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Florian Kläger ∙ Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.) Europa gibt es doch …

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Florian Kläger ∙ Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.)

Europa gibt es doch …Krisendiskurse im Blick der Literatur

Wilhelm Fink

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Sibylle-Hahn-Stiftung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Umschlagabbildung:Florian Kläger unter Verwendung von Peter Paul Rubens,

Der Raub der Europa (1636-7)

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© 2016 Wilhelm Fink, Paderborn(Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)

Internet: www.fink.de

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, MünchenPrinted in Germany

Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

ISBN 978-3-7705-5925-1

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Inhalt

Florian Kläger und Martina Wagner-egelhaaF

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Juri andruchoWytsch

Der Preis der Werte, oder Unsere Dissonanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Bruno Quast

Bedrohte Christenheit. Über Ikonologie im Rolandslied des Pfaffen Konrad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

ursula hennigFeld

Europäische Gründungsmythen in der petrarkistischen Ruinenlyrik der frühneuzeitlichen Romania . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

Paul Michael lützeler

Die Schriftsteller und das europäische Projekt. Institutionalistische und kulturalistische Beiträge aus Frankreich und Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . 63

Florian Kläger

Die Grenzen der Zivilisation. Räumliche und historische Verortungen englischer und europäischer Identität in der frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . 79

Klaus stierstorFer

Brückenkopf Britannien. Zur Europa-Sehnsucht anglophiler Modernisten . . 103

alFred sProede

Notizen zur Krisengeschichte der Ukraine und zu den Europa-Affinitäten ihrer Rechtskultur. Der Jurist Stanislav Dnistrjans’kyj (1870-1935) im geschichtlichen und gegenwärtigen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

lut Missine

Flame sein, um Europäer zu werden. Europa als Wegweiser und Anker in der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

BenJaMin BieBuycK

Interkulturalität und Krise. Erlebtes Europa bei Thomas Mann und Annette Kolb. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

cornelia BlasBerg

Verloren und rekonstruiert. ‚Europa‘ in den Exilschriften von Erich Auerbach und Ernst Robert Curtius. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

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6 INHAlT

cerstin Bauer-FunKe

Der Raub der Europa in Max Aubs Exildrama El rapto de Europa o siempre se puede hacer algo (1945) – Mythenbearbeitung als Krisendiskurs . . . . . . . . . 203

gaBriele cleMens

Das filmische Narrativ von Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

Martina Wagner-egelhaaF

Böhmen am Meer. Krisenfigur und literarischer Topos . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

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Florian Kläger und Martina Wagner-egelhaaF

Einleitung

Wer davon spricht, dass Europa in der Krise steckt, macht sich keiner Originalität verdächtig. Seit Jahren wird allenthalben gebetsmühlenartig beteuert, dass Europa an ökonomischen, politischen, juristischen, ökologischen und allen möglichen an-deren Abgründen stünde. Umgekehrt lässt sich, ebenfalls recht unkontrovers, be-haupten, dass das gegenwärtige Europa das Resultat einer Reihe von Krisen voran-gegangener Jahrhunderte ist. Europa scheint geradezu von der Krise her gedacht zu werden, wie etwa der von Karl Heinrich Delschen und Jochem Gieraths herausge-gebene Band mit philosophischen Schlüsseltexten zur Europadebatte zu verstehen gibt, der den Titel Europa – Krise und Selbstverständigung trägt.1 Bereits im kultur-geschichtlichen Denken der klassischen Moderne spielt die Krisenhaftigkeit Euro-pas – insbesondere in der Relation zu Asien – eine dominante diskursive Rolle.2 Gerade die Katastrophe des Ersten Weltkriegs rief die Frage auf den Plan, wie es um die zivilisatorische und kulturstiftende Kraft des alten Kontinents stünde. Diskurs und Ereignis gehen eine kaum aufzulösende Allianz ein. Europa ist in dieser Sicht also nicht nur krisengeschüttelt, sondern auch krisenerfahren, wenn nicht gar kri-sengeboren. Allein: Was dieses Europa überhaupt ,ist‘, was es sein will oder kann, das ist strittig. Antworten auf diese Frage finden sich in Verfassungen, Verträgen, Absichtserklärungen, Sonntagsreden, und eben – in der Literatur. Ihr wird immer wieder eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung einer europäischen Identi-tät zugeschrieben,3 und die literarische Konstruktion von Europa-Ideen und -Visi-onen ist in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der literaturwissenschaftli-chen Forschung gerückt.4 Der Literatur und den Literaten wird dabei oft eine

1 Europa – Krise und Selbstverständigung: Kommentierte Schlüsseltexte aus dem philosophischen Feld von Simmel, Nietzsche, Heidegger, Gadamer u. a., hg. v. Karl H. Delschen und Jochem Gieraths, Münster, 2009.

2 Vgl. etwa Thomas Pekar, „Hofmannsthals ‚Umweg über Asien‘. Zur Konstellation von Europa und Asien im europäischen ,Krisen-Diskurs‘ am Anfang des 20. Jahrhunderts“, DVjs 83/2 (2009), S. 246-261. Neben Hofmannsthal und Borchardt spricht Pekar auch über Rudolf Pann-witz, vor allem über sein Buch Die Krisis der europäischen Kultur von 1917. Zum Briefwechsel zwischen Hofmannsthal und Pannwitz vgl. auch Paul Michael Lützeler, „Prophet der europäi-schen Krise. Rudolf Pannwitz als Briefpartner Hugo von Hofmannsthals“, in: Die Zeit, 28.10.1992, wiederabgedruckt in: Paul Michael Lützeler, Publizistische Germanistik. Essays und Kritiken, Berlin, Boston, 2015, S. 317-320.

3 Vgl. z. B. Ursula Keller, „Europa schreibt“, in: Europa schreibt: Was ist das Europäische an den Lite-raturen Europas? Essays aus 33 europäischen Ländern, hg. v. Ursula Keller und Ilma Rakuša, Ham-burg, 2003, S. 11-30.

4 Es ist hauptsächlich ein Verdienst der Vorarbeiten von Paul Michael Lützeler, dass die einschlägi-gen Publikationen jüngeren Datums allein aus dem deutschsprachigen Raum aus Platzgründen hier nicht vollständig angeführt werden können. Wir verweisen aus der in den folgenden Beiträ-

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8 FlORIAN KläGER UND MARTINA WAGNER-EGElHAAF

konstruktive Rolle in der Erfindung Europas zugesprochen. Die Schriftstellerin Yoko Tawada hat bereits in den 1990er-Jahren listig-provokant behauptet, dass es Europa überhaupt nicht gebe.5 Ihr kleiner Text „Eigentlich darf man es nieman-dem sagen, aber Europa gibt es nicht“ gibt zu bedenken, dass Europa keine vorge-gebene, gleichsam ontologische Entität ist, sondern ein Produkt kultureller Zu-schreibungen. Tawada schreibt, dass sie sich unter dem Wort ‚Europa‘ zwei Theaterfiguren vorstellen könne, eine sei weiblich, die andere männlich. Dass es sich bei dieser Europa-,Vision‘ um ,Theater‘figuren handelt, ist sprechend, heißt es doch, dass ,Europa‘ aufgeführt werden muss und eben erst in dieser Aufführung, also performativ, entsteht. „Die männliche Figur der Europa wünscht sich vor allem, daß sie vom Publikum betrachtet wird“6, schreibt Tawada. Bemerkenswer-terweise ist diese männliche Figur der Europa eine ,kritische‘ – dass ,Kritik‘ und ,Krise‘ aufeinander bezogen sind, hat Reinhart Koselleck ja nachdrücklich heraus-gestellt: „ ‚Krisis‘ bedeutete [im antiken Griechenland] auch ,Entscheidung‘ im Sinne der Urteilsfindung und der Beurteilung, was heute in den Bereich von ,Kri-tik‘ fällt.“7 Tawadas männliche Europa-Figur darf man

zwar kritisieren, man darf aber auf keinen Fall sagen, daß es sie nicht gibt. Es ist nicht einfach, sie zu kritisieren, weil sie sich selbst ständig kritisiert, und zwar so schnell und so gut, daß kein anderer das besser könnte […]. Europa ist eine Meisterin der Kritik, und das macht eine ihrer Eigenschaften aus. Wenn sie nicht kritisiert, so ver-schwindet sie. Vor der Nicht-Existenz fürchtet sie sich am meisten.8

Wenn es stimmt, dass „Kritik die Grundform ihres Denkens ist“9 und wenn sie, also Europa, erst dadurch existiert, dass sie oder es kritisiert, und zwar vornehmlich sich selbst, dann ist auch die Krise, die erst Anlass zur Kritik gibt oder die von der Kritik beschworen wird, ein grundlegender Modus der europäischen Existenz.

Aber es gibt ja auch noch die weibliche Europa, und das ist diejenige, die, so Tawada, „in einer mythischen Zeit verlorengegangen sein soll.“10 Das ist natürlich

gen verwendeten Sekundärliteratur an dieser Stelle nur besonders auf Paul Michael Lützeler, Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart, 2. Aufl., Baden-Baden, 1998 und Paul Michael Lützeler, Kontinentalisierung: das Europa der Schriftsteller, Bielefeld, 2007 sowie die Beiträge in Der literarische Europa-Diskurs: Festschrift für Paul Michael Lützeler zum 70. Geburts-tag, hg. v. Peter Hanenberg und Isabel Capeloa Gil, Würzburg, 2013. Vgl. zudem Anne Kraume, Das Europa der Literatur: Schriftsteller blicken auf den Kontinent (1815-1945), Berlin, New York, 2010 sowie zur Frühneuzeit Klaus Garber, Literatur und Kultur im Europa der frühen Neuzeit: Gesammelte Studien, Paderborn, München, 2009 und, mit einem breiteren medialen Fokus, die Beiträge in Facing the East in the West. Images of Eastern Europe in British Literature, Film and Cul-ture, hg. v. Barbara Korte, Eva Ulrike Pirker und Sissy Helff, Amsterdam, New York, 2010.

