit des Rentensystems ändert dies jedoch nicht. Wir arbeiten daher unter der zusätzlichen vereinfachenden Annahme einer konstan- ten Rentenhöhe in Relation zum jeweiligen Einkommen. Diese Annahme scheint für eine kurze fokussierte Un- tersuchung auch deshalb sinnvoll, weil sie dem politisch gewollten Prinzip entspricht, dass die Rentenhöhe nicht unbegrenzt sinken soll. Es handelt sich langfristig also um eine weitere Nachhaltigkeitsbedingung. Ebenso abstrahieren wir von Unterschieden und län- gerfristigen Änderungen der jeweiligen Beschäfti- gungsquoten. Zum einen steht dahinter die theore- tische Überlegung, dass eine langfristige Erhöhung (Verringerung) der Beschäftigungsquote lediglich ei- ne mittelfristige Verbesserung (Verschlechterung) der Neben dem allgemeinen und trendmäßigen Anstieg der Lebenserwartung (der heutigen und künftigen Rentner) trägt hauptsächlich die Geburtenentwicklung zur Form der Bevölkerungspyramide (bzw. oft eher in Form einer Zwiebel) bei. Bekanntlich hat Deutschland aus diesem Grund weltweit eine der ungünstigsten demografischen Entwicklungen überhaupt. Insofern ist es eine quantita- tiv etwas komplexere Frage, in welchem Ausmaß (bzw. sogar in welche Richtung) sich die Renteneintrittsal- tersgrenzen in den verschiedenen Ländern bewegen sollten, um die Nachhaltigkeit ihrer (umlagefinanzierten) Rentensysteme sicherzustellen. Für die Untersuchung dieser Frage greifen wir auf Daten der Vereinten Nationen (UN) zurück. Die UN Population Division erstellt Prognosen für die Bevölkerungsstruk- tur bis weit in die Zukunft (Datenstand 2012 bis ins Jahr 2100). 1 Wir betrachten hier die für dieses Thema wich- tigsten Länder der Eurozone: Einerseits Deutschland und Frankreich als deren größte Volkswirtschaften, an- 1 United Nations Department of Economic and Social Affairs: Popula- tion Division: World Population Prospects: The 2012 Revision, Juni 2013. Sven Schreiber, Hubert Beyerle Europas künftige Rentenkluft Spätestens mit der Euro-Staatsschuldenkrise ab 2010 ist das Renteneintrittsalter zum europäischen Thema geworden. Mindestens implizit vorausgesetzt wird dabei, dass vor allem die südlichen EU-Länder aufgrund der Krise auch in diesem Politikfeld unter Handlungsdruck stehen. Von deutscher Seite aus werden häufig die eigenen Rentenreformen der vergangenen Dekade(n) als Vorbild für den Rest der EU angeführt. Die Autoren zeigen jedoch auf, dass hierbei die Unterschiede in den demografischen Strukturen der einzelnen Mitgliedsländer entweder übersehen oder zu Unrecht vernachlässigt werden. PD Dr. Sven Schreiber ist Referatsleiter am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf und Gast- professor an der Freien Universität Berlin. Hubert Beyerle, Dipl.-Volkswirt, ist Journalist und Geschäftsführer von Energy Profiler in Berlin. DOI: 10.1007/s10273-014-1680-z

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dererseits die von der Krise stark betroffenen „GIIPS-Länder“ (Griechenland, Irland, Italien, Portugal, Spa-nien). Mit Ausnahme von Irland werden letztere häufi g auch vereinfachend als „Südländer“ tituliert. Auf der Ba-sis dieser Zahlen lässt sich eine vereinfachte Aussage über die Nachhaltigkeit der Rentensysteme treffen. Es ließe sich etwa das Renteneintrittsalter konstant setzen und daraus der Rentnerquotient ermitteln. Zur Beurtei-lung der Politikimplikationen erscheint es jedoch sinn-voller, das Renteneintrittsalter als endogene Variable zu behandeln. Wir betrachten daher verschiedene Szena-rien mit jeweils gleichen und konstanten Rentnerquoti-enten für alle Länder. Das jeweils erforderliche Renten-eintrittsalter ergibt sich dann aus der (sich im Zeitverlauf ändernden) Altersverteilung der Bevölkerung, also der demografi schen Struktur.

