Forster - Reflexivität [2014]

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Reflexivität Edgar Forster Einleitung Unter Reflexivität versteht man in der Alltagssprache die Fähigkeit des Menschen, das eigene Denken und Handeln zum Gegenstand des Nachdenkens zu machen. Ohne sys- tematischen Unterschied werden die Wörter Reflexivität, Reflexion und Reflektiertheit verwendet, um die Vorstellung auszudrücken, dass der Mensch ein sich selbst erken- nendes Subjekt ist. Reflektieren heißt „zurückstrahlen, spiegeln; nachdenken, grübeln, erwägen; etwas in Betracht ziehen, erstreben, im Auge haben“. Reflexivität wurde im 17. Jahrhundert dem lateinischen re-flectere (reflexum) „zurückbiegen, zurückwenden“ (bzw. lat. animum reflectere, „seine Gedanken auf etwas hinwenden“) entlehnt. Das Substantiv Reflexion (frz. réflexion) stammt ursprünglich aus der Optik und bedeutet „Rückstrahlung“ (von Licht, Schall oder Wärme), oder im weiteren Sinn „Vertiefung in einen Gedankengang, Überlegung, Betrachtung“. Das Adjektiv reflexiv, „rückbezüglich“, mit der älteren Bedeutung „auf sich selbst zurückwirkend“ ist eine gelehrte neulateini- sche Bildung aus dem 19. Jahrhundert. In der Geschichte der Philosophie wird die Bedeutung des Begriffs Reflexion (aber nicht das Wort selbst) zuerst mit Aristoteles’ Darstellung der höchsten theoretischen Aktivität, dem „Denken des Denkens“ (nóesis noèseos), in Verbindung gebracht. Urs Schällibaum (2001) zeigt in seiner philosophiegeschichtlichen Untersuchung der Be- griffe Reflexion und Reflexivität, dass Reflexivität in jeder ausgestalteten Philosophie am Werk ist. Weder historisch noch systematisch lassen sich die beiden Begriffe von- einander trennen. Anders als in den philosophischen Wörterbüchern, wo das Wort Re- flexion und nicht das Wort Reflexivität vermerkt ist, ist für Schällibaum Reflexivität in einem historischen Sinn ursprünglicher als die eorie der subjektiven Reflexion, die die philosophische Methode anstelle des Gegenstandes zum ema macht. Reflexivi- tät umfasse zugleich die als allgemeines ema gedachte subjektive Reflexion und das C. Wulf, J. Zirfas (Hrsg.), Handbuch Pädagogische Anthropologie, DOI 10.1007/978-3-531-18970-3_54, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014

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Re"exivität

Edgar Forster

Einleitung

Unter Re%exivität versteht man in der Alltagssprache die Fähigkeit des Menschen, das eigene Denken und Handeln zum Gegenstand des Nachdenkens zu machen. Ohne sys-tematischen Unterschied werden die Wörter Re%exivität, Re%exion und Re%ektiertheit verwendet, um die Vorstellung auszudrücken, dass der Mensch ein sich selbst erken-nendes Subjekt ist. Re%ektieren heißt „zurückstrahlen, spiegeln; nachdenken, grübeln, erwägen; etwas in Betracht ziehen, erstreben, im Auge haben“. Re%exivität wurde im 17. Jahrhundert dem lateinischen re-!ectere (re!exum) „zurückbiegen, zurückwenden“ (bzw. lat. animum re!ectere, „seine Gedanken auf etwas hinwenden“) entlehnt. Das Substantiv Re%exion (frz. ré!exion) stammt ursprünglich aus der Optik und bedeutet „Rückstrahlung“ (von Licht, Schall oder Wärme), oder im weiteren Sinn „Vertiefung in einen Gedankengang, Überlegung, Betrachtung“. Das Adjektiv re%exiv, „rückbezüglich“, mit der älteren Bedeutung „auf sich selbst zurückwirkend“ ist eine gelehrte neulateini-sche Bildung aus dem 19. Jahrhundert.