5 Vgl. Yoko Tawada, „ ‚Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht‘“ , in: dies., Talisman, Tübingen, 1996, S. 45-51.

6 Tawada, „ ‚Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht‘“ , S. 47. 7 Reinhart Koselleck, „Krise“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-so-

zialen Sprache in Deutschland, hg. v. Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Bd. 3, Stuttgart, 1982, S. 617-650, hier S. 618.

8 Tawada, „ ‚Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht‘“ , S. 47f. 9 Tawada, „ ‚Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht‘“ , S. 48. 10 Tawada, „ ‚Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht‘“ , S. 48.

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9EINlEITUNG

eine Anspielung auf den mythologischen Raub der phönizischen Königstochter, die von Zeus in Stiergestalt nach Griechenland transportiert wurde, wo sich ihre Spur verlor.11 Die verlorene Europa ist es, die den Europa-Diskurs in Gang hält, denn, so schreibt Yoko Tawada, „als Ritter verkleidete Europäer [sitzen] an ihrem Stammtisch […] um sich über die verlorene Europa zu unterhalten.“12 Europa, heißt das, ist das, was über sie und es gesprochen wird, gewissermaßen ein Diskurs- phänomen. Europas Verlust erscheint in der Zusammenschau der beiden Perspek-tiven, der ,männlichen‘ und der ,weiblichen‘, der Diskurs- und der Mythenper- spektive, die eng aufeinander bezogen sind, als das Wesensmerkmal, an dem die Existenz Europas hängt. Europa wurde, so resümiert die aus Japan stammende Autorin, „bereits im Ursprung als eine Verlust-Figur erfunden“13 – wenn das kein Anlass für Kritik und Krise ist … Betrachtet man Entzug und Diskurs, Krise und Kritik als die konstitutiven Existenzbedingungen Europas, dann, so lässt sich Tawa-das Befund gegenlesen, existiert Europa ‚eigentlich‘ doch, oder?

Ähnlich wie Europa ist auch die Krise ein Produkt von Diskursen, Performanz und Narration. In seiner Grundbedeutung verweist der Begriff, wie schon angedeutet, auf Differenzierungs- und Entscheidungsprozesse. In der klassischen griechischen Politik bezeichnet er die Beteiligung der Bürger, z. B. bei der Beurteilung von Gerichtsfällen; in der antiken Medizin bezieht er sich auf den Behandlungszeitpunkt, zu dem sich der Krankheitsverlauf zum Besseren oder Schlechteren entscheidet. In der Medizin hat die Krise daher zwei Seiten: den objektiven Gesundheitszustand des Patienten zum einen, und zum anderen die Diagnose des Arztes bzw. seine Entscheidung über die Behand-lung.14 Das gilt auch im weiteren Begriffssinn, wenn man ‚Krise‘ als einen Prozess be-greift, in dem ein komplexes System eine Störung erfährt, die nicht allein rational zu erklären ist. Die auftretenden Probleme mögen ‚kritisch‘ sein, doch werden sie auch von diskursiven Deutungsphänomenen begleitet, die sie erst zur Krise stilisieren:

Both the immediate chaotic experience of the catastrophic event and the calm and composed retrospective comprehension thereof draw on our collective reservoir of cultural forms and patterns of understanding. It is in this way that one can talk about catastrophes and crises having a cultural life.15

Diese Deutungsverfahren sind medialer, politischer, ggf. historiographischer Natur, und ihr Effekt besteht darin, das Alltägliche vom Krisenhaften zu scheiden. Herrscht Krise, werden Handlungsschemata abgerufen, die Lösungsmodelle be-reithalten. Mit Ansgar Nünning kann der Abruf dieser Schemata als narrativer Vorgang begriffen werden: „crises can be conceptualized as the results of narrative transformations by means of which an occurrence first of all becomes an event,

11 Vgl. Mythos Europa. Texte von Ovid bis Heiner Müller, hg. v. Almut-Barbara Renger, Leipzig, 2003.

12 Tawada, „‚Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht‘“, S. 48. 13 Tawada, „‚Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht‘“, S. 49. 14 Vgl. Koselleck, „Krise“, S. 618. 15 Carsten Meiner und Kristin Veel, „Introduction“, in: The Cultural Life of Catastrophes and Crises,

hg. v. Carsten Meiner und Kristin Veel, Berlin, Boston, 2012, S. 1-12, hier S. 1.

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then becomes a story and finally becomes a certain kind of story or a specific plot pattern, namely a crisis narrative“16. Die Krise bedarf der Erzählung, um erst zur Krise zu werden. Ist sie narrativ ins Bewusstsein gerückt, gewinnt sie eine metapho-rische Funktion, die über das bloße ‚Bezeichnete‘ hinausgeht, und die Reaktion auf als ‚krisenhaft‘ begriffene Vorgänge gibt – Nünning zufolge – Einblick in das ‚poli-tische Unbewusste‘.17

Auf dieser Grundlage gehen die Beiträgerinnen und Beiträger zu diesem Band von einer Beobachtung aus, die ‚Europa‘, ‚Krise‘ und ‚Erzählung‘ bzw. ‚Literatur‘ in einem reziproken Verhältnis zueinander sieht: Europa produziert Krisen und Er-zählungen, und es ist Produkt beider. Krisen generieren ihrerseits sowohl Erzählun-gen als auch ‚Europa-Versionen‘ und sind Resultat von Erzählungen, auch ver-schiedener ‚Europa-Narrative‘. Erzählungen leben von Krisen – und von einem reichhaltigen europäischen Erbe, zu dem konkrete kulturelle Artefakte genauso gehören wie diskursive Muster und Topoi. Jeder der drei Faktoren ist also zugleich Ergebnis der beiden anderen und Katalysator für ihr Verhältnis.

Europa wird mithin von Krisen nicht nur heimgesucht, sondern die Krise hat auch eine produktive Funktion: Europa-Ideen zehren von der Krise. In Zeiten der Unsicherheit spätestens seit dem Wiener Kongress und durch zwei Weltkriege hat Europa als Utopie und Orientierung gedient.18 Krisen sind Katalysatoren für Eu-ropa – wo Europa als Lösung angerufen wird, ist der Bedarf nach seiner Definition und Verhandlung besonders dringend. Andererseits wird ihm gleichsam a priori eine Legitimationskraft zugeschrieben, welche die Grundlage der Annahme ist, dass Europa überhaupt eine Lösung bereithalten könnte: Europa ist in der Krise Frage und Antwort zu gleichen Teilen. Das gilt auch für das Europa der Literatur und überhaupt der Kunst: Wo Europa imaginiert wird, geschieht das nicht bloß zur Bestätigung oder Zurückweisung des Status quo oder einer essentiellen Identi-tät, sondern das Nachdenken über Europa im Modus des ‚Als-ob‘ ermöglicht es auch, Alternativen zu imaginieren – Alternativen von, vielleicht auch: zu Europa. Damit ist jede Fiktion von Europa ‚kritisch‘, stellt den Status quo Europas infrage.

Es gibt Stimmen, die – ähnlich wie oben in Tawadas Text gezeigt – in der kriti-schen Reflexion über Europa, über die europäische Identität und über ein gemein-

16 Ansgar Nünning, „Steps Towards a Metaphorology (and Narratology) of Crises. On the Func-tions of Metaphors as Figurative Knowledge and Mininarrations“, REAL 25 (2009), S. 229-262, hier S. 240.

17 „[... M]etaphors of crises should be conceptualized as playing a creative role in shaping our cultu-ral awareness and in constructing the ideological fictions that provide the mental framework of collective consciousness, or rather of what Fredric Jameson has called ‚the political unconscious‘“ (Nünning, „Steps“, S. 255).

18 Schon im Mittelalter dient Europa gelegentlich als ‚neutraler‘ Sammelbegriff im Gegensatz zum regnum Francorum und zur communitas Christiana (vgl. Bernd Schneidmüller, „Die mittelalter- lichen Konstruktionen Europas: Konvergenz und Differenzierung“, in: ‚Europäische Geschichte‘ als historiographisches Problem, hg. v. Heinz Duchhardt und Andreas Kunz, Mainz, 1997, S. 5-24). Vgl. auch Olaf Asbach, Europa – vom Mythos zur Imagined Community? Zur historischen Semantik ‚Europas‘ von der Antike bis ins 17. Jahrhundert, Hannover, 2011; Denys Hay, Europe: The Emer-gence of an Idea, überarb. Aufl., Edinburgh, 1968.

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11EINlEITUNG

sames europäisches Erbe überhaupt den einzigen Kern dessen ausmachen, worüber reflektiert wird. Paul Ricœur beispielsweise sieht in der Produktion von kulturellen Identitäten, denen ihre Selbstkritik eingeschrieben ist, ein Alleinstellungsmerkmal Europas. Daraus zieht er den Schluss: „the kind of universality that Europe repre-sents contains within itself a plurality of cultures, which have been merged and intertwined, and which provide a certain fragility, an ability to disclaim and ques-tion itself“ .19 Aus der Vielfalt und dem Widerstreit um das, was Europa ausmacht, entsteht erst ein genuin ‚dialogisches‘ Europa.20 Gerard Delanty hat diesen Um-stand unlängst auf die Frage nach einer (europäischen) Moderne bezogen, die er im Gegensatz zu einer monolithisch organisierten Welt begreift als „Raum konfligie-render Interpretationen der Welt“, in dem auch das Verhältnis zur eigenen Vergan-genheit und zum kulturellen Erbe problematisch ist.21 Aus dieser Perspektive wird für Delanty die Erfahrung von Krisen und die Praxis der Selbstkritik ein zentrales Element des europäischen kulturellen Erbes. Nur in der Differenz mit sich selbst mag Europa als wirklich ‚europäisch‘ erscheinen – Jacques Derrida, der eine ähnli-che Beobachtung macht, schließt daran die doppelte Frage an, ob dies nur für Europa gelte und wie mit diesem Erbe der ‚Selbstdifferenz‘ umzugehen sei. Ihm zufolge „gibt [es] keine Kultur und keine kulturelle Identität ohne diese Differenz mit sich selbst“, und im Hinblick auf das historische Selbstverständnis fragt sich allgemein, aber auch für Europa:

Hält man dadurch dem Kulturerbe die Treue, daß man das Von-sich-selber-sich-un-terscheiden (mit, bei sich) kultiviert, das die Identität konstituiert, oder eher dadurch, daß man sich an der Identität ausrichtet, in der sich jenes Sich-Unterscheiden, jenes Differieren wieder sammelt?22

Das selbst-differente, reflexive Europa steckt, wie jede Kultur, per definitionem in einer Identitäts-Dauerkrise. Gleichzeitig ist diese Befindlichkeit der bewussten Selbstdifferenz und des notwendigen Überschreitens der eigenen Möglichkeiten für Derrida auch das Merkmal neuzeitlichen literarischen Schaffens.23 Als ‚selbst-

19 Interview in Richard Kearney, Visions of Europe: Conversations on the Legacy and Future of Europe, Dublin, 1992, S. 117, 119.

