Gadamer 1993 Über den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche nach der Wahrheit
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BandS
Hans-Georg Gadamerans-Georg Gadamer
GesammelteWerke· Asthetik und Poetik
IKunst als Aussage
J. c.B. Mohr (Paul Siebeck)Tubingen 1993
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D ie D eu ts ch e B ib li ,, ~h ek - C[P-Eiriheitsa~fi/ahllle
C,uimner, Hans-Ceorg:
Gesarnmelre Werke / Hans-Georg Gadamer. - Unverand. Taschenbuchausg.-
Tiibingen: Mohr Siebeck
(UTE fur Wissenschaft :Uni-Taschenbuchcr ;2115)
ISEN 3-8252-2115-6 (UTE)
ISBN 3-16-147182-2 (Mohr Siebeck)
Ed. 8 . Asthe tik und Poetik. -1.Kunst a ls Aussage . - 1999
1.Autlage 1993
Unveranderte Taschenbuchausgabe 1999
© 1993 j .C.B. Mohr (Paul Siebeck) Tiibingen.
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ISBN 3-8252-2115-6 UTE Bestellnummer
Vorwort
Meine hermeneurischen Studien stellten mich vor die Aufgabe, den Er-
kenntnis- und Methodenbegriff del ' philosophischen Erkennrnisrheorie von
der einseitigen Oberbewertung der Grundbegriffe der modernen Erfah-
rungswissenschaften zu losen und die Erfahrung des Verstehens daneben
gel tend zu machen. Ers t in der Fortentwicklung der Phanomenologie, ins-
besondere Husser ls und Heideggers, kam die Einseitigkei t d ieser Orient ie-
rung am Faktum der Wissenschaft und an einem Begriff von Wahrheit, der
in der Satzwahrheit gipfelt , in ein neues Licht . So konnte ich meinerseit s an
die aristotelische praktische Philosophie und ihren Zentralbegriff, die Phro-
nesis , anknupfen, Sie wird wiederholt und ausdrucklich ein a li a e id o s g n o s e o 5
genannt und als eine grundandere Art von Erkenntnis ausgezeichnet.
Aber es waren nieht diese Anregungen allein, von denen aus ich die
philosophische Allgemeinbedeutung dieser anderen Art von Wissen zu legi-
timieren unternomrnen habe. Es war, wit jeder Elick in ,Wahrhelt und
Methode, lehrt, die richtungsweisende Rolle del: Kunst. Wohin solche
Orient ierung fuhren rnubre, laf lt s ich am Gedankengang von ,Wahrheit und
Methode. selber verfolgen. Die Oberschrei tung jedesastheti schcn Neutra-
li smus , den ich mi t Hi lfe des urnstandlichen Ausdrucks »as ther ische Nicht-
unterscheidung« zurucxzubinden suchte, gab der Kunst lind ihrern Wahr-
heit sanspruch eine neue Legi timation. S ie k .ann s ich, wie ich rneine, neben
den modernen Erfahrungswissensehaften behaupten, N atur lich gehort die
richtungsweisende Rolle der Kunst in einen grofleren Zusammenhang. Er
betr if ft das Verhaltn is von Theone und Praxis . Alle Theorie , und so auch diehe rmeneutische Theorie, muB ihren Ruckhalr in herrneneutischer Praxis
haben. Diese Ausgabe meiner Gesammelten Werke stellt neben die drei
Bande (5-7), die der griechischen Phi losophie gewidmet s ind , nunmehr die
Bande 8 und 9, die hier vorgelegt werden. Sic stellen keine neue Wendung
der Thernatik dar. Vielmehr sol1 so das Gleichgewicht zwischen Kunst und
Wissenschaft, das den gemeinsamen Grund aller Geisteswissenschaften bil-
det, herausgearbeitet werden.
Das ist das Gemeinsame, dall sich die unuberholbare Fragestellung des
philosopbischen Gedankens libel ' all ihre gcschichtlichen Verkleidungen und
Veranderungen hinweg durchhalt und damit eine intensive Verwandtschaft
zwischen den Sprachen der Kunst und der Sprache des Begriffs s tif te t.
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7. Ober den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche
nach der Wahrheit
(1971)
Der klassische Titel fur die Oberlegungen, die wir die ser Frage widmen,
stammt von Goethe, und gewiB ist schon bei Goethe das Verhaltnis der beiden
Begriffe ,Wahrheit , und .Dichtung- kein blof ies Gegensatzverhal tn is , son-
dern esisteine Interferenz beider im Spiel. Er betitelt so seine Selbstbiographie
und meint damit nicht nur die dichterischen Freiheiten, die ersichim Erzahlen
seines Lebens nimmt, sondern gewiB auch den positiven Anteil, den diedichterische Erinnerung fUr die Wahrheit hat. Vollends gilt das fur die fri ihen
Zeiten der Kul tur, insbesondere die Epoche der epischen Poes ie der Volker ,
daf der Wahrheitsansprueh der Diehtung ganz unumstritten ist. Herodot
sagt: Homer und Hesiod hat t en den Grieehen ihre Getter gegeben - 50
selostverstandlich war es noch fur einen Schriftsteller an der Schwelle der
Aufklarung, daG diese fruhe griechische Poesie den Wahrheitsgehalt religio-
ser Erkenntnis besi tze. Oder bezeugt sich in dem Satz des Herodot schon ein
erster Zweifel? Nun, jedenfalls hat sich in der klassischen Asthetik das
Belehren neben dem Erfreuen in voller Geltung erhalten , und das bleibt , bi s in
unser neuzeit li ches Wissenschaft sdenken hinein , gi .i lt ig - wenn heute nicht
mehr in der naiver: Lernbereitschaft fruher Epochen, 50doeh in einer reflek-
tierten und indirekten Weise.