In der Geschichte der Philosophie wird die Bedeutung des Begri2s Re%exion (aber nicht das Wort selbst) zuerst mit Aristoteles’ Darstellung der höchsten theoretischen Aktivität, dem „Denken des Denkens“ (nóesis noèseos), in Verbindung gebracht. Urs Schällibaum (2001) zeigt in seiner philosophiegeschichtlichen Untersuchung der Be-gri2e Re%exion und Re%exivität, dass Re%exivität in jeder ausgestalteten Philosophie am Werk ist. Weder historisch noch systematisch lassen sich die beiden Begri2e von-einander trennen. Anders als in den philosophischen Wörterbüchern, wo das Wort Re-%exion und nicht das Wort Re%exivität vermerkt ist, ist für Schällibaum Re%exivität in einem historischen Sinn ursprünglicher als die 6eorie der subjektiven Re%exion, die die philosophische Methode anstelle des Gegenstandes zum 6ema macht. Re%exivi-tät umfasse zugleich die als allgemeines 6ema gedachte subjektive Re%exion und das

C. Wulf, J. Zirfas (Hrsg.), Handbuch Pädagogische Anthropologie,

DOI 10.1007/978-3-531-18970-3_54, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014

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objektiv-logische Re%exive. „Diese ursprüngliche Re%exivität ist die Verbindung einer philosophischen ‚Re%exion‘ auf einer methodischen, diskursiven Ebene, auf welcher das allgemeine 6ema der Re%exion noch nicht wahrgenommen wird oder nicht in der Ge-stalt der Subjektivität wahrgenommen werden muss, mit einer als allgemeines Problem wahrzunehmenden Re%exivität“ (ebd., S. 21 f.).

Auf Re%exion als Methodenbegri2 zielt Herbert Schnädelbachs klassische Studie „Re%exion und Diskurs“ (1977): Re%exion sei der wichtigste Methodenbegri2 der neue-ren Philosophie, aber keine Metatheorie. Sie sei eine Selbstthematisierung von 6ema-tisierungsweisen. In mentalistischen Termini: Denken des Denkens, Erkennen des Er-kennens, Bewusstsein des Bewusstseins. Re%exion verknüpfe das so Explizierte mit der Aufgabe einer philosophischen Begründung der Philosophie, die ihrerseits Wissenscha< und Moral begründen soll. Re%exion werde damit zum Medium der Selbstbegründung der Philosophie. Der Begri2 Re%exion wird in der Philosophie auch verwendet, um Handlungen subjekttheoretisch zu begründen. Habermas fundiert die Begründung von Handlungen kommunikativ: Re%exion ist nicht mehr Angelegenheit eines einsamen Er-kenntnissubjekts, sondern die in das kommunikative Handeln eingebaute Schichtung von Diskurs und Handeln. Schließlich bezieht sich Re%exion auch auf die Klärung von Begri2en. In Adornos Werk „Negative Dialektik“ zeigt sich die Re%exionskategorie in der denkenden Konfrontation von Begri2 und Sache.

1 Re"exive turn

Die alltagssprachliche Verwendung der Begri2e und ihre philosophische Analyse er-ö2nen das Problemfeld von Re%exion und Re%exivität in den Human- und Sozialwis-senscha<en: Re%exivität bezieht sich nicht allein auf die Aktivität des Subjekts, auf eine Denkform oder einen Bewusstseinsprozess, sondern auch auf gesellscha<liche Systeme, historische Epochen und auf spezi>sche Wissenscha<spraxen. Mit den Begri2en Re%e-xivität und re%exiv wird heute erstens eine spezi>sche Signatur der Moderne benannt. Zweitens bezeichnet der re!exive turn eine analytische Kategorie für einen Korpus so-zial wissenscha<licher Untersuchungen, die Antworten auf die Krise der Repräsentation wissenscha<licher Darstellungen suchen. Drittens trägt der Begri2 Re%exivität dazu bei, den Begri2 von Subjektivität jenseits des sich selbst gewissen Subjekts zu bestimmen.