20 Vgl. zum Begriff der Dialogizität Edgar Morin, Europa denken [1987], erw. Neuausg., Frankfurt am Main, 1991.

21 Gerard Delanty, Formations of European Modernity: A Historical and Political Sociology of Europe, Basingstoke et al., 2013, S. 290. Vgl. dazu auch Agnes Heller, „Europe – An Epilogue“, in: The Idea of Europe: Problems of National and Transnational Identity, hg. v. Brian Nelson, David Ro-berts und Walter Veit, New York, 1992, S. 12-25.

22 Jacques Derrida, „Das andere Kap“, in: ders., Das andere Kap: Zwei Essays zu Europa, Frankfurt am Main, 1992, S. 9-80, hier S. 13.

23 Für Derrida liegt das Paradoxe der Literatur darin, dass sie in der kritischen, reflexiven Selbstüber-schreitung erst die eigenen Grenzen auslotet: „it is an institution which consists in transgressing and transforming, thus in producing its constitutional law; or to put it better, in producing dis-cursive forms, ‚works‘ and ‚events‘ in which the very possibility of a fundamental constitution is at least ‚fictionally‘ contested, threatened, deconstructed, presented in its very precariousness“ (Jacques Derrida, „ ‚This Strange Institution Called Literature‘: An Interview With Jacques Der-rida“, in: Acts of Literature, hg. v. Derek Attridge, New York, 1992, S. 33-75, hier S. 72).

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kritische Selbstüberschreiterin‘ nimmt sich die Literatur ein Europa zum Gegen-stand und Telos, das diese konstitutive Eigenschaft – wenn man sie denn so nennen kann – mit ihr teilt. Europa ist das Produkt eines Nachdenkens und Sprechens über Europa – nur durch die Existenz der ‚Idee Europa‘ ist dieses Nachdenken und Sprechen motiviert, aber es wirkt über sich selbst hinaus, überschreitet die Grenzen dessen, was ,Europa‘ ist und beeinflusst unsere Lebenswelt auf vielfältigste Art und Weise. Das Gleiche lässt sich von der „merkwürdigen Institution Literatur“ sagen. Literatur ist eine genaue Beobachterin dessen, was in ihrer ‚Umwelt‘ (mit Luhmann gesprochen) vor sich geht. Aber ihr mimetisches Potenzial besteht bekanntlich nicht darin, dass sie das, was sie beobachtet, im Maßstab 1:1 aufzeichnet. Literatur ist immer einen Schritt weiter als die Realität – und zugleich bleibt sie hinter der Realität einen Schritt zurück, indem sie das Wahrgenommene in seinem vermeint-lich Sosein kritisch hinterfragt und seine historischen, kulturellen, subjektiven, ja kontigenten Entstehungsbedingungen in den kritischen Blick nimmt und eben deshalb in der Lage ist, die Realität zu überholen. „Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben“ hat daher Robert Musil in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften formuliert.24 Mit Paul Valéry gesprochen ist es das spezifisch literarische „Zögern zwischen Klang und Sinn“25, zwischen Signifikant und Signifikat, das den literarischen Denkraum des Möglichen eröffnet.

Damit sind literarische Verhandlungen Europas als Denkangebote zu verstehen, und es verwundert nicht, dass es – mit Paul Michael Lützeler gesprochen – „seit der Napoleonischen Epoche kaum einen europäischen Schriftsteller von Rang“ gibt,

der nicht auf die eine oder andere Weise am Europa-Diskurs teilgenommen hätte, am Nachdenken über das, was man mit ‚europäischer Identität‘ umschreibt, und viele Autoren steuerten Ideen bei zur kulturellen Einheit, Friedenssicherung oder gar poli-tischen Unifikation des Kontinents.26

Im Hinblick auf ihre sprachliche Verfasstheit kann die Literatur noch in anderer Hinsicht konstitutiv für Europa und Europäizität wirken: Es liegt auf der Hand, dass bestimmte Formen – Gattungen, Schreibweisen, Strukturen – und Gegen-stände – Topoi, Mythen, Metaphern – Teil des europäischen kulturellen Gedächt-nisses bilden.27 Wie Benedict Anderson gezeigt hat, befördert die gemeinsame und gleichzeitige Lektüre von Texten die Imagination von Kollektiven als Rezeptionsge-

24 Vgl. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Gesammelte Werke in neun Bänden, hg. v. Adolf Frisé, Bde. I-V, Reinbek bei Hamburg, 1978, I, S. 16.

25 Paul Valéry, Zur Theorie der Dichtkunst und vermischte Gedanken, Werke, Frankfurter Ausgabe in 7 Bänden, hg. v. Jürgen Schmidt-Radefeldt, Bd. V, Frankfurt am Main, 1991, S. 236.

26 Paul Michael Lützeler, Schriftsteller und die Europäische Union. Reinhold Schneider, Hans Magnus Enzensberger, Adolf Muschg, Mainz, 2007, S. 3.

27 Nur exemplarisch seien genannt Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abend-ländischen Literatur [1946], 8. Aufl., Tübingen, Basel, 1994 und Ernst Robert Curtius, Europäi-sche Literatur und Lateinisches Mittelalter [1948], 11. Aufl., Tübingen, Basel, 1993. Vgl. dazu den Beitrag von Cornelia Blasberg in diesem Band.

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meinschaften.28 Dies gilt nicht nur für den Einzeltext, sondern auch für ‚Arten‘ von Texten. So meint z. B. Franco Moretti, dass die Romangattung als genuin euro- päisch („this most European of forms“) und konstitutiv für eine europäische Identi-tät gelten kann,29 und Luisa Passerini hat die identitätsstiftenden Funktionen alter und neuer Europa-Mythen aufgezeigt.30 Ohne einer essentialistisch verstandenen ‚europäischen Literatur‘ das Wort reden zu wollen, ist das gemeinschaftsstiftende Potential der oft subliminalen Kraft solcher Formen wohl unzweifelhaft. Die ihr zugrundeliegenden Vorgänge der Übersetzung, der Transformation und der Trans-gression, der Differenzierung – ganz im Sinn der Entführung Europas durch Zeus in einem eminent krisenhaften Moment – machen deutlich, dass Europa in der Literatur (wie außerhalb) stets prozedural und in Bewegung gedacht werden muss. Um die konkreten Funktionen, die literarische – und auch literaturwissenschaftli-che – Verhandlungen Europas in den verschiedensten Krisensituationen erfüllen, geht es in den folgenden Beiträgen.

*

Ein europäisches Krisendokument im wahrsten Sinne des Worts und unmittelbar aus der Krise heraus geschrieben ist der Text der Rede, die der ukrainische Autor Juri andruchoWytsch am 12. November 2014 in Wien zur Eröffnung der Inter-nationalen Buchmesse gehalten hat. Diese engagierte, aber auch von Enttäuschung geprägte Rede eröffnet den vorliegenden Band, weil sie die Virulenz der Krisende-batte für das gegenwärtige Europa unmissverständlich vor Augen führt. Allzu for-melhaft klingt nämlich mittlerweile die Rede von der ‚Ukrainekrise‘, die in den Medien nur noch ein Thema unter anderen ist, abgelöst von der Griechenland-krise, der Flüchtlingskrise und all den anderen europäischen Krisen, die noch kom-men mögen. Was sich aus westeuropäischer Sicht vielleicht ‚nur‘ als eine ‚Krise‘ unter anderen darstellt, ist aus ukrainischer Perspektive Krieg. Andruchowytschs Rede möchte aufrütteln und ein sich an seine Krisen gewöhnendes Europa einmal mehr mit der Unerhörtheit der Geschehnisse in der Ukraine, aber auch mit dem Verflochtensein des ukrainischen Kampfs um Selbstbestimmung mit dem Projekt ‚Europa‘ konfrontieren. Und sie ist getragen von der Hoffnung, dass ‚Europa‘ trotz allem auch ein ukrainisches Projekt bleibt.

„Pater Europ(a)e“ wird Karl der Große im Paderborner Epos, das auch unter dem Namen Aachener Karlsepos bekannt ist, genannt. Bruno Quast stellt in seinem Beitrag die Frage nach der Bedeutung des ‚Europa‘-Begriffs im Mittelalter. Er zeigt, dass ‚Europa‘ ein kulturell bestimmtes Konzept von Differenz darstellt, das im Sinne einer höheren Einheit zwischen christlicher Identität und einem religiösen

28 Vgl. Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationa-lism, überarb. und erw. Aufl., London, 2003.

29 „[T]he novel closes European literature to all external influences; it strengthens, and perhaps it even establishes its Europeanness“ (Franco Moretti, Atlas of the European Novel, 1800-1900, Lon-don, 1999, S. 186).