Was mir unbest reitbar sehein t, i st , daf die dichteri sche Sprache ein beson-
deres, ihr ganz eigenes Verhaltni s ZUIWahrheit hat. Das zeig t sich einmal da-
r in , daf s ie nicht zujeder Zeit jedem beliebigen Inhalt angemessen ist . Aber
aueh darin, daBdort , wo ein solcher Inhalt dichterische Wortgestalt annimmt,
erdamit eine Art Legit imation erfahrt . Es i st die Kunst der Sprache, d ie nicht
nur uber das Gelingen oder MiBlingen der Dichtung entscheidet, sondern
auch tiber ihren Anspruch all fWahrheit . GewiB, "die Dichter l iigen vieJ ,,-
dieser alre platonische und naive Einwand gegen Dichtung und Dichter und
ihre Glaubwiirdigkeit stellt sich dem Glauben an die Wahrhaftigkeit der
Kunst entgegen und scheint gegen den Glauben andie Wahrheit der Kunst zu
sprechen. Doeh wi ll dieser Wahrheitsanspruch nicht vers tumrnen. In Wahr-
Uber den B eitrag der Dichtkunst bei d er Suche n acl; d er W.hrheit 71
heit bestatig t der Einwand die Selbs tvers tandlichkeit ihres Anspruchs . Wer
lugt, will, daB man ihm glaube. Der Dichter erhebt seinen Anspruch auf-
grund seiner Kunst , und seine Kunst is t die der Sprache.
Was Sprache uberhaupt ist und was den sprachlichen Kornmunikations-
vorgang ausmacht, wird nur; gewiG aueh fiir den besonderen Fallvon Sprache
gelten, den man Dichtung nennt. Ich mi.ichte aber auch das Umgekehrte
behaupten, narnlich daf Dichtung in einem erninenten Sinne Sprache ist.
Wenn man das i iberzeugend machen wi ll , muB man freil ich an der Sprache,
die wir tagl ich sprechen, eine andere Seite ins Licht rucken als die des blof en
Informationsaustausches. Die An, wie wir die Mi.iglichkeit des Miteinander-
sprechens wirklich wahrnehmen, is t, daB wir einander erwas sagen. Das ist
ein Sprachvorgang, der gegeniiber allen Forrnen blofser Informarionsuber-
mi ttlung - die auch durch .Zeichen geschehen kann - ausgezeichnet i st . DaB
jemand einern anderen etwas sagt, ist nichr schon dann der Fall, wenn der
sogenannte Rezipient da ist , welcher die Information aufnimrnt. Was dariiber
hinaus ver langt is t, is t vielmehr die Bereit schaft , sich etwas sagen zu lassen.
Nur dadurch wird das Wort sozusagen verbindlich, d. h., es verbindet den
einen mit dern anderen. Das gesehieht liberal! dort, wo wir mite inander
sprechen, uns auf ein wirkliches Gesprach miteinander einlassen.Was ist eigentlich vorausgesetzt , wenn einer sich etwas sagen lassen kann?
Offenbar i st die oberste Bedingung dafur , daB er nicht alles besser weiB und
daBihm etwas, was erzu wissen meint , f ragl ich zuwerden vermag. InderTat
beruht die Moglichkeit des Cesprachs auf dem wechselseit igen Zuspiel von
Frage und Antwort. Nun gibt es iiberhaupt keine Aussage, die nicht ihren
letzten Sinn, d. h . das, was s ie einem sagt, von der Frage her ernpfangt , auf die
sie e ine Antwort gibt. Das nenne ieh den he rrneneutischen Charakter des
Spreehens : Wir ubermit teln einander im Sprechen nicht wohlbes timmte
Sachverhal te , sondern versetzen unser eigenes Trachten und Wissen durch
das Gesprach mit dem anderen ineinen weiteren und reicheren Horizont . Jede
verstandliche und verstandene Aussage wird in die eigene Bewegtheit des
Fragens hineingeholt, d.h. als eine motivierte Antwort verstanden. Sprechen
ist Miteinanclersprechen. Getroffenwerden von einern Wort oder harthoriges
Vorbeihoren an dem gesagten Wort - das sind die eigentl ichen Spracherfah-
rungen.