1.1 Re$exive Modernisierung

Als der Glanz des bürgerlichen Zeitalters verblasste, rückten in den Gesellscha<stheo-rien die Paradoxien der Modernisierung in den Blick. Georg Simmel und andere nah-men Analysen vorweg, die heute unter dem Namen re%exive Modernisierung durch-geführt werden. Aus der Unterscheidung zwischen einer Ersten und einer Zweiten

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Moderne im Anschluss an soziologische Analysen von Ulrich Beck, Anthony Giddens und anderen resultierten di2erenziertere theoretische Instrumente, um die gegenwär-tige Erosion von Basisunterscheidungen und Grundinstitutionen (wie Nationalstaat, Familie, Erwerbsarbeit) angemessener verstehen zu können. Eine „Modernisierung der Moderne“ bzw. eine re%exive Modernisierung bedeutet, dass sich die Moderne selbst zum Problemfall geworden ist. Ihre Institutionen stehen vor der Herausforderung, eine neue Handlungs- und Entscheidungslogik entwickeln zu müssen, die nicht mehr dem Prinzip des „Entweder-Oder“, sondern dem des „Sowohl-als-Auch“ folgt. Während die Erste Moderne Störfälle als Krisen interpretierte, deutet eine 6eorie der re%exiven Mo-dernisierung solche Krisen als „normalen“ Vorgang der Modernisierung. Dadurch ver-ändert sich deren Bedeutung; sie werden als Momente möglicher Restrukturierungen und Rekonzeptualisierungen begri2en. Re%exivität bezieht sich auf jene Prozesse, durch die diese gesellscha<lichen Phänomene in ihrer Ungewissheit und Ambivalenz wahrge-nommen werden können. Daraus entsteht für Sozialwissenscha<en die Aufgabe, eine theoretische Sprache zu >nden, um theoretische Referenzen danach zu beurteilen, ob sie in der Lage sind, diese Ungewissheiten und Ambivalenzen abzubilden, ohne selbst ambivalent zu sein. In der Erziehungswissenscha< sollte es etwa darum gehen, „päd-agogisches Risikowissen“ (Lenzen) zu entwickeln, um jene Risiken abzuschätzen, zu pro gnostizieren und zu kontrollieren, die vom pädagogischen Wissen selbst produziert werden. In der Ökonomie wird mit dem Konzept von Re%exivität (und gegen die klassi-sche Gleichgewichtstheorie) zum Ausdruck gebracht, dass das Verhalten von Marktteil-nehmerinnen und -teilnehmern die Grundlagen des Marktes verändern kann.

Zusammengefasst können Re%exivität und Re%exion im Sinne eines doppelten Pro-zesses beschrieben werden: Sozialer Wandel muss zunehmend als re%exiver Prozess ver-standen werden und dies erfordert 6eorien, die nicht nur diese Re%exivität als Be-standteil des Wandels begreifen und dies in die 6eoriebildung aufnehmen, sondern die ihre eigene Wissensproduktion als Erklärung und Gegenstand dieses Prozesses in ihre 6eorien einbeziehen. Re%exivität ist damit auch ein Gradmesser für die Qualität von 6eorien und der Wissensgenerierung in den Sozial- und Humanwissenscha<en.