30 Vgl. Images and Myths of Europe, hg. v. Luisa Passerini, Brüssel, 2003.

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Anderen unterscheidet. ,Europa‘ bildet eine funktionale Analogie zu der Vorstel-lung der Christenheit als einer Abwehrgemeinschaft. Am Beispiel des Rolandslieds wird vorgeführt, wie Christenheit als Ordnungskonzept bildpolitisch in Szene ge-setzt wird. Es ist der Umgang mit religiösen Bildern und auratisch aufgeladenen Artefakten, der einen fundamentalen Unterschied zwischen Christen und Heiden resp. Muslimen markiert. Während die Heiden Götteridole verehren, wissen die Christen zwischen Objekten, die nicht von Menschenhand gemacht sind, wie das Karl von einem Engel überbrachte Kreuz und das Schwert Durndart, und von Menschenhand gemachten Zeichen wie der Fahne Oriflamme zu unterscheiden. In der Unterscheidung zwischen ‚wahrem Gott‘ und ‚falschen Göttern‘ gründet der Gegensatz von Christen und Heiden (das sind Muslime gleichermaßen wie Sach-sen). Es ist, wie Jan Assmann argumentiert hat, der Monopolanspruch des christli-chen Gotts, der für das Christentum die Legitimität von Gewalt gegen Andersgläu-bige begründet.

ursula hennigFeld geht auf Spurensuche nach einem frühneuzeitlichen Eu-ropa in einer Gattung, die zumindest in zweifacher Hinsicht ‚europäisch‘ erscheint: Das petrarkistische Sonett ist eine transnationale Form, die zudem auf den ebenso geläufigen Topos der antiken Ruinen rekurriert. Der Beitrag zeigt, wie diese Form in einer Phase, in der sich nationale Paradigmen erst ausprägen, aus einem gemein-samen Repertoire von Gründungsmythen schöpft und diese in jeweils spezifischer Form zu deuten sucht. In der als krisenhaft zu begreifenden Phase des Übergangs zu einem Europa der Nationen liegt „das einende – gesamteuropäische – Element“ gerade in der politischen, kulturellen und sprachlichen Ausdifferenzierung, die in einer literarischen Form vollzogen wird. Bei Petrarca selbst dient der Rückgriff auf die Antike der Identifikation mit einem ,Erfolgsmodell‘, aber auch der Beschrei-bung der Gegenwart als krisenhafter Übergangszeit; bei Du Bellay rücken Diffe-renz, Verlust und Kritik weiter in den Vordergrund. Lope de Vega schließlich be-tont die Möglichkeit der Umdeutung: Die Ruine erinnert an Verlorenes und sichert so das Andenken. Einendes Merkmal der petrarkistischen Tradition ist, dass sich in der Dialogik der jeweils spezifischen italienischen, französischen und spanischen Ausdeutungen der Gründungsmythen eine europäische Gemeinsamkeit in der Dif-ferenz findet.

Die Geschichte der europäischen Friedens- und Konföderationsvisionen, die seit dem 17. Jahrhundert auf der Grundlage nachhaltiger Krisenerfahrungen in Europa entstanden sind, zeichnet der Beitrag von Paul Michael lützeler nach. Es wird deutlich, dass es dabei zwei Grundrichtungen gibt, eine politisch-pragma-tische, die Vorschläge für verwaltungsmäßige Institutionen macht und eine philo-sophisch-kulturelle, die auf gemeinsame zivilisatorische Werte setzt. Erstere kommt vorwiegend aus Frankreich, die zweite aus Deutschland. Damit zeigt sich, wie über die Jahrhunderte hinweg Frankreich und Deutschland die Motoren des europäi-schen Einigungsstrebens gewesen sind. Maximilien de Béthune, Herzog von Sully, Gottfried Wilhelm Leibniz, der Abbé de Saint-Pierre, Immanuel Kant, der Dichter Novalis, Claude-Henri de Saint-Simon und Augustin Thierry, aber auch Heinrich Heine und Ludwig Börne, Victor Hugo und Friedrich Nietzsche erscheinen als

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Vordenker der europäischen Einigung, für die sich in der jüngeren Zeit Giscard d’Estaing, Joschka Fischer und Robert Menasse stark gemacht haben. Einer Kritik der Nationen an Europa steht eine Kritik Europas an den Nationen gegenüber. Dass fünfzig europäische Lyriker und Lyrikerinnen eine Europäische Verfassung in Versen geschrieben haben, zeigt, in welcher Weise sich die Literatur als Impulsgebe-rin auch im Hinblick auf die europäische Einheit begreift. Und warum, so fragt Lützeler, sollten Eurokraten die Verfassung in Versen nicht lesen?

Florian Kläger untersucht, wie vor dem Hintergrund des permanent als kri-senhaft wahrgenommenen Verhältnisses Großbritanniens zur EU in den Werken englischer Historiographen des 16. und 17. Jahrhunderts Europäizität und ‚English- ness‘ konstruiert und zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Er zeigt, dass die Randlage des britischen Archipels, die teils gefeiert, teils aber auch negativ beurteilt wird, ebenso eine wichtige Rolle in den Argumentationen spielt wie das Verhältnis von Zivilisation und Barbarei, Natur und Kultur sowie von Raum und Zeit. Wo Geschichtslosigkeit mit Barbarentum identifiziert wird und Geschichte als zivilisa-torischer Fortschritt erscheint, liegt die Aufgabe der Historiographie darin, etwa durch die Auswahl der Vorfahren, eine nationale Genealogie zu erschreiben. Aller-dings zeigen sich hier mehrere Probleme, etwa die offensichtliche Tatsache der Völ-kervermischung, die schwerlich die Behauptung ‚reiner‘ Nationalität zulässt, oder der Vergleich mit anderen Völkern, denen man Zivilisiertheit nicht ohne weiteres absprechen kann. Europa-Konzeptionen des 20. Jahrhunderts wie die von Rémi Brague oder von Edgar Morin werden zur Beschreibung dieser Identitätsstiftungs-prozesse herangezogen. Mit Hilfe von Bachtins ‚Chronotopos‘-Begriff führt der Beitrag vor Augen, wie die frühneuzeitlichen Narrative der historiographischen Selbst(er)findung sowohl England als auch Europa als Räume in der Zeit und ihre Vergangenheit als Zeit im Raum entwerfen und dabei die ‚Identitäten‘ ‚English-ness‘ und ‚Europeanness‘ auf konstitutive Weise oszillieren lassen.

Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der US-amerikanische Verleger Henry R. Luce im Jahr 1941, als Europa tief in der Krise des Zweiten Weltkriegs steckte, im Life Magazine das 20. Jahrhundert als ‚amerikanisches‘ ausrief und damit gewissermaßen das ‚britische‘ 19. Jahrhundert für beendet erklärte, stellt Klaus stierstorFer die Frage nach der Lücke zwischen beiden ‚Epochen‘, zumal offensichtlich erst der Zweite Weltkrieg die Proklamation dieses Paradigmenwechsels hervorrief. Die These des Beitrags lautet, dass die krisenhafte Zwischenzeit um 1900 und der ers-ten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der sich bezeichnenderweise gerade die ästheti-sche Moderne ausprägte, als ,kurzes europäisches Jahrhundert‘ gelten kann. Ge-zeigt wird, dass eine ganze Reihe wichtiger Repräsentantinnen und Repräsentanten der englischsprachigen Literatur, die aus den USA nach Großbritannien kamen – an erster Stelle Henry James, aber auch T. S. Eliot und Ezra Pound – einen bemer-kenswerten Hang zur Anglophilie aufwiesen und sich insbesondere London als imaginärem kulturellem Zentrum zugetan fühlten. London erscheint in dieser Sicht als Brückenkopf der europäischen Literatur und Kultur. Es wird deutlich, dass die britische Literatur der Moderne in signifikantem Maß im europäischen Kontext zu lesen ist und ‚Europa‘ mindestens genauso durch den Blick ‚von außen‘

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wie durch den ,von innen‘ geformt wird. Offensichtlich entwickelte Europa gerade in der Krise seine stärkste kulturelle Strahlkraft, so dass die Krise selbst als europä-isches Kulturgut zu denken ist.

Nach Juri Andruchowytsch richtet alFred sProede den kritischen Blick noch einmal auf die Ukraine. Ausgehend von der gegenwärtigen extrem krisenhaften Situation, die zum einen durch die russische Pression, zum anderen dadurch be-dingt ist, dass die EU offensichtlich an die Grenzen ihrer Erweiterungslogik gesto-ßen ist, beleuchtet er das wechselvolle historische Verhältnis des ‚Grenzlands‘ Uk-raine zu Europa und zum russischen Imperium. Leitend dabei ist die Frage, ob die Ukraine eine eigene Rechtskultur habe. Die Analyse legt Verbindungen der ukrai-nischen Kultur mit Europa frei, die in der Sowjetzeit verschüttet waren. Es wird gezeigt, dass der ukrainische Einspruch gegen das russische Imperialregime sich vor allem juristischer Argumentationsformen bedient, die neben geltend gemachten ethnischen und mentalitätsbedingten Unterschieden zwischen Russen und Ukrai-nern vor allem unterschiedliche Vorstellungen der gesellschaftlichen Ordnung herausstellen. Im Fokus steht der westukrainische Rechtstheoretiker und Verfas-sungshistoriker Stanislav Dnistrjans’kyj (1870-1935), der die Unabhängigkeit der gesellschaftlichen Rechtsorganisation vom Staat unterstreicht und damit eine alter-native Konzeption des Rechts gegen imperativistische Rechtstheorien formuliert. Der Beitrag diskutiert die Frage, inwiefern dieser rechts- und politiktheoretische Ansatz eine spezifisch relevante Perspektive für die gegenwärtige Ukraine eröffnet.