Natürlich können in einem umlagefi nanzierten Renten-system neben dem Renteneintrittsalter z.B. auch die Rentenhöhe (relativ zum Einkommen) und der Beitrags-satz angepasst werden, um die Finanzierung zu sichern. Den grundsätzlichen Einfl uss der demografi schen Struktur auf die Nachhaltigkeit des Rentensystems ändert dies jedoch nicht. Wir arbeiten daher unter der zusätzlichen vereinfachenden Annahme einer konstan-ten Rentenhöhe in Relation zum jeweiligen Einkommen. Diese Annahme scheint für eine kurze fokussierte Un-tersuchung auch deshalb sinnvoll, weil sie dem politisch gewollten Prinzip entspricht, dass die Rentenhöhe nicht unbegrenzt sinken soll. Es handelt sich langfristig also um eine weitere Nachhaltigkeitsbedingung.

Ebenso abstrahieren wir von Unterschieden und län-gerfristigen Änderungen der jeweiligen Beschäfti-gungsquoten. Zum einen steht dahinter die theore-tische Überlegung, dass eine langfristige Erhöhung (Verringerung) der Beschäftigungsquote lediglich ei-ne mittelfristige Verbesserung (Verschlechterung) der

Neben dem allgemeinen und trendmäßigen Anstieg der Lebenserwartung (der heutigen und künftigen Rentner) trägt hauptsächlich die Geburtenentwicklung zur Form der Bevölkerungspyramide (bzw. oft eher in Form einer Zwiebel) bei. Bekanntlich hat Deutschland aus diesem Grund weltweit eine der ungünstigsten demografi schen Entwicklungen überhaupt. Insofern ist es eine quantita-tiv etwas komplexere Frage, in welchem Ausmaß (bzw. sogar in welche Richtung) sich die Renteneintrittsal-tersgrenzen in den verschiedenen Ländern bewegen sollten, um die Nachhaltigkeit ihrer (umlagefi nanzierten) Rentensysteme sicherzustellen.

Für die Untersuchung dieser Frage greifen wir auf Daten der Vereinten Nationen (UN) zurück. Die UN Population Division erstellt Prognosen für die Bevölkerungsstruk-tur bis weit in die Zukunft (Datenstand 2012 bis ins Jahr 2100).1 Wir betrachten hier die für dieses Thema wich-tigsten Länder der Eurozone: Einerseits Deutschland und Frankreich als deren größte Volkswirtschaften, an-

1 United Nations Department of Economic and Social Affairs: Popula-tion Division: World Population Prospects: The 2012 Revision, Juni 2013.

Sven Schreiber, Hubert Beyerle

Europas künftige RentenkluftSpätestens mit der Euro-Staatsschuldenkrise ab 2010 ist das Renteneintrittsalter zum europäischen Thema geworden. Mindestens implizit vorausgesetzt wird dabei, dass vor allem die südlichen EU-Länder aufgrund der Krise auch in diesem Politikfeld unter Handlungsdruck stehen. Von deutscher Seite aus werden häufi g die eigenen Rentenreformen der vergangenen Dekade(n) als Vorbild für den Rest der EU angeführt. Die Autoren zeigen jedoch auf, dass hierbei die Unterschiede in den demografi schen Strukturen der einzelnen Mitgliedsländer entweder übersehen oder zu Unrecht vernachlässigt werden.

PD Dr. Sven Schreiber ist Referatsleiter am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf und Gast-professor an der Freien Universität Berlin.

Hubert Beyerle, Dipl.-Volkswirt, ist Journalist und Geschäftsführer von Energy Profi ler in Berlin.