1.2 Re$exive Humanwissenschaften

Der re!exive turn charakterisiert eine Neuorientierung in den Kulturwissenscha<en. Von re!exive turn spricht Doris Bachmann-Medick (2009) dann, wenn der neue For-schungsfokus von der Gegenstands- und Inhaltsebene auf die Ebene von Analysekate-gorien und Konzepten „umschlägt“, wenn also Re%exivität zum Erkenntnismittel und -medium wird. Aus beschreibenden Begri2en werden operative Begri2e, die andere Konzepte von Wirklichkeit hervorbringen. Der re!exive turn bezieht sich auf die bereits bei Cli2ord Geertz geäußerte Krise der Repräsentation: Wie lassen sich fremde Kultu-ren in wissenscha<lichen Darstellungen angemessen darstellen ? Geertz (1987) bezieht

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sich auf die Re%exion des wissenscha<lichen Schreibens, der wissenscha<lichen Praxis der Erkenntnisgewinnung und der damit verbundenen Bedeutungsproduktion. Diese Momente tangieren nicht nur das Verhältnis von Erkenntnissubjekt und Erkenntnis-objekt, sondern auch das Verhältnis von Darstellung und Dargestelltem, die durch kate-goriale, begri2liche und rhetorische Voraussetzungen auseinander fallen. Damit ist die Gefahr verbunden, zwischen Subjekt und Objekt, zwischen dem Ich und dem Anderen eine Di2erenz zu essentialisieren und eine Asymmetrie einzuführen, die reale Macht-verhältnisse widerspiegelt. Re%exive Anthropologie fragt deswegen danach, wer spricht, wer schreibt und unter welchen institutionellen Bedingungen dies geschieht.

Der re!exive turn >ndet sich ebenso in der Soziologie, etwa bei Pierre Bourdieu (Bourdieu/Wacquant 1996), in der re%exiven Erziehungswissenscha< oder in der Psy-chologie des re%exiven Subjekts. Die Möglichkeit von Forscherinnen und Forschern, ge-genüber der eigenen Position einen absoluten Standpunkt einnehmen zu können, wird hier als scholastische Illusion über die Allmacht des Denkens verworfen. In der Psycho-logie wird von einer Subjekt-Objekt-Konfundierung gesprochen: Forschende sind Er-kenntnissubjekte und -objekte in einer Person, ohne dass die Ein%üsse dieser Duplizie-rung kontrolliert werden können.

1.3 Systemre$exivität

Re%exivität kann sich auf die Verfassung des Subjekts, aber auch auf die Bescha2enheit von Systemen beziehen. Exemplarisch kann dafür die Systemtheorie Niklas Luhmanns stehen. Re%exion beschreibt eine bestimmte Form der Selbstreferenz sozialer Systeme, die in ihren Operationen die Di2erenz von System und Umwelt zugrunde legen. Die Selbstreferenz dient der autopoietischen Reproduktion, das heißt der Reproduktion des Systems aus sich selbst heraus. Die Orientierung an der Di2erenz von System und Umwelt erlaubt es dem System, Konditionierungen durch die Umwelt selbst zu wählen. Ähnliches gilt für psychische Systeme, die für sich selbst operativ unerreichbar und da-mit auch für die eigenen Operationen intransparent bleiben. Hier liegt für Luhmann der Grund, weshalb klassische 6eorien der Selbstre%exion, sei es des Bewusstseins, sei es des „Geistes“, mit dem binären Schema bestimmt bzw. unbestimmt arbeiten.

2 Re"exivität und Subjektivität

Für Johann Gottfried Herder (1744 – 1803) ist Re%exion der mentale Zustand der Beson-nenheit, wie er in „Über den Ursprung der Sprache“ sagt. Sie ist eine anthropologische Konstante und sprachlicher Art. In der Re%exion wird der unablässige Strom der durch sinnliche Wahrnehmung erzeugten Bildung angehalten. Der Gegenstand, auf den sich die Aufmerksamkeit richtet, wird in seinen wesentlichen Eigenscha<en erfasst.

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Die Sprache ist auch für Wilhelm von Humboldt (1767 – 1835) der erste Akt der Re-%exion. Durch diese erwacht der Mensch aus der Dumpfheit der Begierde, wird Selbst-bewusstsein, indem er sich einem Objekt gegenübersieht. Die Re%exion ist der Akt ei-nes mächtigen Subjekts und zugleich fällt in der Re%exion Denken und Wahrnehmen auseinander und als Folge davon Denken und Gedachtes, Denken und Erfahrung. Re-%exion tri_ auf Re%exivität und erzeugt einen Riss, der die Mächtigkeit des Subjekts in Frage stellt.