Der Beitrag von lut Missinne untersucht die kulturelle Rolle, den der Europa-gedanke in Flandern während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielte. Er fragt nach der Bedeutung einer ‚europäischen Identität‘ für flämische Autoren in der Zeit um den Ersten Weltkrieg, der von den Zeitgenossen wie von der späteren Historiographie als zivilisatorische Krise ersten Ranges empfunden wurde. Nachge-zeichnet wird die Entstehung und Entwicklung der Vlaamse Beweging, die im 19. Jahrhundert für eine gleichberechtigte Anerkennung des Niederländischen neben dem Französischen in Belgien kämpfte, die schließlich 1898 erreicht wurde. Im Mittelpunkt der Studie stehen zwei Intellektuelle, die als maßgebliche Vordenker eines europäischen Flandern gesehen werden können: August Vermeylen (1872- 1945) und Gerard Walschap (1898-1989). Vermeylen, erster Rektor der ,vernie-derländischten‘ Universität Gent und Herausgeber der Zeitschrift Van Nu en Straks prägte die oft zitierte, aber in der Folgezeit von der jüngeren Generation auch kri-tisierte Formulierung: „Wir wollen Flamen sein, um Europäer zu werden“, und der Romancier und Literaturkritiker Walschap vertrat die Auffassung, dass eine regio-nale Literatur und Heimatkunst keineswegs unvereinbar seien mit einer notwendi-gen Europäisierung. Das Krisenbewusstsein nach dem Ersten Weltkrieg brachte nach den idealisierten Europavorstellungen des 19. Jahrhunderts eine kritische Eu-ropareflexion mit sich, paradoxerweise fungierte aber auch die Berufung auf Eu-ropa als Ausweg aus der Krise.

Auch BenJaMin BieBuycK wendet sich der Zwischenkriegszeit zu und fragt nach den Qualitäten einer ‚europäischen Literatur‘. Vor dem Hintergrund der Ko- selleck’schen Diagnose von der krisenhaften Verfasstheit der europäischen Moderni-

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tät und organizistischen Staats- und Gesellschaftsmodellen wie sie etwa von Othmar Spann in seinem mehrfach aufgelegten Werk Der wahre Staat 1921 vorgetragen wur-den, liest der Beitrag zum einen Thomas Manns Der Zauberberg (1924) und zum anderen Annette Kolbs Die Schaukel (1934) im Hinblick auf die in ihnen figurierte europäische Interkulturalität. In den Blick genommen wird die Körpermetaphorik im Zauberberg in Bezug auf den in ihr verhandelten Konnex von Kultur und Krank-heit. Hans Castorps partikularisierender Blick inszeniert die Labilität zwischen einem sich auflösenden Körperganzen und den nach Synthese suchenden Teilen des Körpers. Mann dekonstruiert auf diese Weise die Utopie einer Ganzheit, indem er zeigt, dass die gesellschaftlichen Kohäsionskräfte geschwächt sind und daher die Spannung zwischen partikularistischer und universalistischer Körpermetaphorik un-überbrückbar ist. Annette Kolb hingegen setzt auf die Familienmetaphorik und ent-wirft im Bild der Schaukel die Figur einer diskreten und sympathischen Zusammen-gehörigkeit, die sich der Kraft des Dazwischen verdankt und über die Familien hinweg bewegt und verbindet. Dass gerade die Literatur in der Lage ist, Europa in seinen unsichtbaren Relationen darzustellen, wird in genauer Textlektüre nachdrück-lich vor Augen geführt.

In seinem mit autobiographischen Bezügen durchsetzten Drama El rapto de Eu-ropa o siempre se puede hacer algo, 1945 im mexikanischen Exil verfasst, thematisiert der spanische Schriftsteller Max Aub die krisenhafte Situation des europäischen Kontinents zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Das Stück verknüpft autobiographi-sches Schreiben, ‚Arbeit am Mythos‘ und politische Kritik zu einer Hommage an die humanitäre Arbeit des Emergency Rescue Committee um Margaret Palmer und Varian Fry, das Anfang der 1940er-Jahre zahlreichen europäischen Intellektu-ellen die Flucht ins Exil über Marseille ermöglichte. cerstin Bauer-FunKe zeigt in ihrem Beitrag, wie das Stück durch seine Figurenkonstellation, aber auch durch die Semantisierung räumlicher und temporaler settings die Situation zu Beginn der 1940er-Jahre in ein „drama real“ übersetzt. Dabei legt sie die komplexen Mythos-verhandlungen offen, die aus dem klassischen Repertoire bei Moschus, Ovid und Horaz u. a. die Motive von Bewegung, Verlust, Verlangen und Hoffnung auf Aubs Gegenwart übertragen. Europa erscheint in der durch drei Figuren gebrochenen Darstellung im Stück nicht nur, wie bei anderen zeitgenössischen Autoren, als Opfer des Faschismus, sondern auch als humanistisch-aufgeklärtes Ideal, das der Barbarei entgegensteht. Im Stück findet Bauer-Funke die politische Vision eines kosmopolitischen, von ,convivencia‘ geprägten Europas in einer existentiellen Krise.

cornelia BlasBerg beleuchtet Europa aus der Perspektive zweier Grundlagen-werke der europäischen Literaturwissenschaft, Erich Auerbachs Mimesis. Darge-stellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, erschienen 1946 im Istanbuler Exil, und Ernst Robert Curtius’ Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, publiziert 1948. Für beide, und für den Exilierten Auerbach umso mehr und im ganz realen Sinn, ist Europa nach der nationalsozialistischen Diktatur, dem Holo-caust und der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs eine verlorene Größe, die sie in-dessen, auf je verschiedene Weise, in der Geschichte und speziell in der For-

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mensprache der europäischen Literatur aufgehoben und restituiert sehen. Begreift Auerbach die Europäizität der Literatur als einen historisch gewachsenen Raum der Begegnung von Texten und Kunstwerken, der ‚Europa‘ als ein dynamisches und, wie Blasberg formuliert, „verweisungsintensives“ Verhältnis zur Wirklichkeit kons-tituiert, so stellt sich Europäizität im Blick Curtius’ als ein Archiv von Gedächtnis- orten dar, die dem europäischen Geist gewissermaßen als Medien der Selbstver-ständigung dienen. Der Beitrag widmet sich ferner der Rolle Stefan Georges und Rudolf Borchardts für ein Verständnis von Europa als einer revolutionären literari-schen Widerstandsformel.

Mit Filmen, die für Europa werben, setzt sich gaBriele cleMens auseinander. Scheint die gegenwärtige Krise Europas nicht zuletzt eine Krise der mangelnden Identifizierung der Menschen in Europa mit Europa zu sein, sahen schon die Gründerväter der europäischen Einheitsbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg die Notwendigkeit, mittels gezielter Werbekampagnen die Bürgerinnen und Bür-ger Europas für ein Zusammenwachsen des Kontinents zu begeistern. Im Rahmen des European Recovery Program (ERP/Marshallplan) wurden ca. 300 Filme ge-dreht, die für eine europäische Integration im Sinne eines großen, zollfreien Wirt-schaftsraumes warben. Eine weitere Kampagne wurde in den 1950er-Jahren lan-ciert. Im Mittelpunkt der Werbefilme standen der europäische Mensch, Europa als gemeinsamer Kultur- und Geschichtsraum und schließlich Europa als grenzfreier Raum und Hort des Wohlstands. Dem Typus des ‚alten‘, in nationalistischen Ste-reotypen verharrenden Europäers wird der ‚neue‘, von Vernunft, Toleranz und Em-pathie geprägte Europäer gegenübergestellt, der sich durch Offenheit, Mobilität und Fleiß auszeichnet. Die Filme zeigen den europäischen Kontinent einerseits als von Natur und Klima begünstigt, andererseits als Hort einer in die Antike zurück-reichenden überlegenen Kultur, deren Kontinuität Europa zivilisatorisch über an-dere Regionen der Welt stellt. Antike, Christentum, Aufklärung, Menschenrechte, Demokratie und wissenschaftlich-technischer Fortschritt schreiben ein europäi-sches Progressionsnarrativ, das mit dem Versprechen unbegrenzten Wohlstands einhergeht. Kritische Töne im Hinblick auf Agrarprobleme und Umweltver-schmutzung in Europa werden indessen erstmals Ende der 1970er-Jahre vernehm-bar.

Der Beitrag von Martina Wagner-egelhaaF schreibt eine kleine Literaturge-schichte des Topos ‚Böhmen am Meer‘ und erhellt dabei seine Relevanz für die Europa-Debatte. Die dem Topos eignende zeit-räumliche Verschiebung wird dabei mit unterschiedlichen Dimensionen des Krisenbegriffs in Verbindung gesetzt. Aus-gehend von Hans Magnus Enzensbergers Essayband Ach Europa! von 1987, der ein literarisches gegen ein als krisenhaft empfundenes politisches Europa ausspielt, liest der Beitrag Ingeborg Bachmanns berühmtes Gedicht „Böhmen am Meer“ aus dem Jahr 1964 als intrikates Wechselverhältnis von Krise und Aufbruch. Ausführlich analysiert wird Shakespeares A Winter’s Tale (1611), das den Topos, nicht zuletzt auf der Grundlage realhistorischer Gegebenheiten, erstmals ausgestaltet. Die Ro-manze entwirft auf der Grundlage einer Familienkrise eine wirkmächtige imaginäre Topographie, die das dramatische Personal wiederholt und in verschiedenen Rich-

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tungen zum Aufbruch drängt. Eine dezidiert politische Lesart des Topos bieten Erich Fried (1983) und Franz Fühmann (1962) an, während Volker Braun 1992 die Krise der Wende in die Apokalypse führt. Der junge tschechische Autor Jaros-lav Rudiš schließlich bietet in seinem Roman Potichu von 2007 ein nicht unkriti-sches, aber gleichwohl unhintergehbares Bild des globalisierten Europas, dessen Puls in Prag, dem böhmischen Zentrum des alten Kontinents, gemessen wird. In allen analysierten Texten steht ‚Böhmen am Meer‘ für eine Deterritorialisierung, die herkömmliche Grenzziehungen außer Kraft setzt.31

31 Der Band geht auf eine Ringvorlesung unter dem Titel „Europa. Literarische Figurationen“ zurück, die im Rahmen des DFG-geförderten „Europa-Kollegs“ im Sommersemester 2014 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster gehalten wurde. Hinzugenommen wurde der Beitrag von Ursula Hennigfeld. Herausgeberin und Herausgeber danken sehr herzlich Wolf Wellmann für seine sorgfältige Redaktion des Bandes.

