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Mitteilungen der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik 87 August 2009 Inhalt 2 Vorwort des 1. Vorsitzenden 4 Lehrer sein das ist nicht schwer, Lehrer werden umso mehr / Andreas Vohns 10 Mindeststandards am Ende der Pflicht- schulzeit – Ein Positionspapier der Gesell- schaft für Fachdidaktik e. V. 15 Diskussion über „Mindeststandards“ und „Risikogruppen“ im Mathematikunter- richt / Alexander Wynands 19 Aus dem Wunderland der Standards / Wolfram Meyerhöfer 22 PISA: Nachträge zu einer nicht geführten Debatte / Joachim Wuttke 35 Nobelpreise und Mathematik – Ein Nach- trag zum Jahr der Mathematik 2008 / Her- bert Kütting 38 Mathematikschulbücher im Nationalsozia- lismus / Carolin J. Hinzmann 42 Die Mathematische Schülergesellschaft „Leonhard Euler“ stellt sich vor / Ingmar Lehmann 43 Grußwort des 1. Vorsitzenden der GDM beim 11. Forum für Begabungsförderung in Mathematik / Hans-Georg Weigand 45 Grußwort des 1. Vorsitzenden anlässlich des Festkolloquiums zum 65. Geburtstag von Klaus Hasemann / Hans-Georg Weigand 46 Doktorandenkolloquium Bamberg- Nürnberg-Würzburg / Anna S. Steinweg, Hans-Georg Weigand und Thomas Weth 49 Info zum Förderpreis der GDM / Susanne Prediger 50 Einladung zur 11. Tagung ,Allgemeine Ma- thematik: Mathematik verstehen‘ / Katja Lengnink 51 Einladung zur Herbsttagung 2009 des Ar- beitskreises ,Geometrie‘ / Matthias Ludwig und Reinhard Oldenburg 52 AK Mathematik und Bildung 2. 3. 2009 / Günter Graumann 53 AK Mathematikunterricht und -didaktik in Österreich 21. 11. 2008 / Edith Schneider 55 AK Mathematikunterricht und -didaktik in Österreich 2. 3. 2009 / Edith Schneider 57 Kontakte nach Moskau und Eriwan, Arme- nien / Alexander Wynands 58 Ein Kommentar zur „Mathematik + Sport“-Rezension von Jürgen Maaß, GDM- Mitteilungen Nr. 86 / Michael Kleine 60 H. Schumann: Schulgeometrie im virtu- ellen Handlungsraum / Rezensiert von H. Schupp 64 Torsten Linnemann et al.: Vektoren: Raum- vorstellung – Kalkül – Anwendung / Rezen- siert von Wolfgang Kroll 65 W. Kroll: Räumliche Kurven und Flächen in phänomenologischer Behandlung / Rezen- siert von Joachim Jäger 70 Protokoll der Mitgliederversammlung am 5. 3. 2009 / Katja Lengnink 72 Email-Adressen / Karel Tschacher ISSN 0722-7817

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Mitteilungender Gesellschaftfür Didaktikder Mathematik 87 August 2009

Inhalt2 Vorwort des 1. Vorsitzenden

4 Lehrer sein das ist nicht schwer, Lehrerwerden umso mehr / Andreas Vohns

10 Mindeststandards am Ende der Pflicht-schulzeit – Ein Positionspapier der Gesell-schaft für Fachdidaktik e. V.

15 Diskussion über „Mindeststandards“ und„Risikogruppen“ im Mathematikunter-richt / Alexander Wynands

19 Aus dem Wunderland der Standards /Wolfram Meyerhöfer

22 PISA: Nachträge zu einer nicht geführtenDebatte / Joachim Wuttke

35 Nobelpreise und Mathematik – Ein Nach-trag zum Jahr der Mathematik 2008 / Her-bert Kütting

38 Mathematikschulbücher im Nationalsozia-lismus / Carolin J. Hinzmann

42 Die Mathematische Schülergesellschaft„Leonhard Euler“ stellt sich vor / IngmarLehmann

43 Grußwort des 1. Vorsitzenden der GDMbeim 11. Forum für Begabungsförderungin Mathematik / Hans-Georg Weigand

45 Grußwort des 1. Vorsitzenden anlässlich desFestkolloquiums zum 65. Geburtstag vonKlaus Hasemann / Hans-Georg Weigand

46 Doktorandenkolloquium Bamberg-Nürnberg-Würzburg / Anna S. Steinweg,Hans-Georg Weigand und Thomas Weth

49 Info zum Förderpreis der GDM / SusannePrediger

50 Einladung zur 11. Tagung ,Allgemeine Ma-thematik: Mathematik verstehen‘ / KatjaLengnink

51 Einladung zur Herbsttagung 2009 des Ar-beitskreises ,Geometrie‘ / Matthias Ludwigund Reinhard Oldenburg

52 AK Mathematik und Bildung2. 3. 2009 / Günter Graumann

53 AK Mathematikunterricht und -didaktik inÖsterreich21. 11. 2008 / Edith Schneider

55 AK Mathematikunterricht und -didaktik inÖsterreich2. 3. 2009 / Edith Schneider

57 Kontakte nach Moskau und Eriwan, Arme-nien / Alexander Wynands

58 Ein Kommentar zur „Mathematik +Sport“-Rezension von Jürgen Maaß, GDM-Mitteilungen Nr. 86 / Michael Kleine

60 H. Schumann: Schulgeometrie im virtu-ellen Handlungsraum / Rezensiert vonH. Schupp

64 Torsten Linnemann et al.: Vektoren: Raum-vorstellung – Kalkül – Anwendung / Rezen-siert von Wolfgang Kroll

65 W. Kroll: Räumliche Kurven und Flächen inphänomenologischer Behandlung / Rezen-siert von Joachim Jäger

70 Protokoll der Mitgliederversammlung am5. 3. 2009 / Katja Lengnink

72 Email-Adressen / Karel Tschacher

ISSN 0722-7817

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Gesellschaft für Didaktik der Mathematik e. V.

Vorstand1. Vorsitzender:

Prof. Dr. Hans-Georg WeigandUniversität Würzburg, Didaktik der MathematikAm Hubland, 97074 WürzburgTel. 0931 . 888-5091 (Sekretariat)Fax. 0931 . [email protected]

2. Vorsitzender:Prof. Dr. Rudolf vom HofeUniversität Bielefeld, Fakultät für Mathematik – IDM,Postfach 100131, 33501 BielefeldTel. 0521 . [email protected]

Kassenführer:ADir. Karel TschacherUniversität Erlangen-Nürnberg, MathematischesInstitut, Bismarckstraße 11/2, 91054 ErlangenPostanschrift: Postfach 3520, 91023 ErlangenTel. 09131 . 85-22406Fax. 09131 . [email protected]

Schriftführerin:Prof. Dr. Katja LengninkUniversität Siegen, FB Mathematik, Emmy-Noether-Campus, Walter-Flex-Straße 3, 57068 SiegenTel. 0271 . 740-3633

0271 . 740-3582 (Sekretariat)Fax. 0271 . [email protected]

Verantwortlich für die Mitteilungen der GDM:Prof. Dr. Thomas JahnkeAm Neuen Palais 10, 14469 PotsdamTel. 0331 . 9771470

0331 . 9771499 (Sekretariat)Fax 0331 . [email protected]

Bankverbindung:Vereinigte Raiffeisenbanken HeroldsbergKto-Nr. 305 87 00BLZ 770 694 61IBAN DE05 7706 9461 0003 0587 00BIC GENODEF1GBF

Homepage der GDM:www.mathematik.de/gdm

ImpressumVerleger: GDMHerausgeber: Prof. Dr. Thomas Jahnke (Anschrift s. o.)Gestaltung und Satz: Christoph Eyrich, Berlin

[email protected]: Diana Fischer, Berlin

[email protected]: Oktoberdruck AG, Berlin

Der Bezugspreis der GDM-Mitteilungen ist imMitgliedsbeitrag der GDM enthalten.

Zum (gegenwärtigen) Wandel von Schule undLehrerbildung

Kritik an der Schule ist so alt wie die Schuleselbst! Doch augenblicklich scheint diese Kritik(wieder einmal) besonders stark zu sein. „Wirmüssen in den Schulen dramatisch umdenken“fordert der Hirnforscher und Neurobiologie Ge-rald Hüther. „Die Schule ist für viele Schüler eineKatastrophe“ meint Kurt Singer von der Universi-tät München, und nach Christophe Rude von derHochschule für Philosophie in München „ersticktder Unterricht das Fragen“. Heiko Knospe vonder Fachhochschule Köln hält Studienanfängerfür „katastrophal schlecht auf die Universität vor-bereitet“ und die meisten Deutschen sehen nacheiner aktuellen Umfrage des Instituts für Demo-skopie Allensbach Lehrer für überfordert und un-flexibel (SZ v. 27. 3. 2009). Zu allem Übel fällt derWissenschaftlich-technische Beirat der bayeri-schen Staatsregierung auch noch ein vernichten-des Urteil über die Lehrerbildung (in Bayern): DieLehrerbildung und das gesamte bayerische Schul-wesen müssten grundlegend reformiert werden(SZ v. 18. 3. 2009).An Ratschlägen für eine veränderte Schule man-gelt es indes nicht. „Die Lehrer sollten mehr In-dividualität zulassen“ rät der Erziehungswissen-schaftler Hans Brügelmann. „Wir müssen der irr-sinnigen Beschleunigung der Wissensproduktionausweichen“, meint Klaus Hurrelmann. GeraldHüther mahnt an, dass „Lernprozesse auf Erfah-rungen der Schüler aufbauen müssen“, und derehemalige Leiter der Schule von Schloss Salem,Bernhard Bueb, fordert mehr „Autorität und Dis-ziplin“ an Deutschlands Schulen.Immer wieder werde ich, werden Sie, werden wiralle gefragt: Warum ist es immer noch so schlechtum die Schule bestellt? Warum werden die zahl-reichen Vor-, Rat- und Verbesserungsschläge nichtin der Praxis umgesetzt? Über die Berechtigungder Annahme in der 1. Frage und die Antwort(en)auf diese Fragen lässt sich trefflich streiten. Einzentraler Aspekt, der in der Öffentlichkeit meistnicht gesehen oder in seiner Bedeutung nichterkannt wird, ist sicherlich, dass „Schule“ einhöchst komplexes System ist, das sich zudem inWechselbeziehung zur Gesellschaft fortwährendwandelt und wandeln muss. Jegliche Verände-rungsvorschläge erfassen deshalb stets nur einenTeilaspekt des Gesamtsystems, und sie müssenzudem fortwährend hinsichtlich ihrer Aktuali-tät überprüft werden. Das Bildungssystem stehtdem Gesundheits-, Wirtschafts- und Finanzsysteman Komplexität in nichts nach. Und es gilt dabei:

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Wie in jedem komplexen System sind substan-tielle Veränderungen nur partiell und langfristigzu erreichen. Oder, um es mit den Worten vonOlli Kahn (bezogen auf das Scheitern von Jür-gen Klinsmann beim FC Bayern) auszudrücken:„Innovation benötigt Zeit. Wer Dinge verändernmöchte, solle das behutsam machen und das Um-feld nicht überfordern“. (Die Welt v. 31. 5. 2009).Doch: Veränderungen und Innovation müssen einfortdauernder Prozess sein!Deshalb ist es mehr als zu begrüßen, dass injüngster Zeit die Lehrerbildung wieder stärkerin das Interesse der Öffentlichkeit gerückt ist. DieKultusministerkonferenz hat Standards für dieLehrerbildung erarbeitet und die GDM in Zusam-menarbeit mit der DMV und MNU ergänzendeEmpfehlungen hierzu verabschiedet. Der Stifter-verband für die Deutsche Wissenschaft hat zu-sammen mit der Stiftung Mercator das Programm„Neue Wege in der Lehrerbildung“ initiiert. DieDeutsche Telekom Stiftung fördert Pilotprojektezur Lehreraus- und –weiterbildung und hat jetztden Hochschulwettbewerb MINT-Lehrerbildungausgeschrieben, bei dem bis zu 5 Hochschulen beieiner innovativen Lehrerbildung gefördert werdensollen. In München hat die Technische Universitätmit einer „School of Education“ eine eigenständi-ge Fakultät für Bildungsforschung und Lehrerbil-dung gegründet und dadurch ein Zeichen gesetzt,um die Lehrerbildung „in die Mitte der Universi-tät zu rücken“.Auch die Lehrerbildung ist eine fortwährende undstets neu zu definierende Aufgabe, bei der dieProbleme – in ähnlicher Weise wie in der Schule– in gleicher oder ähnlicher Weise immer wiederauftreten. So prangerte Felix Klein vor fast 100Jahre die „doppelte Diskontinuität“ in der Lehr-amtsausbildung an:

Der junge Student sieht sich am Beginn sei-nes Studiums vor Probleme gestellt, die ihnin keinem Punkte mehr an die Dinge erin-nern, mit denen er sich auf der Schule be-schäftigt hat; natürlich vergisst er daher allediese Sachen rasch und gründlich. Tritt eraber nach Absolvierung des Studiums insLehramt über, so soll er plötzlich eben dieseherkömmliche Elementarmathematik schul-mäßig unterrichten; da er dies Aufgabe kaumselbstständig mit der Hochschulmathematikin Zusammenhang bringen kann, so wird erin den meisten Fällen recht bald die altherge-brachte Unterrichtstradition aufnehmen, unddas Hochschulstudium bleibt ihm nur einemehr oder minder angenehmer Erinnerung,

die auf seinen Unterricht keinen Einfluss hat.(1924, Vorwort zur 2. Auflage der Elementar-mathematik vom höheren Standpunkt, Bd. 1)

Es gab in den letzten Jahren und Jahrzehnten undgibt gerade heute viele Ansätze, diese Situationzumindest erheblich abzumildern.Dabei schauen wir auch gespannt in die USA, wogerade die jahrelange Kritik an der „No Child leftbehind“-Initiative der Bush-Administration einespäte – traurige – Rechtfertigung erfährt, wennman die derzeitige Realität an den Schulen, dieteilweise beängstigende Testorientierung, sieht.Der neue Präsident als Hoffnungsträger, das giltauch für die Lehrerbildung. So sagte er in seinerbildungspolitischen Grundsatzrede am 9. Septem-ber 2008 in Ohio:

No matter how many choices we are givingour parents or how much technology we areusing in our schools or how tough our classesare, none of it will make much difference ifwe don’t also recruit, prepare, and retain out-standing teachers – because from the momenta child enters a school, the most importantfactor in their success is the person standingin front of the classroom.

Man kann den fortwährenden Neuansätzen undVorschlägen ähnlich skeptisch gegenüberstehenwie der fortwährenden Kritik an der Schule. Manmag auch einwenden, dass in der gesamten Dis-kussion die vielen vorhanden positiven Ansätze,das Engagement der Einzelnen in unserer Lehr-erbildung zu wenig herausgestellt werden. Docheines ist sicherlich richtig und wichtig: Wie Schu-le wird und muss sich auch die Hochschule (fort-während) ändern. Eine Fort- und Weiterentwick-lung – man mag auch Reform sagen – ist dabeinicht nur in struktureller Hinsicht in Form vonBachelor und Master und Modularisierung, son-dern insbesondere auch in inhaltlicher Hinsichtwichtig und notwendig. Die Lehrerbildung kannund muss dabei eine wichtige Rolle spielen. Oder,wie es vor kurzem Hans N. Weiler von der Stan-ford University in einem Vortrag an der TU Mün-chen ausgedrückt hat: Die Reform der deutschenHochschule und die Reform der Lehrerbildunghängen aufs engste miteinander zusammen.

Hans-Georg Weigand(1. Vorsitzender)

GDM-Mitteilungen 87 · 2009 3

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Lehrer sein das ist nicht schwer,Lehrer werden umso mehrEine bilaterale, (nicht nur lehrer-)bildungspolitische Presseschau

Andreas Vohns

Wer den Volksmund fragt, der kann sich nichtdarauf verlassen, eine widerspruchsfreie Antwortzu bekommen. Mit Blick auf das Lehrerdasein ko-existieren Klischees wie „Lehrer sein kann eigent-lich jeder“ friedlich mit „Lehrer kann man nichtwerden, zum Lehrer muss man geboren sein“. Bil-dungspolitik tut nicht selten ihr Bestes, genausolche Klischees zu bedienen, wo es gerade oppor-tun erscheint. Regiert wird nach Gerhard Schrö-der eben mit „Bild, BamS und Glotze“ (bzw. hierin Österreich mit der Kronenzeitung).Beängstigend wird es, wenn derlei Halbwahrhei-ten und Klischees auch jenseits der Regenbogen-Presse zunehmend journalistisch völlig kommen-tarlos und ungefiltert abgespult und nicht seltenauch noch von mehr oder weniger zuständigenoder selbst erklärten „Bildungsexperten“ mit wis-senschaftlichem Odeur versehen werden, ohnedass argumentativ viel mehr als eine Verdopp-lung des common sense geleistet wird. Entlarvendkann es werden, wenn sich professionelle Lehrer-bildnerinnen in die Diskussion einschalten.

Der faule, überforderte und unqualifizierte Sack

Die Diskussion um „faule Säcke“ hat in Öster-reich derzeit Hochkonjunktur, nachdem Bil-dungsministerin Schmied den Lehrer(inne)n mitzwei Stunden Mehrarbeit gedroht hatte und Leh-rer(innen)gewerkschaften mit PISA-Boykott ge-droht und Schüler(innen)vertreter dann tatsäch-lich dazu aufgerufen haben, allerdings mit an-derer Motivation. Die Schüler(innen) waren ehervon dem zäh errungenen Verhandlungsergebnis,

der Umwandlung schulautonomer Tage1 in nor-male Unterrichtszeit, wenig begeistert. Die ganzeDebatte zog sich über zwei Monate, war in al-len Medien nahezu omnipräsent und zeigte dieBildungspolitik insgesamt in einem nicht untypi-schen Aktionismus verfangen, um nicht zu sagen:Dilettantismus. Oberste Prämisse bei allem Ge-zerre schien zu sein: „Die Lehrer(innen) müssenlänger im Klassenzimmer stehen“ – wechselseitigbegründet einmal aus rein budgetären Gründen(Finanzkrise), dann wieder zur Gegenfinanzierunggeplanter bildungspolitischer Maßnahmen (NeueMittelschule2 / kleinere Klassen), schließlich miteiner Kombination von beidem.Die ganze Debatte ist derart emotional aufgela-den gewesen, wie man es als frisch migrierterDeutscher den Österreichern eigentlich kaum zu-getraut hätte. Ein teils düsteres Licht wirft sie aufdas eigentümlich Verständnis von grundlegendendemokratischen Rechten und das Selbstverständ-nis von Institutionen der Bildungsverwaltung.So drohte etwa der Vorsitzende des BIFIE,3 Gün-ter Haider, zum PISA-Boykott aufrufenden Schü-ler(innen)vertretern mit Zivilklage. Nicht etwa,weil dem Bildungssystem wichtiges „Steuerungs-wissen“ verloren ginge, sondern ganz schlichtwegen der wirtschaftlichen Situation seines Un-ternehmens:

Das Bundesinstitut Bifie ist vertraglich ver-pflichtet, die Pisa-Studie bestmöglich im vor-gegebenen gesetzlichen Rahmen durchzufüh-ren, dafür werden wir bezahlt. Wir, DirektorLucyshyn und ich, müssen als Geschäftsfüh-rung die Pflichten eines ordentlichen Kauf-

1 Unterrichtsfreie Tage, aber für Lehrer nicht dienstfrei, sondern zur schulautonomen Ausgestaltung gedacht, ursprünglich zur ge-meinsamen „Einkehr“ und/oder Fortbildung gedacht, allerdings schleichend zu schulfreien Tagen umfunktioniert.

2 Österreichische bildungspolitische Vokabel zur Vermeidung des Reizwortes „Gesamtschule“.3 Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung des österreichischen Schulwesens

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manns und Managers wahrnehmen und dar-auf aufmerksam machen, wenn wir sehen,dass unserem Unternehmen wirtschaftlicheGefahr droht – und die drohte in diesem Fallmassiv4.

Zur Abwehr der wirtschaftlichen Bedrohung ak-tivierte Bildungsministerin Schmied flugs ihreKompetenzen aus der freien Wirtschaft und be-friedete Schüler(innen) und Eltern mit folgendemLösungsvorschlag:

Die vier (Pflichtschulen) bzw. fünf schulau-tonomen Tage (weiterführende Schulen) wer-den zu Schultagen. Allerdings mutieren diesogenannten ,Zwickeltage‘ nach Christi Him-melfahrt und Fronleichnam zu Fördertagen,die Schüler freiwillig in Anspruch nehmenkönnen.5

Bildungspolitik als Basar, Schulbesuch alsWunschveranstaltung – außer natürlich für die„faulen Säcke“.Um zur Frage der Lehrer(innen)mehrarbeit zu-rückzukommen: Warum sollten ausgerechnet Leh-rer(innen) in krisengeschüttelten Zeiten eigentlichkeinen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leis-ten? Fraglos mag manch(e) deutsche(r) Lehrer(in)neidisch auf die Lehrverpflichtung der österrei-chischen Kolleg(inn)en schielen6, man darf nurnicht aus dem Auge verlieren, wie prekär sich dieDienstverhältnisse der Junglehrer(inn)en in Ös-terreich derzeit z. T. darstellen. Es ist eine sehrsimple Rechnung, wie viele der derzeit in Zeit-arbeitsverhältnissen Tätigen ihre Verträge nichtverlängert bekommen hätten, wenn es zur Er-höhung der Wochenarbeitszeit gekommen wäre.Es bleibt ein Rätsel, wie die Bildungsministeringedenkt, den mit der ab 2015 auch in Österreichanrollenden Pensionierungswelle wachsenden Per-sonalbedarf (bis 2025 geht die Hälfte aller Lehrerin Pension) eigentlich zu stillen, wenn sie jetztvollmundig einen De-facto-Aufnahmestopp ver-kündet. Ausgebildete Lehrer(innen) – das zeigenu. a. Erfahrungen der Einstellungstrockenphaseder 1980er Jahre in Deutschland7 – können sich

in aller Regel sehr wohl anderweitig im Arbeits-markt erfolgreich orientieren und verharren nicht15 Jahre in Wartestellung.Ungeklärt bleibt aber vor allem, warum es eigent-lich überhaupt die Lehrer(innen) sein sollten, diedurch effektiven Gehaltsverzicht bildungspoliti-sche Maßnahmen gegen finanzieren sollten.8 Hältman kleine Klassen und Neue Mittelschule fürdringend nötig (trotz Budgetproblemen), so gä-be es andere Refinanzierungswege (jedenfalls istkaum einzusehen, warum Lehrer(innen) für et-was die Zeche zahlen sollen, das in erster Linieeinmal den Kindern, Jugendlichen und damit derGesellschaft als Ganzes helfen soll). Sind die Maß-nahmen nicht so dringend, müsste man eben aufbestimmte Projekte verzichten, wie andere Res-sorts dies auch tun. Dass mit der Umwandlungschulautonomer Tage in Unterrichtszeit budgetärehedem nichts gewonnen ist, weil sie im Gegen-satz zur Wochenstundenzahlerhöhung gar keinePersonalressourcen einspart, ist dann nur nochein Treppenwitz, der noch einmal klar macht,dass hier ausschließlich das Klischee bedient wird:Hauptsache die „faulen Säcke“ stehen länger imKlassenzimmer.Zwar nicht ausdrücklich faule, aber zumindestchronisch nörgelnde und überforderte Pädagogengeistern auch durch die deutsche Presse, zuletztangespornt durch eine Studie des AllensbacherInstituts im Auftrag des Philologenverbandes:

Mehr als zwei Drittel der Bundesbürger haltendie Lehrer nach der repräsentativen Studiefür überfordert und sehen dies als Grund fürschlechte Leistungen von Schülern. [. . . ] Lautder aktuellen Umfrage halten sie viele Bun-desbürger nicht nur für überfordert, sondernauch für unfähig, den Stoff angemessen zuvermitteln.

Die Rettung naht allerdings, denn „angesichts desdrohenden Lehrermangels will der Philologenver-band das angekratzte Image der Pädagogen nunmit Hilfe des Deutschen Lehrerpreises ,Unterrichtinnovativ‘ weiter (sic!) aufpolieren.“9

4 http://derstandard.at/?id=12402980326765 http://diepresse.com/home/bildung/schule/473252/index.do?direct=4601336 Zwanzig Unterrichtsstunden je 50 Minuten.7 Vgl. etwa Schützenmeister, Jörn 2002: Professionalisierung und Polyvalenz in der Lehrerausbildung. Marburg: Tectum Verlag, S. 107–

118.8 Was sie auch nach dem gefunden Kompromiss in nicht unerheblichemMaße tun, u. a. durch Streichung von Zulagen etwa für Un-

terricht an Abendschulen, was eine besonders unsolidarische Lösung darstellt, da hier auf Kosten einer Minderheit Vorteile für denüberwiegenden Teil der Lehrerinnen erkauft wurden.

9 http://www.sueddeutsche.de/jobkarriere/530/463142/text/

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Nur die Besten in die Schulen

Paradoxerweise ist es bildungspolitisch anschei-nend überhaupt kein Problem, angesichts vonNachwuchssorgen, angekratztem Lehrerimage undgebetsmühlenartig und finanzkrisengeschwänger-ter „Leere Kassen“-Rhetorik parallel eine „Exzel-lenzinitiative“ für die Schulen auszurufen, wiees etwa die deutsche Bundesministerin für Bil-dung und Forschung, Annette Schavan, derzeitvorführt. Exzellenz ist dabei ein durchaus inter-pretationsbedürftiges Konzept, allein mit Erfolgin einem grundständigen Lehramtsstudium sollteman sie nicht verwechseln.So ist es keineswegs eine Büttenrede, in der An-nette Schavan zur Faschingszeit in der BILD lan-cierte: „Ich fordere alle Unternehmen auf, ihreTop-Mitarbeiter für den Schulunterricht freizu-stellen“. Hintergrund:

Zuvor war eine Studie des Münchener Bil-dungsökonomen Ludger Wößmann bekannt-geworden, wonach vor allem schlechtere Ab-iturienten den Lehrerberuf anstreben, wosie unter dem Strich mehr verdienen als an-dere Akademiker. Grund-, Haupt- und Real-schullehrer machten ihr Abi mit der Durch-schnittsnote 2,5, nur Gymnasiallehrer hättenmit 2,1 vergleichsweise gute Noten.10

Für Schavan und ihren Kollegen Müller aus Thü-ringen ist offenbar selbstverständlich, dass je-mand mit Abiturnote 2,5 trotz Studium und Re-ferendariat es niemals mit 1er-Abiturienten auf-nehmen kann, die sich in der „freien Wirtschaft“bewährt haben. Folglich ist es angesichts des dro-henden Lehrer(innen)mangels auch nur konse-quent, wenn ein(e) Ingenieur(in) zwei Stundenwöchentlich Physik- oder Mathematikunterrichterteilt, wie Schavan es vorschlägt und KollegeMüller eilig verkündet, in Thüringen bereits um-gesetzt zu haben.Braucht es dann überhaupt eine eigenständigestaatliche Lehrer(innen)ausbildung, sind nicht„Standards für die Lehrerbildung“ bloße Ma-kulatur? Wenn man sich die von nahezu allenParteien im Bundestag11 und der KMK hochge-lobte Public-Private-Partnership „TeachFirst“ an-sieht, vermutlich schon. Hier gewinnt man „her-

ausragende Absolventen“ –natürlich aus Nicht-Lehramtsstudiengängen – „als Lehrkräfte auf Zeit(,Fellows‘) für einen zweijährigen Einsatz an Schu-len in sozialen Brennpunkten“, die man in achtbis zehn Wochen schulfit macht und diese Fitnessein halbes Jahr lang begutachtet, bevor man sieim zweiten Jahr „gezielt auf Führungsaufgabenim Bildungssektor und in anderen Bereichen“12vorbereitet.Wie anachronistisch müssen angesichts derar-tiger Vorhaben das finanzielle Engagement derTelekom-Stiftung und wie vergeblich die Müheund vertrauenstiftende Arbeit wirken, die RainerDanckwerts und andere in der GDM darein ge-setzt haben, das Lehramtsstudium Mathematik alsein Studium mit genuinen fachlichen und fach-didaktischen Qualifikationsnotwendigkeiten ge-genüber pädagogischer und fachmathematischerSkepsis hoffähig zu machen.

Lehrer – Geprüftes Gewissen?

Das Exzellenz für den Lehramtsbereich wenigeretwas sein könnte, dass sich durch die Ausbil-dung und Ausübung des Berufs einstellt, sondernetwas ist, das zuvor vorhanden („zum Lehrer ge-boren“) oder gegen berufliche Bewährung im All-gemeinen austauschbar („jeder kann Lehrer sein“),prägt auch die österreichische Debatte. Zur Frageder Selektion für den Lehrerberuf sagt Bildungs-ministerin Schmied dem Standard:

Gemeinsam mit Wissenschaftsminister Jo-hannes Hahn arbeite ich an einem völlig neu-en Aufnahmeverfahren. [. . . ] Es sollten nurdie, die sich wirklich berufen fühlen undauch berufen sind, den Lehrberuf ergreifen.Außerdem sollten wir die Schule für andereBerufserfahrungen, für Quereinsteiger öff-nen.13

Den Trend der Zeit hat offenbar auch die Bil-dungswissenschaftlerin Ilse Schrittesser von derUniversität Wien erkannt, wenn sie im Interviewmit „Die Presse“14 bereits einige Wochen zuvorEinstellungstests für Lehramtsstudierende fordert.Besonders bezeichnend ist folgender Passus desInterviews:

10 http://www.netzeitung.de/politik/deutschland/1283197.html11 Außer den Schmuddelkindern von der LINKEN und einigen „Willy Brandt Ära“-SPDlern.12 http://www.teachfirst.de/programm13 http://derstandard.at/?id=124055039663414 http://diepresse.com/home/bildung/schule/467650/index.do?from=rss

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Unsere Position ist: Wir würden uns gernedie Studierenden anschauen. Wir haben aufder Gesetzesebene einen freien Hochschul-zugang, es ist also eine gesetzliche Regelungerforderlich. Jene, die sich für den Lehrerbe-ruf entscheiden, sollen in allen drei Säulenentsprechen, nämlich in der pädagogischenAusbildung, in der fachdidaktischen undder fachwissenschaftlichen. Es ist auch ganzwichtig, dass zukünftige Lehrer in ihrem Fachnicht zweite Wahl sind. Es geht nicht, dassman sagt, ich bin halt nicht der Topmathe-matiker, und deshalb entscheide ich mich fürden Beruf. Sondern ganz im Gegenteil: Ich binder Topmathematiker, deshalb fühle ich michauch berufen, dieses Fach gut zu vermitteln.

Er zeigt eindringlich, wie wenig selbst die Leh-rer(innen)ausbildner(innen) ihrer eigenen Arbeittrauen und man muss sich schon fragen, warumdas eigentlich so ist. Man findet zunächst einmaldie in den GDM-Mitteilungen15 bereits im Kontextder COACTIV-Studie diskutierte common senseGleichsetzung „Top im Fach = Top Vermittler“,die in dieser Allgemeinheit eben nicht auf solideempirische Evidenz zurückgreifen kann, wie wohlsie überdies die Frage aufwirft, ob denn gute Ma-thematiklehrer(innen) einfach solche sind, die denStoff gut „vermitteln“ (wo doch bildungswissen-schaftlich eigentlich überall Konstruktivismus andie Wände powergepointet wird, demgemäß ei-gentlich gar nichts „vermittelt“ werden könnendürfte).Ungebrochen ist der Wunsch von Schrittesser u. a.nicht mit der „zweiten Wahl“16 zu arbeiten. Erist für mich Ausdruck einer tief sitzenden, leidernicht untypischen Bigotterie einiger Hochschul-lehrender: Der/ Die Lehrer(in) in der Schule mögejede(n) Schüler(in) dort abholen, wo er / sie gera-de steht, jedem nach seinen Möglichkeiten indi-viduelle Förderung zu Teil werden lassen und dieHeterogenität der Schüler(innen)schaft als Chancebegreifen. Bildungsnähere Eltern mögen endlichbegreifen, dass das Gymnasium ausgedient hat.Denn schon PISA diktiere schließlich, längeres

verpflichtend gemeinsames Lernen auch mit Kin-dern aus bildungsferneren Schichten nun endlichRealität werden zu lassen. Man selbst mag sichfür seine Hochschullehrtätigkeit dann aber bittedoch aussuchen, mit welchem „Humankapital“man zu arbeiten bereit ist (Abitur / Matura lässtman dabei freilich nicht als hinreichend gelten,allen derzeitigen Normierungs- und Zentralisie-rungsbemühungen in Österreich und Deutschlandzum Trotz).Erschreckend die daraus sprechende ungetrübteHoffnung, vor Studieneintritt bzw. nach einemSemester (bestenfalls einem Jahr) so treffsicher et-was dazu sagen zu können, wer einmal eine „guteLehrerin“/ein „guter Lehrer“ sein wird, dass mandiejenigen, bei denen man die Hoffnung schonaufgegeben hat, gesetzlich sanktioniert vom (wei-teren) Studium abhalten darf.17 Da fragt man sichschon, welchen Wert man in dieser Denke eigent-lich den drei bis vier Jahren Studium für das Leh-rerwerden einräumt, für die man sich selbst ver-antwortlich zeichnet. Das erste Semester wollenSchmied, Schrittesser und andere Protagonistendieser Idee den Studierenden als Schonzeit schonzugestehen und sie notfalls am Ende des Semes-ters zum Motivations-Striptease, Belastbarkeits-Test oder schlicht zur Stallgeruchs-Prüfung zwin-gen. Sie sollen etwa nach Schrittessers Vorstel-lung spätestens nach einem Jahr einen Fragebo-gen ausfüllen oder ein kurzes Essay schreiben,Schmied will sie allgemein unter verschärfte Be-obachtung im „Bewährungsjahr“ stellen.Wie derartige Fragebögen aussehen, kannman schon jetzt ahnen und anhand von „Self-Assessment“-Bögen im Internet ausprobieren.18Nicht wenige davon versprühen eher den miefigenCharme der 80er-Jahre-Selbsterkundungsbögen,die einem damals der Sozialkundelehrer vomArbeitsamt mitbrachte und die schon seinerzeit(hoffentlich) niemand wirklich zum Ausgangs-punkt seiner Berufsentscheidung gemacht habendürfte. Sollte derartiges irgendwann justiziabelwerden, wird einem ganz anders. Hier werdenz.T. Persönlichkeitsmerkmale eines stilisierten„Lehrer-Über-Ichs“ heraufbeschworen, dem man

15 Vgl. „Fachwissenschaftlich überlegen“, GDM-Mitteilungen 83, S. 53 f16 Der Leiter der Expertenkommission zur Reform der Lehrerbildung (gleichzeitig Geschäftsführer der Steirischen Volkswirtschaft-

lichen Gesellschaft) gehört erkennbar auch dazu, sein erklärtes Hauptanliegen „Ich möchte die erste Wahl haben von jungen Leu-ten, die geeignet sind, den Lehrberuf zu ergreifen“ http://www.stvg.at/home.nsf/Alles/A4D342CBA5DA59E2C125754B00327E0E/\protect\T1\textdollarfile/Startschuss_Lehrerausbildung.pdf.

17 Hier ist anzumerken, dass in Österreich derzeit grundsätzlich über eine Studieneingangsphase nachgedacht wird, allerdings (wenigs-tens außerhalb des Lehramts) basierend auf den Leistungen, die im regulären Studium erbracht werden.

18 Unter anderem: http://www.cct-germany.de/ , http://www.dbb.de/lehrerstudie/start_fit_einleitung.php, http://uni-fibel.uni-muenster.de/ , Vergleichend: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/25/25068/1.html

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die Bewältigung der zunehmend selbst in der all-gemeinen Bevölkerung als psychisch belastendeingeschätzten Situation im System Schule19 zu-traut. Bezeichnenderweise kommt man dabei je-doch nicht an den Punkt, einmal etwas intensiverdarüber nachzudenken, ob nicht an dem SystemSchule selbst etwas zu ändern wäre, statt einfachnach psychisch besser gestähltem Personal Aus-schau zu halten. Gruselig ist die Vorstellung, wel-che Testindustrie sich rasend schnell entwickelnkönnte, wenn man mit solchen Tests tatsächlichirgendwann einmal Leute aus dem Studium her-aushalten können sollte.Die Idee mit dem Motivations-Essay wirkt aufmich dagegen vergleichsweise nostalgisch roman-tisch, erinnert sie mich doch frappierend an die„Gewissensprüfung“, die ich seinerzeit zur Ver-weigerung des Dienstes an der Waffe bestehenmusste und deren erfolgreiches Bestehen man sei-nerzeit gerne mit dem Button: „Zivi – GeprüftesGewissen“ zur Schau trug. Aber vielleicht wirdschon sehr bald ehedem umgekehrt ein Schuhdaraus und man muss den „Dienst am Kinde“ ver-weigern und Bekenntnis darüber ablegen, warumman eigentlich nicht in der Schule arbeiten will.