Auf Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) geht der Gedanke zurück, dass Re%exion we-sentlich Trennung und verantwortlich für die Zerrissenheit der modernen Welt ist. Sie könne nicht mehr durch eine Re%exion der Re%exion überwunden werden, vielmehr sei der Mensch durch seine exzentrische Positionalität bestimmt.

Während sich die Exzentrik noch mit einem Subjekt vertrug, das seine Souveräni-tät gerade aus der exzentrischen Positionalität bezog, lässt sich Re%exivität nach den neueren theoretischen Einsichten der strukturalen Anthropologie, der poststruktura-listischen 6eorien und der Philosophie der Dekonstruktion nicht mehr als Zeichen ei-nes intentionalen, sich selbst gewissen Subjekts interpretieren. Vielmehr stellt sich die Frage, in welcher Weise Subjektivierungsformen Gegenstände anthropologischer Unter-suchungen sind und welche Rolle dabei Re%exivität spielt. Zwei Richtungen innerhalb der Anthropologie stehen exemplarisch für das Verhältnis von Re%exivität, Subjektivität und Anthropologie: der Ansatz der kritischen Anthropologie von Dietmar Kamper und eine subjektkritische Anthropologie der Vernun<, wie sie Paul Rabinow vertritt.

2.1 Anthropologische Di1erenz: Re$exion und Re$exivität

Von Kamper (vgl. 1973) stammt ein früher Versuch, die Frage nach dem Menschen zwi-schen Geschichte und menschlicher Natur zu artikulieren und dabei das Verhältnis von Subjektivität und Re%exivität methodologisch elaboriert zu theoretisieren. In seinen frühen Arbeiten entwir< er eine kritische Anthropologie, in der weder die transzenden-tale Subjektivität ein ahistorischer Horizont objektiver wissenscha<licher Erkenntnis ist noch das konkrete Individuum als ein fertiger Knotenpunkt egozentrischer Bedürfnisse begri2en werden kann. Individuen sind vielmehr in die gesellscha<liche Produktion und Reproduktion eingelassen, wie sie sich in Sozialisation und Erziehung manifestie-ren. Jede Auseinandersetzung mit dem Menschen, mit Subjektivität und Re%exivität muss davon ausgehen, dass das „Objekt“ der Humanwissenscha<en zugleich ihr „Sub-jekt“ ist. Dies impliziert, dass die „Sache“ der Anthropologie mit der Methode, die den Zugang zur Sache freilegen soll, unauflösbar verknüp< ist. Für die Anthropologie sei es entscheidend, welche Auffassung vom Menschen in die Methode seiner Erkenntnis und Erforschung eingeht. Methodologische Fragen sollen dabei nicht als eine Metatheorie fungieren; sie sind jedoch wichtige Bedingungen für die Untersuchung „des materia-len Mediums“, nämlich der Praktiken, Körper, Sinne, Gefühle, Rituale, Denkweisen und

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Deutungsmuster. Sie halten den Begri2 des Menschen o2en, indem sie die produktive Spannung der anthropologischen Di2erenz zwischen Geschichte und Natur thematisie-ren, eine Di2erenz, die in der materialen Analyse die methodische Re%exion der Hu-manwissenscha<en zur Anwendung bringt und dabei die Re%exivität der Praktiken von Individuen berücksichtigt (vgl. Wulf/Kamper 2002).