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Juri andruchoWytsch

Der Preis der Werte, oder Unsere Dissonanzen1

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Demnächst, in nur neun Tagen, ist es ein Jahr her, dass wir in eine andere Wirk-lichkeit geraten sind. Das Wort „wir“ verwende ich hier im allerweitesten Sinne – wir, die Bewohner der Ukraine, ihre Bürger. Es geht mir nicht um politische Orientierung oder kulturell-sprachliche Präferenzen, daher verallgemeinere ich vorerst – alle Bürger der ganzen Ukraine. Uns eint jetzt etwas, das man im Westen, vor allem hier, in der Zone von Komfort und Sicherheit inmitten des sogenannten Alten Europa, immer schlechter versteht: das Leiden. Ich entschuldige mich so-gleich für dieses pathetische Wort. Aber es geht derzeit nicht ohne.

Noch vor einem Jahr waren wir ganz woanders. Heute aber befinden wir uns in einem ausgewachsenen Konflikt, dessen Ende nicht absehbar ist, in einem hybri-den Krieg mit tausenden von Gefallenen, Verwundeten und Vermissten. Die Auf-zählung könnte man in Richtung einer immer grausameren Detailtiefe erweitern, indem man zum Beispiel noch die Hingerichteten, Gefolterten, Verstümmelten nennt. Die sogenannten Donbasser „Volksrepubliken“ haben schon vor ein paar Monaten durch ihre „Parlamente“ die Todesstrafe eingeführt, sie erschießen und erhängen. Ein archaisch-vorzivilisatorisches Phänomen, das noch vor einem Jahr als jemandes extrem krankhafte Fantasie erschien – Todesurteile auf dem Gebiet meines Landes?!

Aber das ist nur ein Aspekt, ein Segment der eigensinnigen Realität.Leider mussten wir uns im Verlauf des vergangenen Jahres mehr als einmal

davon überzeugen, dass diese Realität existiert – wir mögen uns noch so sehr wei-gern, sie noch so sehr ablehnen. Manchmal erschien dieses Jahr wie ein endloser Horrorfilm. Manchmal als endloser Alptraum.

Seltsam, aber wenn Sie mich jetzt fragen, ob ich (bei aller physischen Unmög-lichkeit einer solchen Art der Wiederkehr) wollte, dass die Zeit zurückgedreht würde und wie eine verkehrt herum eingelegte Filmrolle rückwärts liefe, dass also wieder der 12. November 2013 wäre, dann antworte ich – nein.

Das heißt also, dass ich die erreichte Freiheit trotz allem höher bewerte als die erlittenen Verluste, und dass ich an die Unumkehrbarkeit der Veränderungen glaube, die an jenem Abend des 21. November 2013 begannen, als die ersten paar hundert Demonstranten auf dem Hauptplatz von Kiew zusammenkamen, um ihren Protest gegen das Scheitern der Eurointegration zum Ausdruck zu bringen.

1 Rede zur Eröffnung der Internationalen Buchmesse Wien am 12. November 2014.

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Ja, an jenem Abend waren sie nur ein paar hundert. Doch nur zehn Tage vergingen, und sie waren fast eine Million. Ab dem 1. Dezember war auch ich dort, war einer von ihnen.

2

Worum ging es uns, was wollten wir eigentlich?Das ist eine sehr wichtige Frage, auch deshalb, weil sie wie ein Kokon andere in

sich birgt.Was ist das, die Europäische Wahl der Ukraine? Wozu brauchen wir sie? Wie

stellen wir uns Europa, die EU und uns selbst in diesem Projekt vor? Wovon wollen wir uns abwenden, womit brechen?

Genau das trifft es – wir gehen weg, wir brechen mit der Vergangenheit. Juris-tisch haben wir das vor 23 Jahren getan, als wir aufhörten, ein Teil der Sowjetunion zu sein. Faktisch kämpfen wir immer noch um das Recht auf diesen Bruch, das Recht auf Austritt. Eine Art ukrainische Langversion von „Let My People Go“.

In diesen 23 Jahren wurde im postsowjetischen Raum kein einziger Konflikt gelöst. Aber was heißt nicht gelöst – das größte und einflussreichste Land dieses Raums, das doch nach Befriedung und Aussöhnung streben sollte, tut selbst alles, um Kriege anzufachen, es organisiert sie ununterbrochen. In diesem Raum entste-hen immer wieder irgendwelche chimärischen zwischenstaatlichen Gebilde, angeb-lich geschaffen um wirtschaftliches Wachstum zu fördern und um – das alte Lied – den Westen einzuholen und zu überholen. Die Gebilde heißen immer anders: Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, Einheitlicher Wirtschaftsraum, Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft, Zollunion – um nur ein paar zu nennen, alle kann sich sowieso niemand merken. Trotz des häufigen Namenswechsels dieser Phantompro-jekte bringen sie kein Wirtschaftswachstum, und jedes einzelne ist in Wirklichkeit ein weiterer kaum verschleierter Versuch, das sowjetische Neoimperium wieder zu errichten. Trotz des Geredes über die Priorität der Wirtschaft und „die Verbesse-rung des Lebensstandards“ handelt es sich ausschließlich um politische Projekte, die vor allem dem Machterhalt dienen.

Wie der bekannte politische Beobachter Vitalij Portnikow schreibt:

Es wurde keine einzige Wirtschaftsreform durchgeführt: sogar die Integrationsab-kommen werden auf eine Art und Weise formuliert, dass sie dem Machterhalt der vor Schrankenlosigkeit und Mammon trunkenen Machthaber und dem der Oligarchen in ihrem Orbit dienen. Die Rechtsprechung ist praktisch abgeschafft – durch Korrup-tion und unverhüllte Parteilichkeit. Das politische Leben ist liquidiert – jedes Auf- treten gegen die Staatsmacht wird voller Grausamkeit und Hass gegen die eigenen Bürger unterdrückt, und in diesem Sinne unterscheiden sich die ‚europäischen‘ Hauptstädte Moskau oder Minsk nicht wesentlich vom zentralasiatischen Taschkent oder Astana. Der politische und der Verwaltungsapparat sind degradiert – wo doch die Machthaber selbst nichts anderes tun, als das Geld untereinander aufzuteilen, sich und ihre Umgebung zu bereichern, und der Menge ärmliche Kupferlinge hinzuwer-

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23DER PREIS DER WERTE, ODER UNSERE DISSONANZEN

fen. Sie haben die Konkurrenz de facto vernichtet und alle Bedingungen geschaffen für den Triumph von Inkompetenz, Dummheit und Speichelleckerei. Die GUS [und, wie ich hinzufügen möchte, auch alle weiteren Variationen moskauzentristischer zwi-schenstaatlicher Gebilde – J.A.] wurde nicht etwa zu einer neuen Sowjetunion, viel-mehr ist sie deren absolut armselige Karikatur.2

Aus dieser Karikatur – einer wirklich ziemlich armseligen, aber, wie ich hinzufügen möchte, manchmal entsetzlichen und grausamen, jedenfalls verbrecherischen Kari-katur, aus diesem Weg ins Nirgendwo versucht die Ukraine auszubrechen. Wäh-rend der letzten 23 Jahre hat sich unter den Ukrainern die feste Überzeugung ge-bildet, dass es für uns keine bessere Alternative als die europäische gibt. Dass dieses Verständnis sich bei den meisten Ukrainern erst allmählich durchgesetzt hat, ist nur natürlich. Es ist gereift, es reift noch immer. Ja, wir waren auf der Suche nach uns selbst, haben viel und oft geirrt. Jedoch haben wir schon 2004, auf dem ersten, damals orangefarbenen Maidan, einen sehr überzeugenden Versuch unternom-men. Der Erfolg wurde später getrübt, am Ende standen wir nur mit zwei Errun-genschaften da – aber mit was für welchen:– Der Maidan in Kiew galt fortan als „magischer Ort“ für siegreiche Protestäuße-

rungen der Gesellschaft.– Die zehn- bis zwölfjährigen Kinder, die an den Händen ihrer Eltern auf den

ersten Maidan gegangen waren, wurden nun als 20jährige die treibende Kraft des neuen Maidan, der sofort „EuroMaidan“ getauft wurde.

Braucht es weitere Erklärungen, wofür wir auf die Straße gingen? Für welches kon-krete Europa eigentlich? Natürlich für unsere Zukunft, so pathetisch das auch klin-gen mag. Aber für den pathetischen Ton habe ich mich ja schon entschuldigt.

Vor kurzem habe ich Fernsehbilder aus Spanien gesehen, wo die Bauern, erbost über die Handelssanktionen der EU gegen Russland, wegen denen sie Probleme hatten, ihre Produkte zu verkaufen – vielleicht Orangen – als Zeichen des Protestes die EU-Fahne verbrannten. In genau solche Fahnen hüllten unsere Menschen auf dem Maidan die Ermordeten, bevor sie die Leichen in den Sarg legten.

Das beste Beispiel dafür, dass auf dieser Welt weiter Verständnislosigkeit herrscht. Die einen wollen auch nicht auf wenige Cent ihres Wohlstandes verzichten und verbrennen wütend das Symbol des systeMs, das beschlossen hat, diesen Wohl-stand zu begrenzen. Die andern sterben unter diesem Symbol einen alles andere als symbolischen Tod, denn der Wert der Fahne bemisst sich für sie weder in Cent noch in Euro. Diese Fahne ist überhaupt unbezahlbar, denn hier und jetzt, auf diesem Maidan, steht sie für nicht weniger als Menschenwürde. Mehr noch – für den Sinn des Daseins.