DOI: 10.1007/s10273-014-1680-z

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Gesamtbevölkerung ist R/(R+A) = 1/(1+(1/r)). Wir set-zen idealtypische Bedingungen voraus, abstrahieren entsprechend von nicht Arbeitenden im arbeitsfähigen Alter (also Arbeitslosigkeit und stiller Reserve), sowie umgekehrt von weiter beschäftigten Rentnern. Weiter wird angenommen, dass alle Menschen ab dem Alter von 15 Jahren beschäftigt sind. Zudem ignorieren wir alternative, private Altersversorgungssysteme, und wir unterscheiden nicht zwischen Männern und Frauen. Migrationsströme sind in dem Maße automatisch be-rücksichtigt, soweit sie sich in den UN-Prognosen wi-derspiegeln.

Diese Annahmen sind zum Teil offenkundig unrealis-tisch, ändern aber nichts am Kern der Aussage. Eine Berücksichtigung von durchschnittlichen Werten von Arbeitslosigkeits- oder Beschäftigungsquoten wäre im Prinzip möglich. Für die Fokussierung auf die demogra-fi schen Aspekte allerdings ist es durchaus hilfreich, un-terschiedliche Arbeitsmarktstrukturen zu unterschla-gen. Üblicherweise wird in langfristigen wirtschaftspo-litischen Analysen und Empfehlungen für Europa z.B. nicht davon ausgegangen, dass sich die langfristige Performance (bei Befolgung der Empfehlungen) sys-tematisch zwischen den Ländern unterscheiden wird. Dagegen wird die Demografi e zwar nicht als völlig un-abänderlich angesehen, aber doch am ehesten als nur sehr begrenzt und langsam veränderbar hingenommen.

Unter diesen Gegebenheiten suchen wir für eine gege-bene (bzw. von der UN prognostizierte) Altersverteilung der Bevölkerung zu einem bestimmten Zeitpunkt ge-rade jene Altersschwelle, die die Gesamtbevölkerung R+A so in Rentner R und Arbeitsbevölkerung A aufteilt, dass ein vorgegebener Wert der Rentnerquote r er-reicht wird. Statistisch gesprochen suchen wir also das 1/(1+(1/r))-Quantil der Altersverteilung. Diese Renten-eintrittsalter vergleichen wir dann über die Länder und über die Zeit hinweg. Als Szenarien betrachten wir vier Werte für diesen so defi nierten Rentnerquotienten r im Bereich zwischen 0,3 und 0,6. Außerhalb dieses Spek-trums ergeben sich meist unplausible Werte für das Renteneintrittsalter. Damit soll nicht gesagt sein, dass Werte außerhalb dieses Spektrums nicht denkbar sind, aber sie sind (auch politisch gesehen) unwahrschein-lich. Tatsächlich liegt der Rentnerquotient beispielswei-se in Deutschland derzeit bereits bei knapp 0,31.4 Diese Rentnerquotienten lassen sich bei endogenem Renten-eintrittsalter als Indikator für die „Generosität“ des Ren-tensystems interpretieren. Eine Gesellschaft mit einem

4 Laut OECD Labour Force Statistics gab es 2012 rund 53,9 Mio. 15- bis 64-jährige Einwohner in Deutschland, bei rund 16,7 Mio. Menschen ab 65 Jahren.

Rentnerquote bedeutet. Denn langfristig wird jeder zu-sätzliche Beschäftigte später zum zusätzlichen Rentner mit entsprechenden Ansprüchen, soweit die zusätzlich Beschäftigten überhaupt sozialversichert sind.2 Eine trendmäßige demografi sche Verschiebung kann also durch eine Niveauanpassung der Beschäftigungsquo-ten nicht dauerhaft kompensiert werden. Zum anderen waren zumindest vor Ausbruch der Krise die um Teilzei-teffekte bereinigten Beschäftigungsquoten in fünf der betrachteten Länder praktisch identisch; nur Italien lag deutlich darunter, während Portugal die übrigen Länder übertraf.3