Billiglöhner im Kommen

So berichtet das ZDF Ende April:

An deutschen Schulen fehlen nach Einschät-zungen von Experten mehr als 20.000 Leh-rer, Unterrichtsstunden fallen aus. Doch stattneue Lehrer einzustellen, werden in einigenBundesländern immer häufiger pädagogi-sche Laien eingesetzt. [. . . ] Ob nun zur bloßenBeschäftigungstherapie oder für den Unter-richt [. . . ] Schulen setzen Hilfslehrer ein. AmMontgelas-Gymnasium im bayrischen Vils-biburg unterrichten gleich mehrere: Ein pen-sionierter Oberstudiendirektor gibt Physikun-terricht, weil es für dieses Fach kaum Lehrer-Nachwuchs gebe, heißt es. Auch Eltern hel-fen aus. So unterrichtet Bauingenieur GöranBrandhorst wöchentlich vier Stunden Mathe-matik, Hausarzt Giovanni Köck springt alsPhysiklehrer in der Oberstufe ein: ,Ich mer-ke meine Grenzen durchaus‘, meint Köck. Ersieht sich selbst als Notlösung, einige Sachenerkläre er einfach didaktisch schlecht. [. . . ]

Der Präsident des Deutschen Lehrerverban-des, Josef Kraus, gibt der Politik die Schuldan der zum Teil dramatischen Situation invielen Schulen: Sie habe es versäumt, diffe-renzierte Bedarfsprognosen zu entwickeln.Darüber hinaus wollen viele Länder sparenund stellen deshalb immer weniger ausgebil-dete Lehrkräfte ein. In Baden-Württembergbeispielsweise werden zunehmend so genann-te pädagogische Assistenten an Grund- undHauptschulen beschäftigt, die keine berufli-che Qualifikation benötigen.[. . . ] Für einenStundenlohn von oft rund zehn Euro dieStunde unterrichten die ungelernten Hilfsleh-rer mitunter ganze Klassen allein. [. . . ] Micha-el Gomolzig vom Verband Bildung und Erzie-hung in Baden-Württemberg ist über solcheZustände empört. Im letzten und vorletztenJahr seien rund 75 Prozent aller Grund- undHauptschullehrer, die eine fertige Ausbildunghinter sich hatten, auf die Straße geschicktworden. Dafür hole man pädagogische As-sistenten an die Schulen zum Billiglohn undmeine, damit sei alles getan.20

Niemand prüft in der Not das Gewissen oder dieExzellenz dieser Menschen, jeder hält es auf ein-mal für lässlich, dass diese kein „berufsqualifi-zierendes“ Studium absolviert haben. Irgendwiekann – auch das ist common-sense – eben dochjede(r) Lehrer(in) sein, der / die eine Matura hat(und sich je nach Gusto und Großwetterlage ge-gebenenfalls beruflich außerhalb der Schule mehroder minder bewähren konnte). Angeborene Eig-nung ist im Zweifelsfall ein beliebig dehnbaresund gegenüber „Bewährung in der Wirtschaft“beliebig austauschbares Konzept.Ähnliche Zustände scheinen angesichts des pro-gnostizierten, kommenden Lehrer(innen)mangelsauch in Österreich keineswegs abwegig, wennfür die geplante Umstellung des Lehramtsstudi-ums auf BA/MA-Strukturen bereits jetzt der / die„Hilfslehrer(in)“ als Berufsperspektive für BA (oh-ne MA) ganz offen die Runde macht.Dass das Lehramtsstudium ein eigenständiges,spezifisch qualifizierendes Studium erfordert unddass dort auch eigenständige fachdidaktische An-teile wesentlich sind, dafür hat sich die GDM inden letzten Jahren sehr stark gemacht und gegen-über DMV und anderen Skeptiker(inne)n fraglosEiniges an Boden gut gemacht. Presseauftritte wie

19 „Vom faulen Sack zum armen Schwein“, http://www.lehrerfreund.de/in/schule/1s/lehrerbild/343620 http://frontal21.zdf.de/ZDFde/inhalt/17/0,1872,7559185,00.html

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der oben genannte, wie insgesamt die geflissent-liche Beteiligung an der Entwicklung von Verfah-ren der Vorauswahl, um vor dem Studium solcheQualifikationen sicher zu stellen, für die man sichim Kern einmal selbst zuständig fühlen sollte,scheinen mir allerdings deutlich kontraproduktiv.Sie zeugen in erster Linie vom geringen Selbst-vertrauens der Lehrerbildner(innen) in die eigeneAusbildungsleistung und machen nachdenklich,woher dieses kommt und ob es nicht ein Stückweit angemessen ist.Wenn es uns in vier Jahren Arbeit mit den Stu-dierenden tatsächlich nicht gelingen sollte, durchStudium und Prüfungswesen diejenigen die wil-lig und fähig sind, den Lehrerberuf gewissen-haft, pädagogisch und fachlich kompetent aus-

zuüben, von denjenigen zu scheiden, bei denenwir auch nach vier Jahren gemeinsamer Arbeitnicht das Gefühl haben, dass sie dies zu leistenvermögen, dann hat in allererster Linie unsereLehrer(innen)ausbildung ein Problem, nicht dieStudierenden. Der Befund wäre für mich immereine Anlass dafür, über diese Ausbildung nach-zudenken, ihre Inhalte, ihre Formen, die Orte andenen sie stattfindet und die Personen, die sichdafür verantwortlich zeichnen. Mir scheint, indiesen Bereichen gibt es in Deutschland wie inÖsterreich viel zu tun, bevor wir uns auf das in-dividuelle (Un)Geeignet-Sein von Personen zu-rückziehen, deren Eignung anzubahnen eigentlichunser Ziel sein sollte. Ansonsten haben wir unseher heute als morgen selbst überflüssig gemacht.

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Mindeststandardsam Ende der PflichtschulzeitErwartungen des Einzelnen und der Gesellschaft –Anforderungen an die Schule. Ein Positionspapierder Gesellschaft für Fachdidaktik e. V. (GFD)

Zusammenfassung

Trotz der Forderung der Expertise von Kliemeu. a. (2003), dass es zu den Aufgaben der nächs-ten Zeit gehöre, Mindeststandards zu formulieren,liegen bis heute nur die 2003/04 formulierten Re-gelstandards der KMK vor.Mit dem vorliegenden Papier versucht die Ge-sellschaft für Fachdidaktik (GFD), die Diskussi-on über Mindeststandards voranzubringen. Dabeiwerden Mindeststandards mit dem Ziel der indi-viduellen Entfaltung und gesellschaftlichen Parti-zipation unter Berücksichtigung unterschiedlicherModi der Weltbegegnung ausgewiesen. Die Be-zugnahme auf die Modi der Weltbegegnung, wiesie Baumert (2002) in die Diskussion eingeführthat, garantiert, dass ein breites Verständnis vonBildung auch den Mindeststandards zu Grundegelegt wird.Unter dieser Perspektive werden im Rahmen derAnerkennung einer Fachlichkeit von Bildungspro-zessen nicht nur einzelfachliche, sondern vor al-lem auch fachübergreifende Zugänge erforderlichmit der Konsequenz, ein auf Mindeststandardshin ausgerichtetes Kerncurriculum über die Ein-zelfächer hinaus einzuführen.Hinzu kommen überfachliche Standards wieTeamfähigkeit, Konfliktfähigkeit etc., die zwarauch in Fächern aufgebaut, die aber zugleich vonder Institution Schule als Ganzes verantwortetwerden müssen.Mindeststandards sind nach Auffassung der GFDals normative Setzungen zu sehen, die das Rechtdes Einzelnen auf grundlegende Bildung fokus-sieren und den Anspruch der Gesellschaft an die

Institution Schule dies für jedermann zu gewähr-leisten. Schulunterricht muss explizit solche Kom-petenzen, die alle Schülerinnen und Schüler alsMindestmaß für die eigene individuelle Entfaltungund die gesellschaftliche Partizipation sowie alsGrundlage für lebenslanges Lernen erwerben müs-sen, über Schularten hinweg stärker in den Blicknehmen und sichern.

1 Intention und Perspektive

In den Jahren 2003 und 2004 wurden durch dieKultusministerkonferenz (KMK) der Bundesre-publik Deutschland Bildungsstandards für be-stimmte Fächer und bestimmte Klassenstufenbeschlossen. Diese Standards sind als Regelstan-dards formuliert. Sie beschreiben das erwarteteKompetenzniveau des durchschnittlichen Schülersam Ende der Primarstufe bzw. der Sekundarstu-fe I. Trotz der Forderung der „Klieme-Expertise“,dass es zu den Aufgaben der nächsten Zeit gehö-re, Mindeststandards auszubringen1, fehlen diesebis heute.Die Gesellschaft für Fachdidaktik macht sich dieseForderung der Experten um Klieme zu eigen undversucht, die Diskussion über Mindeststandardsihrerseits voranzubringen. Als Anknüpfungspunk-te dienen für die GFD– die vorliegenden Bildungsstandards der KMK,

insbesondere solche für die 9. Klasse derHauptschule, auch wenn diese nicht mit Min-deststandards gleichgesetzt werden können;

– die Standards, die im Nationalen Ausbildungs-pakt von 20052 formuliert worden sind, wobei

1 Klieme E. u. a. (2003). Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise. Berlin: BMBF, S. 10.2 Nationaler Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland. Kriterienkatalog zur Ausbildungsreife, hg.

v. der Bundesagentur für Arbeit (http://www.arbeitsagentur.de/zentraler-Content/Veroeffentlichungen/Ausbildung/Nationaler-Pakt-fuer-Ausbildung-und-Fachkraeftenachwuchs-Kriterienkatalog-zur-Ausbildungsreife.pdf; 26. 11. 2008)

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auch diese wegen der Ausrichtung auf Ausbil-dungsfähigkeit nur Teilelemente für die Formu-lierung von Mindeststandards erbringen;

– die Formulierung der basalen Kulturwerkzeugeund Modi der Weltbegegnung nach Baumert3.

Die GFD geht davon aus, dass das Ziel von Min-deststandards die Befähigung zur aktiven Betei-ligung am beruflichen und öffentlichen Lebensowie zur Gestaltung des privaten Lebens seinmuss. Zur persönlichen Entfaltung und Enkul-turation der Jugendlichen ist ein breites Fächer-spektrum unabdingbar. Eine Konzentration alleinauf die Kulturtechniken, wie dies im NationalenAusbildungspakt geschieht, reicht dafür nichtaus.Der von der GFD zugrunde gelegte Bildungsbe-griff einer Befähigung zur aktiven Beteiligung amberuflichen und öffentlichen Leben sowie zur Ge-staltung des privaten Lebens lässt sich insbeson-dere nach den folgenden vier Gesichtspunktenaufschlüsseln:– Identitätsbildung (Kompetenzen, die einen selbst-

bestimmten und reflektierten Zugang zu sichselbst und zur Welt eröffnen, so dass biografi-sche Entwicklungsphasen erfolgreich bewältigtwerden können);

– Alltagsbewältigung (Kompetenzen, die im Alltaghandlungsrelevant sind und über „Alltagswis-sen“ oder „Allgemeinwissen“ hinausgehen);

– Ausbildungsreife (Kompetenzen für eine verant-wortliche Berufstätigkeit auf der Grundlage ba-saler Kulturtechniken);

– Partizipation (Kompetenzen, um am gesellschaft-lichen Diskurs teilzuhaben und zusammen mitanderen – im Sinne sozialer Kohäsion – begrün-det zu handeln4).

Diese Aspekte finden sich explizit oder implizitin allen Leitgedanken für die schulische Erzie-hung in Deutschland und auf europäischer Ebene.Sie sind im Gesamtergebnis gelungener schuli-scher Erziehung gleich gewichtig, was sich auchim Ensemble der in den Mindeststandards zu for-mulierenden Teilkompetenzen ausdrücken muss.

Als Instrument zur Einlösung der o. g. Zielsetzun-gen muss ein nicht nur fachliches, sondern auchein fachübergreifendes und überfachliches Kern-curriculum unter Zugrundelegung der basalenKulturwerkzeuge entwickelt werden.Um sicherzustellen, dass auf der Ebene von Min-deststandards nicht Einseitigkeit des Zugangs(z. B. eine rein kognitive Ausrichtung von Bildungund Erziehung) vorherrscht, sondern Vielseitig-keit unter den Perspektiven von Individuum undGesellschaft gewährleistet ist, muss ein breitesschulisches Fächerangebot vorhanden sein, dasunterschiedliche Modi der Weltbegegnung ermög-licht. Nach Baumert (2002) sind dies:– Kognitiv-instrumentelle Modellierung der Welt;– Ästhetisch-expressive Begegnung und Gestal-

tung;– Normativ-evaluative Auseinandersetzung mit

Wirtschaft und Gesellschaft;– Begegnung mit Problemen konstitutiver Ratio-

nalität und ihrer Erfassung.

2 Was sind Mindeststandards?

Mindeststandards definieren Basiskompetenzen,über die alle Schülerinnen und Schüler am En-de der Regelschulzeit verfügen müssen, um aktivam beruflichen und öffentlichen Leben teilhabenund ihr privates Leben gestalten zu können. Min-deststandards können nicht als der unterste Levelder fachbezogenen Bildungsstandards definiertwerden, etwa als solche für die Hauptschule. Siesind vielmehr eigenständig auf der Basis von er-zieherischen und gesellschaftlichen Werten undZielvorstellungen, wie oben angedeutet, zu for-mulieren. Bei der Erstellung sollen die Bezüge zuden Regelstandards der KMK sowie zu den Stan-dards im Nationalen Pakt für Ausbildung undFachkräftenachwuchs5 durchaus beachtet und imEinzelnen aufgezeigt werden. Denn solche aus derFachperspektive formulierten (Regel-) Standardsbehalten – neben den Mindeststandards – wei-

3 Vgl. Baumert, J. 2002. Deutschland im internationalen Bildungsvergleich. In: Killius, Nelson; Kluge, Jürgen & Reisch, Linda (Hg.), DieZukunft der Bildung. Frankfurt: Suhrkamp.

4 Der Europarat spricht in diesem Zusammenhang immer wieder von der Befähigung des Individuums zur Wahrnehmung einer akti-ven, selbst bestimmten Rolle als Individuum („social agent“) sowie einer demokratischen Bürgerrolle („democratic citizenship“) (vgl.u. a. Recommendation 12 of the Committee of Ministers to member states on education for democratic citizenship, 16 October 2002:812th meeting of the Ministers’ Deputies; ebenso Vollmer, H. J. (2006). Towards a Common European Instrument for Language(s) of Educati-on. Strasbourg: Council of Europe.

5 Im Kriterienkatalog des Nationalen Pakts wird zu Recht von „Kriterien für Ausbildungsreife“ bzw. „Merkmalen“ gesprochen. Dasbedeutet, dass die dort formulierten Kriterien bzw. Merkmale nicht in jedem Fall auf einen schulischen Standard als Ergebnis vonUnterricht zielen. Ganz deutlich wird dies bei „Physische Merkmale“ (z. B. „Altergerechter Entwicklungsstand“), die nur bedingt aufSchulunterricht bezogen werden können.

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terhin ihre Berechtigung und Notwendigkeit. DerUnterschied liegt aber genau dort: Während Re-gelstandards primär von den Fächern formuliertwurden, müssen Mindeststandards konsequentaus einer Gesamtsicht auf Bildung und einer Ge-samtverantwortung für schulisch organisierte Bil-dung festgelegt werden.Mindeststandards setzen normativ für Schule undUnterricht das, was von der Institution Schulefür die persönliche Entwicklung und die gesell-schaftliche Reproduktion, Integration und Wei-terentwicklung einzulösen ist. Mindeststandardsformulieren also, was der Einzelne ebenso wie dieGesellschaft von der Institution Schule auf jedenFall an Wissen und Können erwarten darf, undzwar:– im Sinne eines Rechts aller Lernenden (soweit

sie nicht durch spezifische Behinderungen be-einträchtigt sind) auf eine grundlegende Bil-dung zum Zeitpunkt des ersten Schulabschlus-ses (nach der 9. bzw. der 10. Klassenstufe), diedurch die Schule sichergestellt werden muss.Mindeststandards gelten folglich unabhängigvon Schulzweigen und -arten.

– im Sinne eines legitimen Anspruchs der Gesell-schaft auf Fähigkeiten, die zur Partizipation desEinzelnen und zum sozialen Zusammenhalt al-ler (zur sozialen Kohäsion) führen und die einekontinuierliche gesellschaftliche Weiterentwick-lung ermöglichen.

Mindeststandards müssen – in Anlehnung an dieKlieme-Expertise – die folgenden Kriterien erfül-len:– Merkmal 1: Verständlichkeit

Mindeststandards sind auch für Laien verständ-lich formuliert und sowohl hinsichtlich derkonkreten Anforderungen als auch hinsichtlichihrer Integration in dem dahinter stehendenbasalen Erziehungskanon transparent.

– Merkmal 2: FokussierungMindeststandards fokussieren genau das, wasvon schulischem Unterricht unbedingt erwart-bar ist bzw. von ihm eingefordert werden kann.Sie erfordern auf allen Ebenen (s. Punkt 3) eineklare Identifizierung und Ausformulierung derwichtigsten Kompetenzen.

– Merkmal 3: KumulativitätBildungsstandards legen fest, welche Kompe-tenzen bis zum Ende der Regelschulzeit insge-samt erworben sein müssen. Die Kompetenzenwerden über die gesamte Bildungslaufbahn derSchülerinnen und Schüler kontinuierlich entwi-ckelt und verfolgt.

– Merkmal 4: VerbindlichkeitMindeststandards sind verbindlich; sie gehen

über die Verbindlichkeit von fachlichen Regel-standards hinaus.

– Merkmal 5: RealisierbarkeitMindeststandards sind operationalisierbar undempirisch überprüfbar.

– Merkmal 6: FachlichkeitDieses für Standards besonders bedeutsameMerkmal wird nachfolgend weiter erläutert:

3 Fachlichkeit der Mindeststandards

Auch wenn Kompetenzen überwiegend im Fach-unterricht erworben werden, zielen Mindeststan-dards im Gegensatz zu den Regelstandards nichtauf das fachsystematisch Elementare eines Faches,sondern akzentuieren die Beiträge des Faches zuden übergeordneten Zielsetzungen. Dabei über-nehmen sie unterschiedliche Verantwortung:– Sie vermitteln Kompetenzen, auf deren Grund-

lage andere Fächer weiterarbeiten, jene inhalt-lich füllen und ausdifferenzieren.

– Sie erweitern grundlegende Kompetenzen imfachlichen Kontext (z. B. fachliche Diskursfähig-keit)

– Sie bauen Kompetenzen auf, die sie im Wesent-lichen allein verantworten müssen.

Die GFD setzt damit etwas andere Akzente als dieKlieme-Expertise, die Fachlichkeit als erstes Krite-rium für gute Standards ausweist und damit dieFachbasiertheit von Kompetenzen besonders be-tont. Dies hat dazu geführt, dass Standards ausden Fächern heraus bzw. stark mit Blick auf dasFach formuliert wurden. Dabei kamen die An-knüpfungspunkte und Querverbindungen zwi-schen den Fächern – und damit verbunden auchderen gemeinsame Verantwortung – zu kurz. DieChancen zur wechselseitigen Nutzung und Wei-terentwicklung von Kompetenzen zwischen Fä-chern wurden deshalb nur unzureichend erkannt.

4 Struktur von Mindeststandards

Für das Erreichen der Mindeststandards sind alsodie Schulfächer und die Schule als Ganzes ver-antwortlich. Im Hinblick auf die Fächer sind dreiEbenen zu unterscheiden: Mindeststandards ein-zelner Fächer (fachbezogene Mindeststandards); Min-deststandards, die von verwandten Fächern, dieeine Lerndomäne bilden, zu erreichen sind (domä-nenbezogene Mindeststandards) sowie fachübergrei-fende Mindeststandards, die sich über alle Fächererstrecken oder quer zu Fächern oder Fachclus-tern liegen. Damit sind aber noch nicht alle für

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Mindeststandards einschlägige Kompetenzfelderabgedeckt. Deshalb wird eine vierte Ebene – über-fachliche Mindeststandards – erforderlich. Für dasErreichen von Mindeststandards sind die Schulfä-cher und die Schule als Ganzes verantwortlich.Für alle Mindeststandards gilt, dass sie sich ge-genüber dem zugrundegelegten Bildungsbegriffausweisen können, d.h. dass sie in ihrer Gesamt-heit die vier Aspekte der individuellen Entfaltungund der gesellschaftlichen Partizipation sowie dieverschiedenen Modi der Weltbegegnung berück-sichtigen.

4.1 Fachbezogene MindeststandardsSchulfachbezogene Mindeststandards beziehensich auf im Einzelfach zu erwerbende (Teil-) Kom-petenzen. Curricular formulieren die Fächer dazuim Hinblick auf die übergeordneten Bildungszie-le aus ihrem genuinen Konzept-, Methoden- undInhaltsverständnis heraus exemplarische Unter-richtsthemen auf basalem Niveau.

4.2 Domänenbezogene MindeststandardsAuf der Ebene der domänenbezogenen Mindest-standards werden Kompetenzen beschrieben, diein besonderer Weise oder ausschließlich in be-stimmten Fächergruppen erworben werden kön-nen und die deshalb von mehreren Fächern ge-meinsam verantwortet werden.Domänenbezogene Standards zielen auf eine not-wendige Abstimmung und Zusammenarbeit deraffinen Fächer untereinander und im Hinblickauf gemeinsame Beiträge für die übergeordnetenschulischen Bildungsziele. Die inhaltliche Gestal-tung eines Standards erfolgt durch das jeweili-ge Fach, der Mindeststandard als Ganzes ist abernicht auf ein bestimmtes Fach alleine bezogen.

4.3 Fachübergreifende MindeststandardsAuf dieser Ebene geht es um den Aufbau einersach- und adressatengerechten Diskursfähigkeitauf grundlegender Ebene. Dies geschieht durchdie Identifizierung und Entwicklung von basalenKompetenzen, die allgemein für schulisches Ler-nen und Schulerfolg sowie für außerschulischeslebenslanges Weiterlernen von Bedeutung sind.Eine wesentliche Rolle spielen dabei die beidenzentralen Symbol- und Sprachsysteme Deutschals Unterrichts- und Verkehrssprache sowie Ma-thematik. Die den beiden Systemen zugeordnetenUnterrichtsfächer fungieren hier als Schlüsselfä-

cher. Sie führen in die Strukturen und Bausteinedieser „Sprachen“ ein.Da es für fachübergreifende Bildungsstandardsnoch weniger Tradition als für die domänenspe-zifischen gibt, ist hier eine Zusammenarbeit undAbstimmung der jeweils beteiligten bzw. aller Fä-cher von großer Bedeutung. Der Erfolg von Min-deststandards wird wesentlich von einer solchgelungenen Zusammenarbeit abhängen.

4.4 Überfachliche MindeststandardsHierzu zählen Standards, die auf allgemeine schu-lische Erziehungsziele Bezug nehmen, z. B. auf Fä-higkeit zur Übernahme von Verantwortung, Team-fähigkeit, Selbstorganisation/Selbsttätigkeit, Kon-fliktfähigkeit usw.6 Überfachliche Kompetenzengehören auch zu den Grundvoraussetzungen einesfunktionierenden Fachunterrichts. Sie sind ganzwesentlich im Fachunterricht zu fördern. Zur Er-reichung der fachlichen, der domänenspezifischenund der fachübergreifenden sowie der überfachli-chen Mindeststandards braucht es ein Kerncurri-culum, das auf der Grundlage der Aspekte des Bil-dungsbegriffs sowie der Modi der Weltbegegnungsowohl die Verantwortung eines einzelnen Fachesals auch die Zusammenarbeit und Abstimmungzwischen den jeweils beteiligten Fächer regelt.

Anhang 1: Beispiele für Mindeststandards und ihreBezüge

Im Folgenden werden einzelne Beispiele aus ein-zelnen Fächern angeführt, um die Intention dieserAusführungen zu verdeutlichen. Dabei ist zu be-denken, dass sowohl die Formulierung von Min-deststandards als auch die Zielorientierung unterBerücksichtigung der Modi der Weltbegegnunggegenwärtig nur vorläufig sein und eine intensi-ve Diskussion im Gesamtkontext nicht ersetzenkann. Darüber hinaus ist zu beachten, dass die je-weils angeführten Bezugspunkte nur jeweils einenbesonders prominenten nennen; diese Bezugs-punkte sind jedoch nicht distinkt und verweisenaufeinander.

Fachbezogene Mindeststandards

Beispiel aus dem Fach DeutschFormalisierte Texte verfassen: z. B. Brief, Lebens-lauf, Bewerbungsanschreiben.

6 Vgl. auch Nationaler Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland: „Merkmale des Arbeits- und Sozialverhaltens“(siehe Fußnote 2).

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Ziel: Alltagsbewältigung und Ausbildungsreife(kognitiv instrumentelle Modellierung der Welt).

Beispiel aus der PhysikDas heliozentrische Weltbild grundlegend be-schreiben können.Ziel: Identitätsbildung (Weltbild) (kognitiv instru-mentelle Modellierung der Welt).

Beispiel aus Religion/EthikDen eigenen Lebensglauben wahrnehmen, zumAusdruck bringen und gegenüber anderen be-gründet vertreten.Ziel: Identität und Partizipation (Begegnung mitProblemen konstitutiver Rationalität).

Domänenspezifische Mindeststandards (affiner Fächer)

Beispiel aus den SozialwissenschaftenGesellschaftliche Sachverhalte bewerten, die füreine gesellschaftlich fundierte Lebensführung be-deutsam sind; Einflussfaktoren auf Bewertungenkennen.Ziel: Alltagsbewältigung und Identitätsbildung(normativ-evaluative Auseinandersetzung mitWirtschaft und Gesellschaft).

Beispiel aus den NaturwissenschaftenExperimentelle Untersuchungen nach Anleitungdurchführen; dabei– geplant vorgehen/ Variablen kontrollieren;– sorgfältig Daten erheben und dokumentieren;– einfache Schlussfolgerungen ziehen.Ziel: Alltagsbewältigung und Ausbildungsreife(kognitiv instrumentelle Modellierung der Welt).

Beispiel aus den Fremdsprachen/den SprachenInterkulturellen Verständigung von Menschen ausunterschiedlichen sprachlichen wie kulturellenKontexten anbahnen und damit zum gegenseiti-gen Fremdverstehen beitragen.Ziel: Identitätsbildung, Alltagsbewältigung, Parti-zipation (normativ-evaluative Auseinandersetzungmit Wirtschaft und Gesellschaft).

Fachübergreifende Mindeststandards (auch nicht affinerFächer)

Texte verstehen und schreibenEinfach strukturierte Texte lesbar, richtig, ver-ständlich und zusammenhängend schreiben.Ziel: Alltagsbewältigung, Ausbildungsreife, Par-tizipation (kognitiv-instrumentelle Modellierungder Welt).

Mathematische Werkzeuge nutzen; grundlegendeRechenregeln anwendenGrundlegende Rechenregeln anwenden; einfacheSachverhalte für Berechnungen aufbereiten (Ma-thematisieren).Ziel: Alltagsbewältigung, Ausbildungsreife undPartizipation (kognitiv instrumentelle Modellie-rung der Welt).

Sachverhalte präsentierenErarbeitete Sachverhalte für andere sachlich ange-messen und ästhetisch ansprechend präsentieren.Ziel: Alltagsbewältigung, Ausbildungsreife(kognitiv-instrumentelle Modellierung; ästhetisch-expressive Begegnung und Gestaltung).

Anhang 2: Verfahrensvorschlag an dieKultusministerkonferenz

Die GFD schlägt für die Entwicklung von Min-deststandards ein anderes Verfahren vor, als esbei den Regelstandards zur Anwendung kam. EineVorlage sollte durch eine von der KMK eingesetz-te Expertenkommission, die mit Vertreterinnenund Vertretern der Fachdidaktiken und der Er-ziehungswissenschaften besetzt ist, in gemeinsa-mer inhaltlicher Verantwortung erarbeitet werden.Die Expertenkommission sollte Unteraufträge zurErarbeitung fachbezogener Beiträge erteilen, diesich einer klar definierten Rahmenkonzeption derzu erarbeitenden Mindeststandards einfügen.Der Prozess sollte unter dem Monitoring durcheine Steuergruppe stehen, die sich aus Vertrete-rinnen und Vertretern der Bildungsadministrationund von Wissenschaftler/innen zusammensetzt.Ein Beirat, in dem gesellschaftlich relevante Grup-pen und Institutionen vertreten sind (z. B. Bun-desagentur für Arbeit, Lehrerverbände) sollte derExpertengruppe als Diskussionspartner für Zwi-schenstände zur Verfügung stehen.Vorschlag zum Prozess:1. Entscheidung der KMK über die grundlegende

Strategie für die Erarbeitung von Mindeststan-dards.

2. Konstitution einschlägiger Gremien:a. Einsetzung einer Steuergruppe für das Mo-

nitoring des Gesamtprozesses;b. Einsetzung einer Expertenkommission mit

inhaltlicher Gesamtverantwortung für die zuerstellenden Vorlagen an die KMK;

c. Einsetzung eines Beirats.3. Ausarbeitung einer Rahmenkonzeption und

prototypischer Beispiele zu Mindeststandardsdurch die Expertenkommission.

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4. Aufträge der Expertenkommission an Klein-gruppen besonders ausgewiesener Fach-vertreterinnen und -vertreter (jeweils 2 bis3 Personen aus Fachdidaktik und Lehrplan-kommissionen), auf der Grundlage der proto-typischen Beispiele Mindeststandards zu for-mulieren.

5. Durchsicht der Beiträge aus den Fächern durchdie Expertenkommission im Hinblick auf die

Passung zur Rahmenkonzeption; ggf. Rückver-weise an die Fachvertreterinnen/-vertreter.

6. Erarbeitung einer Vorlage für die KMK durchdie Expertenkommission.

7. Offizielles Beteiligungsverfahren der einschlä-gigen Gruppen (Fachverbände, Lehrerverbände,Gewerkschaften).

8. Beschlussfassung der KMK.

Diskussion über „Mindeststandards“und „Risikogruppen“ imMathematikunterrichtEin Zwischenbericht mit Aufforderungscharakter zumMitarbeiten

Alexander Wynands

In den GDM-Mitteilungen 86-2009 berichteteder Arbeitskreis (AK) ,Vergleichsuntersuchun-gen im Mathematikunterricht‘ (auf den Seiten40–45) über ein AK-Treffen im Oktober 2008 zuMindest-, Regel- und Optimalstandards. In ver-schiedenen Sitzungen der Arbeitsgruppe des IQBBerlin zur Aufgabenentwicklung und Bewertungvon VerA-8-Aufgaben gab es seit 2007 z. T. kon-troverse Diskussionen über Ziele, Inhalte undAnforderungsniveau von Testitems und speziellzu den Begriffen „Mindeststandards“ und „Risi-kogruppe“. Von Teilnehmern beider Diskussions-runden wurde ein Treffen am 6. 1. 2009 im NRW-Landesinstitut in Soest angeregt. G. Möller, derLeiter dieser Einrichtung (Ministerium für Schuleund Weiterbildung, Dienststelle Soest), organisier-te das Treffen und die nachfolgende Sitzung desAK am 7./8. Mai 2009 in Soest. Zur Erarbeitungeines „Ziele-Beispiele-Katalogs“ bildete sich beidem AK-Treffen im Januar eine Arbeitsgruppe (W.Blum, Chr. Drüke-Noe, W. Herget, R. v. Hofe, A.Pallack, U. Schmidt und A. Wynands). Diese Ar-beitsgruppe erstellte Vorschläge (keine endgülti-gen Definitionen und Anweisungen!), über die inder Mai-Sitzung in Soest gesprochen wurde. Denderzeitigen Stand der Diskussion möchte ich hierkurz – objektiv, wie ich hoffe – referieren. Meineeigene Sichtweise kennzeichne ich kursiv mit der Ergän-

zung (AW). In den vorliegenden GDM-Mitteilungensollte dieser Zwischenbericht als Aufforderungzur Mitdiskussion und zur konstruktiven Mitar-beit an einem wichtigen Thema der Mathematik-didaktik in Deutschland verstanden werden.Klar betont sei: Dies ist ein Zwischenbericht zulängst nicht abgeschlossenen Überlegungen ineiner „Untergruppe des GDM-AK Vergleichs-untersuchungen“, den ich auch in diesem frü-hen Stadium für sinnvoll halte, weil m. E. einkonstruktiv-kritisches Mitdenken im Vorfeld von„Festlegungen“ hilfreicher und kollegialer ist alsdestruktiv-entmutigende Kritik im Nachhinein.Als Foren, seine eigene Sichtweise zu Mindest-standards/Basiskompetenzen und zur Förderungvon leistungsschwachen Schülerinnen und Schü-lern zu dokumentieren, können neben Fachver-öffentlichungen auch Beiträge in diesen GDM-Mitteilungen dienen und die aktive Mitwirkungim AK ,Vergleichsuntersuchungen im Mathema-tikunterricht‘ oder in der Untergruppe des AK,die sich mit dem hier angesprochenen Thema be-fasst.Adressaten eines „Ziele-Beispiele-Katalogs“ zu Basis-kompetenzen sind◦ Kolleginnen und Kollegen in der Lehrerausbil-

dung und Lehrerfortbildung◦ Lehrerinnen und Lehrer (nicht nur aber beson-

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ders) der Sekundarstufe I◦ Verantwortliche für die Berufsausbildung in

(berufsbildenden) Schulen, Handwerk und In-dustrie

◦ Schülerinnen und Schüler sowie deren Erzie-hungsberechtigte

◦ Testentwickler für Lernstandserhebungen undzentrale (Abschluss-)Prüfungen

◦ Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des IQB inBerlin und der Kultusministerien

Begriffe: Mindeststandards – Basiskompetenzen –Risikogruppe

Das Thema „Mindeststandards“ ist – nicht erst– seit PISA 2000 – von schulpraktischer Bedeu-tung, für fachdidaktische Untersuchungen wis-senschaftlich herausfordernd und politisch bri-sant. Der Bericht PISA-2000 „definiert“ als Risi-kogruppe solche Schülerinnen und Schüler, dieauf Kompetenzstufe I über Rechnen auf Grund-schulniveau verfügen und – auf einer Raschskala– höchstens den Skalenwert 420 erreichen. DieKlieme-Expertise von 2003 (vgl. hier Klieme e. a.2007) schlägt vor, Bildungsstandards von vornehe-rein als Mindeststandards zu formulieren, die alleSchüler erreichen sollen („Stufe, unter die keinLernender zurückfallen soll“). Diese Erklärungbringt ebenso wenig Klarheit wie die folgendeKlieme-Formulierung für Regelstandards als „mitt-lere Niveaustufe, die im Durchschnitt erreichtwerden soll“.(AW) Wer von Mindeststandards, Basiskompetenzenund Risikogruppen spricht, sollte um mehr Klarheit derBegriffe bemüht sein und genauer sagen, für wen dieseStandards gelten sollen bzw. wer über welche Kompe-tenzen verfügen soll.Mir klingt das Wort Mindeststandards (MS) zu apo-diktisch fordernd. Den Begriff „Risikogruppe“ möchteich eher vermeiden, weil er abwertend und ausgrenzendwirkt. Statt einer „Definition“ von MS halte ich es fürzielorientierter, solche „Basiskompetenzen“ (BK) zu be-nennen, die im Fach Mathematik alle Schülerinnen undSchüler am Ende ihrer allgemeinen Pflichtschulzeit (Sek.I) erreichen sollen. Wer diese Basiskompetenzen nach-weisen kann, erfüllt damit die Mindeststandards im MUder Sek. I.

Der Definitionsversuch

Mindeststandards legen die Kompetenzenfest, ohne die im Grunde keine Schülerinund kein Schüler den jeweiligen Bildungs-

abschnitt abschließen darf (Reiss 2007)

ist „im Grunde“ zu vage, und lässt den Adressaten –im „jeweiligen Bildungsgang“ – offen. Wenn ich vonBasiskompetenzen spreche, meine ich Wissen und Kön-nen, das Schülerinnen und Schüler aller Bildungsgängeam Ende der Sek. I ( HS nach 9 oder 10 Jahren, Real-,Regional- . . . , Gesamtschulen) mindestens und grundle-gend angeboten werden muss.Die Kasseler Arbeitsgruppe (Blum/Drüke-Noe)schlägt in der Soester Mai-Sitzung folgende „Ar-beitsdefinition“ vor:Wer den „Mindeststandard erfüllt“, besitzt basalemathematische Kompetenzen, die in einfachenFällen für das Zurechtkommen in Alltagssitua-tionen und in der beruflichen Ausbildung ausrei-chen. Wer ihn nicht erfüllt, wird vermutlich nichthinreichend in der Lage sein, in jenen Situationenohne Hilfe zurechtzukommen. Diese Schüler ha-ben besonderen Förderbedarf. Im Hinblick auf ihreBildungs- und Berufschancen bilden diese Schülerdie „Risikogruppe“.Nicht abgeschlossen ist bisher die Diskussion, obMS bzw. BK für den Mathematikunterricht sichauch auf die „Teilnahme am allgemeinen kultu-rellen und gesellschaftlichen Leben im Alltag“ be-ziehen und fächerübergreifend formuliert werdensollten.Hingewiesen wurde in der Mai-Sitzung auf dieFormulierung von MS in dem Entwurf eines Pa-piers der Gesellschaft für Fachdidaktik, das in-zwischen veröffentlicht wurde (GFD-Papier 2009).Dort ist zu lesen:

Mindeststandards definieren Basiskompeten-zen, über die alle Schülerinnen und Schüleram Ende der Regelschulzeit verfügen müssen,um aktiv am beruflichen und öffentlichenLeben teilhaben und ihr privates Leben ge-stalten zu können. . . .