2 Vitalij Portnikov, Osennije voždi [dt. wörtl. Herbstliche Führer] (http://grani.ru/opinion/portnikov/m.233837.html) (05.08.2015).

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Im Ukrainischen haben ,Wert‘ und ,Preis‘ dieselbe Wurzel. Die spürbare Dissonanz zwischen uns und unseren europäischen Zeitgenossen liegt gerade in den beiden phonetisch nahen aber von der Bedeutung her so unterschiedlichen Worten. Das Unverständnis rührt daher, dass die Europäer an Preise denken, und wir an Werte.

Wenn die spanischen Bauern die EU-Fahne verbrennen, dann geht es ihnen um Handelssanktionen und den Preisverfall bei Orangen. Wenn aber ein 19jähriger ukrainischer Student unter den Kugeln von Scharfschützen im Kiewer Regierungs-viertel umkommt und dabei eben jene EU-Fahne mit den Händen umklammert, dann geht es ihm um Freiheit und Gerechtigkeit.

Wenn der französische Präsident sagt, dass er nicht anders kann als zumindest einen der Hubschrauberträger „Mistral“ nach Russland zu verkaufen, da der Ver-tragspreis über eine Milliarde Euro beträgt, dann geht es ihm genau darum – um den hohen Preis. Wenn aber Ukrainer, und zwar nicht die reichsten, in wenigen Tagen 20.000 oder auch 40.000 Euro für eine dringende Operation eines schwer verwundeten Soldaten spenden, dann wollen sie ein Menschenleben retten.

Wenn sich ein Bonze der Österreichischen Handelskammer beschwert, dass das Einreiseverbot für Russen aus Putins Umgebung zu einem Gewinneinbruch bei den Juwelieren im Wiener Ersten Bezirk führen wird, dann geht es ihm eben um den Gewinneinbruch. Wenn aber sich zwei ukrainische Offiziere, von Terroristen umzingelt und schwer verwundet, mit einer Granate in die Luft sprengen, um Folter zu entkommen und beim Scheiden möglichst viele Feinde mit in den Tod zu nehmen, dann geht es um Menschenwürde.

Diese Situationen lassen sich nicht vergleichen, mögen Sie sagen. Wieso sie ein-ander gegenüberstellen, wenn sie überhaupt nichts miteinander zu tun haben? Es handelt sich um zwei unterschiedliche Realitäten – in jeder Hinsicht.

Darauf ich: Sie haben recht.Es stimmt, dass wir nichts mehr miteinander zu tun haben. Es gibt kaum Berüh-

rungspunkte zwischen uns, zwischen der Ukraine und Europa. Europa hat in sei-ner absolut erfolgreichen Entwicklung das Endziel erreicht, es ist vor allem zu einer Zone des Wohlstands, Komforts und der Sicherheit geworden, oversecured, overpro-tected, overregulated, ein Territorium aufgeblähter und irgendwie beigelegter Prob-leme und Konflikte, politisch korrekt und steril. In der Ukraine aber wird Blut vergossen, und das ist noch milde ausgedrückt, denn wenn ich anfinge hier zur Veranschaulichung zu beschreiben, auf welche Art Blut vergossen werden muss, dann würden Sie erschrecken. Und ich bin nicht hier, um Sie zu erschrecken. Noch vor einem Jahr hätte ich mir solche Schrecken auch nicht einmal im Traum vorstel-len können.

Ich belasse es also dabei zu sagen, dass die Ukraine in eine Zone von Tod und Grausamkeit geraten ist, eine Zone entsetzlicher und bitterer Prüfungen. Das ge-schah nicht aus ihrem freien Willen, sie hat nicht dorthin gestrebt, sondern zu Ihnen, nach Europa – in eine ganz entgegengesetzte, warme und komfortable Zone, aber wie es scheint, musste sie dorthin geraten, wo sie jetzt ist. Sie wurde

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25DER PREIS DER WERTE, ODER UNSERE DISSONANZEN

gewaltsam dorthin getrieben – aber nicht etwa durch irgendwelche mystischen Kräfte, sondern ganz einfach durch eine militärische Macht. Unser Gegenspieler erwies sich als zu böse – „der einflussreichste Politiker der Welt“3 immerhin.

Angesichts dieser Erschütterungen verschließt Europa sich, das ist verständlich. Wenn ich sage: „Bei uns herrscht Krieg“, verbessern mich meine deutschen Freunde geduldig wie Erwachsene ein Kind: „Ihr durchlebt eine Krise“. Obwohl es in Wirk-lichkeit nicht unsere Krise ist, sondern die Krise Russlands, seiner halbirren impe-rialen Ambitionen, die sich zum Glück in unserer Welt nicht mehr vollständig verwirklichen lassen. Daher rührt ja auch seine Krise.

Und wenn ich sage, dass der russische Präsident unser Feind ist, dann versichern sie noch geduldiger: „Er ist Partner“.

Dissonanz um Dissonanz, wie Sie sehen.

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Aus meinen unzähligen Gesprächen im Westen und vor allem in Europa geht her-vor, dass man uns nicht nur nicht versteht, sondern, schlimmer noch – dass man gar nicht versucht uns zu verstehen. Stattdessen treffe ich viel zu häufig Leute, die Putin verstehen. Offenbar fällt es den Europäern leichter, ihn zu verstehen als uns. Es bleibt eine schmerzhafte Frage, warum dem friedlichen politisch korrekten Eu-ropa der Aggressor näher und daher verständlicher erscheint als das Opfer seiner Aggression.

Ich habe einen bösen Verdacht: Die EU fürchtet die Ukraine. Die EU hat es auch ohne die Ukraine nicht leicht, und jetzt auch noch dieser failed state mit sei-nem schlechten Karma. Früher kannte man ihn ausschließlich als Vaterland von Tschernobyl und Nutten. Jetzt kommen Tod, Krieg, Flüchtlinge, Leiden, Folter und die abgeschossene Malaysische Boeing dazu (egal, dass es eben gerade keine Ukrainer waren, die sie abgeschossen haben), auch andere milde gesagt unange-nehme Signale wie Nationalismus, Faschismus und Rechtsradikale. So ein Land hält man besser in sicherer Entfernung, überlegen die Europäer. Ja, natürlich längst nicht alle – schon wieder verallgemeinere ich, wenn ich die erwähnten Reflexe aus-nahmslos allen Europäern zuschreibe. Nicht alle, aber leider in hohem Maße jene, die direkten Einfluss auf die Entscheidungsfindung in der europäischen Politik haben.

Ich habe eine eigene ,Verschwörungstheorie‘, die man wahrscheinlich nicht ganz ernst nehmen sollte, die ich aber einfach nicht für mich behalten kann. Schon nach der Orangefarbenen Revolution 2004 habe ich erstmals darüber nachgedacht – und seitdem mehrere Bestätigungen erhalten, die meine Annahmen stützten. Die Intensität der ukrainisch-europäischen Beziehungen war während den Präsident-schaften Viktor Juschtschenkos und Viktor Janukowytschs äußerst unterschiedlich,

3 Im November 2014 hatte das US-Magazin Forbes Putin das zweite Jahr hintereinander zum ein-flussreichsten Erdbewohner gekürt (http://www.forbes.com/powerful-people/list/) (07.08.2015).

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aber anders, als man glauben könnte. Juschtschenko (teils vielleicht sogar berech-tigt) löste bei der EU dezidiert kühle Reaktionen aus, obwohl doch überall davon geredet wurde, endlich gäbe es in der Ukraine einen guten, europäischen Politiker. Als aber der brutale und ungebildete Wahlfälscher (das war ja allgemein bekannt) Janukowytsch an die Macht kam, erwärmte sich die EU auf beeindruckende Weise und begann, ihn auf jede nur erdenkliche Art in den eigenen Orbit einzuladen. Aus den offiziellen Erklärungen der EU-Kommissare und anderer Bosse ergab sich, dass die Ukraine ihre ,Hausaufgaben‘ wunderbar erledige und sich mit mächtigen Schritten den europäischen Standards annähere. Ich begann zu glauben, dass genau so die Schaukelpolitik aussieht, die doch eigentlich für ewig unsere Bestimmung ist: wenn in der Ukraine ein pro-westlicher Politiker an der Macht ist, dann muss man die Ukraine auf Abstand halten, ist es ein pro-russischer – dann ihre Annähe-rung betreiben. Wichtig jedoch, dass wir weder im einen noch im anderen Fall das Recht auf Vollmitgliedschaft bekommen. Dass die Ukraine den Status-quo eines „Landes zwischen Russland und dem Westen“ behält. Obwohl offiziell von einer „Pufferzone“ nicht die Rede ist, denn die Zeiten zynischer Geopolitik sind ja an-geblich vorüber.

Das sind sie leider nicht. Wenn wir unserem gemeinsamen Partner, dem russi-schen Präsidenten, sagen, sie seien vorüber, dann lacht er nur laut und lange.

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Tatsächlich aber funktionieren geopolitische Pläne und Spielchen in der Ukraine nicht – dafür sorgen die Ukrainer selbst. Das ist noch ein Beispiel, wie man uns im Westen missversteht – der Blick auf die Ukraine als eine Art Truppendurchmarsch-platz mal in östliche, mal in westliche Richtung. Die Amerikaner, an allem sind die Amerikaner schuld, wiederholen meine europäischen Bekannten immer wieder. Sie sind es, die euch die Köpfe verdrehen und euren Maidan bezahlen. Und das einzig und allein, um Russland zu schwächen.

Erstens, antworte ich, ist es wirklich lebenswichtig, Russland zu schwächen – es ist euphorisch, es ist gefährlich. Sein Präsident deutet vielleicht im Spaß, vielleicht im Ernst einen Blitzkrieg in Osteuropa an. Wenn er maliziös lächelnd „Riga, Vil-nius, Warschau, Bukarest“ sagt, dann habe ich den Eindruck, dass die Vereinigten Staaten von Amerika der einzige Grund sind, warum er seine Armeen noch nicht hingeschickt hat.