Unsere Berechnungen zeigen, dass das unter diesen Bedingungen notwendige Renteneintrittsalter in allen von uns betrachteten EU-Ländern steigt – allerdings mit deutlich unterschiedlicher Geschwindigkeit. Zu-dem liegt das für eine nachhaltige Rentenfi nanzierung notwendige Renteneintrittsalter in Deutschland in den kommenden Jahrzehnten teilweise deutlich höher als in anderen Ländern der Eurozone, insbesondere Frank-reich (und ausgenommen Italien). Das notwendige Ver-rentungsalter steigt grob gesprochen bis 2040, dann sinkt es oder bleibt konstant. Der von verschiedenen Institutionen postulierte Handlungsdruck auf die süd-lichen und westlichen EU-Staaten ist also zumindest übertrieben, da er sich nicht allein am Vergleich mit dem deutschen Renteneintrittsalter festmachen lässt. Die bereits angedeutete Tatsache, dass etwaige Refor-men der Umlagesysteme nicht zwingend am Renten-eintrittsalter ansetzen müssen, sondern dass prinzipiell alle Parameter zur Verfügung stehen, bleibt unberührt.

Operationalisierung und Szenarien

Den Rentnerquotienten r defi nieren wir als Verhältnis von Rentnern R zu (potenziell) Beschäftigten, der Ar-beitsbevölkerung („working-age population“) A, somit r = R/A. Ein Wert r = 0,5 bedeutet also, dass einem Altersrentner zwei Personen im arbeitsfähigen Alter gegenüberstehen, und der Anteil der Rentner an der

2 Natürlich spielen andere Sozialtransfers wie z.B. eine Altersgrundsi-cherung, die mit höheren Beschäftigungsquoten tendenziell einfacher zu fi nanzieren sind, hierbei ebenfalls eine Rolle. Wir beschränken uns hier aber bewusst auf die Betrachtung einer typisierten beitragsfi nan-zierten Rentenversicherung im Umlageverfahren und können nicht das gesamte Steuer- und Transfersystem der jeweiligen Länder be-rücksichtigen.

3 So im 2. Quartal 2008: Deutschland 59,6%, Frankreich 60,2%, Grie-chenland 60,5%, Irland 61,5%, Spanien 60,8%; deutlich darüber lag Portugal mit 65,4%, darunter Italien mit 55,0%. Quelle: eigene Be-rechnungen mit Eurostat-Daten (Labour Force Survey), bezüglich der Bevölkerung zwischen 15 und 64 Jahren.

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Ergebnisse

Insgesamt am deutlichsten wird der Einfl uss der unter-schiedlichen demografi schen Strukturen am Verhältnis zwischen Deutschland und Irland (vgl. Abbildung 1): Bei einer Ziel-Rentnerquote von r = 0,5 etwa beträgt der Unterschied in den implizierten Renteneintrittsal-tern im Jahr 2030 fast acht Jahre (knapp 65 gegenüber 57), wobei sich der Abstand bis 2050 auf ca. fünf Jahre verkürzt. Die anderen Länder, deren notwendiges Ren-teneintrittsalter bei jedem Szenario unterhalb des deut-schen bleibt, sind Griechenland und Frankreich. Von den weiteren betrachteten Ländern überholt Italien in jedem Szenario Deutschland als erstes (ausgehend von einer derzeit recht ähnlichen Situation), während es bei Spanien und Portugal im betrachteten Horizont bis 2050 von der Zielquote abhängt.

Interessant beim implizierten Renteneintrittsalter in Deutschland ist die zu beobachtende Abfl achung der

hohen Rentnerquotienten „leistet sich“ viele Rentner, wird also ein vergleichsweise niedriges Renteneintritts-alter aufweisen. Ein niedriger Rentnerquotient erreicht ein Rentensystem bei gleicher demografi scher Struktur mit einem hohen Renteneintrittsalter.

Die obengenannten Bevölkerungsprognosen der UN beziehen sich auf alle durch fünf teilbaren Jahre bis 2050. Des Weiteren sind sie nicht jahrgangsspezifi sch, sondern fassen die Kohorten jeweils zu Fünf-Jahres-Blöcken zusammen, also z.B. zur Zahl der 30- bis 34-Jährigen insgesamt. Die Altersverteilung zu jedem betrachteten Zeitpunkt wird also gewissermaßen durch ein relativ grobes Histogramm dargestellt. Angesichts der vorhandenen Prognoseunsicherheiten wäre eine feinere Aufschlüsselung letztlich wohl auch nicht wirk-lich belastbar. Bei unseren Berechnungen der Renten-eintrittsaltersgrenzen gehen wir vereinfachend von ei-ner Gleichverteilung innerhalb dieser aggregierten Ko-horten aus.