Mindeststandards formulieren also, was der Ein-zelne ebenso wie die Gesellschaft von der Institu-tion Schule auf jeden Fall an Wissen und Könnenerwarten darf, und zwar:◦ im Sinne eines Rechts aller Lernenden [. . . ] auf

eine grundlegende Bildung zum Zeitpunkt desersten Schulabschlusses [. . . ] unabhängig vonSchulzweigen und Schularten

◦ im Sinne eines legitimen Anspruchs der Gesell-schaft auf Fähigkeiten, die zur Partizipation desEinzelnen und zum sozialen Zusammenhalt al-ler (zur sozialen Kohäsion) führen und die einekontinuierliche gesellschaftliche Weiterentwick-lung ermöglichen“

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Als allgemeine Zielbereiche der Basiskompeten-zen für Mindeststandards sind im GFD-Papier ge-nannt:◦ Identitätsbildung (Kompetenzen, die einen selbst-

bestimmten und reflektierten Zugang zu sichselbst und zur Welt eröffnen . . . )

◦ Alltagsbewältigung (Kompetenzen, die im Alltaghandlungsrelevant sind und über „Alltagswis-sen“ oder „Allgemeinwissen“ hinausgehen)

◦ Ausbildungsreife (Kompetenzen für eine verant-wortliche Berufstätigkeit auf der Grundlage ba-saler Kulturtechniken)

◦ Partizipation (Kompetenzen, um am gesellschaft-lichen Diskurs teilzuhaben und zusammen mitanderen . . . begründet zu handeln)

Konkret: Basiskompetenzen für denMathematikunterricht

Basiskompetenzen (BK) zum Abschluss der allge-meinen Schulpflichtzeit formulieren für den Ma-thematikunterricht fachliche und fachübergreifen-de Qualifikationen, ohne die eine berufliche Ausbildungund die Teilnahme am kulturellen und gesellschaftli-chen Leben im Alltag gefährdet sind. Aufgabenbeispielesollen die Ziele konkretisieren und gleichzeitigHilfen zur Förderung von Schülerinnen und Schü-lern exemplifizieren, deren Leistungen auf einem(zu) niedrigen, risikoreichen Leistungsniveau liegen.Didaktische Hinweise zur Motivation und zurUnterrichtsgestaltung müssen die Aufgaben un-termauern, damit nicht nur Aufgaben-Beispieletrainiert werden, sondern prozess- und kompe-tenzorientiertes Lernen im MU gepflegt wird (vgl.hierzu z. B. die Beiträge von Johanna Neubrand /Gerd Walter und Johanna und Michael Neubrandin: lernchancen Heft 55, 2007, Friedrich Verlag).Ohne konkrete Beispiel-Aufgaben zu den BK wer-den Verbal-Formulierungen (wie z. B. weiter untenin den „Spiegelstrichen“ zu Leitidee 2) wohl kaumtransparent und für die Schulpraxis fruchtbarsein. Dringend erforderlich ist es, viele sinnstif-tende, praktikable Beispiel-Aufgaben zu veröffent-lichen und allen vorgenannten Adressaten ver-ständlich zu erklären. Dabei ist es wichtig, Aufga-ben zu präsentieren sowohl aus◦ deskriptiver Sicht (mit Angaben von Lösungs-

häufigkeiten/Skalenpunkten) als auch aus◦ normativer Sicht (nach Einschätzung von Fach-

didaktikern, Lehren, Eltern, . . . ).

Die Idee einer

empirischen Festlegung von ,Mindeststan-

dard‘ durch einen (auch inhaltlich bestimm-ten) ,Cutpoint‘ auf der globalen Kompetenz-skala bei 540 bzw. 410 Skalenpunkte für denHauptschulabschluss (MSA) bzw. für denMittleren Schulabschluss (MSA)

wurde kritisch hinterfragt. Eine nur deskriptiveSicht und Formaldefinition für MS/BK sollte ver-mieden werden. Die Festlegung eines „Cutpoint“ist problematisch. Die Angabe von Skalenpunk-ten für Basiskompetenzen von Schülerinnen undSchülern am Ende der Sek I ist generell nur dannsinnvoll, wenn diese auf einer gemeinsamen Skalafür HS und MSA verortet sind.

(AW) Anmerkungen zu empirischen Tests imMathematikunterricht

Die Entwicklung von Beispiel-Aufgaben aus norma-tiver Sicht UND deren empirische Überprüfungist unerlässlich für das Erreichen von Basiskompeten-zen, die inhaltlich Mindeststandards festlegen. Es mussauch deutlich betont werden, dass zentrale Tests – z. B.PISA, VerA, Abschlusstests- nicht dazu verführen dür-fen „teaching to the test“ zu betreiben statt auf kompe-tenzorientierten MU zu achten. Das wird zwar z. B. in„Bildungsstandards Mathematik. konkret“ (Cornelsen-Scriptor 22321 von 2006), in „LernstandserhebungenMathematik in NRW“ (Klett200768 von 2007) und inden „Handreichungen“ und Didaktischen Kommentarezu VerA 8 des IQB (Cornelsen 001275 von 2009) betont,kann aber sehr leicht in Vergessenheit geraten! Testauf-gaben dürfen nicht zu einem lexikographischen, klein-schrittigen Unterrichtsstil verführen. Testaufgaben sindselten problemerschließende, entdeckungsoffene Unter-richtsaufgaben.Zudem sehe ich die Gefahr, dass Lehrende mit dem Blickauf „anspruchsvolle“ Testaufgaben übersehen, wiewichtig einfache Grundkenntnisse und Fertigkeiten imnumerischen, geometrischen und algebraischen Bereichsind. Unerlässlich ist die

Sicherung von Wissen und Grundfertigkeiten

Bevor beispielhaft Verbal-Formulierungen mit Beispiel-Aufgaben für Basiskompetenzen benannt werden, seieneinige Forderungen für den Mathematikunterricht ge-nannt, vgl. Sill (2005), Wynands (2006), Übungsideenin Neubrand/Walter (2007).

Wichtig zur Sicherung von Basiskompetenzen sind◦ Häufige Wiederholungen von Grundfertigkeiten in al-

len Klassen („Tägliches Üben trainiert und wirkt dem

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Vergessen entgegen“ (vgl. lernchancen Heft 55)– Rechnen im 1×1 und mit 10er-Stufenzahlen (10,

100, 1000, . . . )– Zahlvorstellung (natürliche Zahlen, „einfache“ De-

zimalbrüche und Brüche, negative Zahlen z. B. alsTemperaturangaben; Zahlenstrahl, 10×10-Feld,. . . )

– Runden und Schätzen von Zahlen und „Größen“– Umrechnungen

(einfacher) Bruch ↔ Dezimalbruch ↔ Prozentdar-stellung

◦ Maßeinheiten – Umrechnungen in „benachbarte“Maßangaben (Längen, Flächeninhalte, Volumen,Geldwerte, Zeit-Dauer, Masse)

◦ Grundbegriffe (Summe, . . . ; rechter Winkel, Rechteck,. . . ; Prozentsatz, . . . )

◦ Formeln für Rechteck, Dreieck (. . . ?)

Eine stoff-inhaltliche KONKRETISIERUNG VONBASISKOMPETENZEN/MINDESTSTANDARDSkann – nach Stand der Diskussion in Soest, Mai2009 – pragmatisch und unterrichtspraxisorien-tiert den Leitideen folgen:„Zahl“ (L1) „Messen“ (L2) „Raum und Form“(L3) „Funktionaler Zusammenhang“ (L4) „Da-ten und Zufall“ (L5)Dazu wurden 2008/2009 Vorschläge erarbeitet vonBlum/Drüke-Noe, Kassel (L1), Wynands, Bonn/S.Schmidt, Köln (L2), Pallack, Bielefeld (L3), v. Ho-fe, Bielefeld (L4) und U. Schmidt, Soest (L5). Weillängst nicht alle Vorschläge – weder unter den ge-nannten Personen noch beim Soester Mai-Treffen– ausdiskutiert wurden, möchte ich hier nur die„Verbal-Formulierungen“ (Spiegelstriche) nennen,die von Siegbert Schmidt, Köln und mir vorge-schlagen wurden. Wegen der noch völlig offenenFrage nach Auswahl und Publikationsmöglichkeitvon Beispiel-Aufgaben wird an dieser Stelle auchdarauf verzichtet.

(AW) Leitidee „Messen“ (L2)

Schülerinnen und Schüler, die in Mathematik über Ba-sisqualifikationen verfügen, können . . .◦ vorgegebene gebräuchliche Maßangaben (für Geld-

werte, Längen, Flächeninhalte, Volumina, Massen,Zeitspannen, Winkel) realen Dingen zuordnen

◦ zu Alltagskontexten passende Größenangaben (zu we-sentlichen Einheiten: mm, cm, m, km; cm2, m2; l, m3,g, kg, t) schätzen und angeben

◦ Längen, Entfernungen und Winkel (mit dem Geodrei-eck) messen

◦ Winkel in einfachen Fällen berechnen◦ Werte von Messskalen (auf Zollstock/Maßband,

Messbecher, Waagen, Temperaturskalen, Tank-Inhalt-Anzeige, . . . ) ablesen (und sinnvoll runden)

◦ Größen (Längen, Flächeninhalte, Volumina, Gewich-te, Geldwerte, Zeitspannen) vergleichen und umrech-nen

◦ Flächeninhalts- und Umfangsberechnungen einfacherFiguren (Quadrat, Rechteck, Dreieck, Kreis) sowieeinfacher, daraus zusammengesetzter Figuren durch-führen

◦ Unter Beachtung des Maßstabs Entfernungen aufLandkarten bestimmen

◦ Oberflächeninhalts- und Volumenberechnungen beiWürfeln, Quadern und Zylindern durchführen

(AW) Methoden- und Materialienentwicklung für BK istdringliche Aufgabe der Mathematik-Didaktik!

Ich halte es für dringend erforderlich, (in unserer GDM)die Förderung von leistungsschwachen Schülerinnenund Schülern intensiver zu reflektieren und dazu Me-thoden und Unterrichtsvorschläge zu entwickeln. Diesist ein zu lange vernachlässigter Forschungsbereich. DerBlick auf Länder – z. B. der PISA-Studien-, in denen deruntere Leistungsbereich „schmaler“ ist und höhere Test-werte erreicht, sollte in fachdidaktischen Arbeiten mehrBeachtung finden.

Literatur

Blum/Drüke-Noe/Hartung/Köller (Hrsg.): BildungsstandardsMathematik: konkret, Cornelsen Scriptor (2006)

GFD-Papier 2009: http://www.ipn.uni-kiel.de/zfdn/pdf/15_001_GFD.pdf

Klieme, E. et al.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards– Expertise. BMBF (Hrsg.) Bonn, Berlin 2007

Neubrand, J. / Walter, G.: Variablen und Formeln: Was Kinderaus der Grundschule mitbringen sollen. LernchancenNr. 55, S. 8–13. Friedrich Verlag 2007

Neubrand, M. / Neubrand, J.: Geometrie: Was sollen Haupt-schüler darüber wissen? – Beispiele für die Vernetzungpraxisorientierten Wissens. Lernchancen Nr. 55, S. 28–33.Friedrich Verlag 2007

Reiss, K.: Mindeststandards für den Mathematikunterricht: Wieviel Mathematik muss sein? Lernchancen Nr. 55, S. 4–7.Friedrich Verlag 2007

Sill, H.-D. et al.: Sicheres Wissen und Können – Größen / Geome-trie in der Ebenen / Geometrie im Raum – Sekundarstufe I,Landesinstitut für Schule und Ausbildung Mecklenburg-Vorpommern 2005

Wynands, A.: Intelligentes Üben; in: Bildungsstandards Mathe-matik: konkret (Hrsg. Blum / Drüke-Noe / Hartung / Köller)Cornelsen Scriptor 2006

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Aus demWunderland der StandardsWolfram Meyerhöfer

Was die Bildungsstandards in Deutschland erst schaffensollen, ist in den USA bereits Realität: Die totale Kon-trolle von Lehrern und Schülern

Heute ist Freitag. In Philadelphia heißt das: Test-tag. Philadelphia ist das Paradies für jeden An-hänger der Standardisierung von Bildung: DieLehrer erhalten eine Broschüre für jeden Kurs.Darin wird ihnen bis in jede einzelnen Stundehinein vorgeschrieben, was sie zu unterrichtenhaben. Bis zum Herbst 2008 gab es dann allesechs Wochen einen zentral vorgegebenen Test.Seit dem Herbst ist das Standard-Paradies voll-kommen: Nun gibt es jede Woche einen Test. VonMontag bis Donnerstag arbeitet man die Plan-broschüre ab, Donnerstag findet man den Test inseiner Postbox, und am Freitag schreibt man denTest. Am Montag geht’s von vorne los.Der Test wird ebenso wie das Lehrmaterial unddie Lehrbücher von Konzernen geliefert, die Mil-liarden umsetzen. Die Arbeitskultur dieser Ein-richtungen konnten wir ja auch in Deutschlandbereits in den Verhaltensweisen diverser Vertreterdes PISA-Konsortiums studieren. Die Entschei-dung, ob die Gelder für Konzernprodukte ausge-geben werden oder ob die Schulen bzw. Lehrereigene Curricula entwickeln dürfen und eigeneMaterialien kaufen dürfen, treffen die Verwaltun-gen der Schulbezirke. In Philadelphia umfasst derSchulbezirk 347 Schulen, es gibt aber auch Schul-bezirke mit 3 oder 5 Schulen.Ich arbeite im Frühjahrssemester 2009 an derArcadia University in Glenside bei Philadelphia.Dort lehre ich u. a. zwei Kurse für Lehrer, dieeinen Master-Abschluss machen wollen. (In denUSA kann man nach einem vierjährigen Bachelor-studium, das oft auch Praktika beinhaltet, Leh-rer an einer öffentlichen Schule werden. Privat-schulen stellen Lehrer mit beliebigen Abschlüs-sen ein.) Die Lehrer lassen sich kaum auf die Fra-ge ein, was inhaltlich oder pädagogisch sinnvollist. Die erste Frage ist immer: Wie kriege ich dasin meinen Pflichtplan rein? Wie können meineSchüler zum richtigen Zeitpunkt den Test beste-hen?

Die Testwerte sind in Philadelphia wichtig, weildie öffentlichen Schulen entsprechend der Test-werte Gelder zugeordnet bekommen. Man hat al-so einen Polarisierungsmechanismus eingebaut:Wer gute Testwerte produziert, soll in die Lageversetzt werden, das noch stärker zu tun. Werschlechte Testwerte produziert, soll . . . ja was ei-gentlich? Die Lehrer noch schlechter bezahlen?Noch weniger Geld in die Begleitung bzw. Fort-bildung der Lehrer stecken? Die Bibliothek zu-machen? Eine Schule, die ich gerade besuche, istnicht mal sicher, ob sie Geld sparen würde, wenndie Schüler nicht jedes Mal von einem Sicher-heitsmenschen auf die Toilette begleitet würden.Das Argument lautet, dass die Schüler die Toilet-ten demolieren würden, wenn sie alleine gehendürften. Oder sie täten Dinge, die Jugendliche sotun, wenn sie allein auf Toiletten sind – und daskann Schadensersatz kosten.Wie gesagt, gute Schulen bekommen mehr Geld.Philadelphia hat „Magnetschulen“ eingerichtet.Das sind Schulen mit besonderen Schwerpunkt-setzungen, die wie Magnete auf Schüler mit In-teresse an diesen Schwerpunkten wirken sollen.Diese Schulen suchen sich die besten Schüleraus. Und fördern sie. Und produzieren die bes-ten Testwerte. Und bekommen das meiste Geld.In Deutschland werden solche Modelle immer malwieder in die Diskussion geworfen, in Philadel-phia kann man die Folgen am lebenden – undmanchmal auch am sterbenden – Objekt beobach-ten.Das Testunwesen verstärkt lediglich die Polarisie-rungen, die ohnehin vorhanden sind: In den USAist das Schulwesen den Kommunen zugeordnet.Reiche Kommunen – das sind Kommunen mit ei-ner reichen Einwohnerschaft – können mehr Geldfür ihre Schulen ausgeben. Umgekehrt ist es fürdie beruflichen Entwicklungschancen der Kinderunabdingbar, an einer guten Schule gewesen zusein, weil nur das garantiert, dass man an guteweiterführende Schulen und dann an gute Univer-sitäten mit guten Karrieremöglichkeiten kommt.Wenn man in einer schlechten Gegend wohnt,muss man spätestens dann umziehen, wenn die

GDM-Mitteilungen 87 · 2009 19

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Kinder in die Schule kommen, sonst verbaut manihnen ihre schulisch vorgezeichneten Lebenschan-cen.Dieses Problem war übrigens mitverantwortlichfür die Immobilienkrise: Die aufstiegsorientiertenMittelschichten sind unabdingbar darauf angewie-sen, dass ihre Kinder an gute Schulen kommen.Deshalb müssen sie in bessere Gegenden mit bes-seren Schulen ziehen. Da der Zuzugsdruck aufdiese Gegenden somit sehr hoch ist, steigen diePreise – und die Leute müssen sich verschulden,um trotzdem dorthin ziehen zu können.Die Alternative sind Privatschulen. Sie sind meistsehr teuer, und sie unterliegen nur sehr geringenstaatlichen Restriktionen. Sie können Lehrer mitbesonderen Berufen oder Erfahrungen einstellenund unterliegen auch nicht dem Testunwesen.Sie bezahlen – im Gegensatz zu deutschen Privat-schulen – ihre Lehrer meist besser. Und sie schei-

nen – wiederum im Gegensatz zu Deutschland –auch besser zu sein als viele öffentliche Schulen.Die KMK hat für Deutschland die Teilnahme anallen möglichen Tests bis zum Jahr 2017 vorge-plant. Thomas Jahnke schreibt dazu: „Von solchenPlanungszeiträumen hätte Margot Honecker nurträumen können.“ Der Bund und die Länder in-vestieren dutzende Millionen in die Päppelungder Testindustrie, die die Standardisierung vonBildung überwachen und Lehrer und Schüler andie Kandare nehmen soll. Was ich im Paradies derStandardisierer sehe, ist eine daraus folgende wei-tere Polarisierung des Schulwesens. Ich sehe, dassKinder aus bildungsfernen Schichten keine Chan-ce bekommen, zu Bildung zu gelangen. Ich sehe,dass den Lehrern nicht geholfen wird, sonderndass sie lediglich ununterbrochen überwacht undgegängelt werden. Für die Schüler wird FreitagTesttag, kein Lerntag.

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Presseerklärung

Auf der Plenarsitzung der Kultusministerkonferenz am16. und 17. Oktober 2008 in Saarbrücken wurden „Län-dergemeinsame inhaltliche Anforderungen an das Lehr-amtsstudium“ verabschiedet. In einer Presserklärung derKMK vom 17. 10. 2008 wurden dabei besonders die vonder GDM, DMV und MNU entwickelten „Standards fürdie Lehrerbildung im Fach Mathematik“ in exponierterWeise herausgestellt. Wir drucken deshalb diese Presse-erklärung vom 17. 10. 2008 hier ab.

Auf ihrer Sitzung am 16. 10. 2008 in Saarbrückenhaben sich die Kultusminister auf die inhaltlichenAnforderungen an das Lehramtsstudium verstän-digt. Damit wird:◦ länderübergreifend die Vergleichbarkeit der Zie-

le und Anforderungen in den lehramtsbezoge-nen Studiengängen erreicht und die Mobilitätund Durchlässigkeit für Lehramtsstudierendeim deutschen Hochschulsystem gesichert,

◦ die wechselseitige Anerkennung der Studien-leistungen und Studienabschlüsse zwischen denLändern gewährleistet.

Zusammen mit den bereits Ende 2004 beschlos-senen Standards für die Bildungswissenschaftenbilden diese fachlichen Anforderungen die Grund-lage für die Akkreditierung und Evaluierung derlehramtsbezogenen Studiengänge. Die Kultusmi-nisterkonferenz erfüllt damit ihre drei Jahre zuvorgetroffene Zielvereinbarung.Eine von ihr eingesetzte Arbeitsgruppe hat zu-sammen mit Fachwissenschaftlern unter Betei-ligung von Fachverbänden, wissenschaftlichenGesellschaften, Kirchen und Lehrerorganisatio-nen für über 20 Fächer des Lehramtsstudiumssog. „Fachprofile“ erarbeitet, die im Einzelnenbeschreiben, was Studierende am Ende ihres Stu-diums wissen und können sollen und welche In-haltsbereiche deshalb der Studienplan der Fächerenthalten muss. Dazu zählen auch die fachdidak-tischen Anforderungen.Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Mi-nisterin Annegret Kramp-Karrenbauer (Saarland),unterstreicht die hohe Bedeutung dieses Beschlus-ses: „Die Länder haben damit erstmals den Lehr-amtstudiengängen eine gemeinsame, inhaltlichgrundlegende und verbindliche Ausrichtung ge-geben. Dies ist ein entscheidender Reformschrittfür eine bessere Ausbildung, mit der auch die

Attraktivität des Lehrerberufs erheblich steigenwird.“ Es gehe darum, durch das Studium exzel-lente fachwissenschaftliche und fachdidaktischeQualifikationen zu entwickeln, die auf die berufli-chen Anforderungen der Schule bezogen sind; mitdiesem Anspruch sei auch das Studium innerhalbder Universitäten zu verankern.„Mit der Vorgabe der Fachprofile setzt die Kultus-ministerkonferenz einen Rahmen, der den Län-dern und den Universitäten durchaus die Mög-lichkeit gibt, in der weiteren fachwissenschaft-lichen Ausgestaltung selbst Schwerpunkte undDifferenzierungen, aber auch zusätzliche Anfor-derungen festzulegen“, so Kramp-Karrenbauer.Berücksichtigt sind die unterrichtsrelevanten Stu-dienfächer, die in den Prüfungsordnungen nahezualler Länder vorkommen.Die ersten Entwürfe für jedes Studienfach wur-den von Wissenschaftlern vorgelegt, die von derKultusministerkonferenz dafür beauftragt wor-den waren, und auf dieser Grundlage mit ihnenweiterentwickelt. Besonders erfreulich ist, dassFachverbände und wissenschaftliche Gesellschaf-ten die Möglichkeit der Mitwirkung umfassendgenutzt haben. In einzelnen Fächern haben die jeweili-gen wissenschaftlichen Gesellschaften und Fachverbändeden Ansatz der Kultusministerkonferenz als Impuls fürdie Entwicklung eigener fachpolitischer Positionen zurLehrerbildung (einschließlich Kerncurricula) aufgegrif-fen und wollen damit innerhalb ihres Fachs dem Lehr-amtsstudium eine in dieser Form neue und besondereBedeutung zuweisen. So etwa im Fach Mathematik, beidem die Deutsche Mathematiker-Vereinigung, die Ge-sellschaft für Didaktik der Mathematik und der Lehrer-verband MNU (Mathematisch-naturwissenschaftlicherUnterricht) ergänzend zum Fachprofil eine gemeinsameEmpfehlung „Standards für die Lehrerbildung im FachMathematik“ beschlossen hat. (Hervorhebung vonder Redaktion)Ministerin Kramp-Karrenbauer erwartet, dass derSaarbrücker Beschluss in den Ländern zügig um-gesetzt wird: „Mit diesem Beschluss haben dieLänder einen bedeutsamen bildungspolitischenSchritt unternommen; die Lehrerbildung wird aufeine qualitativ hochwertige Grundlage gestellt. Ichbin zuversichtlich, dass die Hochschulen darauf-hin ihre Studienangebote für Lehramtsstudieren-de in kurzer Frist umstellen können.“

GDM-Mitteilungen 87 · 2009 21

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PISA: Nachträge zu einernicht geführten Debatte

Joachim Wuttke

1 Ein Thema für die Mathematikdidaktik

PISA, TIMSS, IGLU & Co, obwohl allenfalls mar-ginal von fachdidaktischem Interesse getragen,müssen die Mathematikdidaktik aus einer ganzenReihe von Gründen interessieren:(1) Die Studien beanspruchen, den Erfolg von Ma-

thematikunterricht zu vermessen.(2) Sie wirken massiv zurück auf den

Mathematik-Unterricht.(3) Sie haben Bewegung in die Bildungspolitik ge-

bracht und beeinflussen somit indirekt Bedin-gungen, unter denen in Zukunft Mathematik-Unterricht stattfinden wird.

(4) Sie unterminieren akademische Standards wiedie vollständige Offenlegung von Instrumen-ten, Daten und Auswertemethoden und dieDebattierbarkeit in Fachzeitschriften.

(5) Als akademischer Machtfaktor und Karriere-treibstoff werden sie auf Jahrzehnte hinausbeeinflussen, wie in Deutschland universitärePädagogik betrieben wird.

(6) Stoffdidaktisch gewendet, zeigen sie beispiel-haft, wie wirkungsmächtig und wie interpreta-tionsbedürftig Statistik sein kann.

In den bald acht Jahren, die seit dem initia-len PISA-Schock vergangen sind, ist unüber-schaubar viel zur Exegese der Testergebnissegesagt worden, weitaus weniger aber über de-ren Zustandekommen. Manches Bedenkens-werte ist weithin unbeachtet geblieben, da deröffentliche Diskurs, bis in die Sprachregelun-gen hinein, von der Selbstdarstellung der Test-veranstalter dominiert wird. Daher erscheintes nicht unangemessen, eine von PISA & Cobesonders betroffene Fachgemeinschaft nocheinmal eindringlich auf problematische Sei-ten testgetriebener Schulgestaltung hinzuwei-sen.

2 Wissenschaft ohne Debatte?

Trocken wie eine amtliche Statistik, inszeniertwie eine politische Kampagne, tritt PISA zugleich

mit dem Anspruch auf, innovative Wissenschaftzu sein – ohne aber formalen Mindestanforde-rungen für wissenschaftliches Arbeiten zu ge-nügen. Indem die Studie auf Pressekonferenzenstatt in Fachzeitschriften veröffentlicht wurde,wurde sie als politisches Faktum etabliert, bevoraußenstehende Wissenschaftler die Möglichkeitbekamen, Methoden und Ergebnisse zu prüfen.Viele eingesetzte Testaufgaben wurden erst Jahrespäter, manche bis heute nicht veröffentlicht. DieTechnischen Berichte erscheinen erst viele Mona-te nach den Auswertungen und beschreiben dieDatenreduktion nur unvollständig.Der Medienerfolg von PISA hat die meistgenann-ten Ergebnisse längst zu zeitgeschichtlichen Fak-ten eigenen Rechts gemacht, die völlig unabhän-gig von ihrem Realitätsgehalt den Verlauf derpolitischen Debatte prägen. Die inhaltliche Aus-einandersetzung mit der Studie wird dadurcherschwert. Während mathematisch-naturwissen-schaftlich Geschulten die Grenzen einer solchenStatistik unmittelbar plausibel sind, neigen wis-senschaftsferne Beobachter leicht dazu, die Studiefür durch ihre Wirkungen legitimiert zu halten.Da sich die Politik festgelegt hat, PISA fortzufüh-ren und durch weitere standardisierte Tests zuergänzen, gibt es keinen Zweifel mehr, auf wel-cher Seite ein Bildungsforscher Karriere machenkann. Erziehungswissenschaftliche Zeitschriftennehmen keine PISA-kritischen Manuskripte an.Pädagogische Verlage lehnen PISA-kritische Titelab, weil sie sich das Geschäft mit Testvorberei-tungsbüchern nicht verderben wollen. Das PISA-Konsortium verweigert den Diskurs mit Kritikernund erklärt offen, diesen kein Forum bieten zuwollen.Für Außenstehende ist es in dieser Lage nichtleicht, sich ein eigenes Urteil über die konzep-tionellen und praktischen Mängel von PISA zubilden. Viele Einwände sind nur an entlegenenStellen publiziert worden. Während die Test-Szeneinternational vernetzt ist, haben viele Kritiker lan-ge Zeit nichts voneinander gewusst. Erst zweiSammelbände (Jahnke/Meyerhöfer 2007; Hop-mann/Brinek/Retzl 2007) haben deutlich gemacht,

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aus wieviel verschiedenen Richtungen der Ansatz,die Durchführung und die gängige Interpretationvon PISA in Frage gestellt werden.

3 Evidenzbasierte Politik — politikverseuchteEvidenz

Im März 2007 veranstaltete die neue deutschePISA-Zentrale, das Deutsche Institut für Interna-tionale Pädagogische Forschung (DIPF) in Frank-furt, eine Fachtagung unter dem Titel „Wissenfür Handeln – Forschungsstrategien für eine evi-denzbasierte Bildungspolitik“. Die Eröffnungsrededes Stellvertreters der Bundesbildungsministerinmachte unmissverständlich klar: PISA war nurder Anfang. Es wird dauerhaft ein „Bildungsmo-nitoring“ installiert, das automatisch auf Erfol-ge und Fehlentwicklungen aufmerksam machenund einen von politischer Opportunität gelösten„Zwang zum Lernen“ verankern soll.1Die Forderung, dass professionelle Praxis auf derbesten verfügbaren Evidenz basieren solle, wur-de in den 1990er Jahren in der Medizin zu einemFormalismus zur Bewertung von wissenschaft-lichen Studien verdichtet. Von dort hat sich dieIdee der „evidenzbasierten Systemsteuerung“ inandere Handlungsfelder ausgebreitet und die Poli-tik erreicht. Heftigen Widerspruch hat dieser An-satz auf dem Gebiet der Suchtprävention ausge-löst: Mit einseitiger Evidenz konfrontiert, weisenFachleute darauf hin, dass weder Wissenschaftnoch Politik werturteilsfrei sein können, dass dieBerufung auf Evidenz ethische Entscheidungenverschleiert, und dass Evidenzbasierung von Po-litik unvermeidlich zur Politisierung von Evidenzführt.2Aus genau diesen Gründen können auch PISA &Co keine politischen Handlungsanweisungen lie-fern. Das zeigt sich auf mindestens zwei Ebenen.Erstens auf der Ebene der Lernziele. Wenn imGefolge von PISA beschlossen wurde, die Unter-richtsanstrengungen in Lesen und Mathematik zuverstärken, ist das keine Konsequenz aus einemempirischen Ergebnis, sondern aus dem zuvor ge-fassten Beschluss, vor allem Lesen und Mathema-tik zu testen.3 Das Testergebnis hat keine andere

Funktion, als öffentliche Unterstützung für denzuvor im Expertenzirkel eingefädelten Richtungs-wechsel zu besorgen. Die Unterstützung fällt um-so stärker aus, je besser man das Testergebnissesals eine nationale Katastrophe inszeniert.Zweitens zeigt sich die Unmöglichkeit evidenzba-sierter Politik, wenn suggeriert wird, PISA könneFragen entscheiden, die zuvor nur „ideologisch“diskutiert worden seien – wie zum Beispiel dieumstrittenste Besonderheit der deutschen Schul-struktur, die frühe Aufteilung in verschiedeneSchularten. Hier verdeckt die Berufung auf Evi-denz den ethischen Standpunkt, Politik solle dasSchulwesen so steuern, dass möglichst gute Leis-tungsmittelwerte und ein möglichst geringes so-ziales Leistungsgefälle herauskommen. Wo dieserStandpunkt absolut gesetzt wird, erweist er sichselbst als ideologisch. In der Politik geht es kaumje nur darum, einen fürs Gemeinwesen optimalenZustand herzustellen; es geht immer auch dar-um, zwischen widerstreitenden Partikularinteres-sen auszugleichen und Lösungen zu finden, dieauch dann noch funktionieren, wenn sie von einerMinderheit abgelehnt werden.Die deutsche Schulstrukturdebatte ist latent un-ehrlich, weil oft mitgedacht und selten ausge-sprochen wird, dass sich die Interessen einzelnerEltern und einzelner Schichten mit denen des Ge-meinwesens nicht decken. Darunter leidet auchdie PISA-Rezeption. Je nach unausgesprochenemethischen Standpunkt und uneingestandenem In-teresse werden die empirischen Daten so selektivrezipiert, dass sie als Argumente pro oder contraGesamtschule gebraucht werden können. Aucheinige Projektverantwortliche, namentlich derOECD-Koordinator Andreas Schleicher, exponie-ren sich in dieser Weise. In einem solchen Umfeldist es kaum mehr möglich, PISA-Ergebnisse zuzitieren, ohne dass die eine oder die andere Seiteeinen politischen Spin heraushört.

4 PISA als Lebensunterhalt

Unausgesprochene Eigeninteressen haben auch dieProduzenten von PISA. PISA schafft Umsatz, Ar-beitsplätze, Karrieremöglichkeiten, Ansehen und

1 A. Storm, http://www.bmbf.de/pub/psts_20070328.pdf.2 A. Uhl: How to camouflage ethical questions in addiction research. In: J. Fountain, D. Korf, eds: The Social Meaning of Drugs. Rese-

arch from Europe. Oxford: Radcliffe 2007. – B. Baumberg: Against evidence-based policy: over-claiming social research and undermi-ning effective policy. Presented at the Social Policy Association conference, Edinburgh June 2008.

3 Nähme man die Texte der sechzehn deutschen Landesverfassungen ernst, müsste man die Qualität von Schulunterricht primär anmoralischen und sozialen und eher noch an ästhetischen als an kognitiven Erziehungszielen messen.

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Macht.An PISA sind über zweihundert Wissenschaftlerbeteiligt. Ein solcher Apparat entfaltet eine Eigen-dynamik. Warum, zum Beispiel, wird PISA alledrei Jahre wiederholt? In Anbetracht der Träg-heit von Bildungssystemen ist es illusorisch, in sokurzer Zeit substantielle Änderungen zu beobach-ten. Zur Feststellung langfristiger Trends würdees genügen, alle fünf oder sieben Jahre einen Testdurchzuführen. Der dreijährige Zyklus dient alleindazu, die Wissenschaftler beschäftigt zu halten.Auswertung einer Testrunde und Vorbereitung dernächsten dauern jeweils ungefähr eineinhalb Jah-re. Wäre dazwischen eine längere Pause, würdendie Teams auseinanderfallen.Nach außen tritt die OECD als Autor von PISAauf. Tatsächlich leistet sie jedoch nur politische,administrative und redaktionelle Abstimmungs-arbeiten. Die Ausgestaltung, Durchführung undAuswertung der Tests wurde ausgeschrieben undan ein Konsortium aus überwiegend privatwirt-schaftlichen Instituten unter Führung des Aus-tralian Council of Educational Research (ACER)vergeben. Das Geschäftsmodell dieser weltweit tä-tigen Unternehmen besteht darin, RegierungenTests zu verkaufen und dann den Markt für Test-vorbereitungsmaterialien und -kurse zu erschlie-ßen. Von diesen Firmen darf man keine Informa-tionen über Schwächen und Grenzen standardi-sierter Leistungstests erwarten.Die empirische Bildungsforschung profitiert eben-so unmäßig wie einseitig von PISA.

Man kann in diesem Bereich geradezu von ei-ner Überhitzung der Konjunktur sprechen.Seitenweise werden Professuren in dieser Dis-ziplin ausgeschrieben. Man fragt sich, wasdiese Armada in den nächsten Jahrzehntenihrer Berufstätigkeit, so sie nicht über diesenHorizont hinauswachsen, alles wird messen.4

5 Das Prinzip der schlechten Nachricht

In der Berichterstattung über PISA und ähnli-che Studien gibt es eine klare Tendenz, schlech-te Nachrichten hervorzuheben und Ergebnisse ineinem negativen Licht darzustellen.Der initiale PISA-Schock von 2001 beruhte wesent-

lich darauf, dass sich Deutschland in allen dreiTeiltests unter dem Mittelwert von 500 Punktenfand. Dieser Mittelwert wird allerdings in sehreigenwilliger Weise unter Gleichgewichtung al-ler OECD-Staaten berechnet: isländische Schülerwerden 800-mal stärker berücksichtigt als US-amerikanische. Wenn man das korrigiert, sinktder Mittelwert auf rund 490. Diese Korrektur,die, verglichen mit anderen Ungenauigkeiten desMessverfahrens nicht einmal besonders schwer-wiegend ist, genügt bereits, damit sich die öffent-liche Wahrnehmung, Deutschland habe in PISAschlecht abgeschnitten, als durch die Daten nichtgedeckt erweist: Deutschland hat, bezogen auf dieGesamtpopulation der OECD, niemals signifikantunterdurchschnittlich abgeschnitten, und erzieltseit 2003 konsistent überdurchschnittliche Ergeb-nisse.Tief festgesetzt hat sich das Gerücht, PISA habegezeigt, dass ein knappes Viertel aller 15-Jährigennicht richtig lesen und rechnen könne. Hinter-grund ist ein Versuch des Konsortiums, PISA-Punkte inhaltlich zu interpretieren. Dazu wirddie Punkteskala in sechs sogenannte Kompetenz-stufen und eine darunter liegende Inkompetenz-stufe eingeteilt. Da Lesen und Rechnen als selbst-verständlich vorausgesetzt wird, müssen Schülerschon, um Stufe 1 zu erreichen, Aufgaben lösen,die mehr als nur diese Grundfertigkeiten erfor-dern. Dementsprechend redet der internationaleBericht von »Risiko« nur mit Bezug auf die In-kompetenzstufe. Hingegen wird im deutschen Be-richt die Stufe 1 zur „Risikogruppe“ hinzugezählt.Die Öffentlichkeit wurde nicht darüber infor-miert, dass sich der hohe Anteil an Risikoschü-lern kein empirisches Ergebnis ist, sondern sichprimär aus der mathematischen Konstruktion derKompetenzstufen ergibt. Die erbrachten Leistun-gen werden nämlich gerade so in Punkte umge-rechnet, dass sich OECD-weit knapp 8% in derInkompetenzstufe und weitere 12–13% in Stufe 1befinden – völlig unabhängig davon, wie gut oderschlecht die Schüler tatsächlich mit dem Test zu-rechtgekommen sind.Die schlechte Nachricht besteht also alleine dar-in, dass sich in Deutschland eher 22% statt derOECD-weiten 21% in Stufe 0 oder 1 befinden —und das liegt nicht am unterdurchschnittlichenKönnen der deutschen Schüler, sondern an der

4 T. Jahnke, Die PISA-Unternehmer. Forschung & Lehre, 15, 26, 2008.5 Kap. 2 in Wuttke: Die Insignifikanz signifikanter Unterschiede: Der Genauigkeitsanspruch von PISA ist illusorisch. In Jahn-

ke/Meyerhöfer 2007. Englische Kurzfassung (Uncertainties and Bias in PISA) in Hopmann/Brinek/Retzl 2007. Beide Aufsätze auch unterhttp://www.messen-und-deuten.de/pisa.