Zu den Grundkategorien der kritischen Anthropologie zählt Kamper (1973, S. 99 ff.) in „Geschichte und menschliche Natur“ neben dem Individuum, der Aufklärung und anderen auch den Begri2 der Re%exion. Sie bezeichnet die Rückwendung der Erkennt-nis auf sich selbst zur Erkundung ihrer verdeckten, divergierenden Interessen. Die Re-%exion hat eine Di2erenz im erkennenden Welt- und Selbstverhältnis zum Gegenstand. Diese Di2erenz ist zwei divergierenden Verhältnissen geschuldet: zum einen dem In-teresse an Verfügungsgewalt, zum anderen dem Interesse an einer menschlichen Praxis, die von der Idee vom richtigen Leben inspiriert wird. Aus der Re%exion dieses Span-nungsverhältnisses entsteht die Kra< zur individuellen Emanzipation. Ein zentrales Merkmal der anthropologischen Di2erenz bildet das Verhältnis von Re%exion und Re-%exivität. Die anthropologische Re%exion stößt, wenn sie gelingt, auf die Re%exivität des Menschen. Re%exivität ist kein geschlossenes System, sondern hat eine unabschließbare Struktur und ist, obwohl letzter Horizont individueller Erfahrung, gesellscha<lich und geschichtlich vermittelt. Die anthropologische Re%exion hat in diesem Sinn die unab-geschlossene Struktur der Re%exivität zum Gegenstand und sie bewahrt in der theore-tischen Analyse diese O2enheit. „Was geleistet werden muß, ist der Nachweis einer […] anthropologischen Struktur, die für Abhängigkeit aber auch für Freiheit, für Selbstent-fremdung aber auch für Selbstsein verantwortlich ist – einer Struktur mithin, welche die gesellscha<liche Isolation (‚Individuum‘) und soziale Integration (‚Person‘) ebenso tran-szendental wie konkret zu erläutern vermag“ (ebd., S. 156).

In Geschichte und menschliche Natur kommt der Subjektivität keine begri2lich be-deutsame Stellung zu. Die anthropologische Di2erenz, die sich im Spannungsverhältnis von Re%exion und Re%exivität darstellt, erö2net nicht den Raum für das Subjekt oder für Subjektivität, wird doch der Mensch vielmehr in der anthropologischen Di2erenz als Doppelbewegung bestimmt: als Individuum und Person. „Zum Postulat der ‚indi-vidualen‘ Erkenntnis des Menschen sind alle Verfahren des Verstandes zu rechnen, die eine Bemächtigung ihres Erkannten intendieren, also jene ‚Logik der Herrscha<‘, die das objektivierende Denken der Subjektivität durchherrscht. Zum Postulat der ‚perso-nalen‘ Erkenntnis gehören die Verfahren der Einbildungskra7, die eine Vergegenwärti-gung des ‚Gegenüber‘ (statt Bewältigung des Gegenstandes) erreichen wollen und einer streng genommenen ‚Logik der Interaktion‘ verp%ichtet sind“ (ebd., S. 159). Dieser Dua-lismus ergibt sich als Antwort auf die Frage, wie die – unvermeidliche – Aktivität des Begreifens mit der – notwendigen – Passivität der Erfahrung vereinbar ist. Beschrieben wird die Struktur des Raums, die sowohl die Emanzipation und das Auftauchen des Subjekts als auch die Verdinglichung und Entfremdung erklärbar macht. Struktur soll dabei im Anschluss an Überlegungen zur strukturalen Anthropologie von Lévi-Strauss

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das Postulat hervorheben, dass dieser Raum immer schon strukturiert ist und dass die Struktur das Ergebnis von Interpretationen einer bereits interpretierten Wirklichkeit ist. Subjektivität muss in der Folge als Bewegung dargestellt werden, die sowohl die polare Doppelbewegung des Individuums bzw. der Person berücksichtigt als auch das Verhält-nis von Re%exion und Re%exivität.