Abbildung 1Prognose des erforderlichen Renteneintrittsalters bei unterschiedlich gewählten Rentnerquotienten

Quelle: eigene Berechnungen auf Grundlage der UN-Bevölkerungsprognosen.

Deutschland

Italien

Griechenland

Irland

Frankreich

Spanien

Portugal

2015 2020 2025 2030 2035 2040 2045 2050

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Renteneintrittsalter

Zielquote r = 0,3

2015 2020 2025 2030 2035 2040 2045 2050

74

70

68

66

64

62

60

58

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Renteneintrittsalter

IrlandSpanien

Portugal

Frankreich

GriechenlandDeutschland

Italien72Zielquote r = 0,4

Deutschland

Italien

Griechenland

Irland

Frankreich

Spanien

Portugal

2015 2020 2025 2030 2035 2040 2045 2050

70

68

66

64

62

60

58

Renteneintrittsalter

56

54

52

Zielquote r = 0,5

2015 2020 2025 2030 2035 2040 2045 2050

68

64

62

60

58

56

54

52

50

48

Renteneintrittsalter

IrlandSpanien

Portugal

Frankreich

GriechenlandDeutschland

Italien66

Zielquote r = 0,6

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land und einer ungünstigen in Frankreich dieses Alter in Deutschland weiterhin eindeutig höher bleibt.

Rentenreformziele in Europa vor dem demografi schen Hintergrund

Das Ziel der Nachhaltigkeit der Rentenpolitik an sich ist unstrittig. Wie schon angesprochen spielen neben dem Renteneintrittsalter dabei eine Reihe weiterer Faktoren eine Rolle: Dazu zählen insbesondere die Rentenhöhe, meist relativ zum letzten Einkommen („replacement ra-te“) defi niert. Ein niedrigeres Renteneintrittsalter lässt sich theoretisch vollkommen durch entsprechend nied-rigere Rentenhöhen sowie gegebenenfalls höhere Bei-tragszahlungen kompensieren. In der Praxis ist diese komplette Substituierbarkeit politisch-wohlfahrtsöko-nomisch jedoch eingeschränkt, was sich in der besorg-ten Debatte um die sogenannte Altersversorgungslücke zeigt. In unserem Ansatz wird vereinfacht unterstellt, dass sich die in den jeweiligen Ländern vorherrschen-den (relativen) Rentenhöhen und Beitragssätze im Zeit-verlauf nicht ändern und insofern die Nachhaltigkeit allein von der Altersschwelle abhängt. Diese Annahme dient vor allem der Fokussierung auf die demografi -schen Unterschiede zwischen den Ländern, erscheint aber langfristig auch dadurch gerechtfertigt, dass die Lebenserwartung die einzige sich trendmäßig entwi-ckelnde Variable ist. Andere Variablen wie Beitragssät-ze und Renten-Lohn-Relationen dagegen sollten nicht beliebig wachsen oder schrumpfen können. So existiert zwar z.B. in Deutschland der sogenannte Nachhaltig-keitsfaktor in der deutschen Rentenanpassungsformel seit der Reform von 2004, es scheint aber wahrschein-lich, dass dieser Faktor letztlich wieder außer Kraft gesetzt würde, falls er zu einem zu niedrigen Renten-Lohn-Verhältnis führen sollte.

Bereits heute klafft das Renteneintrittsalter zwischen den Ländern in der EU einige Jahre auseinander. Das gilt sowohl für das gesetzliche Renteneintrittsalter als auch für das faktische. In den Institutionen der EU hat sich inzwischen auch ein Konsens gebildet, dass das Renteneintrittsalter an der jeweiligen demografi schen Situation der einzelnen Länder auszurichten ist. Die Rentenpolitik ist in der geltenden Aufgabenteilung nach dem Subsidiaritätsprinzip zwar kein originäres EU-The-ma. Dennoch ist sie im Zuge der Euro-Schuldenkrise in den Fokus gerückt. In Deutschland wurden griechische Rentner oder die französische Rentenreform vom Som-mer 2012 Gegenstand der öffentlichen Debatte. So ha-ben z.B. auch die öffentlichen Gläubiger Griechenlands, die sogenannte Troika, im Jahr 2012 der griechischen Regierung die Erhöhung des nominellen Rentenein-