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Schlafende RobbeEine Robbe muss atmen, auch wenn sie schläft. Martin hat eine Robbe eine Stunde lang beobachtet. Zu Beginn seinerBeobachtung befand sich die Robbe an der Wasseroberfläche und holte Atem. Anschließend tauchte sie zum Meeres-boden und begann zu schlafen. Innerhalb von 8 Minuten trieb sie langsam zurück an die Oberfläche und holte Atem.Drei Minuten später war sie wieder auf dem Meeresboden, und der ganze Prozess fing von vorne an.

Nach einer Stunde war die Robbe:(a) auf dem Meeresboden(b) auf dem Weg nach oben(c) beim Atemholen(d) auf dem Weg nach unten

Abbildung 1. Beispielaufgabe aus dem Feldtest zu PISA 2000 – Bereich: Mathematische Grundbildung

überdurchschnittlichen Gründlichkeit der deut-schen Stichprobenziehung.5Nirgends sonst entscheidet die soziale Herkunftso stark über den Testerfolg wie in Deutschland,lautet ein weiteres PISA-Ergebnis, das tief ins öf-fentliche Bewusstsein eingesunken ist. Es stammtaus PISA 2000 – und hat sich in den Folgerundennicht bestätigt. In PISA 2003 musste die deut-sche Projektleitung sogar den Indikator wechseln(Korrelationskoeffizient statt Gradient), um we-nigstens einen signifikant überdurchschnittlichenZusammenhang vorweisen zu können. Zugleichbestreiten deutsche PISA-Autoren, dass der vonder OECD verwendete Herkunftsindex sachgerechtist.Der Medienerfolg von PISA beruht übrigens auchin anderen Staaten auf dem Prinzip der schlech-ten Nachricht. In Finnland war man über diegroße Leistungsdifferenz zwischen Mädchen undJungen schockiert. Erst als die Pilgerfahrten deut-scher Schulpolitiker einsetzten, gewöhnte mansich an die Rolle des Testsiegers.

6 Was PISA testet

PISA orientiert sich nicht an der Schnittmengenationaler Curricula, sondern postuliert eineneigenen Bildungsbegriff, der auf Englisch als li-teracy bezeichnet wird: „das Wissen, die Fähig-keiten, die Kompetenzen, . . . die relevant sind fürpersönliches, soziales und ökonomisches Wohl-ergehen.“6 „Hinter diesem Konzept verbirgt sichder Anspruch, über die Messung von Schulwissen

hinauszugehen und die Fähigkeit zu erfassen, be-reichsspezifisches Wissen und bereichsspezifischeFertigkeiten zur Bewältigung von authentischenProblemen einzusetzen.“7Ob dieser Anspruch erfüllt wird, kann sich einzigund allein an den real gestellten Testaufgaben er-weisen. Aus Platzgründen kann hier nur ein ein-ziges, kurzes Beispiel diskutiert werden: die Auf-gabe „Schlafende Robbe“ (Abb. 1). Ich empfehle,sich zunächst selbst mit dieser Aufgabe auseinan-derzusetzen und dann erst hier weiterzulesen. . .Der letzte Halbsatz des Einleitungstextes istschlicht falsch: Zu Beginn von Martins Beobach-tung befindet sich die Robbe an der Wasserober-fläche. Somit kann „der ganze Prozess“ nicht zueinem Zeitpunkt von vorne anfangen, zu demsich die Robbe am Meeresboden befindet. Inter-essanterweise steht dieser falsche Halbsatz wederin der englischen noch in der französischen Ori-ginalfassung, wo es stattdessen heißt: „Martinbemerkte, dass der ganze Prozess sehr regelmäßigwar.“ Außer in Deutschland ist die falsche Aufga-benfassung jedoch in mindestens einem weiterenStaat, Argentinien, eingesetzt worden. Demnachist der falsche Halbsatz nicht erst durch den deut-schen Übersetzer hinzugefügt worden; es ist viel-mehr zu vermuten, dass er sich in der ursprüng-lichen internationalen Vorlage befand, dass dieseVorlage später (vor oder nach Einsatz der Aufga-be?) korrigiert wurde, und dass diese Korrekturin Deutschland und Argentinien übersehen wur-de. Man kann nur spekulieren, ob diese Unstim-migkeit ursächlich dafür war, dass die Aufgabe

6 Measuring Student Knowledge and Skills. A New Framework for Assessment. Paris: OECD 1999. Insbes. S. 11.7 http://www.mpib-berlin.mpg.de/pisa/intgrundkonzeption.htm.

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„Schlafende Robbe“ es nicht aus dem Feldtest inden Haupttest geschafft hat. Übernahmekriteriumwar allein das „psychometrische“, d. h. rein statis-tische „Funktionieren“ der Aufgabe. Eine inhalt-liche Kontrolle fand an dieser Stelle nicht mehrstatt. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass auchdie im Haupttest eingesetzten Aufgaben Über-mittlungsfehler enthalten.Auch ohne den falschen Halbsatz vermag die Auf-gabe nicht zu überzeugen: Ist dies ein „authenti-sches“ Problem? Um die Aufgabe eindeutig lösenzu können, muss man, gestützt auf Einleitungs-text und physiologische Selbsterfahrung, die An-nahme treffen, dass die Robbe zum Atemholenweniger als zwei Minuten braucht. Schülern einesolche außermathematische Eigenleistung abzu-verlangen, mag man grundsätzlich begrüßen –nur sollte man dann auch strenge Maßstäbe andie Stimmigkeit des außermathematischen Kon-textes anlegen. Es ist unwahrscheinlich, dass eineRobbe den beschriebenen Schlafrhythmus mit derzur Aufgabenlösung erforderlichen Präzision be-folgt, und es ist vollkommen unersichtlich, wieMartin eine Robbe, die drei Minuten braucht, umbis zum Meeresgrund zu tauchen, kontinuierlichim Blick behalten kann.Viele andere Aufgaben sind im gleichen Stil ver-fasst und leiden unter denselben Mängeln: DerVersuch, schülernahe, authentische Kontexte zukonstruieren, scheitert fast immer; den Schülernwird nicht mathematische Modellierung abver-langt, sondern die Decodierung von Texten, diekeine realen Situationen, sondern unglaubwürdi-ge mathematische Modelle beschreiben.8 Wennsolche Aufgaben als vorbildlich hingestellt wer-den, kann man sich ausmalen, wie schlecht erstdie epigonalen Aufgaben sind, die im Gefolge vonPISA und zur Vorbereitung auf die nächsten Ver-gleichstests en masse produziert werden.Während sich viele Mathematikaufgaben als Le-seaufgaben mit leichten Rechenanforderungenerweisen, besteht die „Text“grundlage mancherLeseaufgaben aus Tabellen und Graphiken. KeinWunder, dass die Ergebnisse aus den Teiltests Le-sen, Mathematik, Naturwissenschaften miteinan-der hoch korreliert sind. Von daher könnte mandie drei Teilwertungen eigentlich in eine einzi-ge Gesamtwertung zusammenziehen. Das aberwird in den offiziellen PISA-Auswertungen striktvermieden, denn einen solchen Generalfaktor ko-

gnitiver Fähigkeiten könnte man allzu leicht alsIntelligenz interpretieren,9 was ein Tabu der Bil-dungsforschung verletzen würde. Auch dürftees die politische Unterstützung gefährden, wennsich herumspricht, dass PISA im Kern ein sprach-lastiger Intelligenztest ist.Bei der Interpretation der Testergebnisse ist au-ßerdem zu berücksichtigen, dass PISA unter star-kem Zeitdruck stattfindet: es wird nicht nur Text-verständnis, sondern auch Lesetempo getestet.Insbesondere die Lesefertigkeit mancher Immi-granten dürfte deshalb massiv unterschätzt wer-den.

7 Sprachliche und kulturelle Verzerrungen

Lehrer werden immer wieder überrascht, wieSchüler vermeintlich eindeutig formulierte Auf-gaben missverstehen. Änderungen im Wortlaut,die man für völlig nebensächlich gehalten hätte,können Schülern unüberwindliche Schwierigkei-ten bereiten. Schon von daher erscheint die An-nahme, man könne in sprachlich und kulturellneutraler Weise einen weltweiten Lesetest erstel-len, als unbegründet optimistisch.In PISA wird nicht einmal der Versuch unternom-men, diese Annahme a posteriori zu validieren;empirische Untersuchungen werden sogar gezieltverhindert: Die Angabe der Testsprache fehlt iminternationalen Datensatz. Ein Grund für dieseAuslassung wird nicht genannt: Ist es der Druckvon Regierungen, die Vergleiche zwischen Sprach-gruppen verhindern wollen? Oder der zum Dog-ma erhobene Glaube, die Testsprache habe keinenEinfluss auf die Testergebnisse?Die Übersetzung und Endredaktion des seit PISA2000 eingesetzten Grundbestandes an Testaufga-ben ist unter starkem Zeitdruck erfolgt; in etli-chen Staaten wurde nur die englische, nicht aberdie gleichberechtigte französische Ausgangsver-sion berücksichtigt. So ist es nicht überraschend,dass es zu Fehlern und Ungereimtheiten gekom-men ist.Schwerwiegender ist jedoch das grundsätzlicheProblem, dass es keine Methode gibt, zu messen,ob und wie stark sich die Schwierigkeit einer Auf-gabe durch Übersetzung verändert. Eine Kalibrie-rung auf Populationsmittelwerte verbietet sich,da man ja gerade Unterschiede zwischen Popula-

8 Besonders gründlich hat das W. Meyerhöfer in seiner Dissertation untersucht: Tests im Test: Das Beispiel PISA. Leverkusen: Budrich2005.

9 Heiner Rindermann, Psychol. Rundsch. 57, 69, 2006, Eur. J. Personality 21, 667, 2007.

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tionen feststellen möchte. Eine Kalibrierung aufsprachunabhängige Intelligenztests verbietet sich,da man behauptet, von Intelligenz verschiedeneFähigkeiten zu messen. Man könnte immerhin zueiner Abschätzung der durch das Übersetzungs-problem verursachten Unsicherheit gelangen,wenn man verschiedene, unabhängig voneinan-der erstellte Übersetzungen einsetzen würde, abereine solche Kontrolle wurde in PISA nicht unter-nommen.Kaum trennbar vom Übersetzungsproblem, abernoch fundamentaler ist die Frage, ob nicht un-terschiedliche Sprachen an sich unterschiedlicheAnforderungen an das Textverständnis, zumalunter Zeitdruck, stellen. Statistisch nachweisbarsind Unterschiede in der Textlänge: die Einlei-tungstexte der PISA-Aufgaben umfassen in derfranzösischen Version 12% mehr Wörter und 19%mehr Buchstaben als in der englischen. Das PISA-Konsortium hat lediglich den direkten Effekt derunterschiedlichen Textlänge auf die Häufigkeitrichtiger Lösungen untersucht und für gering be-funden; tatsächlich dürfte es eine wesentlich grö-ßere Verzerrung dadurch geben, dass für längereTexte mehr Zeit benötigt wird, die dann am Endedes Tests, bei anderen Aufgaben, fehlt.Kulturell bedingte Verzerrungen sind schon des-halb wahrscheinlich, weil die Mehrheit der Test-aufgaben aus einigen wenigen Staaten stammtund weil sämtliche Aufgabentexte in Australienvon hauptberuflichen Testaufgabenredakteurenhomogenisiert wurden. Die PISA-Aufgaben sindin einem Stil verfasst, an den Schüler in Australi-en und Neuseeland, den USA und Kanada von derGrundschule an gewöhnt sind. In vielen europäi-schen Staaten ist dieser Stil ungewohnt.Dass es durch die unterschiedliche Vertrautheitmit dem Aufgabenformat zu quantitativ bedeut-samen Verzerrungen kommt, lässt sich eindeutigbei den Multiple-Choice-Aufgaben nachweisen.Dieser Aufgabentyp wird bei gut einem Viertel al-ler PISA-Aufgaben eingesetzt. Von vier oder fünfAntwortalternativen wird genau eine als richtiggewertet. In Australien ist diese Regel eine soselbstverständliche Gewohnheit, dass es die PISA-Leitung nicht einmal für nötig gehalten hat, dieTeilnehmer nachhaltig darauf hinzuweisen. Imdeutschen Sprachraum aber haben bei manchenAufgaben bis zu 10% aller Probanden mehr als ei-ne Antwort angekreuzt – was als falsch gewertetwurde, obwohl sich diese Schüler unter Umstän-den wesentlich tiefere Gedanken gemacht habenals die, die wussten, dass immer nur eine Ant-wort richtig sein kann.Aber auch die Aufgaben mit offenem Antwortfor-

mat stehen auf dem Boden einer ganz bestimm-ten Prüfungstradition. Einerseits wird erheblicheReflexionsfähigkeit gefordert, wenn ein Lesetextauf verschiedenen Ebenen beleuchtet wird. An-dererseits zeigen die Korrekturhinweise, dass dieAnforderungen eher formaler als inhaltlicher Artsind und schematisch geübt werden können: dieSchüler sollen Vorgaben aus dem Textmaterialaufgreifen, ohne dabei die Originalformulierungenzu verwenden.

8 Illusorische Genauigkeit

Ein weiteres fundamentales Problem von PISAbesteht darin, dass die Unterschiede zwischeneinzelnen Schülern um ein Vielfaches größer sindals die Unterschiede zwischen ganzen Staaten. Injedem einzelnen Staat schneiden rund 30% allerTeilnehmer um mehr als 100 Punkte schlechteroder besser als der Durchschnitt ab. Unterschiedezwischen einigermaßen vergleichbaren Staaten lie-gen hingegen im einstelligen oder niedrigen zwei-stelligen Bereich. Deshalb sind Staatenvergleichefehleranfällig: Schon kleine Uneinheitlichkeitenzum Beispiel bei der Stichprobenziehung könnendie nationalen Mittelwerte so weit verzerren, dasssich Ranglisten ändern.PISA ist eine statistische Untersuchung an einerzufällig gezogenen Stichprobe und gehorcht inso-fern denselben mathematischen Gesetzen wie eineMeinungsumfrage. Jede solche Untersuchung istmit zwei Arten von Ungenauigkeit behaftet: sto-chastisch und systematisch. Stochastische Unge-nauigkeit hat ihre Ursache in der Zufälligkeit derStichprobenziehung. Systematische Ungenauigkeitkann verschiedenste Ursachen haben, von nicht-zufälligen Verzerrungen bei der Stichprobenzie-hung bis hin zu Teilnehmern, die nicht kooperie-ren. Die stochastische Ungenauigkeit kann manreduzieren, indem man die Stichprobe vergrö-ßert. Ab einem gewissen Punkt überwiegt jedochdie systematische Ungenauigkeit, und eine wei-tere Vergrößerung der Stichprobe bringt keinennennenswerten Vorteil mehr. Aus diesem Grundbeschränken sich Meinungsumfragen auf 1000 bis2000 Teilnehmer.Zu PISA werden hingegen pro Staat mindestens5000 Schüler herangezogen. Nur dadurch gelingtes, die stochastischen Fehler so klein zu machen,dass Staaten-Unterschiede von 9 oder 10 Punk-ten für statistisch „signifikant“ erklärt werdenkönnen. Die Möglichkeit systematischer Unge-nauigkeiten wird dabei vollständig ausgeblendet.Tatsächlich aber gibt es in PISA eine ganze Reihe

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von Regelverstößen, Verzerrungen und Unsicher-heiten;10 gar nicht zu reden, von der unterschied-lichen Motivation der Testteilnehmer.11 Deshalbsind die Signifikanz-Urteile in den offiziellen Be-richten illusorisch, die übertrieben großen Stich-proben sind ökonomisch nicht zu rechtfertigen,und viele statistische Ergebnisse sind kaum mehrals Zufallszahlen.

9 Das Vorbild Finnland

Hätte Polen oder Portugal die Ranglisten ange-führt, wäre PISA in Deutschland nicht ernst ge-nommen und schnell vergessen worden. Ein skan-dinavischer Testsieger hingegen war überaus plau-sibel und half, die Studie, die ein solches Ergeb-nis geliefert hatte, zu beglaubigen. Nur zu gernehörte man, dass Finnland unserer Bildungspolitikals Vorbild dienen könne. Nichtsdestoweniger istdiese Schlussfolgerung fehlerhaft; sie zeigt bei-spielhaft, wie die öffentliche PISA-Rezeption aufselektiver Wahrnehmung beruht.Der statistischen Methodenlehre zufolge sollteman vor Beginn einer statistischen UntersuchungArbeitshypothesen formulieren, um diese am En-de, wenn es die Daten erlauben, zu bestätigenoder zu widerlegen. Hingegen gilt es als proble-matisch, nach abgeschlossener Untersuchung ein-zelne auffällige Werte aus einem umfangreichenDatensatz herauszugreifen und weitreichende In-terpretationen daran zu knüpfen: groß ist die Ge-fahr, Artefakten des Messverfahrens aufzusitzen.Vor PISA hätten viele in Deutschland für einesinnvolle Arbeitshypothese gehalten: dass dieskandinavischen Staaten besonders gut abschnei-den würden. Auswertung: Island, Dänemark undNorwegen schneiden mal besser, mal schlechterals Deutschland ab; Schweden liegt konsistent,aber nicht weit über 500; Finnland mit Wertenüber 535 bildet eine Ausnahme. Ergebnis: die Hy-pothese hätte verworfen werden müssen.Die finnischen Daten erwiesen sich jedoch als un-widerstehlich. Auch ohne theoretische Grundlagewurde der Testsieger zum Vorbild erklärt. Unzäh-lige Delegationen deutscher Schulpolitiker pilger-ten nach Finnland, ließen sich von den hervorra-gend ausgestatteten, autonomen und offenkundigmenschenfreundlichen finnischen Gesamtschu-len begeistern und konnten bei ihrer Rückkehr

ein halbes Dutzend Gründe für die Überlegenheitdes finnischen Schulsystems aufzählen. Soweitbekannt, reiste keine einzige dieser Delegationenanschließend nach Norwegen, um zu erforschen,weshalb ganz ähnliche materielle, personelle, or-ganisatorische und allgemein zivilisatorische Vor-aussetzungen dort nur zu mittelmäßigen Testleis-tungen führen.In der Fixierung auf das Vorbild Finnland zeigtsich das genaue Gegenteil von „evidenzbasierterPolitik“: von Wunschdenken gesteuertes Ausblen-den empirischer Evidenz. Nicht nur das mäßigeAbschneiden der anderen skandinavischen Staatenwird ignoriert, sondern auch das der schwedisch-sprachigen Minderheit in Finnland, die je nachTeiltest zwar manchmal der finnischsprachigenMehrheit, manchmal aber auch Schweden nahe-kommt. Weiterhin wird ausgeblendet, dass dashervorragende Abschneiden Finnlands zum gu-ten Teil daran liegt, dass es dort extrem wenigeEinwanderer gibt. Beschränkt man den interna-tionalen Vergleich auf im jeweiligen Land gebo-rene Schüler, wird Finnland in manchen Teiltestsüberholt von flämisch Belgien, den Niederlandenund Bayern. Weiterhin müsste man berücksichti-gen, dass Finnland Legastheniker von PISA ausge-schlossen hat.In Anbetracht des halben Dutzends guter Grün-de, die als Erklärung für den Testsieg Finnlandsplausibel schienen, sollte der Forschungsauftragfür unsere nächsten Delegationen lauten: was dortfalsch gemacht wird, wenn die Finnen trotz besterVoraussetzungen keine besseren Ergebnisse erzie-len als die Bayern?

10 Folgen

PISA hat Bewegung in die deutsche Schulpolitikgebracht und den politischen Parteien geholfen,von angestammten Positionen abzurücken. DieLinke akzeptiert zentrale Abschlussprüfungen,die Rechte den Ausbau von Krippen, Vorschu-len und Ganztagsbetreuung, und sogar der Streitum die Schulstruktur hat mit der Einigung aufein zweigliedriges System in etlichen Bundeslän-dern eine produktive Wendung genommen. Dassind große Erfolge: die Inszenierung von PISA alsnationale Katastrophe hat ein „window of oppor-tunity“ geschaffen und überfällige Entscheidun-

10 Wuttke, a. a. O.11 In Seoul wird vor Beginn des Tests die Nationalhymne gesungen. In Hamburg geben die ersten Schüler nach zwei Minuten ab.

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gen legitimiert.12 Damit ist freilich nichts überden wissenschaftlichen Wert der Studie gesagt,nichts über die Wünschbarkeit weiterer Test-durchgänge, nichts über Risiken und Nebenwir-kungen.Schlussfolgerungen, die nicht schon in der Luftliegen, kann man nicht so leicht aus den PISA-Daten ableiten. Der Volkswirt Ludger Wößmannhat es immerhin versucht – und ist zu dem Er-gebnis gekommen, dass es pure Verschwendungsei, mehr Lehrer einzustellen, da die Testleis-tungen nahezu unabhängig von der Klassengrößesind. Den eklatanten Widerspruch zur Lebenser-fahrung, dass bei mehr als 20 bis 25 Schülern eindeutlicher Umschlag der Quantität in verringer-te Unterrichtsqualität stattfindet, erkläre ich mirdamit, dass PISA primär nicht Unterrichtserfolg,sondern Intelligenz und Schnelligkeit misst, wasnoch dadurch verstärkt wird, dass PISA Schülergegen Ende der Pubertät testet, also nach einerzwei- bis dreijährigen Phase, in der Unterrichtbesonders ineffizient ist.Da PISA keine spezifischen Erkenntnisse liefert,die Unterricht zu verbessern helfen, bleibt alshauptsächliche Konsequenz, die aus diesem Testgezogen wird: noch mehr zu testen. Durch dieFortführung von PISA & Co, durch zentrale Ab-schlussprüfungen, durch schulweite, landesweiteund bundesweite Vergleicharbeiten. Um Leistun-gen punktemäßig vergleichen zu können, brauchtes „Bildungsstandards“;13 um deren Einhaltung zuüberprüfen, müssen sie durch standardisierte Tes-taufgaben konkretisiert werden: ein Zirkelschluss,der, einmal politisch gewollt, alsbald institutionellverfestigt wurde. Ohne nennenswerte Diskussionist so der Übergang von der Systembeobachtungzur Individualdiagnose und von beschreibendenzu sanktionsbewehrten Tests in die Wege gelei-tet worden. Aus Amerika weiß man, welche zer-störerischen Nebenwirkungen das haben kann:Verengung des Unterrichts auf Testvorbereitung,

Verfälschung der Testergebnisse durch Betrug aufallen Ebenen.14Gesellschaftlicher Widerstand gegen eine zuneh-mende Testorientierung ist nicht zu erwarten,passt sie doch zu einem säkularen Trend, ohneden PISA nicht zum Ereignis hätte werden kön-nen: die saturierte Epoche mit den Eckdaten ’68und ’89 ist zu Ende gegangen; nach leistungs-feindlichen Übertreibungen in Schulgesetzen undUnterrichtspraxis schwingt das Pendel längst indie Gegenrichtung; die ökonomisch verunsicherteMittelschicht ist empfänglich für die Forderung,dass Schule fit für den globalen Wettbewerb ma-chen soll, und für alle damit verbundenen Kurz-schlüsse sowieso.15Unter den Fachdidaktiken ist die Mathematikganz speziell betroffen, wenn Vorgesetzte, Elternund Schüler die Lehrer unter Druck setzen, denUnterricht auf die Einübung von Aufgaben imPISA-Stil zu konzentrieren: Aus Schülersicht sinddas durchweg Textaufgaben, ergo besonders schwe-re Aufgaben. Bisher gilt als ausgemacht, dass esdie Versetzung nicht gefährdet, wenn man mitsolchen Aufgaben nicht zurechtkommt, ansonstenaber einigermaßen fleißig ist und die zuletzt ein-geübten Rechentechniken in bekanntem Kontextanwenden kann. Wenn nun ein Standard fordert,eine breite Mehrheit der Schülerschaft solle in derLage sein, Textaufgaben zu lösen, dann erfordertdas entweder eine radikale Reduktion mathemati-scher Inhalte (mit unabsehbarer Schädigung der-jenigen, die Mathematik im Studium brauchenwerden), oder es werden in stupider Weise ganzbestimmte Aufgabenmuster trainiert werden. Wasich aus einer nordrhein-westfälischen Grundschu-le höre, deutet in letztere Richtung und erinnertan die alte Polemik, Dreisatz an der Gesamtschulelaufe darauf hinaus, das Wort Kartoffel zu unter-streichen: die Grundschüler sollen lernen, Text-aufgaben, die sie noch gar nicht zu Ende rechnenkönnen, mit dem Buntstift vorzustrukturieren.

12 K. J. Tillmann et al., PISA als bildungspolitisches Ereignis. Oder: Wie weit trägt das Konzept der „evaluationsbasierten Steuerung“?In: T. Brüsemeister, K.-D. Eubel (Hrsg.): Evaluation, Wissen und Nichtwissen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008. –B. Payk: Deutsche Schulpolitik nach dem PISA-Schock: Wie die Bundesländer auf die Legitimationskrise des Schulsystems reagieren.Hamburg: Dr. Kovac 2009.

13 W. Herzog: Bildungsstandards: pädagogische oder politische Notwendigkeit. Vortrag, Bern 2006. http://cmslive1.unibe.ch/lenya/kwb/live/3/33/Erfolge/Diplomfeier/Beitrag_Herzog.pdf. – H.–D. Sill: PISA und die Bildungsstandards. In Jahnke/Meyerhöfer 2007. – T. Jahn-ke: Deutsche PISA–Folgen. In Hopmann/Brinek/Retzl 2007.

14 P. Sacks: Standardized Minds.The high price of America’s testing culture and what we can do to change it. Cambridge Mass.: PerseusPublishing 1999. – A. Kohn: The Case Against Standardized Testing. Raising the Scores, Ruining the Schools. Portsmouth NH: Heine-mann 2000. – S. L. Nichols, D. Berliner: Collateral Damage. How High-Stakes Testing Corrupts America’s Schools. Cambridge Mass.:Harvard Education Press 2007. – G. Lind: Jenseits von PISA: Für eine neue Evaluationskultur. In Inst. f. Schulentwicklung Schwäb.Gmünd: Standards, Evaluation und neue Methoden. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2004. http://www.uni-konstanz.de/ag-moral/pdf/Lind-2003_evaluationskultur.pdf.

15 K. P. Liessmann, Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft. München: Piper 2008.

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Ob das die mathematische Grundbildung unse-rer Bevölkerung nachhaltig heben wird? Oder denFehler von New Math wiederholt, verfrüht Ab-straktion erzwingen zu wollen? Mir scheint, dabesteht noch erheblicher Diskussionsbedarf.

Literatur

S. T. Hopmann, G. Brinek, M. Retzl (Hrsg.): PISA zufolge PISA– PISA According to PISA. Hält PISA, was es verspricht?Does PISA Keep What It Promises? Reihe Schulpädagogikund Pädagogische Psychologie, Bd.6. Wien: Lit-Verlag 2007.

T. Jahnke, W. Meyerhöfer (Hrsg.): PISA & Co – Kritik eines Pro-gramms. Hildesheim: Franzbecker, 2. Auflage 2007.

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Begabtenförderung undLehrerausbildung in Mathematik

Cynthia Hog-Angeloni und Wolfgang Metzler

1 Einleitung

Der vorliegende Artikel fasst Überlegungen ausVorträgen zusammen, welche die Autoren in jün-gerer Zeit gehalten haben. Er beruht u. a. auf derMitarbeit bei der Erstellung von Studienordnun-gen, bei Prüfungen, bei der Endrunde des Bun-deswettbewerbs Mathematik sowie bei den vonuns initiierten „Hessischen Schülerakademien“[2]. Letztere sind zugleich Praktika in der gym-nasialen Lehrerausbildung. Ferner bezieht er sichauf mehrere Beiträge zur Mathematiklehreraus-bildung in den „Mitteilungen der DMV“ (s. [3],[5]), u. a. zu den „Standards für die Lehrerausbil-dung im Fach Mathematik“. Die Einsichten ausder Begabtenförderung für die Gestaltung schuli-scher Curricula und für Studienordnungen greifendabei ineinander und ergeben wichtige Gesichts-punkte über die speziellen Anforderungen für Be-gabte hinaus. Grundsätzlich möchten wir nämlichBegabtenförderung im Rahmen eines differenzierendenBlicks auf SchülerInnen und LehrerInnen betrachten,der andere Ausschnitte des Begabungsspektrumsnicht unterdrücken will.Ein etwas umfangreicherer Aufsatz des Zweitun-terzeichneten, der stärker fächerübergreifendenCharakter trägt, ist in Vorbereitung. Wir empfeh-len diesbezüglich auch die Beiträge in [6].

2 Bedenkliche Lehramtsstudienordnungen

Ein wichtiges Ziel dieses Aufsatzes ist es, deutlichauf die z. T. bedenklichen Entwicklungen im Bereich derLehramtsstudienordnungen hinzuweisen, und wie siekorrigiert werden können.Nicht unschuldig an Fehlentwicklungen ist dashartnäckig auftretende Märchen vom Mathema-tiklehrer, der deswegen ein hervorragender Ma-thematiker sein müsse, weil man bei ihm nichtsversteht. Angeblich sei er fachlich zu gut aus-gebildet und beherrsche nur keine Didaktik, s.die Diskussion in den „Mitteilungen der DMV“([3], S. 6 und 7). Von Eltern bis in Ministerienhält sich dieses Märchen und hat nicht zuletztunverantwortliche Stundenkürzungen der mathe-

matischen Lehrerausbildung (Fachwissenschaft+ Fachdidaktik) mit hervor gebracht (in Hessenbei der letzten Neugestaltung der Studienordnun-gen 2005 von 64 auf 56 Semesterwochenstundenfür die Oberstufenlehrbefähigung, von 42 auf 36für die der Mittelstufe). Je souveräner jedoch einLehrer sein Fach überschaut und für sich immerwieder Neuland entdeckt, desto besser kann er inder Regel erklären, Querverbindungen aufzeigen,unerwartete Schülerbeiträge spontan einbeziehenund die dafür notwendigen didaktischen Fähig-keiten entfalten, die Schwächeren und Begabtengleichermaßen zugute kommen. Bezüglich derStudienumfänge halten wir einen bundeseinheitli-chen Standard für geboten, unabhängig von demjeweiligen Ausbildungsmodell.Die Vernachlässigung des differenzierenden Blicksorientiert sich an einem gerade in Mathematikoft nur hypothetischen Begabungsmittelfeld. Wervon der „Norm“ abweicht, wird sukzessive bis zufinanziellen Konsequenzen aus der öffentlichenFörderung ausgegrenzt. In den im Übrigen be-denkenswerten Ergebnissen einer „Arbeitsgruppezur Einführung der gestuften Studiengänge in derhessischen Lehramtsausbildung“ ([4], S.16) wirdsogar eine verkürzte Ausbildung für die Förde-rung behinderter Kinder und Jugendlicher wiefür die Begabtenförderung als hinreichend erach-tet. Für beide sind außerschulische Arbeitsfeldervorgesehen. Unseres Erachtens ist dies Teil einerTendenz, die Deutschland stärker internationalins Hintertreffen bringt als ein schlechteres Ab-schneiden bei manchen Pisa-Testaufgaben.

3 Falsche Alternativen

Wir plädieren also keinesfalls dafür, die För-derung begabter SchülerInnen gegen die der„Nachzügler“ und Begabungsförderung aller aus-zuspielen. Begabtenförderung (und nicht nursolche von Hochbegabten) ist wichtig. Kämp-fe um Schulstundenzahlen in mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern zuungunstensprachlicher, geisteswissenschaftlicher oder künst-lerischer wollen wir nicht aufgreifen. Jeder Ma-

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thematikstudent benötigt für sein Fachstudiumheute ein gutes Schulenglisch. Auch möchten wirnicht Auseinandersetzungen „Fachwissenschaftgegen Fachdidaktik“ in der Lehrerausbildungfortführen. Aber dem Trugschluss, Begabte sei-en doch bereits von der Natur begünstigt wordenund könnten daher allein zurechtkommen, mussbegegnet werden, bevor diese in für sie langweili-gem Unterricht abstumpfen und einfach „abschal-ten“. Das kann und darf sich unsere Gesellschaftnicht leisten.

4 Biographien mathematischer Begabungen undschulische Lehrpläne

Für die Gestaltung schulischer Curricula und diezugehörigen Konsequenzen für die Lehreraus-bildung empfehlen wir nachdrücklich, nicht inerster Linie von unterschiedlichen, insbesondereguten bis geringen Begabungen in Mathematikauszugehen, obwohl dies aus Unterrichtserfahrun-gen nahe zu liegen scheint und auch mit dem imFolgenden betrachteten Raster Überschneidungenaufweist. Es werden dadurch aber ebenso wichti-ge Einsichten verstellt und schlechte Erfahrungenhervorgerufen. Wir empfehlen stattdessen, diezukünftige Rolle in den Mittelpunkt zu stellen,die Mathematik im (nachschulischen) Leben vonbegabten SchülerInnen spielt:a) In Mathematik begabte SchülerInnen können sichdieses Fach als Berufsziel wählen. Diese SchülerInnenbenötigen insbesondere bei grundlegenden Fra-gen ein Eingehen auf ihren Wissensdurst. Ob eineinzelner Sachverhalt mehr oder weniger in derSchule behandelt wird, ist für sie nicht von letz-ter Wichtigkeit. Ein „mehr“ erleichtert ihnen al-lerdings den Übergang ins Studium.b) In Mathematik begabte SchülerInnen können einBerufsziel anstreben, welches Mathematik als Hilfsdiszi-plin benötigt. Solche SchülerInnen benötigen schonzu Studienbeginn ein reiches Vorwissen, um inihrem Studienfach rechtzeitig zu einem ersten be-rufsqualifizierenden Abschluss zu gelangen. G8und anderweitig motivierte „Verschlankungen“schulischer und lehrerbildender Curricula geratenhiermit jedoch in einen deutlichen Zielkonflikt.c) Schließlich können in Mathematik begabte Schüle-rInnen eine Tätigkeit ergreifen, für die sie so viel von derBedeutung dieses Faches kennen müssen, dass sie – ohnein ihm eine nachschulische Ausbildung zu erhalten – alsStaatsbürger Entscheidungen mit verantworten kön-nen, die Mathematik tangieren. Zum Glück begegnetman immer wieder solchen Menschen trotz allerpopulären Äußerungen persönlicher Distanz zur

Mathematik. Z. B. können sie für die Verteilungvon Forschungsmitteln mitverantwortlich sein. Inden Schulzweigen, die Mathematik und Naturwis-senschaften nicht als Schwerpunkte haben, wirdjedoch meist herzlich wenig für sie getan. Sie be-nötigen einen Mathematikunterricht, der in derOberstufe, von der heutigen zivilisatorischen Ver-netzung der Mathematik ausgehend, diese „nachunten“ exemplarisch bis in die Ebene der Arbeits-weisen führt. Das geht nicht mit einem lückenlo-sen Aufbau der Techniken, die im Fall a) und b)wichtig sind; dafür wäre der Zeitaufwand zu groß.Es würden Menschen heran-„gebildet“, die – wieweniger Begabte – in Formelfrust geraten bzw.MINT-Wissenschaftsfeindlichkeit entwickeln. Diefür den Typ c) wichtigen Oberstufenkurse scha-den zudem als Ergänzung für a) und b) nicht;und es gibt auch inzwischen geeignete Anregun-gen dafür in ernsthafter Literatur, allerdings nochnicht genügend für den Unterricht zubereitete.Bilanz:

5 Die unterschiedlichen Aufgaben für dieBiographietypen a), b), c) sind u. E. mit einemlückenlos aufbauenden mathematischenSchulcurriculum nicht (mehr) lösbar. Ihre Lösungverlangt nach einer hohen fachwissenschaftlichenund fachdidaktischen Kompetenz.

Dass Allgemeinbildung auch dem Typ c) gerechtwird, hat dabei u. E. eine höhere Priorität als dieVermeidung stärkerer Kursvorgaben für ein spä-teres Studium im Fall a) und b). Solche Vorgabensind ja auch jetzt schon notwendig. Für (zukünfti-ge) LehrerInnen entstehen dadurch unter anderemSchwerpunktbildungen, z. B. durch Kompetenzer-werb in allgemeinen und fachspezifischen Formen derBegabtenförderung: differenzierender Klassenun-terricht, Ergänzungsunterricht, Arbeitsgemein-schaften, Schülerakademien, Einzelförderung,forschender Unterricht, Schülerstudium, Jahres-arbeiten, Einbeziehung von Schülerzeitschriften,Ermutigung zur Teilnahme an Wettbewerben . . ..