Dies soll an einem Beispiel deutlich gemacht werden: Die nachfolgenden Überlegun-gen zum Glück und die Re%exion darüber zeigen nicht die Zerrissenheit des Subjekts durch Re%exion, auch nicht die re%exive Vollendung des Glücks, sondern die Gedan-kengänge, ihre Darstellung und Re%exion einer bereits durch Re%exivität durchdrun-genen „Sache“ bilden zusammen genommen die Bewegung von Subjektivität: „Glück-lich sein kann nur der, der nichts von seinem Glück weiß; indem der Mensch über sein Glück nachdenkt, ist er schon nicht mehr das, was er eigentlich sein will: glücklich; in der Re%exion über das Glück verschwindet dasselbige. Oder: das Glück ist mehr als nur Lustemp>ndung; gerade in seiner Re%exivität liegt sein eigentliches Merkmal. Ist das Wissen um sein Glück ein notwendiger Bestandteil desselben ? Oder aber sind die ‚wah-ren‘ Formen des Glücks, wie Ekstase, Rausch, Meditation, Spiel und Sport, eben solche, die das Denken und Wissen des Glücks an sich ausschließen ? Sind Glückserfahrungen nicht auch solche, die Wirklichkeit erschließen, statt sie auszublenden ? Bedeutet Glück nicht auch – und vor allem ? – die Erfahrung von Realität aufgrund von Sachlichkeit und Gelassenheit ?“ (Zirfas 1997, S. 815).

Kamper hat in den späteren Werken das theoretische Grundgerüst ausdi2erenziert und mit unterschiedlichen 6eoriesprachen experimentiert, aber seine Grundintentio-nen nicht verändert. Verändert hat sich seine Einschätzung, ob und wie es gelingen kann, den durch die anthropologische Di2erenz erö2neten Raum theoretisch und prak-tisch o2en zu halten. Kamper stellt ernüchtert fest, dass Subjektivität durch immer neue und subtilere Formen der Selbstkontrolle eingesperrt werde. So kippt Emanzipation in ihr Gegenteil: Der Kampf gegen Fremdbestimmung zeigt sich als ebenso vollständige wie unbemerkte Internalisierung von Zwangsritualen des Spiels, der Versöhnung von Regel und Freiheit – und schließlich noch durch „transparente Re%exivität“ als Zeichen der Perfektionierung des Homo clausus (Kamper 1986, S. 92 ff.). Keine „andere“ Praxis, keine große 6eorie, keine noch so radikale Re%exion vermag einen Ausweg zu ver-heißen. Kamper erkundet in seinen späten Schri<en diese Zwangsgewalten, aber auch Spuren, die im Denken und in der Sache den Zwängen der aufgeklärten Re%ektiertheit entgehen wollen. Er >ndet sie in einer Logik des Unscharfen bei Serres, in der Einbil-dungskra< eines Nerval und Artaud oder in der Reversibilität der Geschichte, wie sie die Höllenvisionen von Bosch o2enbaren.

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2.2 Anthropologie der Vernunft

Paul Rabinow (2004a, S. 7) fragt in seinem Projekt einer „Anthropologie der Vernun<“ nicht nach dem Menschsein als solchem, sondern nach der jeweiligen, den Menschen konstituierenden „Vernun<“. An die Stelle der Spekulation über anthropologische Kon-stanten wird Wissen, das sich auf Menschen bezieht, daraufhin befragt, in welchen For-men es Menschen konstituiert. Rationalitätsformen sind Rationalisierungen, das heißt Zurechtlegungen, konstruierte Gründe, mit denen Handelnde sich und anderen erklä-ren und rechtfertigen, warum sie tun, was sie tun. Diese Rationalisierungen haben einen re%exiven Charakter, der den Rationalitätsformen unterliegt und einerseits den Men-schen reproduziert, andererseits auch Rationalität verändern kann.