Kurve im Zeitverlauf, die sich je nach Szenario zwischen 2035 und 2045 einstellt. Danach wäre aufgrund der spe-zifi schen deutschen Altersverteilung eine weitere Anhe-bung des Renteneintrittsalters nicht länger erforderlich, wenn auch auf je nach Szenario deutlich unterschiedli-chen Niveaus. Dabei ist der Fall r = 0,5 hervorzuheben, weil sich das in diesem Szenario in Deutschland maxi-mal notwendige Eintrittsalter von knapp 67 Jahren in etwa mit der Entwicklung laut derzeitiger Gesetzeslage deckt. Eine ähnliche Abfl achung beobachten wir sonst nur für Frankreich, dessen demografi sche Situation aber bekanntlich deutlich besser ist als die Deutschlands, so dass das implizierte mögliche Renteneintrittsalter bis zu mehr als vier Jahren unter dem deutschen liegt.

Wie alle Vorhersagen sind auch die UN-Bevölkerungs-prognosen mit Unsicherheit behaftet. Die UN stellen da-her neben der wahrscheinlichsten Entwicklung (deren Werte wir bis hierhin durchweg verwendet haben) auch eine „hohe“ und eine „niedrige“ Alternativprognose zur Entwicklung der Bevölkerungen zur Verfügung. Zur Ver-anschaulichung der sich daraus ergebenden Verände-rungen haben wir unsere Berechnungen für Deutsch-land und Frankreich mit diesen beiden Alternativprog-nosen wiederholt, wobei wir uns der Knappheit halber auf das Szenario der Zielrentnerquote von r = 0,4 be-schränken (vgl. Abbildung 2). Es überrascht nicht, dass sich für lange Horizonte, d.h. ab ca. 2035, eine merkli-che Spanne zwischen der niedrigen und der hohen Pro-gnose zeigt. Allerdings ist der Unterschied beim impli-zierten Renteneintrittsalter zwischen Deutschland und Frankreich so groß, dass selbst bei einer Kombination von günstiger Bevölkerungsentwicklung in Deutsch-

Abbildung 2Alternative Prognosen bei unterschiedlichen Szenarien zur Bevölkerungsentwicklung

Quelle: eigene Berechnungen auf Grundlage der UN-Bevölkerungspro-gnosen.

2015 2020 2025 2030 2035 2040 2045 2050

74

72

70

68

66

64

62

60

Renteneintrittsalter

Deutschland niedrig

Deutschland hoch

Frankreich niedrig

Frankreich hoch

r = 0,4

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gen, dass dieser Unterschied konstant bleiben wird, bei steigender Lebenserwartung in beiden Ländern. Aber demnach müsste Frankreich also sein Renteneintritts-alter schneller erhöhen als Deutschland, und mögli-cherweise ein späteres Renteneintrittsalter festsetzen. Das widerspricht unseren Ergebnissen vollkommen. Die EU-Kommission vermittelt hier irreführenderweise den Eindruck, Frankreich stehe vor einem größeren Anpas-sungsbedarf als Deutschland.

Mit dem Fokus auf die Lebenserwartung hat die EU-Kommission nur einen der möglichen demografi schen Parameter ausgewählt. Erweitert man wie in der vorlie-genden Untersuchung die Perspektive um die deutlich divergierenden Entwicklungen bei den jüngeren Kohor-ten, so kommt man zu teilweise konträren Ergebnissen. Die Lebenserwartung allein ist als Maß für die Nach-haltigkeit des Rentensystems relativ unbrauchbar, weil sie nichts über die Masse der nötigen und (potenziell) verfügbaren Zahlungsströme aussagt. Am Beispiel von Frankreich: Die Franzosen werden zwar etwas älter als die Deutschen, sie haben aber mehr Kinder, was für die Nachhaltigkeit des Rentensystems viel entscheidender ist.