6 Lehrerausbildung und Studienpläne

Bei der Eröffnung der Jahresversammlung derDMV 1967 in Karlsruhe sprach der damalige Vor-sitzende, Wolfgang Franz, ausführlicher überStudien- und Prüfungsanforderungen in Mathe-matik [1]. Manches daran war zeitgebunden; nurdas gymnasiale Lehramt und das Diplom standenwirklich im Blickpunkt. Dass Studienordnungen

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aktuellen Entwicklungen in der Mathematik undlokalen Gegebenheiten der jeweiligen UniversitätRechnung tragen müssen, wurde aber herausge-stellt und ist immer noch höchst wichtig. Stu-dienordnungen benötigen also Freiräume in derkonkreten Ausgestaltung. Nach einer Phase derstärkeren Inanspruchnahme von Freiheiten sehensich Universitäten heute jedoch deutlichem Miss-trauen gegenüber akademischen Freiheiten aus-gesetzt; (oder) diese werden oft nur zum Scheingewährt. Zusammen mit der Sorge der für dieAusbildung Verantwortlichen vor zu stark abge-speckten Studiengängen besteht nicht zuletzt inder Lehrerbildung gegenwärtig der Trend, schu-lische und universitäre (Aus-)Bildung durch Ka-taloge von Mindestanforderungen zu sichern, wobeimomentan gültige schulische Lehrpläne zugleichzum Maßstab von Studienordnungen werden unddieser Prozess als Hilfe für die Praxis ausgegebenwird.Solche Kataloge sind i. allg. unvollständig. Bei den„Standards“ [5] halten wir es z. B. für unzurei-chend, dass bezüglich Begabtenförderung ledig-lich die diagnostische Kompetenz, „Konzepte undUntersuchungen von Rechenschwäche und ma-thematischer Hochbegabung beschreiben zu kön-nen“, erwähnt ist. Ferner fehlt außer einer mildenFormulierung in der Präambel die exemplarischeBegegnung mit lebendigem mathematischem Neulandnach dem Ende der Schulzeit, welche allein dieReife ergibt, Listen verantwortlich zu modifizie-ren, und so vor einem versteinerten Schulcurricu-lum bewahrt. Auf jeden Fall veralten solche Listenin kurzer Zeit. In Hessen konnten wir ein Formu-lierungsfossil über „Mengen und Relationen“ erstnach etlichen Bemühungen wieder herausbekom-men.Solche Kataloge sind andererseits meist zu um-fangreich, um Punkt für Punkt studierbar zu sein.Reduzierte Studienumfänge und Kämpfe um Res-sourcen, (die gern im Gewand von Relevanzdis-kussionen für die Lehrämter einher kommen,)erzeugen stark festgeschriebene, aber inkompatibleStudienordnungen, bei denen schon der Wechselbezüglich des gleichen Studienganges an eine an-dere Universität desselben Bundeslandes nur mitZeitverlust möglich ist.Wir sind z. B. der Überzeugung, dass (im Gegen-satz zu der in den DMV-Mitteilungen [3], S. 57 beiden „Fachprofilen für die Lehramtsausbildung“angegebenen Liste von Gebieten) grundsätzlich je-der Schwerpunkt an einem mathematischen Fach-bereich als Vertiefungsgebiet für ein Lehramts-studium in Frage kommt, wenn er in der Lehresorgfältig zubereitet wird. Die sich so ergebenden

unterschiedlichen Studienverläufe müssen ohneZeitverlust anerkennbar sein.

7 Statt des Katalogansatzes ist es daher notwendig,Studienordnungen mit einem ausgewiesenenAnteil an Wahlpflichtveranstaltungen zu erstellen(mindestens 1/3).

Diese Wahlgebiete, in denen insbesondere aktu-elle, forschungsnahe Inhalte behandelt werdenkönnen, sind für Fachwissenschaft und Fachdi-daktik vorzusehen. Inhalte für Begabtenförderunggehören dazu.

8 Kompetenzen

Dies ist zur Zeit ein Modewort und tritt in un-terschiedlicher Bedeutung auf. In einem nochnicht veralteten pädagogischen Lexikon bezeich-net es z. B. eine angeborene Fähigkeit. Ein sinn-voller Gebrauch kann sein, als Kompetenz eine„Summe“ von zusammengehörigen Fähigkeiten zuverstehen, bei denen man aber die Summandennicht vernachlässigen darf. Sonst entstehen (beizu knappen Detaillisten im Kontext von Curricu-lumskürzungen) vollmundige Erklärungen in denVorworten von Studienordnungen über die „Kom-petenz, ein Fach zu überblicken“, tatsächlich alsoHochstapelei. Das Katalog(un)wesen von Kompe-tenzen breitet sich leider inzwischen bereits bis indie Vorschriften für Staatsexamensprotokolle aus.

9 Tatsächliche Handlungs- undVerantwortungsspielräume, Promotionsfähigkeit

Ein Beispiel für die schon erwähnten nur schein-baren Gestaltungsfreiräume ist, dass Fachbereichezur Zeit Studienordnungen erstellen müssen, beidenen (zum Zweck der Genehmigung) einzelneKreditpunkte von einem Semester in das andereverschoben werden, damit die (von inhaltlichenErwägungen abgekoppelten) Vorgaben auf denPunkt genau erfüllt werden. Mit bei tatsächlicherVerantwortung unverträglicher kleinmaschigerÜberprüfung werden Lehrvorgänge in Schulenund Hochschulen kontrolliert („Qualitätskontrol-le“). Durch Kürzungsvorgaben entstehen Wider-sprüche zu den postulierten, aber nicht wirklicherreichbaren Kompetenzen (s. o.). Dies alles lässtdie Befürchtung aufkommen, dass Anstellungs-bedingungen bzw. die Besoldung der Lehrkräfteverschlechtert werden sollen. Als Messlatte hierfür

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ist z. B. geeignet, ob die Promotionsfähigkeit vonGymnasiallehrerInnen in ihren Studienfächernnach dem 1. Staatsexamen gewahrt bleibt.Während im Wirtschaftsleben offensichtlich Kon-trollmechanismen gefehlt oder versagt haben,hat in einer Ökonomisierung von Bildungsinsti-tutionen insbesondere in Deutschland mit demBologna-Prozess ein Trend zur Überplanung undÜber-Prüfung um sich gegriffen. Unser Aufsatzmöchte dazu beitragen, zu einem Prinzip jeweiligadäquater Planungsdichte zu finden. Dadurch wür-de insbesondere die gegenwärtige Hektik, mit derStudienordnungen mancherorts abgelöst werden,bevor sie sich eingespielt haben, durch ein (angst-freies) verantwortliches Handeln ersetzt. Dazubedarf es allerdings einer gewissen Zivilcourage.

10 Curriculare Impulse durch Begabtenförderung

Nicht nur erwarten begabte SchülerInnen vonLehrenden mehr als lediglich Inhalte aus vorge-gebenen Lehrplänen; durch ihre Impulse könnenvielmehr neue Lehrplaninhalte (mit) entwickeltwerden. Solche Inhalte eignen sich insbesonderefür Wahlpflichtveranstaltungen in der Lehreraus-bildung. Nach einer „Laborphase“ können sie z. T.zu Inhalten werden in Unterrichtssituationen mit(auch) durchschnittlich und weniger begabtenSchülerInnen.Bei unseren Hessischen Schülerakademien begin-nen wir in dem studentischen Vorbereitungsse-minar mit einer Diskussion verschiedener Bega-bungsbegriffe. Dann folgen fachwissenschaftlicheund didaktische Erörterungen von Themen, wel-che Studierende mit den SchülerInnen anschlie-ßend erarbeiten. Für das weitere Studium erhaltendie Studierenden aus dieser Arbeit mannigfalti-ge Anregungen, wie sie den Anforderungen guterSchülerInnen gerecht werden können.

11 Persönlichkeitsbildung

Begabte SchülerInnen und LehramtskandidatIn-nen haben oft nicht nur besondere fachliche In-teressen sondern besitzen die Bereitschaft undFähigkeit zur Übernahme verantwortlicher gesell-schaftlicher Aufgaben. Diese Bereitschaft erwar-

tet z. B. die Studienstiftung des deutschen Volkesvon einem „Sieger“ des Bundeswettbewerbs Ma-thematik. Bei Schülerakademien kann man sieinsbesondere durch interdisziplinäre Abendveran-staltungen fördern sowie durch kursübergreifendeAktivitäten, s. [2]. Wir halten es für ein wichtigesZiel, unter (Hoch-) Begabten so die Teamfähig-keit zu fördern, nicht aber, unter (teamfähigen)(Hoch-) Begabten die Besten heraus zu filtern. DieMenschheit ist unseres Erachtens für ihr Überle-ben auf Kooperations- und nicht auf Konkurrenzmo-delle angewiesen. Ohne dogmatisch zu werden,sollten daher Elemente von Persönlichkeitsbildungin Begabtenförderung und Lehrerbildung einbe-zogen werden. Um dabei mehr als nur isoliertePersönlichkeitsaspekte im Blick zu haben, sindunseres Erachtens „Ein-Fach-Lehrer“-Konzepte nichtwünschenswert.

12 Ausblick

Bezüglich gegenwärtiger und zukünftiger Umge-staltungen von Lehrplänen und Studienordnun-gen halten die Autoren es für notwendig, Rah-menvereinbarungen zu entwickeln und bildungs-politisch zu vertreten, welche Gesichtspunkte ma-thematischer Begabtenförderung betreffen. Hierkann das Zustandekommen der „Standards“ zwi-schen DMV, GDM und MNU ein Vorbild sein. Denübrigen Ausbildungszielen dienen solche Verein-barungen ebenfalls; und Überplanung lässt sichvermeiden. Wir sind überzeugt, dass dies keineunrealistische Vision ist.

Literatur

[1] Wolfgang Franz: Ansprache bei der Eröffnung der Jahresver-sammlung 1967 der Deutschen Mathematiker-Vereinigung inKarlsruhe am 11. 9. 1967, Manuskript, im Besitz des 2. Autors.

[2] Cynthia Hog-Angeloni, Wolfgang Metzler (Hrg): Dokumenta-tionen der Hessischen Schülerakademien, Hessische Heimvolks-hochschule Burg Fürsteneck, www.hsaka.de.

[3] Mitteilungen der DMV, Band 17 (2009), Heft 1.[4] Joybrato Mukherjee (Hrg): Gestufte Studiengänge in der hes-

sischen Lehramtsausbildung, Zentrum für Lehrerbildung derUniversität Gießen, 2009.

[5] Standards für die Lehrerbildung in Mathematik: Band 16, Heft 3der Mitteilungen der DMV 2008, S. 149–159.

[6] Harald Wagner (Hrg): Begabungsförderung und Lehrerbildung,Tagungsbericht, Verlag K.H. Bock 2002.

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Nobelpreise undMathematikEin Nachtrag zum Jahr der Mathematik 2008

Herbert Kütting

Im Folgenden gehen wir auf immer wieder ge-stellte Fragen zu Nobelpreisen in Mathematik ein.

1 Nobel-Preis

Alfred Nobel (1833–1896), schwedischer Chemikerund Industrieller, genialer Erfinder (z. B. Erfin-der des Dynamit), Besitzer von ca. 350 Patenten,brachte einen großen Teil seines Vermögens ineine Stiftung ein. Aus den Erträgen sollten mitPreisen Personen ausgezeichnet werden, „die imvergangenen Jahr der Menschheit größten Nut-zen gebracht haben. Die besagten Zinsen sol-len in fünf gleiche Teile geteilt werden, die wiefolgt vergeben werden sollen . . .“. Genannt wer-den dann die Gebiete: Physik, Chemie, Physiologieoder Medizin, Literatur und der 5. Teil „für diePerson, welche sich am meisten oder am bestenfür die Brüderlichkeit unter den Völkern einge-setzt haben sollte, für die Abschaffung oder Ver-minderung stehender Armeen sowie für das Aus-richten und Fördern von Friedenskonferenzen . . . “(zitiert nach Journal General-Anzeiger, 13./14. Ok-tober 2001, Seite I). Der letzte Preis wird heutekurz als „Friedensnobelpreis“ bezeichnet.Im Jahre 1901 wurden die ersten Nobelpreise ver-liehen. Zu den Preisträgern gehörten die Deut-schen W. C. Röntgen (1845–1923, Nobelpreis fürPhysik) und E. v. Behring (1854–1917, Nobelpreisfür Medizin). Die Nobelpreise werden stets am 10.Dezember, dem Todestag des Preisstifters A. No-bel, in Stockholm durch den schwedischen Königverliehen.Es gibt keinen Nobelpreis für Mathematik.Warum nicht? Gesicherte Erkenntnis ist, dass No-bel die Mathematik nicht zu den ausgewähltenGebieten gezählt wissen wollte (Henry S. Tropp:Ursprung und Geschichte der Fields-Medaille. In:Jahrbuch Überblicke Mathematik, Mannheim 1976,S. 194). Warum traf er diese Entscheidung? Esgibt keinen durch Dokumente belegten Grundfür den Ausschluss der Mathematik. Belegt istwohl, dass es Spannungen zwischen A. Nobel unddem schwedischen Mathematiker Magnus Gös-ta Mittag-Leffler (1846–1927) gab (Tropp, a. a. O.).

Es ist aber reine Spekulation, dass dieses Span-nungsverhältnis zum Ausschluss der Mathematikführte. Vielleicht ist es einfach so gewesen, dassA. Nobel die Bedeutung der Mathematik für dieVerwirklichung seiner Idee unterschätzte. Aberauch das ist nur eine Spekulation. Heute wis-sen wir, dass Mathematik bei den Forschungenin Physik, Chemie und auch Medizin eine nichtunwesentliche Rolle spielt.Die Mathematiker haben das Fehlen eines Nobel-preises für Mathematik immer als einen großenMangel empfunden und fanden eigene Lösungen(Fields-Medaille; Abel-Preis). Doch dazu späternähere Informationen. Zunächt sei der „Nobel“-Preis für Wirtschaftswissenschaften erwähnt, derüberraschenderweise auch für Mathematiker vonBedeutung sein kann.

2 „Nobel“-Preis für Wirtschaftswissenschaften

Eine interessante Erweiterung erfuhr der Nobel-preis 1969. Es wurde erstmals ein „Preis für Wirt-schaftswissenschaften“ verliehen, wie man denPreis umgangssprachlich nennt. Der Preis wirdallerdings nicht von der Nobelstiftung verlie-hen, sondern von der schwedischen Reichsbankund heißt offiziell auch „Preis der SchwedischenReichsbank für Wirtschaftswissenschaften zumAndenken an Alfred Nobel“. Die Bekanntgabe fin-det in einer anderen Woche statt als die der an-deren Nobelpreise. Die Auswahl der Preisträgernimmt die Königliche Schwedische Akademie derWissenschaften vor.In dieser Sparte des Nobel-Gedächtnispreises fürWirtschaftswissenschaften wurden bislang Wis-senschaftler verschiedener Fachgebiete geehrt,z. B. in Wirtschaftswachstum und Wirtschafts-geschichte, Außenwirtschaft, Makroökonomik,Theorie der Finanzmärkte, Öffentliche Finanzenetc. und auch in Spieltheorie (1994, 2005, 2007).Dazu einige Hinweise: Bei der Spieltheorie gehtes nicht ums Spielen. Wir zitieren: „Heute stelltdie Spieltheorie eine bedeutende Spezialdisziplinder Wahrscheinlichkeitstheorie und Operations-forschung dar. Sie gestattet Anwendungen von

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außerordentlicher Vielseitigkeit, u. a. im Studi-um von Gesellschafts- und sportlichen Spielen,im Militärwesen (besonders bei Verfolgungspro-blemen), bei politischen und ökonomischen Ent-scheidungsmethoden, in der statistischen Ent-scheidungstheorie, sowie bei der Erforschung bio-logischer Prozesse.“ (In: P. Müller (Hrsg.): Lexikonder Stochastik, 5. Auflage, Akademie Verlag, Ber-lin 1991, S. 364.) Und R. Selten sagte 2002: „DieSpieltheorie ist eine ernste Angelegenheit. Es gehtum die mathematische Modellierung von Konfliktund Kooperation.“ (In: Rheinischer Merkur extra,Nummer 51/52, 2002, S.9.)Prof. Dr. Reinhard Selten (Bonn) erhielt zusam-men mit den Amerikanern John Nash und JohnHarsanyi 1994 für die Weiterentwicklung derSpieltheorie diesen „Nobel“-Preis für Wirtschafts-wissenschaften. Die Spieltheorie hat, so habenwir soeben gesehen, aber ihre Heimat in der Sto-chastik – also in einer mathematischen Disziplin,und so haben auf diesem Weg Mathematiker docheinen Nobel (-Gedächtnis)-Preis erhalten.

3 Fields-Medaille

Die Mathematiker versuchten schon früh denMangel des Fehlens eines Nobelpreises für Ma-thematik zu beheben. Mit großem persönlichenEinsatz regte John Charles Fields (1863–1932) dieSchaffung einer Medaille für überragende ma-thematische Leistungen an und stellte in seinemTestament die erforderlichen Mittel bereit. Hier-bei ist darauf hinzuweisen, dass Field kein In-dustrieller wie Nobel war, sondern Mathemati-ker, geboren in Hamilton (Kanada), gestorben inToronto. Die Anregung wurde umgesetzt, und1936 wurde die Medaille von der InternationalenMathematiker-Union auf ihrem Weltkongress inOslo erstmals verliehen, und zwar an die Profes-soren L. V. Ahlfors (Helsinki, 1907–1996) und JesseDouglas (Massachusetts Institute of Technology,1897–1965).

Die Medaille (nach einem Entwurf des KanadiersTate MacKenzie) zeigt auf einer Seite den grie-chischen Mathematiker Archimedes (287–212 v.C.)und die Inschrift „Transire suum pectus mundo-que potiri“, auf der Rückseite steht die Inschrift:„Congregati ex toto orbe mathematici ob scriptainsignia tribuere“. Auf dem Rand ist der Namedes Preisträgers eingeprägt. Da kriegsbedingt dernächste internationale Mathematikerkongress erst14 Jahre nach der ersten Verleihung stattfindenkonnte, wurden auch die nächsten zwei Fields-Medaillen erst 1950 wieder verliehen, und zwarauf dem Kongress in Cambridge, Massachusetts.Die Fields-Medaille wird alle vier Jahre auf denim 4-Jahresrhythmus stattfindenden internatio-nalen Kongressen für hervorragende mathema-tische Leistungen verliehen, in der Regel min-destens zwei Medaillen. Im Jahre 1986 wurde derMathematiker Gert Faltings (geb. 1954 in Gelsen-kirchen) mit der Fields-Medaille ausgezeichnet.Bislang ist er der einzige deutsche Preisträger.G. Faltings studierte und promovierte an der Uni-versität Münster. Zur Zeit ist Prof. Dr. G. FaltingsDirektor des Max-Planck-Instituts für Mathema-tik in Bonn. Im Jahre 1996 erhielt G. Faltingsauch den Leibniz-Preis – die höchste deutscheAuszeichnung der Deutschen Forschungsgemein-schaft (DFG). Im Jahre 2008 wurde G. Faltings der„von Staudt-Preis“ verliehen.Die Fields-Medaille wurde und wird häufig als„Nobelpreis für Mathematik“ bezeichnet. Das istaber nicht ganz korrekt. Denn: 1. Es ist eine Me-daille, 2. Sie wird von einem Komitee der Interna-tionalen Mathematiker-Vereinigung vergeben und3. Es ist eine Altersgrenze vorgesehen: Der Preis-träger darf im Jahr der Verleihung nicht älter als40 Jahre sein. Damit kann also in der Regel auchnicht das Lebenswerk eines Mathematikers gewür-digt werden. Dadurch wird aber auch deutlich,dass der Preis einerseits Anerkennung für hervor-ragende Leistungen ausdrückt, zugleich aber alsMotivation für die weitere Forschung angesehenwerden kann.Wie stringent die Altersbegrenzung befolgt wirdbeleuchtet ein Beispiel aus der jüngeren Vergan-genheit. Andrew Wiles (geb. 1953) bewies 1995 dieüber 300 Jahre alte Fermat-Vermutung (um 1637):Die Gleichung xn + yn = zn besitzt für alle na-türlichen Zahlen n mit n ≥ 3 keine von Nullverschiedenen ganzzahligen Lösungen in x, y undz (Pierre de Fermat, 1607–1665). Jahrhundertelanghatten sich die Mathematiker vergeblich um ei-ne Lösung der Fermat-Vermutung bemüht, undder Beweis von A. Wiles erregte weltweit Aufse-hen und Anerkennung für diese hervorragende

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Leistung. Doch wegen Überschreitens der Alters-begrenzung konnte A. Wiles auf dem Weltkon-gress der Mathematiker 1998 in Berlin die Fields-Medaille nicht erhalten (siehe E. Behrends: FünfMinuten Mathematik. Berlin 2006, S. 98).Gleichwohl ist A. Wiles nicht ganz ohne Preisefür seine herausragende Leistung geblieben. Soerhielt er Spezialpreise, z. B. auch einen auf demWeltkongress in Berlin. Und am 27. Juni 1997 er-hielt A. Wiles in Göttingen den Wolfskehl-Preis,den Paul Wolfskehl 1908 in seinem Testament fürden Beweis des Fermat-Theorems gestiftet hatte(Stiftungskapital 100 000 Mark). Das Geld wurdeder Göttinger Königlichen Gesellschaft der Wis-senschaften übergeben, die den Wettbewerb am27. 6. 1908 ausschrieb. Interessante Einzelheitenzu der Ausschreibung findet man in S. Singh:Fermats letzter Satz. München 2004, 4. Auflage,S. 151 ff.

4 Abel-Preis

Ein weiterer „Nobelpreis“ für Mathematik wurde2002 geschaffen: Der Abel-Preis. Er ist im Ver-gleich zur Fields-Medaille eine Art Nobelpreis. Esgibt keine Altersbegrenzung (wie bei der Fields-Medaille), und er ist ein materielles Äquivalentzum Nobelpreis. Da es keine Altersbegrenzunggibt, kann auch das Lebenswerk eines Mathema-tikers geehrt werden. Der Preis wurde von dernorwegischen Regierung ins Leben gerufen zumAndenken an den bedeutenden norwegischen Ma-thematiker Niels Hendrik Abel (1802–1829). DerPreis wurde anlässlich des zweihundertsten Ge-burtstages des jung verstorbenen Abel geschaffen

und 2003 erstmals verliehen. Der erste Preisträ-ger war der Franzose Jean-Pierre Serre (Paris, geb.1926), der im Alter von 77 Jahren für sein Lebens-werk geehrt wurde. Serre hatte 1954 auch schondie Fields-Medaille erhalten. Auf seiner Rück-reise nach der Abel-Preisverleihung hat Serre inMünster einen Zwischenstopp eingelegt und inder Aula des Schlosses einen vielbeachteten Vor-trag gehalten. Der Unterzeichner war unter denZuhörern.

5 Leibniz-Preis

Der Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsge-meinschaft (DFG) ist die bedeutendste und ange-sehenste Auszeichnung für Forscher in Deutsch-land und wird seit 1986 vergeben. Das Preisgeldliegt in der Regel etwas über 2 Millionen Euro.Das Preisgeld kann in einem Zeitraum von bis zusieben Jahren nach eigenen Vorstellungen für diewissenschaftliche Arbeit des Preisträgers verwen-det werden. Der Leibniz-Preis wird in der Öffent-lichkeit oft als „Deutscher Nobelpreis“ bezeichnet.Zu den Preisträgern des Jahres 2009 aus verschie-denen wissenschaftlichen Fächern gehört Burk-hard Wilking (geb. 1970 in Vechta), der in Müns-ter studierte und promovierte und heute Profes-sor am Mathematischen Institut der Westfäli-schen Wilhelms-Universität Münster ist. Damitist Prof. Dr. B. Wilking der fünfte Leibnizpreisträ-ger im Mathematischen Institut des FachbereichsMathematik und Informatik der WWU Münster.Das ist einmalig in Deutschland.Die Leibnizpreise für das Jahr 2009 wurden am30. März 2009 in Berlin feierlich überreicht.

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Mathematikschulbücher imNationalsozialismus

Carolin J. Hinzmann

Zwei Finger, zwei Äpfel, zwei Schwalben. Aberauch zwei Panzer, zwei Flugzeuge oder zwei Sol-daten. Es gibt viele Beispiele in Schulbüchern, umKindern die Zahl Zwei näher zu bringen. Währendjedoch Äpfel oder Schwalben kaum Anstoß erre-gen, sieht das bei Kriegsfuhrwerk und Soldatenanders aus, denn hier werden Wertvorstellungentransportiert, die über die Mathematik hinausge-hen. Im Nationalsozialismus wurde der Versuchunternommen, Schulbücher gezielt für die Ver-breitung von nationalsozialistischem Gedankengutzu nutzen. Ein Versuch, der zu schockierendenund menschenverachtenden Aufgaben führte.Doch waren (fast) alle Aufgaben in allen Schulbü-chern ideologisch geprägt? Gab es Unterschiedezwischen Schulbüchern für Mädchen und solchenfür Jungen? Wann, wie und für wie lange kamendiese Aufgaben überhaupt in die Schulbücher?Welche Instanzen waren für die Gestaltung vonUnterricht verantwortlich? Welche Rolle spielten

Autoren und Verlage? Welche Verantwortung hat-te der Lehrer, wurden diese Aufgaben überhauptverwendet und welche Wirkung hatten sie auf dieSchüler?Das Jahr der Mathematik bot Gelegenheit, sichmit diesen Fragen genauer auseinanderzusetzenund eine Veranstaltung zu dem Thema anzubie-ten. Im Sommersemester 2008 gingen Studentenund Interessierte der Universität Potsdam diesenFragen im Seminar „Mathematikschulbücher imNationalsozialismus“ unter Leitung von Prof. Dr.Jahnke am Institut für Mathematik nach. Paralleldazu und in Kooperation forschten Studenten ander Freien Universität Berlin im Seminar „Mathe-matikunterricht im Nationalsozialismus“ unterder Leitung von Prof. Dr. Meyerhöfer. Währendsich das Potsdamer Seminar hauptsächlich denSchulbüchern der Oberschulen zuwandte, lag derSchwerpunkt des Berliner Seminars auf den Volks-schulbüchern.

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Lernt Rechnen! Leiner 1938

Die Thematik weckte Interesse und es kamen vieleStudenten, von denen sich nur wenige dadurchabschrecken ließen, dass der Scheinerwerb mithohem Arbeitsaufwand verbunden sein würde, davon ihnen erwartet wurde, eigenständige Quel-lenforschung in der Bibliothek für Bildungsge-schichtliche Forschung in Berlin zu betreiben.1Um die defizitäre Forschungslage zu den Fra-gestellungen und die für Studenten schwierigeQuellensituation etwas auszugleichen, stand bei-den Seminaren ein von der Autorin zusammenge-stellter, umfangreicher Online-Reader mit Grundl-agentexten zur Verfügung.

Ablauf und Themen

Als Einstieg für das Potsdamer Seminar bot sichder Vortrag von Prof. Dr. Anselm Lambert überden Mathematiker, Pädagogen und Mathematik-didaktiker Walt(h)er Lietzmann an, da Lietzmannvor, während und nach der Zeit des Nationalso-zialismus wirkte.2 In der darauffolgenden Sitzungwurden die gesellschaftliche Stellung der Mathe-matik und die Situation der Hochschulmathe-matiker inklusive der Bestrebungen nach einer„Deutschen Mathematik“ besprochen. Danachbearbeiteten die Studenten in Kleingruppen au-ßerhalb der Seminarzeit einzelne Teilgebiete desThemas. Sie verglichen z.B. die Volksschulbücherder Autoren H. Läuter, O. Richter und P. Schnabelvor und nach 1945, untersuchten die Sprache derMathematikschulbücher in der NS-Zeit oder dieUnterschiede und Gemeinsamkeiten in den Aus-gaben von Mathematikschulbüchern für Mädchenund Jungen. Andere Gruppen befassten sich mitder Vererbungslehre im Mathematikunterricht,mit den „nationalpolitischen“ Rechenaufgaben,

mit Anwendungsaufgaben und Anwendungsorien-tierung – auch im Vergleich zur vorangegangenenund folgenden Epoche – oder mit den mathema-tikdidaktischen Konzepten in der NS-Zeit. Sie be-trachteten die Statistik und Stochastik als Gebietein den Mathematikschulbüchern in der NS-Zeitgenauer, untersuchten die Entwicklung der Un-terrichtsblätter für Mathematik und Naturwissen-schaften zur Zeitschrift MNU oder sichteten alteKlassenarbeiten und Abituraufgaben aus der NS-Zeit an einer selbstgewählten Schule.Teilweise konnten erste Ergebnisse schon in denSeminarsitzungen präsentiert werden, die meistenGruppen entschieden sich jedoch für eine nach-trägliche Ausarbeitung.Bei fast 40 Teilnehmern mit völlig unterschiedli-chem Vorwissen ist es nicht verwunderlich, dasses auch Diskussionen gab, die am Thema vorbei-führten. Zugleich bot die Teilnahme von Studen-ten mit verschiedenen Fächerkombinationen dieChance, auch mathematikfernere Themen wie dieSprache der Mathematikschulbücher zu betrach-ten.Höhepunkt des Seminars wurde für viele ein Zeit-zeugengespräch. Der 1930 geborene Prof. FritzNestle, em. PH Ludwigsburg, sprach über denMathematikunterricht während seiner Schulzeit inder NS-Zeit.3 Nestle ging zwischen 1936 und 1947zur Schule, wurde 1954 Gymnasiallehrer und 1971Professor für die Didaktik der Mathematik an derPädagogischen Hochschule Ludwigsburg.

Ergebnisse

Es ist offenkundig, dass die bearbeiteten Frage-stellungen keine abschließende Klärung erfahrenkonnten – dazu waren sie zu umfassend und da-

1 Ich spreche an dieser Stelle und im Folgenden nur für das Potsdamer Seminar, da ich über die Veranstaltung an der FU Berlin keineweiterführenden Aussagen machen kann.

2 Vortrag „Bildung und Standards im Mathematikunterricht – oder: Was schon beim alten Lietzmann steht“ von Prof. Dr. Anselm Lam-bert, Universität des Saarlandes, gehalten am 22.04.2008 in Potsdam.

3 Die gesamte Powerpoint-Präsentation ist von Prof. Nestle unter http://www.bildungsstandards.de/08/allgemein/nsmathekurz.htmlmitErläuterungen als odt-Dokument abgelegt worden.

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Heye/Lietzmann: Mathematisches Unterrichtswerk für höhere Schulen, Teubner 1939

zu ist ein Seminar nicht geeignet. Dennoch ha-ben die einzelnen Gruppen erstaunliche Einblickegewonnen und teilweise auch präsentieren kön-nen. Ein Student fasste die präsentierten Ergeb-nisse in einem Textbuch zusammen, das Lehrernund Schülern ermöglichen soll, die Thematik inder Schule (in einer Projektwoche o.Ä.) zu behan-deln.4Die Gruppen fanden heraus, dass sich der Sprach-stil des Nationalsozialismus durchaus in den Text-aufgaben der Mathematikschulbücher wiederfin-den lässt. Der Vergleich eines Volksschulbuchs inder Auflage von 1937 mit der direkt nach Kriegs-ende erschienenen brachte die Erkenntnis, dassnur geringfügige Änderungen vorgenommen wur-den, hauptsächlich die Zeichnungen und den Re-chenanteil betreffend. Allerdings enthielt diesesBuch keinerlei antisemitische oder rassistischeAufgaben. Ähnliches ließ sich auch für Auflagenvon Büchern vor 1933 und denen, die Mitte derDreißiger Jahre oder später gedruckt wurden, fest-stellen.5 Immer wieder entbrannte die Diskussiondarüber, dass Ideologieelemente wie Antisemitis-mus, Rassismus und Militarismus bereits vor 1933weit verbreitet gewesen sind und sich bereits inSchulbüchern vor 1933 entsprechende Aufgabenfinden lassen.

Insgesamt schwankten der Anteil und die Artideologisierender Aufgaben erheblich, sowohlzwischen den Schulbüchern als auch zwischenden Klassenstufen – so konnte bestätigt wer-den, dass der Anteil der „nationalsozialistischenAufgaben“ mit der Klassenstufe zunahm. Auchdie Vorbereitung der Mädchen auf ihre spätereHausfrau- und Mutterrolle in der „Volksgemein-schaft“ lässt sich in Mathematikschulbüchernwiederfinden. Deutlich wurde zudem, dass of-fene, realitätsbezogene und didaktisch sinnvolleAufgaben keine Erfindung der letzten Jahre sindund dem Faschismus nicht widersprechen. DieFrage nach der Funktion der nationalsozialisti-schen Aufgaben konnte dagegen nur diskutiertwerden. Klar ist, dass die Schulmathematik sichmit den ideologisierten Schulbüchern sowohl demnationalsozialistischen Regime anpasste, als auchdessen Gedankengut transportieren wollte. Für ei-ne tiefergehende Auseinandersetzung sei auf denAufsatz von Herbert Mehrtens verwiesen, der deninteressanten Gedankengang verfolgt, dass sichdie Mathematik gerade wegen ihrer Abstraktheitund Sachlichkeit für eine politische Instrumenta-lisierung anbot.6Je intensiver die Erforschung der Mathematik-schulbücher und der nationalsozialistischen In-

4 Reader und Textbuch sind unter http://users.math.uni-potsdam.de/~jahnke/materialien einzusehen. Der Zugang ist passwortge-schützt. Benutzername und Passwort können von Prof. Jahnke [email protected] angefordert werden.

5 Die Schulbücher wurden nicht 1933 komplett überarbeitet, sondern erst im Laufe der Jahre, spätestens 1939 gab es für alle Klassen undFächer neue Bücher.

6 Herbert Mehrtens: Mathematik als Wissenschaft und Schulfach im NS-Staat. In: Dithmar, Reinhard / Schmitz, Wolfgang (Hg.): Schuleund Unterricht im Dritten Reich. 2. Aufl. Ludwigsfelde 2003, S. 283-296.

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doktrination darin gelang, desto überraschenderwar die Quintessenz des Vortrags des ZeitzeugenProf. Nestle: In seiner Erinnerung seien die Ma-thematikstunden – im Gegensatz zu anderen Un-terrichtsstunden – während der ganzen Schulzeitideologiefrei gewesen. Um diese Erinnerung zuverifizieren habe er ca. zwei Dutzend Altersgenos-sen befragt und mit zwei Ausnahmen scheinenalle seine Erinnerungen zu stützen, mehr noch,sie seien sich sogar sicher, dass die stark ideologi-sierenden Aufgaben weggelassen worden seien.Der eine der beiden, der sich an die Behandlungsolcher Aufgaben erinnerte, hatte seine Schul-zeit bis zum 15. Lebensjahr im Sudentenland ver-bracht. Der zweite war auf der NationalpolitischenErziehungsanstalt in Naumburg gewesen. Die-ser hat Fritz Nestle auch zu dem Vortrag nachPotsdam begleitet, so dass die Seminarteilnehmerbeiden Fragen zum Schulalltag stellen konnten.Natürlich sind das nur zwei Beispiele und sie ma-chen deutlich, dass es zwischen einzelnen Schu-len erhebliche Unterschiede gegeben hat und derMathematikunterricht stark von der jeweiligenLehrkraft abhing. Erstaunlich ist jedoch die fasteinhellige Erinnerung der von Prof. Nestle Befrag-ten, dass ideologisch geprägte Aufgaben nichtverwendet worden seien.

Ausblick und Meinungen

Das Seminar hat gezeigt, dass es viele Bereichegibt, die noch zu erforschen sind. So nahm dieUntersuchung von Mathematikschulbüchern der

NS-Zeit insgesamt bisher sehr wenig Raum in derForschung ein, aber auch der Vergleich von DDR-und BRD-Mathematikschulbüchern nach 1945 un-tereinander sowie zu denen vor 1945 bietet sichnicht nur in Bezug auf die Aufgaben, sondern z.B.auch bezüglich der Sprache oder der Abbildungenan. Gleiches gilt für die Zeit vor 1933. Ebenso istjetzt, quasi in letzter Minute, eine systematischeZeitzeugenbefragung zum Mathematikunterrichtnoch möglich.Die Auseinandersetzung lohnt sich, denn werLehren und Lernen von Mathematik untersucht,weiß, dass Textaufgaben das Potential der Werte-vermittlung und damit auch der Instrumentali-sierung beherbergen. Und jeder, der Mathematiklehrt, sollte sich mit der Frage auseinandersetzen,welche Werte vermittelt werden und ob diese be-wusst oder unbewusst transportiert werden undob sie erwünscht oder unerwünscht sind – damalswie heute.Der Grundtenor aller Beteiligten nach dem Semi-nar war positiv. Vor allem die Themenwahl, dieDiskussionen und die bereitgestellten Texte wur-den lobend hervorgehoben. Natürlich gab es auchKritik, doch bezog sie sich hauptsächlich auf denorganisatorischen Bereich.Der anfänglichen Skepsis, ob ein Seminar mitderart offenen und weiten Fragestellungen sowiedem hohen Arbeitsanspruch und eigenständigenForschungsauftrag an die Studenten durchführbarist, kann klar widersprochen werden. Es ist mög-lich und zwar mit einem Zugewinn auf beidenSeiten.

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Die Mathematische Schülergesellschaft„Leonhard Euler“ stellt sich vor

Ingmar Lehmann

Die Mathematische Schülergesellschaft „LeonhardEuler“ (MSG) ist eine außerunterrichtliche Ein-richtung zur Förderung von mathematisch inter-essierten und begabten Schülerinnen und Schü-lern der Klassenstufen 7 bis 13 am Institut fürMathematik der Humboldt-Universität zu Berlin– zugeordnet dem Senator für Bildung, Wissen-schaft und Forschung.In der Mathematischen Schülergesellschaft sollFreude an der Beschäftigung mit Mathematik ge-weckt und gefestigt werden; ihre Mitglieder erle-ben ein Stück lebendiger Mathematik und lernen,selbstständig im Rahmen ihrer Fähigkeiten ma-thematisch zu arbeiten. Darüber hinaus erhaltensie einen Eindruck von den Anwendungsmöglich-keiten der Mathematik.Die MSG wurde 1970 gegründet, damals als ge-meinsame Einrichtung der Sektion Mathematikder Humboldt-Universität zu Berlin und des Berli-ner Magistrats. Der MSG gehören seit Jahren etwa330 Schülerinnen und Schüler an. Jährlich werdenvier neue Zirkel der 7. Klassen gebildet; in denhöheren Klassenstufen sind es zumeist nur nochzwei Zirkel. Die Teilnahme ist kostenlos.Seit 1975 erfolgt die Aufnahme auf der Grundlageder Ergebnisse eines Auswahltests, der am Endedes 6. Schuljahres stattfindet. Alle Berliner Schu-len erhalten hierfür eine Einladung. Eine spätereAufnahme ist nach Einzelentscheidung möglich.Die zweistündigen MSG-Zirkel finden einmal inder Woche an der Humboldt-Universität statt. DieZirkel werden von Mitarbeitern des Instituts fürMathematik der Humboldt-Universität und vonGastdozenten aus anderen wissenschaftlichen In-stitutionen durchgeführt.Seit dem Schuljahr 2004/05 gibt es einen Zirkelan der TU Berlin. Im Jahr der Mathematik 2008ist es gelungen, neben weiteren Kollegen der TUauch erstmals Kollegen der FU Berlin als Zirkellei-ter für die MSG zu gewinnen.Die Zirkelthemen leiten sich aus einem einheitli-chen Programm ab, das den Rahmenlehrplan fürMathematik der Berliner Schulen berücksichtigt.