Außerdem, widerspreche ich weiter, gehen wir nicht deshalb auf den Maidan, weil uns die Amerikaner dafür bezahlen, sondern weil es unser Wille ist. Das ukra-inische Wort Wille, ,Volja‘, ist gleichzeitig ein Synonym für Freiheit. Die übrigens sowohl für Europa als auch für Amerika einen der grundlegenden Werte darstellt. Das, was Etienne Balibar mit dem schönen französischen Wort égaliberté bezeich-net – Freiheit in Gleichheit.4 Dafür haben sich die Ukrainer erhoben. Für diesen

4 Étienne Balibar, La proposition de l‘égaliberté, Paris, 2010.

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27DER PREIS DER WERTE, ODER UNSERE DISSONANZEN

Wert sind wir bereit, unvergleichlich mehr zu bezahlen, als irgend ein Amerika fi-nanzieren könnte. Im Januar-Februar dieses Jahres hat sich gezeigt, dass wir sogar mit unserem Leben zu bezahlen bereit sind.

Die Ukrainer gehen auf den Maidan und ändern die Tagesordnung, sie schrei-ben sie neu, anders, und hebeln dabei alle listige Geopolitik aus. Amerika kann nicht schnell genug reagieren, die EU erklärt orientierungslos zum tausendsten Mal ihre „tiefe Besorgnis“, und Russland fällt brutal bei uns ein. Da haben Sie Ihre Geopolitik.

Uns bleibt nur, uns zu verteidigen – verzweifelt und, um ehrlich zu sein, einsam. Gebe Gott, dass diese Einsamkeit nicht, wie im Roman, hundert Jahre dauert. So lange halten wir nicht durch.

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Obwohl die Einsamkeit (lies: die Autarkie) an sich nichts Schlechtes ist. Es ist wunderbar, neutral zu sein und sich niemandem anzuschließen, vor allem nicht der NATO! Wunderbar, wenn man die Schweiz, Slowenien oder die Slowakei als Nachbarn hat. Wenn zum Beispiel Norwegen der Nachbar der Ukraine wäre, dann wäre die Boeing 777 von Malaysia Airlines glücklich in Kuala Lumpur angekom-men. Wer könnte das bezweifeln? Aber leider unterscheidet sich unser großer Nachbar ganz wesentlich von Norwegen.

Aus Kindertagen erinnere ich mich an die Zeitungsrubrik für Neugierige „Haben Sie gewusst ...?“. Manchmal will auch ich Ihnen diese Frage stellen. Haben Sie gewusst, dass die Zahl der Ukrainer, die einen NATO-Beitritt befürworten, im vergangenen halben Jahr nach den einen Umfragen um das Dreifache, nach ande-ren um das Vierfache gestiegen ist? Dass also noch vor einem Jahr der Prozent- satz der Ukrainer – damals noch mit der Krim – die für die NATO waren, 10 bis 14 Prozent betrug, heute aber 52?

Und das nicht, weil die Ukrainer auf einmal verrückt geworden sind und Krieg oder Aggression wollen. Im Gegenteil – weil sie den Frieden wollen, sofortigen, unverzüglichen Frieden, weil sie wollen, dass die Aggression des großen Nachbarn gegen ihr Land so schnell wie möglich aufhört. Und das Besondere an diesem Nachbarn ist, dass soft power bei ihm nicht wirkt. Er reagiert nur auf hard power. Natürlich ist das archaisch, weswegen er am Ende verlieren wird, aber das passiert irgendwann später, heute aber werden jeden Tag auf Befehl und nach Plan dieses Nachbarn Bürger meines Landes ermordet, seine Verteidiger. Jeden Tag und jede Nacht, können Sie sich das vorstellen? Es ist ein endloses Balancieren zwischen Leben und Tod.

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Auf einer Podiumsdiskussion hat eine deutsche Schriftstellerin kürzlich erklärt, den europäischen Literaturen blieben heute nur zwei große Themen – Alzheimer und Krebs. Alles andere sei quasi überwunden, Komfort und Sicherheit sind grenzen-los, Tragödien und Leiden wird es nicht mehr geben.

Dem kann und sollte man widersprechen, aber ich finde allein die Tatsache sig-nifikant, dass ein solcher Gedanke in Europa formuliert wird, somit die Innenper-spektive zeigt. Also enthält er wenigstens ein Körnchen einer Wahrheit, die uns Ukrainern noch völlig fremd ist.

Während ich diese Zeilen schreibe, will mir einfach nicht einfallen, wie die Geg-ner der Euroskeptiker heißen. Wer erinnert sich, wie diejenigen hießen, die „für Europa“ waren? Es scheint, als seien in Europa, beziehungsweise in der EU, bloß Euroskeptiker übrig geblieben. Und die einzigen wirklichen Euro-Optimisten (endlich ist mir das Wort wieder eingefallen: Euro-Optimisten!) haben ungefähr vor einem Jahr ihre Alltagswirklichkeit verlassen und sind auf die Plätze der ukrai-nischen Städte gezogen, um ihren – wenn wir es nüchtern betrachten – hoffnungs-losen Protest zu beginnen. Dieser Protest hatte im Grunde keine Chance. Wie und warum er schließlich doch gesiegt hat, ist eine Frage für Autoren künftiger Ro-mane. Eine sehr wesentliche Anmerkung: Diese Romane müssen genial sein. Aber es geht mir nicht um Romane und nicht um ihre Autoren. Eher um die Helden, von denen die meisten der Welt gar nicht bekannt sind.

Viel zu viele von ihnen sind schon nicht mehr unter den Lebenden. So sehr ich auch wünschte, dass dieser Satz eine Übertreibung wäre – er ist es nicht, leider. Wir können diese Menschen nicht zurückholen. Andere sind für immer ohne Augen, Hände oder Beine geblieben oder haben auf andere Weise ihre Gesundheit einge-büßt, ihre Kräfte, ihre Jugend. Man kann und muss sie unterstützen – nicht nur mit Prothesen, sondern mit Aufmerksamkeit, Mitgefühl und Liebe. Aber nie mehr werden sie so aufrecht und jung sein wie in dem Moment, als sie auf die Barrikaden gingen – unter der Europäischen Flagge.

Behalten Sie uns alle in Erinnerung. Wir waren einsam und haben nicht nur unsere eigene égaliberté verteidigt, sondern auch Eure. Verzeihen Sie – ganz unge-wollt sind wir zu Ihren Gewissensbissen geworden.

Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr

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Bruno Quast

Bedrohte Christenheit. Über Ikonologie im Rolandslied des Pfaffen Konrad

Um 800 steht der größte Teil der lateinischen Christenheit unter der Herrschaft Karls des Großen.1 Papst Leo III. gerät 799 in Rom in Bedrängnis.2 Er wird einge-sperrt und noch im gleichen Jahr sucht er nach geglückter Flucht Karl den Großen in Paderborn auf. Karl hat in einem Glückwunschschreiben anlässlich der Wahl Leos III. zum Papst diesem erklärt, dass er, Karl, der König, sowohl für die Vertei-digung der Christenheit gegen äußere Feinde als auch für die innere Reinheit des christlichen Glaubens zuständig sei, während er vom Papst lediglich Gebetshilfe erwarte. Karl versteht sich also als väterlicher Herrscher über ein fast die gesamte lateinische Christenheit Kontinentaleuropas zusammenfassendes Reich.

Um die Zeit der Kaiserkrönung herum, die am 25. Dezember des Jahres 800 in Rom stattfindet, wird ein Epos verfasst, dessen erhaltener Teil das Zusammentref-fen von Karl und dem auf der Flucht befindlichen Papst schildert. Der unbekannte Verfasser dieses panegyrischen Epos, das mal als ,Paderborner Epos‘, mal als ,Aa-chener Karlsepos‘ firmiert,3 bezeichnet Karl mit dem Ehrentitel „pater Europe“4, Vater Europas, und zeichnet ihn darüber hinaus mit weiteren honorativen Formeln aus: Karl sei „Europae venerandus apex“5‚ der verehrungswürdige Gipfel Europas, er sei „Europae veneranda pharus“6, der verehrungswürdige Leuchtturm Europas, an anderer Stelle „Europae […] celsa pharus“7, Europas ragender Leuchtturm. Doch was ist hier mit Europa eigentlich gemeint? Einigen Zeitgenossen gilt Karl als Oberhaupt Europas, eines Europa, das offenbar mit dem fränkischen Reich als politischer Größe gleichgesetzt werden konnte. Das mit Europa identifizierte Karls-reich ist aber auch ein imperium christianum, ein dezidiert christlicher Herrschafts-

1 Vgl. zur historischen Bedeutung Karls die neueren Gesamtdarstellungen von Johannes Fried, Karl der Große. Gewalt und Glaube. Eine Biographie, München, 2013, und Stefan Weinfurter, Karl der Große. Der heilige Barbar, München, Zürich, 2013.

2 Vgl. Franz-Reiner Erkens, „Karolus Magnus – Pater Europae? Methodische und historische Prob-lematik“, in: 799. Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Pader-born, Bd. 1, Katalog der Ausstellung Paderborn 1999, hg. v. Christoph Stiegemann und Matthias Wemhoff, Mainz, 1999, S. 1-9.

3 Zitiert wird nach der Ausgabe: De Karolo rege et Leone papa, hg. und übers. v. Franz Brunhölzl, Paderborn, 1999 (Studien und Quellen zur Westfälischen Geschichte 36. Beiheft); grundlegend hierzu: Dieter Schaller, „Das Aachener Epos für den Kaiser Karl“, in: Frühmittelalterliche Studien 10 (1976), S. 134-168.

4 De Karolo rege, S. 44 [94], 504 5 De Karolo rege, S. 16 [66], 93. 6 De Karolo rege, S. 20 [70], 169. 7 De Karolo rege, S. 10 [60], 12.

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