Objekte der Rabinow’schen Anthropologie sind nicht Gesellscha<, Kultur oder Sub-jekt, sondern Problematisierungen, wie sie Michel Foucault in „Der Gebrauch der Lüste“ skizziert hat. Eine Problematisierung ist weder Repräsentation eines existierenden Ob-jekts noch diskursive Scha2ung eines neuen Objekts. Problematisierungen sind Ensem-bles von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken, die einen Gegenstand der Re%e-xion konstituieren. Dieser Auffassung einer anthropologischen Forschungspraxis liegen zwei Überlegungen zugrunde: Erstens ist Denken kein Repräsentationssystem, sondern eine Aktivität der Distanzierung von jener Gegenwart, wie sie uns als scheinbar natür-liche entgegentritt. „Nachdenken ist die Freiheit, die man im Verhältnis zu dem, was man tut, besitzt; es ist die Bewegung, durch welche man Abstand von sich gewinnt, sich selbst als Objekt konstituiert und über das Ganze dieser Bewegung als Problem nach-denkt“ (Foucault, zit. nach Rabinow 2004b, S. 61). Die Aktivität des Denkens ist eng mit der Frage verknüp<, wie sich das Wissen über Menschen in einer bestimmten Lebens-führung niederschlagen kann. Rabinows Forschungspraxis soll seinem Selbstverständ-nis gemäß zu einem Prozess der Selbstbildung beitragen, den man als Haltung oder Ethos bezeichnen kann. Auf diese Weise führt die Problematisierung als Objekt anthro-pologischer Forschung zu Formen der Subjektivierung, die eng mit Freiheit verknüp< sind. Weil dies auch eine ethische Praxis ist, die Verantwortung einschließt, und wir nicht anders können, als in der Welt aktiv zu sein, käme es darauf an, „Klarheit gegen-über sich selbst“ zu scha2en.

3 Pädagogische Anthropologie als re"exive Wissenschaft

Zeitgenössische Ansätze in der anthropologischen Forschung zeichnen sich durch die Gemeinsamkeit einer Doppelbewegung von Re%exion und Re%exivität aus: Die Re%e-xivität des Gegenstandes ist auf die Re%exion der Perspektiven und Methoden anthro-pologischer Forschungspraxis bezogen. Diese ist eine re%exiv verfahrende Aktivität des Denkens, die sich selbst nicht völlig transparent ist, sondern sich als Riss zwischen Erfah-rung und Denken, zwischen Sache und Denken manifestiert und Eingang in das Den-

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ken >ndet. Das bedeutet, dass anthropologische Forschungen nicht einfach ihre Objekte vor>nden wie die Natur, sie aber auch nicht konstruieren, wie wir über soziale Dinge sagen, sie seien sozial konstruiert. Denn im Spannungsverhältnis von Forschungspraxis und Gegenstand der Forschung sind Rationalisierungsformen und Subjektivitäten mög-lich, die sich weder auf das Denken noch auf das Gedachte reduzieren lassen.

Literatur

Bachmann-Medick, Doris (2009): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissen-scha<en. 3., neu bearb. Aufl. Reinbek.

Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc (1996): Re%exive Anthropologie. Frankfurt/M.

Geertz, Cli2ord (1987): Dichte Beschreibung. Frankfurt/M.

Kamper, Dietmar (1973): Geschichte und menschliche Natur. Die Tragweite gegenwärtiger An-thropologiekritik. München.

Kamper, Dietmar (1986): Zur Soziologie der Imagination. München.

Rabinow, Paul (2004a): Anthropologie der Vernun<. Studien zu Wissenscha< und Lebensfüh-rung. Frankfurt/M.

Rabinow, Paul (2004b): Was ist Anthropologie ? Frankfurt/M.

Schällibaum, Urs (2001): Re%exivität und Verschiebung. Wien.

Schnädelbach, Herbert (1977): Re%exion und Diskurs. Fragen einer Logik der Philosophie. Frankfurt/M.

Wulf, Christoph/Kamper, Dietmar (Hrsg.) (2002): Logik und Leidenscha<. Erträge Histori-scher Anthropologie. Berlin.

Zirfas, Jörg (1997): Glück. In: Wulf, Christoph (Hrsg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim und Basel, S. 812 – 821.