Es werden Inhalte vermittelt, die den mathemati-schen Schulstoff erweitern und vertiefen.Die Teilnahme an mathematischen Wettbewerbenwie der Mathematikolympiade, dem Bundeswett-bewerb Mathematik, dem Känguru-Wettbewerbund dem Mannschaftswettbewerb zum Tag derMathematik, den die Berliner Universitäten unddie Beuth-Hochschule einmal im Jahr gemeinsamveranstalten, gehört untrennbar zum MSG-Leben.Einerseits macht die Teilnahme Spaß, andererseitssind gute Ergebnisse auch ein Lohn für die aktiveMitarbeit in der Mathematischen Schülergesell-schaft.Mehr als 25 MSG-Mitglieder wurden in der nunfast 40jährigen Geschichte der MSG zur Inter-nationalen Mathematikolympiade delegiert, diemeisten kehrten mit einer Gold-, Silber- oderBronzemedaille zurück. Auch zu InternationalenOlympiaden auf den Gebieten Physik, Chemie undInformatik waren MSG-Mitglieder zu treffen underfolgreich.Am 18. Mai 2009 ist die MSG mit dem„Benedictus-Gotthelf-Teubner-Förderpreis 2009“,den die Teubner-Stiftung in Leipzig verleiht, aus-gezeichnet worden.

KontaktLeiter der Mathematischen Schülergesellschaft:PD Dr. Ingmar LehmannSitz: Humboldt-Universität zu Berlin, Institut fürMathematik, Rudower Chaussee 25, 12489 BerlinPostadresse: Humboldt-Universität zu Berlin, In-stitut für Mathematik, Unter den Linden 6, 10099BerlinSekretariat: S. Schmidt, Tel. 030-20931820,Fax 030-20931842,e-mail [email protected]

Infos im Internetmsg.mathematik.hu-berlin.de oderhttp://didaktik1.mathematik.hu-berlin.de/index.php?article_id=11

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Grußwort des 1. Vorsitzenden der GDM11. Forum für Begabungsförderung in Mathematik vom 2.–4. Aprilan der Universität Regensburg

Hans-Georg Weigand

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebeKolleginnen und Kollegen,die Gesellschaft für Didaktik der Mathematik(GDM) grüßt und dankt den Veranstaltern die-ses 11. Forums, insbesondere Frau Cynthia Hog-Angeloni als der Vorsitzenden des Vereins „Begab-tenförderung Mathematik“ und allen ihren Hel-fern, die an der Organisation dieser Tagung betei-ligt waren. Ferner dankt sie Herrn Prof. Dr. KlausKünnemann als Dekan der Universität Regens-burg, dass dieses Forum hier stattfinden kann.Die Mathematikdidaktik ist die Theorie der Bil-dungsziele und Bildungsinhalte, die mit Mathe-matik verbunden sind, und sie ist die Wissen-schaft des Lehrens und Lernens dieser Inhalte,um die Ziele zu erreichen. Dabei haben wir alleLernenden im Blick, natürlich auch ganz beson-ders diejenigen, die an Mathematik sehr interes-siert sind, die dafür besonders begabt sind. Es istein zentrales Ziel der Mathematikdidaktik, Mög-lichkeiten und Wege aufzuzeigen, Begabungen zuerkennen und zu fördern.In letzter Zeit wird viel von Standards und Kom-petenzen gesprochen. Standards für den Prim-arbereich, für den Mittleren Schulabschluss, fürdie gymnasiale Oberstufe. Mindeststandards undStandards für die Lehrerbildung. Man mag Stan-dards für wichtig, notwendig, hilfreich oder auchfür eine Katastrophe, ein Werk des Teufels, ent-mündigend halten. In einem sind wir uns abersicherlich einig: Wir brauchen auch eine Förde-rung jenseits der Standards. Wir brauchen Ziele(der Beschäftigung mit Mathematik), die über dieStandards hinausweisen. Ziele, die die Individua-lität und die optimale individuelle Förderung inden Vordergrund stellen.Von daher sind wir dem Verein „Begabtenförde-rung Mathematik“ sehr dankbar, dass hier aufdieser Tagung, aber auch durch die gesamte Ar-beit des Vereins für Begabtenförderung, beson-ders interessierten und begabten Schülerinnenund Schüler Möglichkeiten und Wege aufgezeigtoder vielleicht besser angeboten werden, auf ih-

rem Interessensgebiet produktiv arbeiten zu kön-nen. Wir brauchen – wir wissen das alle – mehrqualifizierten Nachwuchs in Mathematik, in dentechnischen Berufen, wir brauchen auch mehrMädchen, die ein Studienfach Mathematik, Infor-matik oder Naturwissenschaften wählen. Und wirhaben einen Nachholbedarf darin, insbesondereMädchen für diese Studienfächer zu interessieren,zu begeistern.Lassen Sie mich zwei Beispiele anführen, die – fürmich – die Bedeutung von Begabungsförderungzeigen.

1 Was können wir von anderen Ländern lernen?

Ich war gerade in Australien. Die Ausstattung derdortigen Schulen ist nicht mit den hiesigen zuvergleichen. Da haben Schulen, – ich habe im-merhin (nur?) 12 besucht, 10 private und 2 öffent-liche – hervorragend ausgestattete naturwissen-schaftliche Laborräume und modernste Compu-terräume mit mindestens einem Techniker, dernur für Wartung der Technik zuständig ist. Eigensangestellte Moderatoren vermitteln Lehrkräftendie sinnvolle Anwendung der Technik im Klassen-raum. Darüber hinaus hat aber auch jede Schuleein eignes Theater, dessen Größe mancher deut-schen Kleinstadt zur Ehre gereichen würde. Und– um zu zeigen, dass sich so etwas auch auf dieSchülerinnen und Schüler auswirkt – ein Beispiel:Bei einem meiner Besuche wurde beim gemeinsa-men Mittagessen mit Lehrern und Schülern vonden Schülerinnen und Schülern spontan ein ma-thematischer Wettkampf angeregt. Ein Duell ander Whiteboard, bei dem es darum ging, ein ma-thematisches Problem schneller, aber auch „schö-ner“ zu lösen als ein Kontrahent. Das hieß also:Zwei Mal eine halbe Stunde Mathematik, Mathe-matik als Amuse-Gueule und Mathematik als Des-sert. Beeindruckend!In dieser Schule wurde also – so habe ich daserfahren – die Begeisterung für Mathematik ge-

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weckt, weit über den Unterricht hinaus. Begeiste-rung für die Mathematik an sich, jenseits irgend-einer Anwendung oder Notenerwartung.

2 Ein zweites Beispiel

Es ist ein Ziel, unseren Schülerinnen und Schü-lern – nennen wir es einmal – logisches Denkenbeizubringen. Etwas genauer heißt das: Lernen, inZusammenhängen zu denken, funktionales Den-ken zu entwickeln, Lösungsstrategien abzuwägen,erhaltenen Lösungen kritisch zu beurteilen.Wir halten das für wichtig, da dies Fähigkeitensind, die im gesamten Leben benötigt werden.Und wir denken auch, dass wir ohne diese Fähig-keiten die Probleme der Zukunft, die wirtschaft-lichen, finanziellen, politischen und ökologischenProbleme nicht lösen können. Wir werden reflek-tierte, vorausschauende, kreative Lösungen aufallen Gebieten brauchen. Die aktuelle Wirtschafts-krise hat uns das nochmals drastisch vor Augengeführt.Ich war erschüttert über vieles, was in letzter Zeitüber das Verhalten vieler „Leistungsträger“ zu er-fahren war. Ich war erschüttert, wie unbefangenund naiv viele „Banker“ mit Geld, mit Investitio-nen umgegangen sind. Da wurden an der Wall-street Entscheidungen in der Art und Weise ge-troffen, wie sie auch beim Kastelbacher Hasen-

züchterverein anzutreffen sind. Entscheidungenaus dem Bauch heraus, ohne verlässliches Ab-wägen der Risiken. So schreibt auch Guido Boh-sem in einem Kommentar der SZ v. 30. 1. 2009:„Es ist naiv und leichtgläubig, wer meint, die re-gierende Klasse wisse so genau, was sie tue. InWirklichkeit bestimmen Versuch und Irrtum dasHandeln . . . “ (S. 4). Der ehemalige Vorsitzendedes Sachverständigenrates der Bundesregierung,Bert Rürup, oder der Chef des Deutschen Insti-tutes für Wirtschaftsforschung, Klaus Zimmer-mann, erklären, dass sie das, was inzwischen aufden Wirtschafts- und Finanzmärkten seinen Laufnehme, auch nicht mehr erklären könnten (SZv. 16. 12. 2008):. Bert Rürup: „Mit echter Gewiss-heit kann ich nur sagen, dass nichts mehr gewissist. Ob es im nächsten Jahr zu einem Minus voneinem Prozent oder von vier Prozent beim Wachs-tum komme, kein Mensch weiß es wirklich.“ (ebd.S. 5) Das kann kein Modell für Zukunft sein. Esist ein Ziel der Schule, und es ist insbesondereein Ziel des Mathematikunterrichts, auch zum fol-gerichtigen Denken in komplexen Systemen zubefähigen.Natürlich ist das nicht einfach. Doch eines istklar: Wir brauchen „kluge Köpfe“, um die Heraus-forderungen der Zukunft konstruktiv begegnenzu können. Die Förderung begabter Schülerin-nen und Schüler ist ein wichtiger Schritt in dieseRichtung. Diese Tagung leistet dazu einen Beitrag.

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Zum 65. Geburtstag vonKlaus HasemannGrußwort des 1. Vorsitzenden anlässlich des Festkolloquiumsam 25. Mai 2009 in Hannover

Hans-Georg Weigand

Liebes Geburtstagskind,liebe Kolleginnen und Kollegen,meine sehr geehrte Damen und Herren,

Ich freue mich, dass ich heute als Vorsitzenderder GDM an dieser Festveranstaltung teilnehmenkann und dem Geburtstagskind die herzlichstenGlückwünsche des Vorstandes der GDM und allerMitglieder überbringen darf.Der Dank der Gesellschaft für Didaktik der Ma-thematik gebührt Herrn Kollegen Hasemann fürsein langjähriges Engagement in der GDM undin der Mathematikdidaktik überhaupt. Er gehörtezu den Gründungsmitgliedern der GDM. Das war– ich zitiere Herrn Hasemann – „wahrscheinlich1974 und es war noch wahrscheinlicher oder fastschon sicher in Kassel“. Damit – es ist ja guterBrauch, dass man zu einer Geburtstagsfeier auchWünsche mitbringt – wünschen wir – die GDM –Herrn Hasemann, dass er in den nächsten Jahrensehr viel Zeit hat, Zeit hat, Dinge zu tun, die erschon immer einmal tun wollte, vielleicht aucheine Geschichte der GDM zu schreiben.Herr Hasemann hat von 1982 bis 1990 den Ar-beitskreis „Psychologie und Mathematikunter-richt“ geleitet. Er war von 1996 bis 2001 im Her-ausgebergremium des JMD und dann noch einmalvon 2003 bis 2007 in dieser Funktion tätig. In die-ser Zeit habe ich Herrn Hasemann näher kennenund schätzen gelernt. Er ist 2003 in einer perso-nalen Notsituation spontan als Herausgeber desJMD eingesprungen. Diese spontane und unei-

gennützige Hilfsbereitschaft ist typisch für KlausHasemann.1 Es ist die menschliche Art, das stetsan der Sache interessiert sein, unabhängig vonpersönlichen Vorteilsüberlegungen, was ich – undsicherlich auch andere – so sehr an Klaus Has-mann schätzen. So hat Klaus Hasemann bei seinerherausgeberischen Tätigkeit stets versucht, jederAutorin und jedem Autoren gerecht zu werden,sich in die Gedanken der- oder desjenigen hinein-zuversetzen. Gerechtigkeit und Ehrlichkeit sindzwei grundlegende Eigenschaften des Geburtstags-kindes.Diese Eigenschaften sind heute wichtiger dennje. Angesichts unserer derzeitigen Tätigkeiten desAufstellens von Strukturplänen, Schreibens vonZielvereinbarungen, Einwerbens von Drittmitteln,der Orientierung an der leistungsbezogenen Mit-telvergabe, . . . stets geht es darum, sich selbst,das Institut, die Fakultät gut dastehen zu lassen.Dabei ist EINES aber unverzichtbar – das ist dasEngagement von uns Lehrerenden, die Überzeu-gung von der Wichtigkeit unserer Inhalte und derstete Blick auf diejenigen, für die wir das allestun, der Blick auf die Schülerinnen und Schülern.Konstruktive Beiträge für eine zumindest partiel-le Veränderung des realen Unterrichts geben zukönnen ist eine zentrale Aufgabe der Mathematik-didaktik.Hierzu beigetragen zu haben, dafür danke ichHerrn Hasemann, und wünsche viel Zeit, Mu-ße, Energie und Gesundheit für das, was in dennächsten Jahren noch ansteht.

1 Das „uneigennützig“ hat Herr Hasemann in seiner folgenden Ansprache allerdings relativiert, da er viele seiner Tätigkeiten wohl fürandere getan hat, diese (häufig) aber auch als eine Bereicherung für sich selbst empfunden hat.

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DoktorandenkolloquiumBamberg-Nürnberg-Würzburg

Anna S. Steinweg, Hans-Georg Weigand und Thomas Weth

Vom 9. Bis 11. Januar trafen sich 15 Teilnehmerin-nen des Doktorandenkolloquiums BaNüWü mitden Betreuern Anna Susanne Steinweg (Bamberg),Thomas Weth (Nürnberg) und Hans-Georg Wei-gand (Würzburg) im Kloster Bronnbach. Dies isteine als Tagungsstätte umgebaute ehemalige Klos-teranlage (siehe http://www.kloster-bronnbach.de/). Das Kolloquium wurde von der GDM finan-ziell unterstützt. Alle Beteiligten möchten sichdeshalb ganz herzlich dafür bedanken.In jeweils einem ca. 30-minütigen Vortrag stelltendie Doktorandinnen und Doktoranden ihre Arbei-ten vor. Es schloss sich eine max. 45-minütigenDiskussion an.

Hedwig Gasteiger (LMU München/Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Betreuer: Prof. Dr. Reiss,Prof. Dr. Speck-Hamdan, Prof. Dr. Steinweg)Mathematische Lernanregungen und Lerndokumentati-on – Evaluation eines kompetenzorientierten Förderan-satzesIm Rahmen einer Längsschnittstudie wird unter-sucht, inwieweit die kontinuierliche Beobachtungund Dokumentation mathematischer Entwicklungauf der Basis mathematisch gestalteter Lernum-gebungen in der Kindertagesstätte Effekte auf dieLeistungsentwicklung von Kindern im Vorschulal-ter zeigt.

Michael Gaidoschik (Universität Wien/Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Betreuer: Prof. Dr.Hanisch, Prof. Dr. Humenberger, Prof. Dr. Stein-weg)Entwicklung von Lösungsstrategien zu den additivenGrundaufgaben im Laufe des ersten SchuljahresGrundlage der Arbeit ist eine längsschnittlicheInterviewstudie mit 139 (nieder-)österreichischenKindern zu Beginn, Mitte und Ende ihres erstenSchuljahres zu ihren Lösungsstrategien im The-menbereich des kleinen Einspluseins und Eins-minuseins. Das Hauptaugenmerk liegt auf derEntwicklung von Ableitungsstrategien vor demHintergrund eines Unterrichts, der dafür wenigAnregungen bot. Ebenso erforscht die Studie dieFrage, ob qualitative Interviews zu „Indikatorauf-gaben“ Mitte des ersten Schuljahres zur Identifi-

zierung von Kindern, die Gefahr laufen, ohne ge-zielte Förderung noch Ende des ersten Schuljahresweitgehend oder vollständig auf Zählstrategienangewiesen zu sein, hilfreich sein können.

Eva-Maria Plackner (Otto-Friedrich-UniversitätBamberg. Betreuer: Prof. Dr. Steinweg)Evaluation innovativer Leistungserhebungen und Mög-lichkeiten der Implementierung im Geometrieunterrichtder GrundschuleIm Mittelpunkt der Untersuchung steht die Weiß-blatterhebung als innovatives Instrument derLeistungserhebung am Beispiel des Geometrie-unterrichts. In einer ersten Phase wurde die Ak-zeptanz von Seiten der Lernenden (n=588) erho-ben. Ergänzend wird derzeit eine breit angeleg-te, schriftliche Sachstandsanalyse der gegebenenPraxis von Leistungserhebungen mitsamt Einstel-lungen der Lehrpersonen durchgeführt. In derInterventionsphase wird die Weißblatterhebungals Alternativangebot der Leistungserhebung im-plementiert und deren trendartige Wirkung aufUnterrichtsqualität, Leistungserhebungen undEinstellungen stichprobenartig in Videostudienuntersucht.

Christina Völkl (Universität Erlangen-Nürnberg.Betreuer: Prof. Dr. Weth)Leistungsunterschiede im Prozentrechnen bei Schülernund ErwachsenenÜber die mathematischen Kompetenzen von deut-schen Schülern lieferten internationale Studien(z. B. TIMSS oder PISA) aus der jüngsten Vergan-genheit ein Bild, das zahlreiche und kostspieligeAktivitäten zur Folge hatte. Die Dissertation gehtprinzipiell der Frage nach, ob die bei Schülernnachgewiesenen Defizite auf mathematischem Ge-biet sich bei Erwachsenen wiederspiegeln. DerVergessenskurve entsprechend, müssten die ma-thematischen Kenntnisse im Allgemeinen bei Er-wachsenen noch geringer ausfallen als bei Schü-lern. Zum alltagsrelevanten Thema „Prozentrech-nen“ wird ein Test entwickelt, welcher als Ergeb-nis liefert, dass Erwachsene bessere Leistungenzum Prozentrechnen erbringen als Schüler unddass die Leistungen (ebenfalls signifikant) berufs-

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gruppenspezifisch unterschiedlich ausfallen. ImAlltag notwendige Mathematik wird demzufolgeauch noch nach der Schule (learning by doing)erlernt und von der Schule hinterlassene Defizitewerden ausgeglichen. Als Nebenaspekt wird diein der Datenerhebung verwendete Methode derOnline-Befragung beschrieben und analysiert.

Neumann Robert (Universität Erlangen-Nürnberg.Betreuer: Prof. Dr. Weth)Mathematikkompetenzen bei Studienanfängern in Ab-hängigkeit der im Mathematikunterricht verwendetenelektronischen RechenhilfenIn vielen Schulen sind mittlerweile neben den üb-lichen Taschenrechnern (TR) auch grafische TRoder TR mit Computer-Algebrasystemen (CAS)zugelassen. Insbesondere von letzteren versprichtman sich eine Entlastung des Unterrichts vonherkömmlicher Termalgebra und mehr unterricht-lichen Freiraum für originär mathematische Tä-tigkeiten wie z.B. Problemlösen, Modellieren, etc.Die Arbeit beschreibt (mit einem Stichproben-umfang von etwa 1500 Erstsemesterstudierenden)die Ergebnisse von Mathematiktests, wie sie vonverschiedenen Universitäten z.B. zu Beginn vonIngenieurstudiengängen üblich sind in Abhängig-keit der verwendeten elektronischen Hilfsmittelim vorher besuchten Schulunterricht. Erste Er-gebnisse deuten darauf hin, dass die schwächstenMathematikkenntnisse und -kompetenzen (spezi-ell auch zum Modellieren) bei der CAS-Gruppe,die besten bei der (einfachen) TR-Gruppe nachzu-weisen sind.

Andreas Meier (Universität Erlangen-Nürnberg.Betreuer: Prof. Dr. Weth)Interaktive, elektronische Arbeitsblätter für den Mathe-matikunterricht der RealschuleAus einer Analyse von Lehr/Lernumgebungen fürden Mathematikunterricht werden spezifischeStärken und Defizite der jeweiligen Internetauf-tritte deutlich, welche im Projekt realmath.dezum Anlass genommen werden, um für den her-kömmlichen Unterricht „passgenaue“ Arbeitsblät-ter zu konzipieren und zu realisieren. Die Web-präsenz realmath.de stellt aktuell mehr als 600interaktive dynamische Arbeitsblätter zur Einfüh-rung, Einübung und Vertiefung fast aller zentra-len Themen der Mathematik der Sekundarstufe Ifür den Unterricht zur Verfügung (Stand: Dezem-ber 2008). Neben einer Beschreibung der Konzep-tion der Arbeitsblätter zeigt die in der Arbeit ent-haltene Akzeptanzstudie unter anderem, dass seitProjektstart im Jahr 2004 bis heute die Nutzerzahlvon realmath.de exponentiell wächst (von anfangs

20.000 auf momentan etwa eine Million Aufrufemonatlich (Stand: Dezember 2008)), dass täglichSchulklassen aus dem ganzen Bundesgebiet, ausÖsterreich und der Schweiz die Seiten währendder Unterrichtszeit nutzen und dass die Hälfte derSeitenaufrufe auf den Nachmittag entfällt, alsovon am PC übenden Schülern stammen.

Caroline Merkel (Universität Erlangen-Nürnberg.Betreuer: Prof. Dr. Weth)Kreativität und Hochbegabung – Entwicklung einesModell zur Förderung hochbegabter Schüler in der Ma-thematikDie Arbeit analysiert verschiedene Konzepte zurFörderung hochbegabter Kinder. Hierbei wird so-wohl auf Konzeptionen eingegangen, die sich aufdie Förderung im normalen Klassenunterricht alsauch auf spezielle „Pluskurse“ beziehen. Die Ana-lyse zeigt, dass bei vielen Fördermaßnahmen einSchwerpunkt auf das Lösen relativ anspruchsvol-ler Aufgaben (im Vergleich zu herkömmlichenAnforderungen) gelegt ist, während das Entwer-fen, (Er-) Finden von Problemen im Allgemeineneine eher untergeordnete Rolle spielt. Um das ma-thematische Kreativitätspotential (im Gegensatzzur kognitiven Fähigkeit, mathematische Proble-me zu lösen) hochbegabter Kinder zu untersu-chen, wurde ein „Kreativitätskurs“ konzipiert, indem die teilnehmenden Schüler selbständig ma-thematische Probleme kreierten und die selbst-erfundenen Probleme er- und begründeten. DieArbeit stellt neben obiger Analyse die Konzeptionund Evaluation dieser Fördermaßnahme dar.

Ewald Bichler (Universität Würzburg. Betreuer:Prof. Dr. H.-G. Weigand)Langfristige Integration eines Taschencomputers in denUnterrichtComputer-Algebra-Systeme (CAS) spielen seit ge-raumer Zeit eine bedeutsame Rolle in den Diskus-sionen um den Einsatz moderner Technologie imMathematikunterricht. CAS sind zusammen mitFunktionenplottern und Tabellenkalkulationenin kleine Taschenrechner integriert, man nenntsie daher „Taschencomputer“. Eine Vielzahl vonEinzelprojekten beschäftigt sich mit der Thema-tik. Allerdings sind diese Projekte meist auf einensehr kurzen Zeitraum beschränkt. Der Modellver-such Medienintegration im Mathematikunterrichtbietet die Möglichkeit, die Veränderungen undAuswirkungen des Einsatzes eines Taschencom-puters über einen langen Zeitraum unter sehr rea-listischen Bedingungen beobachten zu können. Eswird dargelegt, welche Beobachtungen und Erfah-rungen hier gemacht worden sind.

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Stefanie Anzenhofer (Universität Würzburg. Be-treuer: Prof. Dr. H.-G. Weigand)Musikalische Graphen – Entwicklung des Verständnis-ses graphischer Darstellungen im fächerübergreifendenMathematik- und MusikunterrichtAusgangspunkt dieses Ansatzes sind graphischeDarstellungen des Mathematik- und Musikunter-richts, die wechselseitig analysiert und interpre-tiert werden sollen. Zum einen werden Funktions-graphen als Zeit-Tonhöhen-Diagramme betrach-tet und mit musikalischen Grundkompetenzen– Hören, Interpretieren und Analysieren sowieMusizieren und Erfinden – kombiniert. So sollein anderer Zugang zu Graphen und den dazugehörenden Begriffen sowie kreatives Arbeiten er-möglicht werden. Zum anderen wird eine Hinfüh-rung zu Neuer Musik durch den Bezug zwischen

Funktionsgraphen und graphischen Notationenversucht.

Jan Wörler (Universität Würzburg. Betreuer: Prof.Dr. H.-G. Weigand)Konkrete Kunst: Mathematik in Bildern finden und dy-namisch erforschenZwischen Konkreter Kunst und Mathematik gibtes starke Verbindungen und die lassen sich fürden Mathematikunterricht fruchtbar einsetzten.Ein erster Schritt ist dabei das Entdecken undNachempfinden der mathematischen Konstrukti-onsprinzipien in den Kunstwerken, ein zweiter diedynamische Erkundung und Weiterentwicklungebendieser Baupläne. Dabei sollen die Lernendendurch interaktive Computeranimationen unter-stützt werden.

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Info zum Förderpreis der GDMSusanne Prediger

Regelmäßig alle zwei Jahre vergibt die Gesellschaftfür Didaktik der Mathematik den Förderpreis derGDM für eine herausragende Dissertation an einejungen Mathematikdidaktikerin oder einen jungenMathematikdidaktiker. Die Preisträgerinnen undPreisträger der GDM waren:1989 Martin Stein1991 Horst Struve1994 Manfred Borovcnik1996 Reinhard Hölzl1998 Petra Scherer2002 Katja Krüger2004 Stephan Hußmann2006 Andreas Eichler2008 Marei Fetzer und Elke Söbbecke

Auch diesen Herbst wird die Jury wieder eine her-ausragende Dissertation auswählen und fordertdaher alle Mitglieder der GDM auf, potentielleKandidatinnen und Kandidaten zu benennen. Vor-schläge sollen zusammen mit einer ca. zweiseiti-gen Begründung und fünf Exemplaren der Arbeitan die Jury-Vorsitzende eingereicht werden biszum 1. August 2009.

Die Entscheidung der Jury wird auf der GDM-Tagung in München im März 2010 bekannt gege-ben werden.Die Jury:Susanne Prediger, Dortmund (Vorsitz)Günter Krauthausen, HamburgUwe Gellert, BerlinHeinz Steinbring, EssenEdith Schneider, Klagenfurt

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Einladung zur 11. Tagung

Allgemeine Mathematik:Mathematik verstehenPhilosophische und didaktische PerspektivenUniversität Siegen, Artur-Woll-Haus, 3.–5. Dezember 2009

Mit der Tagung „Mathematik verstehen“ wird nunin Siegen die Tagungsreihe „Allgemeine Mathe-matik“ fortgeführt, die in Darmstadt 1995 begon-nen wurde. Die Tagungen sollen dazu beitragen,eine breite Diskussion über Mathematik und ih-re Bedeutung für die Allgemeinheit zu fördern;dabei soll es vor allem um eine Reflexion desSelbstverständnisses der Mathematik, ihres Ver-hältnisses zur ,Welt‘ sowie um Fragen nach Sinnund Bedeutung mathematischen Tuns gehen. Indiesen Rahmen ist auch das Thema „Mathema-tik verstehen“ einzuordnen. Auf der kommendenTagung sollen u.a. aus philosophischer und ausdidaktischer Perspektive Fragen diskutiert wer-den wie: Was bedeutet es, einen mathematischenSachverhalt zu verstehen? Wie entsteht Verstehenvon Mathematik im Lernprozess? (Wie) könnenwir Mathematikunterricht verstehen? Wie lässtsich schließlich Mathematik als Ganzes verstehen,und was trägt ein solches Verstehen zu mensch-lichem Verstehen allgemein bei? Historische undsystematische Perspektiven auf das Verstehen vonMathematik sollen einander dabei wechselseitigerhellen.

Mit der Tagung sollen Wissenschaftler und Wis-senschaftlerinnen sowie wissenschaftlich Interes-sierte aus unterschiedlichen Bereichen wie vorallem der Mathematik, Didaktik, Philosophie,Erziehungswissenschaft und Informatik zusam-men gebracht werden, um einen fruchtbaren Ge-dankenaustausch zum „Mathematik-Verstehen“aus „allgemeiner Sicht“ zu initiieren. Die Tagungrichtet sich auch an interessierte Lehrerinnen undLehrer.Veranstalter der Tagung sind Prof. Dr. Katja Leng-nink (Universität Siegen), Prof. Dr. Gregor Nickel(Universität Siegen), Prof. Dr. Rudolf Wille (Tech-nische Universität Darmstadt)Bitte richten Sie Ihre Anmeldung bis zum15. 8. 2009 an Prof. Dr. Katja Lengnink oderProf. Dr. Gregor Nickel, Universität Sie-gen, Walter-Flex-Str. 3, 57068 Siegen (email:[email protected]; Tel: 0271-7403582 (Sekretariat Sabine Grüber)).

Weitere Informationen zur Tagung finden Sieunter: http://www.uni-siegen.de/fb6/didaktik/veranstaltungen/allgmath09/

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Herbsttagung 2009 desArbeitskreises ,Geometrie‘

Matthias Ludwig und Reinhard Oldenburg

Dieses Jahr findet die Herbsttagung des AK Geo-metrie der GDM im Adam- Stegerwald-Haus inKönigswinter bei Bonn vom 2. 10. 2009 bis zum4. 10. 2009 statt. Unser diesjähriges Tagungsmottolautet: Basiskompetenzen in der GeometrieWas erwarten wir, was unsere Kinder nach demBesuch der Sekundarstufe I auf jeden Fall in Geo-metrie beherrschen sollen? Welche Fähigkeitenund Kompetenzen im Bereich der Geometrie sol-len sie unabhängig davon, ob sie eine Hauptschu-le, Realschule oder Gymnasium besucht haben,erworben haben. Welche Grundlegungen für dasverstehensorientierte Lehren und Lernen im Geo-metrieunterricht sind elementar? Für mancheSchüler mag der korrekte und sinnhafte Umgangmit Größen eine wichtige Grundlage für die Vor-bereitung auf den Weg im Beruf sein. Für anderewiederum sind geometrische Sätze Voraussetzun-gen für das Weiterlernen in der Sekundarstufe II.Alle Freunde des Geometrieunterrichts sind aufge-rufen, sich darüber Gedanken zu machen, welcheInhalte wichtig sind und warum es gilt, sie zuunterrichten. Dazu können auch Unterrichtsvor-schläge gemacht werden, die zeigen, wie man dieBasiskompetenzen im Unterricht erreicht, sichertund prüft.Wir haben das Glück und es ist uns eine beson-dere Freude, dass wir Herrn Prof. Dr. Michael Neu-brand (Universität Oldenburg) als Eröffnungsvor-

tragenden am Freitagabend (2. 10. 2009) ankündi-gen können. Herr Neubrand hat gerade mit denErgebnissen der Coaktiv-Studie in der Öffentlich-keit große Beachtung gefunden und er wird zumThema Basiskompetenzen aus der Studie einigesberichten können.Anmeldungen zur Tagung und eines Vortrageswerden wie gewohnt über die Webseite des AKGeometrie bis Ende Juli 2009 entgegen genom-men:http://www.math.uni-frankfurt.de/~oldenbur/akgeo/Wie auch im letzten Jahr sollen ausführ-liche Kurzfassungen (mehrere Seiten; z. B.8) rechtzeitig (15. 8. 2009) an Herrn Ludwig([email protected]) oder Herrn Olden-burg ([email protected]) geschicktwerden, um sie vor Tagungsbeginn auf die Ta-gungshomepage zu stellen und auf diese bewährteWeise eine tiefere Diskussion zu ermöglichen.Aus den – nach der Tagung überarbeiteten undaufeinander abgestimmten – Beiträgen soll wiederein Tagungsband erstellt werden.Alle interessierten Kolleginnen und Kollegen ausSchule und Hochschule sind eingeladen an derHerbsttagung 2009 in Königswinter teilzunehmenund u. U. mit einem Beitrag die Diskussion zubereichern.

GDM-Mitteilungen 87 · 2009 51

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Arbeitskreis ,Mathematik und Bildung‘Oldenburg, 2. 3. 2009

Günter Graumann

An der Sitzung am 2. 3. 2009 in Oldenburg haben16 Personen teilgenommen. Der Sprecher stell-te zunächst für die Teilnehmer, die bisher nochnicht an Sitzungen des Arbeitskreises „Mathe-matik und Bildung“ teilgenommen hatten (unddas waren sehr viele), kurz die bisherigen Tätig-keiten und Ziele des Arbeitskreises vor. Danachwurde über Vorstellungen und Erwartungen ein-zelner Teilnehmer diskutiert. Dabei kristallisiertesich heraus, dass starkes Interesse an den Fra-gen „Was verstehen wir unter Bildung bzw. All-gemeinbildung? – Was alles wird darunter sub-summiert?“, „Welche Aspekte von Bildung sindmit Mathematik in besonderer Weise verbunden?– Welche Aspekte sind für den Mathematikun-terricht bedeutsam?“, „Welchen Nutzen hat dasLernen von Mathematik in Alltag, Beruf und Wis-senschaft? – Welche grundsätzlichen Denkweisenkönnen durch die Beschäftigung mit Mathematikgefördert werden?“, „Welche Beziehung bestehtzwischen Allgemeinbildung und den Bildungs-standards? – Welche Aspekte von Allgemeinbil-dung lassen sich abprüfen und welche nicht?“,„Welche methodischen Prinzipien fördern einebestimmte Bildung?“Da alle diese Fragen nicht kurzfristig beantwor-tet werden können und die Zeit schon vorange-

schritten war, wurde die Diskussion nach etwa ei-ner Stunde abgebrochen. Es wurde dann einstim-mig beschlossen, eine Herbsttagung zu veranstal-ten, auf der diese und ähnliche Fragen ausführli-cher diskutiert werden können. Als Termin wurdeSa 31. 10.–So 1. 11. 09 geplant und als Ort wurdeGöttingen ins Auge gefasst. Alle Teilnehmer derSitzung und auch diejenigen der Sitzung auf derTagung im vergangenen Jahr in Budapest werdenper E-Mail über weitere Einzelheiten rechtzeitigdurch den Sprecher informiert.Der Sprecher wies danach auf allgemeine Lernzie-le hin, die mit standardisierten Tests nicht erfasstwerden können, aber gerade oft die allgemeinbil-dende Bedeutung des Mathematikunterrichts cha-rakterisieren und zum Teil auch in den Bildungs-standards gefordert werden. Außerdem zitierte ereinige Passagen aus einem Vortrag von Prof. Dr.D. Benner (HU Berlin) über die Vor- und Nachteilevon input- und outputorientierten Bildungssyste-men.Interessenten am Arbeitskreis und an der Herbst-tagung wenden sich bitte an den Sprecher un-ter [email protected] bzw. [email protected] oder per Telefon (0521-872858)oder per Post (Deciusstrasse 41, 33611 Bielefeld).

52 GDM-Mitteilungen 87 · 2009

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Arbeitskreis ,Mathematikunterrichtund -didaktik in Österreich‘Linz, 21. 11. 2008

Edith Schneider

Die Herbsttagung 2008 des AK „Mathematikun-terricht und -didaktik in Österreich“ fand am 21.November 2008 an der Pädagogischen Hochschu-le Oberösterreich in Linz statt. An der Tagungnahmen Fachdidaktiker(innen) der Universitä-ten Graz, Klagenfurt, Linz, Salzburg, Wien, derTechnischen Universität Wien sowie der Pädago-gischen Hochschulen Niederösterreich, Oberöster-reich und Vorarlberg teil. In einer Gedenkminutewurde an Koll. Karl Josef Parisot (Universität Salz-burg), der am 16. November 2008 verstorben ist,gedacht.Im Mittelpunkt des ersten Teils der Tagung stan-den traditionsgemäß Berichte aus der Arbeit vonfür die österreichische Mathematikdidaktik rele-vanten Kommissionen sowie der Austausch überaktuelle Veranstaltungen und institutionelle Ent-wicklungen (Didaktikkommission der Österreichi-schen Mathematischen Gesellschaft – ÖMG); Fach-didaktiktag im Rahmen der IMST/MNI-Tagung2008; Nachbesetzungen im Bereich Didaktik derMathematik – Stand an den verschiedenen ös-terreichischen Universitäten und PHs). Darüberhinaus gab es Berichte zum Stand der Umstellungder Lehrer(innen)ausbildung auf Bologna-Strukturan den verschiedenen Universitäten (der größereTeil des Unis nimmt diesbezüglich eine abwarten-de Position ein; an der Uni Wien wird an inhalt-lichen Konzepten für die Umstellung des Lehr-amtsstudiums auf Bologna-Struktur gearbeitet),zu Aktivitäten in der Lehrer(innen)fortbildungsowie bestehenden Kooperationen zwischen Uni-versitäten und den 2007 neu eingerichteten Päd-agogischen Hochschulen.Im zweiten, längeren Teil der Tagung wurden ak-tuelle, die österreichische Mathematikdidaktik(mit)betreffende Entwicklungen und Themen vor-gestellt bzw. diskutiert:

Fachdidaktische Datenbanken

Vom Institut für Didaktik der Mathematik an derUniversität Klagenfurt wurden zwei fachdidakti-

sche Datenbanken eingerichtet und aufgebaut:1. Datenbank „Dissertationen und Diplomarbei-

ten aus Didaktik der Mathematik“ (http://www.uni-klu.ac.at/iff-idm/dissdiplom-db/).Die Datenbank beinhaltet Dissertationen undDiplomarbeiten mit einem mathematikdidak-tischen Schwerpunkt, die an österreichischenUniversitäten verfasst wurden. Diplomarbeitensind dabei ab dem Jahr 2000, Dissertationenohne zeitliche Einschränkung erfasst.