Vollkommen in die Irre führen daher leider auch Äuße-rungen wie die von Bundeskanzlerin Angela Merkel im Mai 2011: „Es geht auch darum, dass man in Län-dern wie Griechenland, Spanien, Portugal nicht frü-her in Rente gehen kann, als in Deutschland, sondern dass alle sich auch ein wenig gleich anstrengen – das ist wichtig.“8 Unsere Ergebnisse haben dagegen ge-zeigt, dass eine Vergleichbarkeit von Griechenland mit Deutschland in dieser Hinsicht gar nicht, und von Spanien und Portugal erst nach dem Jahr 2040 erreicht würde; bis dahin müssten deutsche Rentner weiter we-sentlich später in Rente gehen, da die demografi schen Daten für Deutschland wesentlich schlechter sind als für die meisten anderen Staaten der EU.

8 Zitiert laut dpa-Meldung z.B. auf Spiegel online vom 18.5.2011.

trittsalters auf 67 Jahre mehr oder weniger unverhohlen zur Bedingung weiterer Kredite gemacht.5

In einer Reihe von offi ziellen Dokumenten verweist die EU-Kommission auf die Notwendigkeit einer Reform der Rentensysteme, und immer wieder taucht dabei die Forderung nach einer Orientierung an der Lebenserwar-tung auf. Wichtig in diesem Zusammenhang ist der Be-schluss zum Euro-Plus-Pakt vom März 2011, mit dem sich die 17 Staaten der Eurozone sowie sechs weitere Staaten zu bestimmten wirtschafts- und sozialpoliti-schen Reformen verpfl ichtet haben. In diesem Pakt wird eine Ausrichtung der Rentensysteme an die jeweilige demografi sche Situation vorgeschlagen, „for example by aligning the effective retirement age with life expec-tancy or by increasing participation rates“6. Im Folgejahr unterstrich die Kommission diese Forderung erneut: „Linking the pensionable age to life expectancy could then help stabilise the balance between working years and years in retirement. This is of key importance for future sustainability.“7

Damit haben die EU-Institutionen wiederholt signali-siert, die Lebenserwartung sei ein brauchbarer Indi-kator für die Nachhaltigkeit der Rentensysteme. Wir bezweifeln das, denn tatsächlich liegen die Lebenser-wartungen in Europa teilweise sehr nahe beieinander. Laut UN Population Division liegt sie für Frankreich und Deutschland bei 78 Jahren bei den Männern fast gleich. Frauen leben in Frankreich zwar zwei Jahre länger, näm-lich 85 Jahre statt 83 Jahre, und die UN-Prognosen sa-

5 Agenturmeldungen (Reuters, dpa) vom 21.9.2012, z.B. im Handels-blatt.

6 Vgl. http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/press-data/en/ec/120296.pdf, S. 18. Etwas bedenklich erscheint in diesem Zusammenhang ein offenbarer Übersetzungsfehler des englischen Vertragstextes ins Deutsche. Der Vorschlag „increasing participa-tion rates“ wurde übersetzt mit „Erhöhung der Beitragssätze“ (statt Erhöhung der Erwerbsquote), was die erklärten Absichten der Bun-desregierung ins Gegenteil verkehren würde. Zur ökonomischen Be-deutung der „participation rates“ vgl. unsere Diskussion der Rolle der Beschäftigungsquoten weiter oben.

7 European Commission: An Agenda for Adequate, Safe and Sustaina-ble Pensions (WHITE PAPER), 16.2.2012, Brüssel, S. 10.

Title: Europe’s Looming Pension Divide

Abstract: There is a signifi cant variation in demographic development among European Union (EU) member states. Using the UN’s

Population Prospects, we examine how different retirement ages in selected EU countries would lead to comparable relations between

the working-age population and pensioners in the future. In the coming decades, it seems that the French would be able to take retire-

ment roughly four years earlier than Germans. There is, therefore, no apparent economic justifi cation for the suggested alignment of

retirement ages in accordance with the current German regulation, as is sometimes suggested. Even the EU Commission has prioritised

life expectancy in its recommendations for greater sustainability in the pension system, despite the fact that it is an insuffi cient indicator.

JEL Classifi cation: H55, J11