2. Datenbank „Technologieeinsatz im Mathema-tikunterricht“ (http://www.uni-klu.ac.at/iff-idm/technologie-db/)Die Datenbank beinhaltet theorieorientierteArbeiten, empirische Studien und empirieba-sierte Arbeiten, Unterrichtskonzeptionen undevaluierte Unterrichtsvorschläge sowie Disserta-tionen und Diplomarbeiten aus Österreich, diesich mit dem Thema des Technologieeinsatzesim Mathematikunterricht mit fachdidaktischemFokus auseinandersetzen. In jeder dieser Kate-gorien wird weiters zwischen allgemeinen undauf spezielle Technologien bezogenen Ausfüh-rungen (Computeralgebrasysteme, DynamischeGeometrie Software, Tabellenkalkulation, Geo-Gebra, Grafikfähige Taschenrechner, elektro-nische Lernumgebungen/E-Learning) differen-ziert.

Beide Datenbanken werden kontinuierlich er-weitert und aktualisiert. Wer Arbeiten hat bzw.kennt, die in einen der o. g. Bereiche fallen, istherzlich eingeladen, die entsprechenden Da-ten (mittels Raster auf der Homepage) an [email protected] zu schicken.

1 Regionale Zentren

Durch das Projekt IMST wird die Einrichtungvon regionalen Zentren mit einem spezifischenfachdidaktischen Schwerpunkt in den Bundes-ländern unterstützt. Voraussetzung hierfür istdie Kooperationen zwischen verschiedenen Bil-dungsinstitutionen und insbesondere auch mit

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Lehrer(innen)bildungseinrichtungen. Im Rahmender Herbsttagung wurden vorgestellt:Regionales Fachdidaktikzentrum für Mathema-tik und Informatik der PH Niederösterreich undAustrian GeoGebra Institute (http://rfdz.ph-noe.ac.at): Der Schwerpunkt des Zentrums liegt auf demEinsatz von Technologien im Unterricht, wobeibesonderes Augenmerk auf die Entwicklung vonLernpfaden einerseits und die Software GeoGebra(Österr. GeoGebra Zentrum) andrerseits sowie aufLehrer(innen)fortbildung in diesem Bereich gelegtwird.Regionales Fachdidaktikzentrum für Mathematikin Wien (http://www.rfdzmathematik.univie.ac.at): Schwerpunkte des Zentrums sind die Durch-führung von fachlichen und fachdidaktischenFortbildungsveranstaltungen für Mathematikleh-rer(innen) aller Schulstufen sowie eines Begabten-förderungskurses („Mathe Fans an die Uni!“)Berichtet wurde auch über die Einrichtung einesähnlichen Zentrums in der Steiermark: RegionalesFachdidaktikzentrum für Mathematik und Geome-trie – http://www.mug.didaktik-graz.at/.

2 Standards für den MU

Die Standards für die mathematischen Fähigkei-ten am Ende der 8. und der 4. Schulstufe wurdengesetzlich verankert, die Begutachtungsfrist fürdie entsprechende Verordnung ist am 21. 10. 2008abgelaufen. Die Deskriptoren für M8 wurden vomÖsterr. Kompetenzzentrum für Mathematikdidak-tik in Klagenfurt entwickelt und orientieren sicham „Klagenfurter M8-Modell“. 2009 und 2010 sol-len Baseline-Testungen für M8 bzw. M4 durchge-führt werden, für 2012 sind die ersten offiziellenStandards-Testungen für M8 vorgesehen, für 2013jene für M4. Mit den Testungen betraut wird ab2009 das Bundesinstitut für Bildungsforschungund innovative Entwicklungen (bifie) in Salzburg.Ob bzw. welche Maßnahmen vom bifie bzgl. derSicherstellung entsprechender fachdidaktischerQualität bei Entwicklung bzw. Abnahme von Test-items und bei Konzeption, Durchführung undEvaluation der Testung bzw. Testergebnisse ge-setzt wurden bzw. werden, ist unklar. Da dies-bezüglich von der bisher mit der Entwicklungvon Testitems beauftragten Projektgruppe wenigunternommen wurde, hat der Arbeitskreis be-schlossen, diesbezüglich beim bifie nachzufragenund ggf. entsprechende Maßnahmen einzufordern.Weitere Schritte des AK sind von der Antwort desbifie abhängig.Die Zukunft der Projektgruppe, die bisher an der

Entwicklung von M12 Standards gearbeitet hat, istunklar, da das Projekt mit März 2009 ausläuft.

3 Neue Reifeprüfung im Fach Mathematik –„Zentralmatura“

Das BM für Unterricht, Kunst und Kultur(bm:ukk) beabsichtigt die Einführung einer voll-zentralen standardisierten schriftlichen Reifeprü-fung in einigen Fächern, u. a. auch in Mathematik(geplant 2013). Das Österreichische Kompetenz-zentrum für Mathematikdidaktik in Klagenfurtwurde mit der Konzeption und Erprobung einersolchen standardbasierten (kompetenzorientierten)zentralen schriftlichen Reifeprüfung im Fach Ma-thematik betraut (Projektleiter: W. Peschek). Dabeisoll ein Konzept für Inhalte/Kompetenzen (inkl.Aufgaben), die sinnvoll standardisierbar sind (d.h. allen Maturant(inn)en zugemutet werden kön-nen/müssen, längerfristig verfügbare Fähigkeiten(=Kompetenzen) ansprechen und in einem zentra-len schriftlichen Test überprüfbar sind), entwi-ckelt werden. Die Pilotierung der Aufgaben sowieder vollzentralen schriftlichen Zentralmatura sollim Rahmen eines Schulversuchs erfolgen (BeginnSchuljahr 2009/10; zentrale schriftliche Reifeprü-fung 2011). An diesem Schulversuch sollen ca. 20Schulen bzw. Klassen österreichweit teilnehmen.Vorgesehen sind auch mehrere Treffen österrei-chischer Mathematikdidaktiker(innen) zum The-ma Zentralmatura („Expert(inn)entagungen“), indenen die entwickelten Konzepte sowie Ergebnis-se innerhalb der österreichischen Fachdidaktikdiskutiert werden sollen. Eine erste solche Ex-pert(inn)entagung fand am 21. und 22. November2008 – organisiert vom Projekt Zentralmatura –statt. Im Rahmen des Treffens wurden die erstenÜberlegungen zu einer standardisierten schrift-lichen Reifeprüfung der Projektgruppe intensivdiskutiert und Positionen sowohl zu einer vollzen-tralen schriftlichen Reifeprüfung wie auch zu denKonzeptüberlegungen ausgetauscht und geschärft.Die Vergabe des Projekts an eine fachdidaktischeInstitution und die damit verbundene Einbindungder Fachdidaktik von Beginn an in den Entwick-lungsprozess wird vom AK als Fortschritt derösterreichischen Bildungspolitik gesehen (wo-bei natürlich jedem bewusst ist, dass hier nurVorschläge entwickelt werden, die Entscheidun-gen/Festlegungen letztendlich von der Politik ge-troffen werden – und erfahrungsgemäß in ganzandere Richtungen gehen können.)

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4 Nachwuchsförderung

Diskutiert wurden zum einen Fördermöglichkei-ten von (universitären) fachdidaktischen Projektenfür Nachwuchswissenschaftler(innen). Hier könn-ten aus Sicht des AK auch Maßnahmen des IMST-Projektes ansetzen, indem neben Schulprojektenauch Unterstützungsmöglichkeiten für universi-täre fachdidaktische Projekte angeboten werden.Der AK wird dies IMST gegenüber anregen.Der zweite zentrale Punkt war eine Diskussion derKonsequenzen, die sich aus der Einführung eines(6-semestrigen) PhD-Studiums in Österreich abdem Studienjahr 2009/10 (anstelle des bisherigen

4-semestrigen Doktoratsstudiums) ergeben. Zumeinen werden dadurch berufsbegleitende Dokto-ratsstudien, wie sie in den letzten Jahren von Leh-rer(inne)n genutzt wurden, sowohl vom zeitlichenAufwand wie auch von den Qualitätsanforderun-gen nicht mehr sinnvoll machbar, zum anderentreten Passungsprobleme hinsichtlich die derzei-tigen Beschreibungen von (dzt. auf 4 Jahre befris-teten) universitären Assistent(inn)entätigkeitenauf (Assistent(inn)en würden nahezu die gesam-te Dienstzeit für Arbeit an Dissertation benöti-gen, was für die Institution nicht sinnvoll mach-bar/realisierbar ist, ohne dass Ressourcenproblemeauftreten).

Arbeitskreis ,Mathematikunterrichtund -didaktik in Österreich‘Oldenburg, 2. 3. 2009

Edith Schneider

Der Arbeitskreis „Mathematikunterricht und -didaktik in Österreich“ tagte am 2. März 2009im Rahmen der GDM-Tagung in Oldenburg. Aufder Tagesordnung standen (i) Berichte über dieAktivitäten des Arbeitskreises seit der Herbst-tagung 2008, (ii) Berichte über Aktuelles anösterreichischen Universitäten und Pädagogi-schen Hochschulen, (iii) Terminfixierung für dieHerbsttagung 2009 sowie (iv) die Wahl der AK-Sprecher(innen) für die Funktionsperiode 2009-2011. In der Sitzung waren Vertreter(inn)en derUniversitäten Graz, Klagenfurt, Linz, Salzburg,Wien sowie der Kirchlichen Pädagogischen Hoch-schule Wien anwesend.

(i) Im Zuge der Implementierung der Standardsfür die 8. Schulstufe in Österreich werden imFrühjahr 2009 (M8) Baseline-Testungen mit ca.11 000 Schüler(inne)n durchgeführt. Verantwort-lich dafür ist seit 2009 das 2008 neu eingerichteteBundesinstitut für Bildungsforschung, Innova-tion und Entwicklung (BIFIE) in Salzburg. DerAK richtete im Jänner eine Anfrage an das BIFIEdahingehend, welche qualitätssichernden Maßnah-men von ihren Seiten getroffen wurden/werden,

um die Validität der Standards-Tests M8 zu ge-währleisten (Beschluss auf der Herbsttagung2008). In einem Antwortschreiben von Seiten desBIFIE wird diesbezüglich auf geplante Gesprächemit Expert(inn)en und auf Einladungen an Ex-pert(inn)en zur Mitarbeit verwiesen. Der AK si-gnalisiert dem BIFIE Bereitschaft zur Zusammen-arbeit und ersucht dringlich um kontinuierlicheInformationen über die Entwicklungen im Bereichder Standards-Testungen, insbesondere auch umInformationen über die Ergebnisse der Baseline-Testung ehestmöglich nach Vorliegen dieser.Die Baseline-Testungen sind in der Zwischenzeitdurchgeführt. Nun gilt es abzuwarten, ob demAK die gewünschten Informationen zur Verfü-gung gestellt werden bzw. die Kooperation ge-sucht wird.Die vom AK an den IMST-Fonds herangetrage-ne Anregung, neben innovativen Schulprojektenauch ausgewählte fachdidaktische Forschungs-projekte (in Form von Stipendien) zu fördern (Be-schluss auf der Herbsttagung 2008) wurde vonden Vertreter(inne)n des IMST-Fonds positiv auf-genommen. Eine eventuelle Realisierung bezüg-lich einer solchen Initiative kann allerdings erst

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nach konkreten Budgetzuweisungen diskutiertwerden.Die Diskussion über eine notwendige Reformder Lehrer(innen)ausbildung in Österreichhat zur Einrichtung einer gemeinsamen Ex-pert(inn)enkommission des Bundesministeriumsfür Unterricht, Kunst und Kultur (zuständig fürdie Pädagogischen Hochschulen) und des Bun-desministeriums für Wissenschaft und Forschung(zuständig für die Universitäten) geführt. In die-ser Expert(inn)enkommission sind keine Vertre-ter(innen) der Fachdidaktiken zu finden. Der AKhat auf diese inakzeptable Nichtberücksichtigunghingewiesen und nachdrücklich um eine entspre-chende Erweiterung der Kommission gebeten. Esüberrascht wohl wenig, dass diesem Wunsch bis-lang nicht entsprochen wurde.

(ii) Hier seien insbesondere zahlreiche Veran-staltungen von den einzelnen Universitäten inder Lehrer(innen)fortbildung genannt (ÖMG-

Lehrer(innen)tag, Tag der Mathematik; Leh-rer(innen)tag für Sek I und VS; Tag der Geome-trie; Standardbasierte schriftliche Reifeprüfung;usw.)Im Rahmen der Jahrestagung der ÖsterreichischenMathematischen Gesellschaft (ÖMG) vom 20.–25.September 2009 in Graz wird es neben einen Leh-rer(innen)tag auch eine Sektion Didaktik der Mathe-matik und Popularisierung der Mathematik geben mitden Schwerpunkten: Übergangsproblematik Schu-le – Universität und Bild der Mathematik in derÖffentlichkeit. Sektionsvorträge sind erwünscht!

(iii) Als Termin für die Herbsttagung 2009 wurdeder 13. November 2009 (ganztägig) festgelegt. DieTagung findet an der Universität Salzburg statt.

(iv) Die bisherigen Sprecher(innen) des AK, EdithSchneider (1. Sprecherin, Universität Klagenfurt)und Stephan Götz (2. Sprecher, Universität Wien)wurden wiedergewählt.

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Kontakte nach Moskau undEriwan, Armenien

Alexander Wynands

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,seit vielen Jahren pflegen Prof. Dr. Paul Bungartzund ich als Fachdidaktiker der Mathematik zu-sammen mit dem Kollegen Prof. Dr. Ingert vonMartial von der Philosophischen Fakultät an derUniversität Bonn gute Kontakte zu Fachkollegin-nen und Kollegen an der Staatlichen Pädagogi-schen Universität der Stadt Moskau und der Staat-lichen Armenischen Pädagogischen Universität inEriwan. Bei mehreren Besuchen in Moskau undeinem Gastaufenthalt in Eriwan konnten wir sehrinteressierte und kompetente russische und arme-nische Kolleginnen und Kollegen kennen lernenund ihre Arbeitsgebiete und nationale Besonder-heiten vor Ort diskutieren. Wir hatten Gelegen-heit, Vorträge vor Mitgliedern der Universitäten,auf Kongressen und Gastvorlesungen vor Stu-

dierenden zu halten. Die uns entgegengebrachteGastfreundschaft war sehr groß.Den Kontakt nach Moskau und Eriwan könnenwir persönlich in der gewünschten Art und imvertretbaren Umfang nach unserer Entpflichtungaus dem aktiven Universitätsdienst nicht weiter-führen. Bitten möchten wir alle Kolleginnen undKollegen, die sich für persönliche Kontakte, fürKooperationen von Fach zu Fach oder zwischenFakultäten der genannten Universitäten interes-sieren, mit Herrn Bungartz, Herrn von Martialoder mit mir Kontakt aufzunehmen. Unser derzeitwichtigster Gesprächspartner ist Herr Prof. Dr.Sergey Atanasyan von der Staatlichen Pädagogi-schen Universität der Stadt Moskau. Herr Atana-syan ist Mitglied unserer GDM und besucht seitvielen Jahren regelmäßig unsere Bundestagungen.

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Ein Kommentar zur „Mathematik +Sport“-Rezension von Jürgen MaaßGDM-Mitteilungen Nr. 86 vom Januar 2009

Michael Kleine

Schaut man in den einschlägigen Werken nach,was eine Rezension ist, dann wird diese über-einstimmend im Brockhaus, Duden oder MeyersLexikon als kritische Besprechung künstlerischerWerke definiert, die u. a. auch Bücher betreffen.Auch wenn sich historisch gesehen der kritischeTeil einer Besprechung anscheinend erst im Lau-fe der Zeit herausgebildet hat, so ist gerade dieInformation über die wesentlichen Inhalte einesWerks eine Aufgabe des Rezensenten. Dabei gibtes eine große Freiheit in der Darstellung von Re-zensionen bis hin zum Verriss, der klassischenForm einer verurteilenden Rezension und im jour-nalistischen Bereich durchaus üblich. Da bleibtfür mich die Frage, was ist eigentlich die Aufga-be einer Rezension in unserer Fachdisziplin. Esist sicherlich eine Gradwanderung zwischen einerobjektiven Distanz, mit der jemand einen drittenLeser über die Inhalte eines Werks informierenmöchte und der eigenen Kommentierung dessel-bigen. Doch gerade hier leidet die Rezension desBuches Mathematik + Sport (Autor: Matthias Lud-wig) durch Herrn Maaß aus meiner Sicht erheb-lich. Der Hinweis auf Hardcover und Hochglanz-druck ist sicherlich sehr wertvoll zur Abschätzungdes Abnutzungseffekts bei Dauernutzung, ansons-ten beschränkt sich die inhaltliche Informationweitgehend auf die Aufzählung der Sportarten ausdem Inhaltsverzeichnis. Diese Angabe kann ichjedoch einem Buch direkt entnehmen und ich be-nötige dafür keine Rezension, die sich auch nichttiefergehend mit den Kapiteln inhaltlich auseinan-dersetzt.Betrachten wir das populärwissenschaftlichenWerk Mathematik + Sport von Matthias Ludwigdoch noch einmal genauer. Das Buch erhebt nichtden Anspruch, Einblicke in mathematische Be-trachtungen einzelner Sportdisziplinen in einererschöpfenden fachwissenschaftlichen Aufberei-tung einem begrenzten Fachpublikum darzule-gen. Vielmehr sollen einer breiten Öffentlichkeitmathematische Aspekte, die in den alltäglichenDingen des Sports stecken, näher gebracht wer-

den, die bei der Leserschaft mit einem mathema-tischen Grundinteresse sogenannte Aha-Erlebnissefördert. Der Schullehrer in mir hat darüber hin-aus an zahlreichen Stellen Anregungen bekom-men, wie ich diese Aspekte im Sinne eines an-wendungsorientierten Unterrichts in denselbigenintegrieren kann, ohne dass meine Erwartungenbei der Lektüre dieses Buches darauf ausgerich-tet waren didaktische Ausarbeitungen zu diesemThema zu finden. Dazu gibt es schon eine Flutvon Materialien, die diese Umsetzungen zum In-halt haben.Die Kommentierungen und Einordnungen vonHerrn Maaß haben mich dagegen noch mehr be-fremdet. Ich konnte mich des Eindruck nicht er-wehren, dass der Rezensent die dargebotene Platt-form dazu verwendet um auf eigene Arbeiten indiesem Bereich hinzuweisen, die er angeblich ver-misst. Eine Rezension zur Selbstdarstellung zunutzen empfinde ich als ungeeignete Plattform,insbesondere wenn ich auf Nachfrage von HerrnMaaß erfahre, dass es sich bei der angesproche-nen Literaturstelle um einen Beitrag in einem Ta-gungsband zur ALM 6 aus dem Jahre 1999 han-delt, in dem die Arbeiten aus einem Workshopkurz skizziert werden. An dieser Stelle werde ichdann schon ärgerlich, denn zu einer handfestenStandardliteratur gehören für mich solche Dar-stellungen zur Workshoparbeiten sicherlich nicht,denn sie sind vermutlich auf das teilnehmendePublikum begrenzt. Ansonsten kann ich ja auchdas Programmheft oder Ankündigungen einerTagung schon für zitierfähig erklären. Ich gehedavon aus, dass eine Literatur, die von einem Kol-legen derart exponiert dargestellt wird, auch fürein breiteres (Fach-) Publikum aufbereitet ist undentsprechend publiziert wurde. Ansonsten verzet-teln wir uns ja zukünftig noch mehr in Material-schlachten, die bisher schon auf uns einprasseln.Sicherlich habe ich die Rezension besonders auf-merksam gelesen, da ich (a) das Buch selber mitFreude gelesen habe und auf die inhaltliche Be-schreibung gespannt war; (b) außerdem arbei-

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tet der Autor Matthias Ludwig mit mir am sel-ben Standort, so dass ich den Ausführungen vonHerrn Maaß sicherlich eine erhöhte Aufmerksam-keit zukommen ließ. Die Wertschätzung meinemKollegen gegenüber ist sicherlich eine entschei-dende Motivation für die Erstellung meines Kom-mentars, über den ich mich mit dem Kollegen

Ludwig auch im Vorfeld intensiv ausgetauschthabe. Als Grundtenor bleibt für mich aber un-abhängig davon bestehen, dass ich mir bei einerRezension eine starke Auseinandersetzung undkritische Würdigung auf der inhaltlichen Ebenewünsche.

Erratum

In Heft 85 GDM-Mitteilungen ist auf Seite 65 irrtümlich Jürgen Maaß als Rezensent des Buches ,Unterrichts-und Medienkonzepte‘ (Istron Bd. 11) von Gilbert/Maaß (Hg.) genannt worden. Tatsächlich hat Prof. Dr. S.Götz aus Wien diese Rezension geschrieben. Die Redaktion bittet um Entschuldigung für dieses Verse-hen.

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H. Schumann:

Schulgeometrie im virtuellenHandlungsraum

Rezensiert von H. Schupp

Es ist leider schon Tradition, dass die Raumgeo-metrie im Verlaufe des geometrischen Lehrgangsinnerhalb der Sek I mehr und mehr vernachlässigtwird, obwohl das räumliche Vorstellen und Den-ken gerade dort gefördert werden kann. Auch dieBildungsstandards machen da keine Ausnahme.Sie nennen zwar „Raum und Form“ als Leitidee;soweit sie darunter aber anspruchsvolle geome-trische Tätigkeiten nennen, ziehen sie sich wiederauf die Ebene zurück.Das Medium DGS (Dynamische Geometriesoftwa-re) hat – aller seiner Vorzüge ungeachtet – dieseTendenz leider noch verstärkt. Die Darstellungräumlicher Phänomene mit ebenenorientierterSoftware ist zwar nicht unmöglich, doch auchbei Grundkenntnissen in Darstellender Geometrieeingeschränkt und schwierig, weshalb sie in derSchulpraxis zurücktritt.Es hat recht lange gedauert, bis man Ansätze zudreidimensional ausgerichteter Software entwi-ckelt hat. Das ist nicht verwunderlich, sind dochdie Schwierigkeiten beim sinnvollen Arbeiten aufdem nach wie vor zweidimensionalen Monitordurchaus grundsätzlicher Art. (Man denke nur andie synthetische Eingabe von Raumpunkten.)Mit Cabri 3D bietet nun die französische For-schergruppe, welche schon beim Erstellen vonDGS-Programmen maßgeblich gewesen ist, eineweit fortgeschrittene Software zur interaktivenRaumgeometrie (DRGS) an. Heinz Schumann hatsie (einschließlich Handbuch) ins Deutsche über-tragen. Vor allem aber hat er, so der Untertitel,ein zusätzliches „Lehr- und Lernbuch der interak-tiven Raumgeometrie mit Cabri 3D“ geschrieben,in dem er ausführlich darlegt, wie sich die Arbeitmit dieser Software gestalten lässt und welchenZwecken sie dienen kann. Ihm liegt eine CD bei,welche eine Demo-Version von Cabri 3D 2.0, daszugehörige Handbuch sowie eine pdf-Version desBuches (diese mit farbigen Bildern) umfasst.Das Buch besteht aus einer Einführung und einervergleichweise umfangreichen Folge ausgewählterThemen.

In der Einführung werden zunächst die Eigen-schaften des virtuellen Handlungsraums sowiedessen Bedeutung für den Geometrieunterrichtuntersucht. Schon hier zeigt sich die Vertraut-heit des Autors mit Geschichte und Praxis diesesUnterrichts sowie insbesondere mit seiner Wei-terentwicklung unter Benutzung neuerer Medien.Er ist Praktiker genug, die von ihm aufgezeigten(und späterhin detaillierten) Realisierungsmög-lichkeiten der DRGS in den Klassen 5–12 als einMaximum zu bezeichnen, welches im Unterrichterhebliche Abstriche erfahren wird, aber sinn-volle Einstiege und Trends ausweist. Auf zukünf-tige Weiterentwicklungen solcher Software undauf didaktisch-methodische Forschungsdesiderataweist er hin.Sodann führt er in das Arbeiten mit den Werk-zeugen von Cabri 3D ein. Diese sind so zahlreich(immerhin gibt es zehn Boxen mit durchschnitt-lich sechs Erzeugungs- bzw. Berechnungstypen),vielfältig kombinierbar und in allen wichtigenPerspektiven anwendbar, dass den Lesern drin-gend geraten wird, die Software selbst und auchdas Handbuch parallel zu benutzen. Neben denvom Autor mitgelieferten instruktiven Beispielensollten sie möglichst bald auch eigene Versuchezum räumlichen Konstruieren, insbesondere zurDarstellung von Körpern und zum Umgang mitihnen starten. Auch wer Erfahrungen mit DGS hatund kein geometrischer Laie mehr ist, wird sichanfänglich schwer tun, aber an seinen Fehlernlernen und bald erkennen, wie variabel und tief-gründig man vorgehen kann. Erfahrungsgemäßversteht man eigene Konstruktionen besser alsvorgelegte (im Buch notwendigerweise statische)Bilder, zumal diese zuweilen viele verwirrendeHilfslinien aufweisen. Insofern ist es schade, dassman (noch) keine Makros (Beispiel: Kugel durchvier nichtplanare Punkte) anfertigen kann.Der dritte Abschnitt gilt dem dynamischen Vi-sualisieren und Variieren, wobei sich die Vor-züge des neuen Mediums deutlich herausheben(und systembedingte Einschränkungen keineswegs

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Abbildung 1

verschwiegen werden). Das gilt insbesondere fürraumgeometrische Konstruktionsaufgaben (u. a.mit räumlichen Abbildungen, Beispiel: stereogra-phische Projektion, s. Abb. 1) und Satzzugänge,aber auch für Modellierungen von Weltsituatio-nen. Die ästhetische Wirkung aller dieser Maß-nahmen ist hochmotivierend (schon in der stati-schen Buchdarstellung).Eine direkte Hilfe für den Unterricht bietet dieim vierten Teil gegebene Anleitung zur Erstellungvon interaktiven Lernumgebungen für die Raum-geometrie.Diese umfassen nicht nur Arbeitsblätter, sondernauch Hinweise auf Demo-Dateien, Online-Scriptsund Videos. Besonderer Wert wird auf die Ver-netzung klassischer und computergraphischerAktivitäten gelegt, ein wichtiger Aspekt, der imweiteren Verlauf leider etwas zurücktritt.Der zweite und weitaus größere Teil des Buchesbringt nicht weniger als 16 ausgewählte Themen,in denen die Grundgedanken des Einführungsteilsinhalts- und methodenspezifisch weitergeführtwerden. (Einige von ihnen sind zuvor separat pu-bliziert worden.) Allerdings halte ich sie nicht allefür gleich bedeutsam.Der Vorrat an einfachen ebenen Sätzen, die manraumgeometrisch beweisen kann (Thema 2), istrecht klein. Wichtiger scheint mir der inverseProzess des Lösens raumgeometrischer Problemedurch Konzentration auf geeignete Schnittebenen.Die exemplarische Formenkunde (Thema 7) steht(wie jede . . . kunde) in der Gefahr, auf tieferrei-chende Einsichten zu verzichten, d. h. hier sichmit Konstruieren und Betrachten (freilich reizvol-ler Konfigurationen) zufrieden zu geben.Das experimentelle Lösen raumgeometrischer Be-rechnungsaufgaben (Thema 14) könnte manche

Lehrenden dazu verführen, die ohnehin übertrie-bene arithmetische Geometrie weiter auszudehnenund zu mechanisieren.Das Lösen analytisch-geometrischer Raumaufga-ben mittels interaktivem Konstruieren und Mes-sen (Thema 16) geht eigentlich am Ziel der Analy-tischen Geometrie (als einer Fortsetzung der syn-thetischen Geometrie mit anderen Mitteln) vor-bei. Der Autor sieht es als Möglichkeit zwischensynthetischen und analytischen Bemühungen an.Haupteinsatzgebiet der Software ist aber wohl dieobere Sek I, zumal ganz bewusst das Visualisierenvon Koordinatengleichungen völlig unterblieben,das analytische Charakterisieren von geometri-schen Gebilden stark eingeschränkt worden ist.Andere Themen sind zwar einladend, doch soweit vom heutigen Curriculum entfernt, dass kei-ne Chance besteht, sie zeitlich angemessen zuunterrichten. Dazu zähle ich die Darstellende Geo-metrie „auf andere Art“ (Themen 3, 4, 5), Raum-füllungen (Thema 9) sowie Polyederkonstruktio-nen, -approximationen und -durchdringungen(Themen 10, 11, 12).Diese kritischen Bemerkungen beziehen sich nichtauf die jeweilige Präsentationsqualität. Wie dieanderen Teile des mehr als 500 Seiten umfassen-den Buches zeichnen auch sie sich durch präzi-sen, aber gut verständlichen Text, klärende Dia-gramme und attraktive Zeichnungen aus. Wievirtuos der Autor mit seiner Software umgehenund diesen Umgang treffend schildern kann, zeigtsich spätestens dann, wenn man versucht, einesolche Zeichnung selbst anzufertigen und an ihrzu arbeiten. Auch möchte ich nicht ausschließen,dass es sinnvoll sein kann, geeignete Einzelpro-bleme aus diesen Teilkapiteln in den Unterrichtaufzunehmen oder eine Arbeitsgemeinschaft mit

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Abbildung 2

einem Themenfeld zu befassen. Schließlich mages sein, dass andere Leser zu teilweise anderendidaktischen Wertungen kommen.Thema 1 setzt das Analogisieren von ebenen Ei-genschaften (der dortigen Grundgebilde und -konstruktionen, der Lagebeziehungen, Dreiecks-sätze, Abbildungen u. v. a.) hin zu ihren räumli-chen Entsprechungen fort. Zurecht wird dies alsein natürlicher Weg in die Raumgeometrie ange-sehen (der in gewisser Weise das übliche räum-liche Vorspiel in der geometrischen Propädeutikumkehrt und insgesamt Ernst macht mit der seitKleins und Lietzmanns Zeiten geforderten Fusi-on ebener und räumlicher Argumentationen). DieBeispiele sind so geschickt gewählt, dass einer-seits das heuristische Potential des Analogisierenshervortritt, andererseits aber auch dessen Grenzen(etwa bei den Tetraederhöhen, die keinen gemein-samen Punkt haben müssen) aufgezeigt werden.Mir scheint, dass ein solches Parallelführen imgegenwärtigen Curriculum die einzige Möglich-keit ist, ansprechende Raumgeometrie zu treiben.Natürlich darf die Behandlung der Kegelschnit-te als Schnitte am Kegel nicht fehlen (Thema 6).Zwar gibt es hierzu auch „begreifbare“ Körpermo-delle, die insbesondere die Ortslinieneigenschaf-

ten (über die Dandelin-Kugeln) dieser Schnitteverstehen lassen, doch ist ihnen die computer-graphische Darstellung durch die hier gegebenenDarstellungs- und Variationsmöglichkeiten überle-gen, indem sie die Schnittmetamorphosen erlebenlässt. Bei der anschließenden Verebnung (zentral-projektive Kreisbilder) geht man dann allerdingsbesser zu einer DGS über (Schumann wählt Ca-bri II Plus). Selbstverständlich bieten sich nachanalytischer Einkleidung auch CAS-Versionen an.Insgesamt sind Kegelschnitte – neben ihren vie-len weiteren Vorzügen – auch ein ausgezeichnetesFeld für multimediales Vorgehen.Einerseits werden die Platonischen Körper (Thema8) vom Programm direkt angeboten (wie stets alsKörper-, Flächen- oder Kantenmodelle), anderer-seits werden (als Zugang in Bildern, d. h. mit ei-nem Minimum an Text) zahlreiche Konstruktions-möglichkeiten (mit Kugelzirkel und Planeal (ana-log zum Lineal), durch Anlage und Auffaltungvon Netzen, vom Würfel her u. a.) angeboten, dieEinsichten liefern in ihre Gemeinsamkeiten undUnterschiede. Eckenabstumpfen kann zu Archi-medischen Körpern führen (s. Abb. 2), Sternenoder Durchdringen zu regelmäßigen konkavenGebilden (s. Abb. 3). Es wäre zu wünschen, dass

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Abbildung 3 Abbildung 4

dieses traditionsreiche Thema durch das neue Me-dium wieder an Bedeutung gewinnt.Indem Thema 13 auf das Modellieren und Ent-werfen von Raumobjekten in unserer Umwelteingeht, nimmt es sich des Anliegens der ehe-mals volksschultypischen „Raumlehre“ in neuerForm an. Auf die Analyse eines gewählten (sta-tischen oder dynamischen) Objekts folgt seine(Re)Konstruktion im virtuellen Raum und schließ-lich der validierende Vergleich des Konstrukts mitder Vorlage. Unter den zahlreichen durchgeführ-ten Beispielen wird man sich aus Zeitgründen aufwenige beschränken müssen. Meine Wahl wäre:Wendeltreppe, Katzenauge, Umlaufsystem Sonne-Erde-Mond, Basketball-Wurf (s. Abb. 4).Die o. a. Bedenken gegen allzu viele geometrischeBerechnungen gelten wohl nicht für das experi-mentelle Lösen von raumgeometrischen Extrem-wertaufgaben (Thema 15). Hier kombinieren sichdas fast mühelose Variieren maßkonkurrierenderObjekte und das schnelle Berechnen von Volu-mina, Flächeninhalten und Gesamtkantenlängen.Derart wird die fundamentale Idee Optimierennun endlich auch, nachdem sie in der Planime-trie der Sek I langsam Fuß fasst, auf die dortigeStereometrie bezogen, und zwar mit bemerkens-werten, weil ästhetisch befriedigenden und inner-lich zusammenhängenden Resultaten. Man hättehinzufügen (und an einem Beispiel demonstrie-

ren können), dass nicht wenige der gefundenenResultate sich schon mit elementaren, d. h. vorin-finitesimalen Mitteln exaktifizieren lassen.Insgesamt ein bemerkenswertes, Pionierarbeitleistendes Buch, welches geradezu einlädt, in ihmzu schmökern und aus dem überreichen Ange-bot das eine oder andere auszuprobieren, für sichund/oder für den Unterricht. Selbstverständlichwird zu überlegen sein, wie man dort das neueMedium in die ohnehin schon reiche und neuer-dings noch erweiterte Medienlandschaft der Geo-metrie integriert und für die Leitziele des Geo-metrieunterrichts dienstbar macht. Weiterhin istgenügend Zeit und sind einfache Aufgaben einzu-planen für das Vertrautwerden mit der Software.Dann aber ist eine Bereicherung der Schulgeome-trie, eine Vertiefung des Arbeitens „mit Formenim Raum“ unverkennbar, auch wenn man nureinen kleinen Teil des Angebots aufnimmt. Ichwünsche dem Werk weite Verbreitung und Nut-zung. Wegen seiner didaktisch-methodischen Ver-ankerung und seiner umfassenden Orientierungwird es auch dann hilfreich sein, wenn man (aufdem Markt befindliche oder zukünftige) konkur-rierende DRGS-Produkte benutzt.

H. Schumann: Schulgeometrie im virtuellen HandlungsraumHildesheim und Berlin: Franzbecker 2007

Diese Rezension ist bereits am 15. 9. 2008 (!) bei der Redaktion eingegangen. Durch einen bedauerlichen Fehler ist sie nicht – wie ge-plant – im letzten Heft erschienen. Wir bitten um Entschuldigung.

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Torsten Linnemann et al.:

Vektoren: Raumvorstellung –Kalkül – Anwendung

Rezensiert von Wolfgang Kroll

Bei diesem Buch handelt es sich um eine Aufga-bensammlung, mit der die DeutschschweizerischeUnterrichtskommission als Herausgeber nach ih-ren eigenen Worten neueren Entwicklungen Rech-nung tragen möchte. Dementsprechend wird dasSchwergewicht auf die Anwendungen der Vek-torrechnung in den verschiedensten Zusammen-hängen gelegt. Dabei bildet aber die Geometrienach wie vor den Hauptanteil. Darüber hinausenthält das Buch Aufgaben zur Anwendung vekto-rieller Größen in den Naturwissenschaften, insbe-sondere der Physik, in den Sozialwissenschaften,und in der Astronomie. So bietet sich ein viel-fältiges Bild, das Lehrer durchaus dazu anregenkann, den üblichen Schulkanon zu unterbrechenund ihren Unterricht durch die eine oder andereAufgabe zu bereichern. Die Aufgaben sind dabeimeist einfach genug, um den Schülern sogar einselbständiges Arbeiten mit dem Buch zu ermög-lichen. Die beigegebenen Lösungen unterstützendiesen Gebrauch. Insbesondere werden im We-sentlichen nur numerische Rechnungen, die stetsim vorgegebenen Kontext bleiben, verlangt. Vek-torraumtheorie kommt nicht vor, wenn man vonden „Linearkombinationen“ absieht, die ebensowie die Unterbegriffe „kollinear“ und „kompla-nar“ außerdem nur zeichnerisch zu bearbeitensind.Das Buch ist in Kapitel gegliedert, die (weitge-hend) unabhängig von einander bearbeitet werdenkönnen. Die Überschriften lauten: Annäherun-gen (Schachbrett, Parkettierungen), Vektoren alsPfeile, Vektoren in Komponentendarstellung, Ska-larprodukt, Vektorprodukt, Geraden und Kurven,Ebenen, Kugeln. Die Lösungen sind sehr knappgehalten und beschränken sich im Allgemeinenauf die Angabe der (Zahlen-)Ergebnisse. Wenn

Zeichnungen verlangt werden oder Konstruktio-nen, fehlen sie ganz. Selbst wenn es in der Aufga-be heißt: „Argumentiere: Liegt der Punkt auf derStrecke?“ muss sich der Leser mit der Antwort„nein“ begnügen. Bei der Aufforderung „Zeige“verzichtet der Lösungsteil sogar auf jeden Hin-weis, wie man es zeigen könnte. Der Nutzen desBuches wird dadurch jedoch kaum beeinträchtigt,zumal es sich nur um wenige Fälle handelt.Mehr Kritik muss an gewissen Formulierungengeübt werden. So ist in Aufgabe 2.18 unklar, wel-che Eigenschaften mit dem Begriff „Schnittfigur“verbunden werden sollen, und die zugehörigeAufgabenstellung macht diese auch nicht klarer.Außerdem enthält sie einen Fehler, da die in Redestehenden Vektoren aus Fig. 2.16b nicht kompla-nar sind. In 2.27 werden Kochsalze „würfelförmig“genannt, und in den Aufgaben 3.26, 3.27 bzw. denzugehörigen Lösungen wird nicht beachtet, dassverschieden bezeichnete Vektoren sich auch aufidentische Strecken beziehen könnten. (Eine ähn-liche Unklarheit weisen die Aufgabe 5.6 und 5.7auf.) In Aufgabe 5.10a wandert man „parallel zumBoden“ eines Dreiecks; in Aufgabe 5.12a sind fünfPunkte zu finden, die Eckpunkte eines konve-xen Fünfecks „in allgemeiner Lage“ sein sollen;in Aufgabe 6.24a soll „abgeschätzt“ werden, wel-che Höhe eines im Raum situierten Dreiecks ABCdie längste ist (!). Der Nutzen des Buches wirdaber durch diese Mängel, zumal sie nur wenigeAufgaben betreffen, nicht in Frage gestellt.

Torsten Linnemann, Andreas Nüesch, Christian Rüede, Hans-jürg Stocker: Vektoren: Raumvorstellung – Kalkül – Anwendung.Aufgaben und Lösungen. Mathematisches Unterrichtswerk derDeutschschweizerischen Unterrichtskommission (Hrsg.). OrellFüssli Verlag AG, Zürich 2009, ISBN 978-3 280-04058-4, 127 S.

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W. Kroll:

Räumliche Kurven und Flächen inphänomenologischer Behandlung

Rezensiert von Joachim Jäger

1 Zum Hintergrund

Der Geometrieunterricht in der SII zeigt immernoch ein stark reduziertes Bild seines Unterrichts-gegenstandes. In der SI dominieren Fragestellun-gen der ebenen synthetischen Geometrie; in derSII reduziert sich Geometrie im wesentlichen aufzwei Themenkreise: einerseits Kurven als Graphenvon reellwertigen Funktionen in einer Variablen,behandelt mit Mitteln der Analysis, andererseitsGeraden und Ebenen als Objekte der Linearen Al-gebra. Dabei steht zudem selten der geometri-sche Kern dieser Objekte im Vordergrund, eherdie kalkülhafte Durchführung von Algorithmender Analysis bzw. der Linearen Algebra zur Lö-sung von Standardproblemen wie z. B. Extrem-wertberechnungen und Abstandsberechnungen.Kurven und Flächen im Raum sind bei keinemdieser beiden Themenkreise Gegenstand des Un-terrichts. Nur wenige Lehrpläne weisen auf Raum-kurven als fakultative Themen des Unterrichtshin. Unterrichtswerke folgen den Lehrplänen undbieten daher auch wenig Alternativen. Auch beiden Bildungsstandards bleibt das Bekenntnis zurLeitidee „Raum und Form“ eher ein Lippenbe-kenntnis. Und schließlich wird auch in der fach-didaktischen Forschung, den Publikationen nachzu schließen, der Untersuchung und Entwicklungvon Raumgeometrie-Unterricht wenig Aufmerk-samkeit gewidmet.Die wohl einzige echte Modernisierung der letz-ten Jahre ging von dynamischer Geometrie-software (DGS) aus; die gängigen Produkte, dieauch didaktisch erkundet und aufbereitet sind,beschränken sich im wesentlichen auf ebeneGeometrie. Erst mit der Erprobung von 3D-Programmen wie Cabri3D wird hier Abhilfe ge-schaffen. Konstruktionssoftware ist aber in derRegel zur umfassenden Erkundung von Kurvenund Flächen weniger geeignet, da hierzu die De-finition von Kurven und Flächen über impliziteDarstellungen und Parameterfunktionen nötig ist.So bieten sich gegenwärtig nur Computeralgebra-

systeme (CAS) als computergestützte Medien füreinen Unterricht in Raumgeometrie an.Die Frage nach den Ursachen für die offenbarungenügend Berücksichtigung von raumgeo-metrischen Fragestellungen im Mathematikun-terricht besitzt vermutlich eine mehrschichtigeAntwort. Dass ein solcher Unterricht einfachschon aus technischen Gründen (Erstellung vonZeichnungen, Wechsel der Ansicht) schwierigerist, ist sicher ein Grund, der mit dem Einsatz vonDGS bzw. CAS erfolgreich beseitigt werden kann.Ein weiterer Grund mag in der traditionellen Ver-nachlässigung der Geometrie im universitärenStudium und der daraus folgenden mangelndengeometrischen Fachkompetenz vieler Mathema-tiklehrer liegen. Lineare Algebra ist eben keineRaumgeometrie und Differentialgeometrie undmehr noch algebraische Geometrie setzen mit ei-nem Abstraktionsniveau ein, welches die geome-trischen Hintergründe oft verdeckt.

2 Das Konzept

Vor diesem Hintergrund kann man das Buch vonWolfgang Kroll als ein Plädoyer für einen, wie ersagt, innovativen und substanzreichen Unterrichtin Raumgeometrie verstehen. Eine solche Geome-trie hat in Kroll einen sehr erfahrenen und kom-petenten Mathematikdidaktiker als Fürsprecher.Um keine Missverständnisse zu erzeugen, grenztKroll das Werk gegen einen Kurs über Differen-tialgeometrie ab. Während man dort Kurven undFlächen weitgehend von einander isoliert betrach-tet und möglichst rasch zu Kernaussagen wie derCharakterisierung einer Kurve durch eine Para-metrisierung mit der Bogenlänge, mit Krümmungbzw. im räumlichen Fall zusätzlich Torsion vor-stößt, endet Krolls Behandlung, soweit sie dieSystematik der Differentialgeometrie betrifft, andieser Stelle. Das Ziel ist nicht der Aufbau einerTheorie sondern die Erkundung von räumlichenObjekten wie Kugel, Zylinder, Kegel, Torus und

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der ihnen eingelagerten Kurven in ihren wech-selseitigen Beziehungen. Dazu zählen dann aberauch Themen, die in der Differentialgeometrienicht behandelt werden, wie z. B. Flächen – undVolumenberechnungen. Entsprechend dem An-spruch, phänomenologisch vorzugehen, steht dieAnalyse der Erscheinungen solcher Schnitte imVordergrund. Diese Analyse selbst ist allerdingssehr wohl systematisch: Kurven werden z. B. un-ter dem Gesichtspunkt ihrer Entstehung und ih-rer analytischen bzw. algebraischen Darstellun-gen betrachtet. Die Viviani-Kurve, die Kroll anden Anfang stellt, erscheint so nicht nur in einerParameterdarstellung sondern auch als Schnittvon Kugel und Zylinder bzw. von Doppelkegelund Zylinder. Krummlinige Koordinatensysteme(z. B. Längen- und Breitenkreis auf der Kugel)führen dann zu geeigneten Parametrisierungen.Parameterdarstellungen lassen sich oft in implizi-te Darstellungen überführen, die dann ihrerseitswieder Flächen definieren, deren Schnitt die Aus-gangskurve ist. Linearkombinationen der definie-renden impliziten Gleichungen erzeugen immerweitere Darstellungsmöglichkeiten. Das Buch bie-tet so einen systematischen Weg zur Erkundungvon Kurven auf Flächen und deren Eigenschaften.Kroll sieht als einen wesentlichen Grund für dieVernachlässigung von Raumgeometrie in derSchule die Probleme der graphischen Darstel-lung an. In der Tat sind Flächen und Raumkur-ven nicht nur generell schwerer zu zeichnen alsebene Figuren; man erkennt das Wesentliche häu-fig erst durch einen Wechsel des Augenpunktesund benötigt daher meist mehrere Ansichten. DieLösung dieses Problems und damit eine entschei-dende neue Möglichkeit für den Geometrieunter-richt sieht Kroll im Einsatz eines CAS. Für dasBuch verwendet er MuPAD. Natürlich kann dasBuch selbst als statisches Medium nur einen ein-geschränkten Eindruck der dynamischen Möglich-keiten eines CAS vermitteln. Für die Lektüre desBuches wie für einen darauf basierenden Unter-richt ist daher die parallele Arbeit mit MuPADsinnvoll, sogar erforderlich. Der Einsatz eines CASerlaubt darüber hinaus die Bewältigung von sonstsehr aufwändigen Rechnungen (von Termumfor-mung bis hin zur numerischen Integration), dieper Hand im Unterricht überhaupt nicht odernicht in vertretbarer Zeit zu bewältigen sind. DasBuch ist daher ebenso ein Plädoyer für den Ein-satz eines CAS im Unterricht.Kroll möchte den Leser zu eigener Arbeit anregen.Dazu stellt er im Buch Übungsaufgaben und –umfangreichere – Arbeitsaufträge zur Verfügung,die eigene Erkundungen anregen sollen. Lösungen

enthält das Buch allerdings nicht. Themen, dieeher als Supplement zu betrachten sind, ergänzen– in kleinerer Schrift – den Haupttext. Schwie-rigere Themen und Aufgaben werden mit einemStern gekennzeichnet. Am Ende des Buches fin-det man zu jedem Abschnitt einen didaktischenKommentar, der neben allgemeinen didaktischenAnmerkungen Vorschläge für die Themenauswahlim Unterricht enthält. Denn die Fülle des Stof-fes, die das Buch bietet, überschreitet natürlichbei weitem die zeitlichen Möglichkeiten, die inder Schule gegeben sind. Kroll betrachtet seinBuch als ein Buch für die Schule, aber nicht alsSchulbuch. Er geht davon aus, dass alle Themengrundsätzlich in der Oberstufe des Gymnasiumsbehandelt werden können. Das ist allerdings einesehr optimistische Einschätzung.Das Register ist ausführlich. Im Literaturverzeich-nis vermisst man einige Referenzen, z. B. CoxetersIntroduction to Geometry. Das 2007 erschieneneWerk hat 297 Seiten mit 164 Abbildungen, die aufMuPAD-Notebooks (Version 3 und 4) beruhen undbesitzt das Format DIN A 4.

3 Die Inhalte

Das Buch gliedert sich in fünf Kapitel:

Kap. 1: Kurven auf der KugelKap. 2: Kurven und Flächen am ZylinderKap. 3: Flächen- und VolumenberechnungenKap. 4: Kurven und Flächen am TorusKap. 5: Weitere Kurven und FlächenAnhang mit didaktischen Anmerkungen

Kapitel 1 beschäftigt sich zunächst mit derViviani-Kurve, die über eine Parameterdarstel-lung mit Längen- und Breitenkreis als Parameter(u, v) erzeugt wird. Diese Darstellung ist beson-ders einfach, nämlich v = u. Hier treten schonUnterschiede im Vergleich zu Funktionsdarstel-lungen in der Ebene auf. Die orthogonalen Pro-jektionen auf die Koordinatenebenen liefern kar-tesische Koordinatengleichungen und betten dieViviani-Kurve in auf den Ebenen senkrechten (all-gemeinen) Zylinder ein. Die Kurve erscheint soauch als Schnitt von Zylindern. Linearkombina-tionen der bestimmenden Gleichungen liefernweitere Darstellungsmöglichkeiten.Sodann werden mit den Mitteln der Differen-tialrechnung Tangenten an die Kurve studiertund die von ihnen erzeugte Tangentenfläche be-stimmt. Allgemeine Eigenschaften werden amBeispiel studiert und formuliert, z. B. die Kon-stanz der Tangentialebene der Tangentenfläche

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längs einer Tangenten. Abstandsberechungen füh-ren zu der bekannten Formel für die Bogenlängeeiner Kurve. Anwendungen schließen sich an: Kar-tenprojektion (Mercatorkarte), Kugelkreise undoptimalen Flugrouten auf der Erde und der Zu-sammenhang zu Loxodromen. Als Supplementwerden Radlinien und andere kinematisch erzeug-bare Kurven diskutiert.Kapitel 2 beginnt mit der Schraubenlinie (Helix)am Zylinder, ihrer Parametrisierung und Abwick-lung. Damit wird eine Definition des Begriffs derKrümmung und der Torsion eingeleitet. Anschlie-ßend werden weitere Beispiele studiert (die aufeinem Zylinder aufgewickelte Parabel und die Ke-gelschraube). Der nächste Abschnitt diskutiert dieKurven, die beim Schnitt von Zylindern entste-hen, und klärt z. B. die Entstehung und Berech-nung eines Kreuzgewölbes auf. Von den weiterenBeispielen ist die Diskussion einer Sattelfläche amaufschlussreichsten. Mit Schraubflächen rückenkorkenzieherartige Flächen ins Blickfeld. In die-sem Kapitel wird mit Begriffen wir Krümmungund Torsion der theoretische Rahmen abgesteckt.Im Zentrum steht aber die Erkundung konkre-ter und hier auch praxisrelevanter Beispiele, andenen sich die Tragweite der neuen Begriffe undBetrachtungsweisen ermessen lässt.Kapitel 3 ist der Volumen- und Flächenberech-nung gewidmet, allerdings nicht in der aus derSchulmathematik bekannten Reduzierung auf ebe-ne Flächen, Mantelfläche und Volumen von Ro-tationskörpern. Den Ausgangspunkt bildet Vivia-nis „florentinisches Rätsel“, dessen – von Vivianinicht erwartete - Lösung durch Leibniz die Stärkedes neuen Kalküls der Integralrechnung demons-trierte. Es geht nun um die Berechung von Flä-chenstücken auf der Kugel, Vivianis Kugelfenster,die Fläche eines Kugelabschnitts, die sphärischeLemniskate und anderes. Kroll entwickelt hierwieder die Berechnungsmethode ohne formaleStrenge auf eine anschauliche und gut nachvoll-ziehbare Weise, allerdings begrenzt auf Flächenauf der Kugel und führt die Berechnungen in denkonkreten Beispielen durch. Wie zuvor setzt dieseine gute Vertrautheit mit Winkelfunktionen undhier nun dem Kalkül der Integralrechnung vor-aus. Zum ersten Mal tritt bei der Berechnungeiner Kugelellipse das Problem auf, dass ein In-tegral nicht in geschlossener Form berechnet wer-den kann. Daran muss man aber nicht scheitern,wenn man sich mit dem numerischen Ergebnis,welches ein CAS ermittelt, zufrieden gibt.Volumenberechnungen bilden den zweitenSchwerpunkt des Kapitels. Berechnet wird der vi-vianische Bohrkörper, den ein Zylinder aus einer

Kugel stanzt. An dem Beispiel wird die allgemei-ne Methode der Volumenberechnung erarbeitet:Summierung (Integration) von infinitesimalenScheibchen, aus denen sich der Körper zusam-mensetzt. Hier wird die Methode am Beispiel derKugel, aus der Bohrkörper ausgeschnitten werden(elliptische Durchbohrung, parabolische Durch-bohrung, vivianisches Konoid) erprobt. Der letzteAbschnitt des Kapitels verallgemeinert die Metho-den. Zunächst werden allgemeine Flächeninhalteberechnet. Allerdings denkt man sich nun die Flä-chen als aus infinitesimalen Parallelogrammenzusammengesetzt, die von (ebenso infinitesima-len) Parametervektoren ds und dt aufgespanntwerden. Mit Hilfe der auf dem Vektorprodukt be-ruhenden Flächenformel für ein Parallelogrammgewinnt man zunächst eine Formel für den Inhalteines infinitesimalen Flächenstücks und über dop-pelte Integration die Formel für den Flächeninhaltinsgesamt. Die Notation des Doppelintegrals inder Form ∫y2

y1

dy

∫x2

x1

. . . dx

ist allerdings etwas gewöhnungsbedürftig. Mit derSäulenmethode wird dann auch die Berechnungvon Volumina von Körpern erarbeitet, die durcheine Funktion z = f(x, y) und eine Randkurvegegeben sind. Auch in diesem Kapitel verzichtetKroll auf formale Strenge, macht aber die Metho-den anschaulich verständlich. Die Berechnungenselbst erfordern natürlich wieder solide Kennt-nisse, sowohl aus der linearen Algebra wie derIntegralrechnung.Mit Kapitel 4 geht Kroll nun über die bisher zu-grunde liegenden fundamentalen Flächen (Zy-linder, Kugel, Kegel) hinaus. Mit dem Torus tritteine Fläche ins Blickfeld, deren Erzeugung charak-teristisch ist für eine ganze Klasse von Flächen:Der Mittelpunkt des erzeugenden Kreises läuft aufeinem Leitkreis. Dabei steht der erzeugende Kreissenkrecht auf der Ebene, in der der Leitkreis liegt.Kroll entwickelt nun zunächst eine Parametrisie-rung und berechnet mit den Methoden der vor-angegangenen Kapitel Oberfläche und Volumen.Hier wäre vielleicht ein Hinweis auf die Guldin-sche Regel, die mit den verwendeten Methodenabgeleitet werden kann, sinnvoll gewesen. Inter-essant ist nun das Variieren der Situation: Mankann z. B. den Radius des erzeugenden Kreisesvariieren. Was ändert sich dabei? Wie sehen dieentstehenden Flächen aus? Man kann auch denLeitkreis durch eine andere Leitkurve ersetzen.Was resultiert daraus? Man kann den Leitkreiszu einer Schraubenlinie liften. Dann entsteht ei-

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ne schlauchartige Spirale. Schließlich kann manerzeugenden Kreis und Leitkreis gleichzeitig va-riieren. Kroll führt nun vielfache Berechungen andiesen Beispielen durch. Hier entstehen Integrale,die in geschlossener Form nicht bestimmt werdenkönnen. Für konkrete Parameter wird dann wiederdas CAS zu numerischen Berechnung herangezo-gen. Im didaktischen Kommentar geht Kroll aufdie Bedeutung des Variierens ein.Der nächste Abschnitt des Kapitels widmet sichSchraubenlinien, Knoten und Bändern auf demTorus. Hier steht die anschauliche Darstellungganz im Vordergrund. Es geht hier zunächst we-niger um Berechnungen als um Erkenntnisse wiez. B. die Entstehung von Knoten bei der Kombi-nation von Längs- und Querumwicklungen desTorus. Die Erweiterung der Windungskurven zuBändern führt zum wohlbekannten Möbiusband.Loxodromen des Torus werden wieder ausführlichrechnerisch behandelt. Ein Exkurs (als Supple-ment) widmet sich den interessanten Villarceau-Kreisen, deren eigenartige und überraschende Ei-genschaften analysiert werden.Eine gewisse Rolle spielt der Torus bei der Lö-sung des Delischen Problems (freilich nicht inseiner Beschränkung auf Konstruktion mit Zir-kel und Lineal) durch Archytas von Tarent, einemmathematischen Berater von Platon. Die Überset-zung des Problems der Verdopplung des Würfelsführt zu einer Fragestellungen von Kurven aufeinem Grenztorus (der gerade kein „Loch“ mehrin seiner Mitte hat), welches Kroll nun ausführ-lich beleuchtet. Der letzte Abschnitt ist den demTorus verwandten Dupinschen Zykliden gewid-met.Das letzte Kapitel folgt nicht mehr dem bishereingeschlagenen Weg. Bereits sein Titel „WeitereKurven und Flächen“ weist auf seine Heterogeni-tät hin. Das Kapitel beschäftigt sich mit zwei sehrverschiedene Themen: Raumparabeln und Interpo-lation. Unter Raumparabeln versteht Kroll Kurvenmit der Parametrisierung (x, y, z) = (t, t2, t3).Ihre Projektionen auf die Koordinatenebenen sindeine quadratische, eine kubische und die Neil-sche Parabel. Fragen zu ihren Tangenten werdenbeantwortet. Auf die bereits mehrfach erprob-te Weise wird die Kurve in Flächen eingebettet,etwa indem man aus der Parametrisierung ei-ne Koordinatengleichung gewinnt. Ausführlichwird die Schiebefläche mit der Parametrisierung(t + s, t2 + s2, t3 + s3) untersucht. Rotationsflä-chen, die bei Rotation der Raumparabel um eineihrer Sehnen entsteht schließen sich an. Der Ab-schnitt wird mit einer Diskussion von Flächen-und Volumenberechnungen abgeschlossen. Die-

sem Abschnitt fehlt ein wenig die Stringenz dervorangegangenen Kapitel.Der zweite Teil des Kapitels behandelt ein gänz-lich anderes Thema: Interpolation. Hier liegtder Fokus auf der Anpassung möglichst einfa-cher (polynomialer) Raumkurven an vorgegebe-ne Punkte (Lagrange-Interpolation) bzw. an vor-gegebene Design-Parameter (Bézier-Kurven undBézier-Flächen). Die Behandlung der Lagrange-Interpolationspolynome bewegt sich auf bewähr-ten Pfaden und eröffnet wenig neue Perspekti-ven. Bézierkurven und -flächen passen zwar for-mal in den Rahmen des Buches, verfolgen jedochganz andere Fragestellungen und benötigen an-dere Methoden. Mit dem Casteljau-Algorithmusstellt Kroll zwar eine einfache Berechungsmethodevor; die eigentliche Bedeutung der Kontrollpunktebei der Definition von Bézier-Kurven, die sich ausdem Zusammenspiel geometrischer und analyti-scher Methode ergibt, wird nicht expliziert. Diegeometrischen Vorteile, wie etwa die Invarianzbei affinen Transformationen bleiben im Dun-keln. Ein Ausblick auf die Verallgemeinerungenwie B-Splines und NURBS wäre wünschenswertgewesen.

4 Abschließende Bemerkungen

Das Buch entfaltet eine Fülle an Materialien undMethoden, welche in den größten Teilen einemMathematiklehrer nicht vertraut sein dürften.Viele der Untersuchungsergebnisse dürften ananderen Stellen wohl bisher nicht publiziert wor-den sein. Das hat den Vorzug, dass der Lehrer beider Lektüre in einer ähnlichen Position ist, wieein guter Schüler: Die technischen Grundlagen(Winkelfunktionen, elementare Differential- undIntegralrechung, Vektorrechnung und elementarelineare Algebra) sind ihm vertraut, die betrachte-ten Objekte und die Methoden zu ihrer Untersu-chung jedoch weniger. Die umfangreichen und oftGeschicklichkeit erfordernden Rechnungen zwin-gen ihn zu einer konzentrierten Lektüre und einerintensiven Mitarbeit, zu der die Aufgaben undArbeitsaufträge genügend Anreiz bieten. Hat derLeser bislang nicht mit einem CAS gearbeitet, somuss er sich auch dieses Neuland erschließen. DerLehrer, vor diese Situation gestellt, wird also um-so besser abschätzen können, was er davon seinenSchülern zumuten kann und was nicht. Jedenfallsbietet das Buch bei weitem ausreichende Orien-tierung in sachlicher wie in didaktischer Hinsichtzur Gestaltung einer eigenen Unterrichtseinheitzur Raumgeometrie.

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Die Themen selbst sind weitgehend spannend undin einer Weise aufbereitet, die man als vorbild-lich bezeichnen kann. Der rote Faden ist – viel-leicht mit Ausnahme des letzten Kapitels - immersichtbar. Die Lektüre kann eine wesentliche Be-reicherung für den Mathematiklehrer in der SIIdarstellen, sein Hintergrundwissen entscheidendverbessern und zur Vernetzung seines Wissens inden Gebieten Analysis und Lineare Algebra beitra-gen. Daher kann man das Buch uneingeschränkt,auch zur Fortbildung empfehlen.Das Buch ist bestens als Grundlage einer Vorle-sung oder eines Seminars für Lehramtsstudenten– und nicht nur für diese – geeignet. Für den an-gehenden Fachmathematiker würde seine Lektüreeine erhebliche Bereicherung seiner Kenntnisseim Anschluss an die im Grundstudium gängigenVorlesungen über Analysis und Lineare Algebra/Analytische Geometrie darstellen. Für denjenigen,der sich mit Differentialgeometrie näher beschäf-tigen möchte, liefert das Buch in Ausschnitteneine solide Anschauungsbasis. Studenten der In-genieurwissenschaften können von der Lektüresehr profitieren, denn für sie ist die Thematik vielnäher an ihrer Praxis, und die Kroll’sche Annähe-rung an die Themen sind dem im Ingenieurstudi-um angestrebten Verständnis- und Abstraktions-niveau angepasst.Einige Einschränkungen sollen aber nicht ver-schwiegen werden. Die Lektüre des Buches undauch der Einsatz als Grundlage für eine Unter-richtseinheit setzen voraus, dass MuPAD zur Ver-fügung steht. Seit September 2008 ist MuPAD nurnoch als Bestandteil der Symbolic Math Toolboxzu MATLAB erhältlich. Seine weitere Pflege istalso zumindest fraglich. Natürlich ist eine Reali-sierung der Zeichnungen auch in einem anderenCAS möglich wie z. B. Mathematica oder Maple.Aber der Übergang zu einem anderen Produkt er-fordert ein Umschreiben des MuPAD-Codes in dieSprache des anderen Systems, was natürlich einehinreichend Vertrautheit und ein gehöriges Maßan Zeit und Geduld voraussetzt. Ob es, wie Krollglaubt, in der Schule möglich sein wird, auch dieProgrammierung in MuPAD in angemessener Zeitzu vermitteln, wage ich zu bezweifeln. Allerdingshalte ich dies für einen erfolgreichen Einsatz auchnicht für unabdingbar. Es dürfte genügen, wenn

die Zeichnungen auf dem Rechner zur Verfügungstehen und die dynamischen Operationen vollzo-gen werden können. Die erforderlichen symboli-schen und numerischen Berechnungen mit einemCAS sind verhältnismäßig einfach durchzuführenDas Buch selbst enthält nicht den Quelltext derNotebooks, mit denen die Zeichnungen erzeugtwerden. Das hätte den Rahmen des Buchs ge-sprengt. Der Leser kann die Notebooks (und denBuchtext in Pdf-Form) jedoch bei folgender Adres-se im Internet beziehen: http://mupad.zum.de/education/data/more/krollkuf/index.html (Stand7. 6. 09). Im Buch fehlt der Hinweis auf dieseAdresse.Der Text selbst ist sehr sorgfältig erarbeitet undenthält nur wenige kleinere und leicht korrigier-bare Fehler. Der Druck und die technische Her-stellung lassen jedoch zu wünschen übrig. DerDigi-Druck besitzt keine gute Auflösung. DerEinband ist sehr weich und gibt nicht genügendStütze. Die Klebebindung ist zwar einfach, aberausreichend stabil. Die offene Papierart ist fürden Grafikdruck wenig geeignet, da die Saugfähig-keit zu groß ist. Die im MuPAD-Original klarenZeichnungen erscheinen daher im Buch manch-mal etwas verwaschen. Die Grafiken selbst sindleider nicht farbig. Die farbigen Originale in Mu-PAD haben eine erheblich bessere Qualität undsind oft aussagekräftiger; Graustufen sind ebenweniger unterscheidbar als Farben. Der Schwär-zungsgrad des Drucks ist häufig nicht ausrei-chend, insbesondere auf der Mitte der rechtenSeiten. Anscheinend sind – zumindest in demmir zur Verfügung stehenden Exemplar – die An-druckbögen verwendet worden. Beim Seitenum-bruch und der Platzierung der Grafiken hat esoffenbar Probleme gegeben. Viele Seiten endenüberraschend, obwohl noch Platz für mehrere Zei-len gewesen wäre und es keinerlei inhaltliche Not-wendigkeit für den Umbruch gibt. Da das Buchjedoch inhaltlich sehr empfohlen werden kann,sollte man über diese Schwächen hinwegsehen.Dem Autor und künftigen Lesern wäre zu wün-schen, wenn ein leistungsfähiger Verlag sich be-reit fände, das Buch zu verlegen.

W. Kroll: Räumliche Kurven und Flächen in phänomenologi-scher Behandlung. Eigenverlag. ISBN 978-3-00-021836-1

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Protokoll der Mitgliederversammlung der Gesellschaft für Didaktikder Mathematik (GDM) am Donnerstag, den 5.3.2009 in Oldenburg

Katja Lengnink

Beginn: 17.00 UhrOrt: Bibliothekssaal der Universität Oldenburg

Tagesordnung

TOP 1: Bestätigung des Protokolls, Beschluss derTagesordnungDie Tagesordnung und das Protokoll der Mitglie-derversammlung aus Budapest werden ohne Än-derungen angenommen.

TOP 2: Bericht des VorstandsDer 1. Vorsitzende berichtet:1. Jahr der Mathematik: Hans-Georg Weigand

dankt allen Mitgliedern für die gute Mitarbeitund das interessante Programm. Insbesonderedie Mathemagischen Momente waren ein Er-folg. Die Resonanz darauf ist gut, sowohl beiLehrerinnen und Lehrern als auch bei der Tele-komstiftung. Wegen Verlagsproblemen kommtdas Buch hoffentlich bald raus. Ein weitererBand ist angedacht, Verhandlungen mit der Te-lekomstiftung laufen bereits. Unser Dank gehtan Gerald Schick für die technische Unterstüt-zung.

2. In der AG Lehrerbildung wurde unter der Lei-tung von Hans-Dieter Rinkens eine gemeinsa-me Empfehlung der MNU, DMV und GDM zurLehrerbildung entwickelt.

3. Kontakte zu befreundeten Verbänden:a. Die GDM pflegt den Kontakt zur Gesellschaft

für Fachdidaktik, die u.a. bei der Entwick-lung von Mindeststandards beteiligt ist. DieFachtagung der GFD vom 30. 8. bis 2. 9. 2008in Berlin ist speziell für Nachwuchswissen-schaftler ausgeschrieben

b. Wolfgang Lueck ist neuer Präsident derDMV, Frau Reiss ist unser Mitglied im DMV-Präsidium.

c. Die MNU-Tagung 2009 in Regensburg vom6. bis 8. April ist eine Jubiläumstagung(hundertster Kongress). Es wird ein Vortrag

von Hans-Georg Weigand und Timo Leudersstattfinden zum Thema: Fruchtbare Momen-te des Mathematiklernens.

d. Es wird die Kooperation der EuropäischenGesellschaften für Mathematikdidaktik ver-stärkt. Auf der letzten CERME fand ein Tref-fen statt, auf dem auch über die Möglich-keiten der Gründung einer gemeinsameneuropäischen Zeitschrift nachgedacht wurde(European Journal for Research in Mathema-tics Education).

4. Nachwuchs:a. Ein Bericht über das Doktorandenkolloqui-

um in Potsdam ist in den Mitteilungen er-schienen

b. Reisebeihilfen für Tagungen werden weitergefördert (s. Rundmail)

c. Regionale Doktorandenkolloquien in Lud-wigsburg/Schwäbisch Gmünd und Bam-berg/Nürnberg/Würzburg wurden finanziellunterstützt.

d. Die Expertensprechstunde auf der GDM-Tagung (Manuela Grahlmann, Maike Volls-tedt, Susanne Prediger und Rita BorromeoFerri) wurde erstmals eingeführt.

e. Die Summerschool 2009 zu Methoden derempirischen Forschung in der Mathematik-didaktik wird stattfinden. OrganisatorInnen:Gysin, Eichler, Wittmann.

f. Eine DFG-Initiative für PostDocs und neu-berufene ProfessorInnen (s. Rundmail) sollgestartet werden. Ansprechpartner ist Rudolfvom Hofe.

g. Das Doktorandenkolloquium wird 2010 InBielefeld stattfinden.

h. Der Förderpreis der GDM wird diesjährigwieder vergeben. Bewerbungen sind bitte bis1. 8. 2009 an Susanne Prediger einzureichen.Es werden 5 Exemplare der Arbeit sowie ei-ne zweiseitige Begründung des Betreuerserwartet.

5. Der GDM-Flyer ist fertig und kann bei KarelTschacher in gedruckter Form angefordert wer-den.

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6. Ermäßigte Beiträge müssen jedes Jahr neu be-antragt werden (s. Mitteilungen)

7. BzMU-online (Dank an Prediger, Vasarhelyi,Neubrand, Peter-Koop)

8. Die GDM-Datenbank hat ein neues Layout. Bit-te aktualisieren Sie immer Ihre Daten!

9. Es gibt ein neues Adressenverzeichnis aller Di-daktikinstitute Deutschlands. Dieses wird inden nächsten Mitteilungen verschickt. (Dank anKarel Tschacher)

10. Eine Liste der aktuellen Stellungnahmen wur-de von Uli Kortenkamp zusammengestellt. Sieist auf der Homepage einzusehen.

11. Die Gesamtliste aller Jahrestagungen der GDMsteht auf der Homepage. (Dank an Herrn KurtPeter Müller)

12. Der Vorsitzende dankt allen Vorstands- undBeiratsmitgliedern für ihr Engagement.

13. Im Beirat fanden Wahlen zum JMD Her-ausgeberteam statt. Derzeit sind die JMD-Herausgeber Rolf Biehler, Andrea Peter-Koopund Werner Peschek. Werner Peschek scheidetEnde 2009 aus seinem Amt aus und wird durchRudolf Sträßer ersetzt.

14. Es gibt einen neuen Arbeitskreis der GDM:Vernetzungen im Mathematikunterricht. Er wirdvon Astrid Brinkmann geleitet. In diesem Rah-men entsteht auch eine neue Schriftenreihe,über die in den GDM-Mitteilungen berichtetwird.

15. Deutschland – Land der Ideen (SchirmherrHorst Köhler): Glückwunsch an Herrn Schipper,der dieses Prädikat für die Beratungsstelle fürRechenschwäche erhalten hat.

16. Heinrich Winter wurde die Ehrenmitglied-schaft der GDM angetragen.

17. Kommende Jahrestagungen: 2010 München2011 Freiburg2012 noch vakant2013 MünsterKurze Vorstellung der kommenden Tagungdurch Kristina Reiss.

TOP 3: Bericht des Kassenführers bzw. des KassenprüfersKarel Tschacher stellt den Kassenbericht der GDMvor. Kurt Haselbeck berichtet über die Kassen-prüfung. Die Kassenbelege wurden gewissenhaftüberprüft, Einnahmen und Ausgaben sind lücken-los, es liegt eine sachlich einwandfreie Kassenfüh-rung vor. Kurt Haselbeck beantragt die Entlastungdes Kassenführers.

TOP 4: Entlastung des VorstandsMichael Neubrand beantragt die Entlastung desVorstandes für das vergangene Jahr. (Einstimmig

angenommen bei vier Enthaltungen des Vorstan-des)

TOP 6: MATHEDUC (B. Wegner)Die Datenbank Matheduc wurde in den vergan-genen Jahren auch auf andere Materialien erwei-tert und internationalisiert. Es ist eine mehrspra-chige, moderne Datenbank geworden. Die GDM-Mitglieder werden aufgerufen, bei der Erstellungvon Rezensionen mitzuwirken.

TOP 7: Wahlen1. VorsitzenderHans-Georg Weigand (99 Ja, 2 nein, 3 Enthaltun-gen) Hans-Georg Weigand nimmt die Wahl an.KassenführerKarel Tschacher wird vorgeschlagen: 98 Ja, 1 nein,1 ungültig, 1 Enthaltung.Karel Tschacher nimmt die Wahl an.Beirat (4 Vertreter)Es scheiden aus Heidenreich, Borromeo Ferri,Hußmann, Kaiser.Vorgeschlagen: Borromeo Ferri, Hußmann, Leiß,Kaiser.Gewählt werden:Borromeo Ferri (79 Stimmen)Hußmann (85 Stimmen)Kaiser (77 Stimmen)Leiß (68 Stimmen)

TOP 8: Journal für Mathematikdidaktik (JMD)Rolf Biehler berichtet über die Manuskriptlageund den Wechsel zu Springer:Gründe für diesen Wechsel:◦ Online-Verfügbarkeit auf Springer-Link◦ Retrodigitalisierung aller JMD-Hefte ab 1980◦ Unterstützung der Herausgeber durch den Edi-

torial Manager◦ Professioneller Satz und Betreuung◦ 2 Hefte pro Jahrgang, aber sofortiges Erschei-

nen als Online-First◦ Unterstützung der Internationalisierung

– Erhöhung des Anteils englisch-sprachiger Ar-tikel

– Aufnahme in Zeitschriftenbündel– Unterstützung durch language editing

Der Wechsel wurde vom Beirat der GDM beschlos-sen.

TOP 9: ZDM, Mathematica DidacticaGabriele Kaiser berichtet über das ZDM.◦ Editorial Board: Reiss, Sträßer, Schneider, Still-

man, Sriraman, Harary, Leun◦ Erstes frei verfügbares Heft ist 3/2011.

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Gerald Wittmann berichtet über Mathematica di-dactica:Einzusehen unter www.mathematica-didactica.de

TOP 10: VerschiedenesAlexander Wynands berichtet über Kontakte zusowjetischen Wissenschaftlern (Moskau, Jerivan(Armenien)).

Maike Vollstedt dankt dem Vorstand der GDM fürdie Aktivitäten zur Nachwuchsförderung.

Protokoll: Katja Lengnink (Schriftführerin)

Email-AdressenKarel Tschacher

Liebe Mitglieder!Bei der Rundmail kommen regelmäßig Briefe zu-rück, die nicht zugestellt werden können. Es sindmeist veraltete Adressen. Bitte überprüfen Sie, obSie dabei sind. Dann korrigieren Sie bitte schnelldie Adresse in der elektronischen Datenbank derGesellschaft: http://www.gdm.uni-erlangen.de/Ich bin technisch gesehen der Absender, weil dieEmails über die Datenbank versandt werden. AlleReaktionen gehen oft an mich, aber es wäre bes-ser, gleich den Adressaten, oft ist das Prof. Dr.Hans-Georg Weigand, anzusprechen:[email protected]

Mit freundlichem GrußKarel [email protected]

Das sind die Rückläufer:– [email protected][email protected][email protected][email protected][email protected][email protected][email protected][email protected][email protected][email protected][email protected][email protected][email protected][email protected][email protected]

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