Aberes gibt noch eine andere Erfahrung von Sprache, die einen ausgezeich-
neten Charakter besi tzt, und das is t d ie Erfahrung von Dichtung. Hier haben
wir eine ganz andere herrneneuti sche Si tuat ion. Wer ein Gedicht versrehen
will , rnein t nur das Gedicht selbs t. Solange es gegenuber einern Gedicht ein
~Ut iickfragen auf einen Sprechenden gibt, der damit etwas meint, sind wir
uberhauptnochnicht bei clemGedicht. Wir wissen aileaus eigener Erfahrung,
Wa s fiir ein fundamentaler Unterschied zwischen einem wirklichen Gedicht
oder etwa jenen mehr oder minder gut gerneinten Formen dichterischer
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72Poetik und Aktuali tat des Schonen
Mitteilung besteht, d ie junge Leute aus vol lern Herzen zu Papier zu bringen
Degen. Da is t gewil l Echtheit und drangende Macht des Empfindens , wenn
einer ein Liebesgedicht schreibt, und ein solches Versgebilde ist aus semer
Motivation bestensverstanciich. Dagegen sind der Dichter und das Gedicht,
die solchen Namen verdienen, von allen Formen motivierten Redens wesen-
haft unterschieden. Eskornmt niernandem in den Sinn, wenn er ein Gedicht
liest ve rstehen zu wollen, wer da etwas sagen mochte und warurn. Hier 1St
man ganz auf das Wor t, wit es da steht, gerichtet und empfangt nicht eine
Mitteilung, die von diesem oderjenem indieser oderin einer anderen Form zu
einern gelangen kann. Das Gedieht steht vor uns nicht als etwas da, worrnt
jemand etwas sagen mochte. Es s teht in s ieh da. Dem Dichte~den wie dem
Aufnehmenden s teht es in gleicher Weise gegeniiber . Abgelost von allem
Meinen is t esganz, ganz Wortl . .
hagen wir , in welchem Sinne an einern solchen Wort Wahrhelt sein kann.
Das dichrer ische WOf t ist offenbar von der Art, daD es emzig und unaus-
tauschbar ist. Nur dann nennen wir etwas ein Gedicht. Wo uns das nicnt so
vorkommt, sonde rn die Worte beliebig scheinen, finden wir em Gedieht
miJ31ungen. Das eigentlieh Merkwiirdige aber ist , daf ein Gedicht, das uns alsdichterische Leistung uberzeugt, uns auch mit dem uberzeugt, was essagt. Es
ist eine allgemeine Erfahrung, dall nicht alles zu allen Zeiten in dichterischer
Weise gesagt werden kann. Das Versepos etwa, das von Homer uber Vergl l,
Dante, Milton eine graDe Tradition de r Dichtung war und schhe llhch 111
.Herrnann und Dorothea- eine Art letzter, "biirgerlicher« Erfii llung fand, 1St
keine wahre Moglichkeit des dichterischen Sprechens mehr. Ebenso li:fle si~h
fragen, ob es das Drama zu jeder Zeit geben kann od~r ob es nicht fur
bestimmte Epochen charakteristisch ist , dall in Ihnen bestimrnte Welsen ~es
dichterischen Sagens vorwalten und andere gar ausgeschiossen und unmog-
l ieh s ind. So haben wir i iber 1500Jahre chris tli eher Gescluchte hindurch
eigentli ch kein Drama. Hier drangt s ich die Frage auf: Was druckt sich dar in
aus, dall gewisse Forrnen des Sagens moglich sind und gew)sse meht? Was fur
eine ,Wahrheit< liegt darin? .Aber was heiGt hier )Wahrheit<? Es ist eine alte Regel, daD, wenn man eine
Frage nieht genau profil ieren kann, man gut tut, d ie negat ive For .m der Frage
zu suchen. So wii rde ieh hier fragen: Was bedeutet es, daB gew!sse Formen
dichterischer Aussage nicht mehr .wahr- sind? Was ist das mr ein Sinn .von
Wahrheit? ,Wahrheit< hat schon in der altesten griechischen Philosophie einen
doppelren Sinn. Der griechische Ausdruek ,Aletheia< wird so, wie er im
lebendigen Sprachgebrauch der Griechen lcbte , am besten i .ibersetzt mit
,Unverhohlenheit<. .Derm irnrncr mit Warten des Sagens ist dieses Wort
verkntipft ' .Unverhohlenheit heiSt aber: sagen, was man meint. Sprache istebenmchtmersterLinie wiedasberU"hmteW t ei D' 1 I tet die, or ernes lp omaten au ,
•
Ober den Be; t r ag der Dichtkuns r bci der Suche nach der Wahrhei t 73
Moglichkeit , die uns geschenkt ist , unsere Gedanken zu verbergen. ~ Dieser
ers te Sinn von Wahrsein meint also, daD man das Wahre sagt, das hci ll t, das
sagt, was man rnein t. Er erganzr s ich aber, und insbesondere im Sprachge-
brauchder Philosophic, dutch den anderen Sinn, dall e in e S a che das .sagt., was
sre . rne.n t., Wahr is t, was sieh als das , was es i st , zeig t. Wenn wir etwa sagen
-echtes Gold" dann meinen wir : Das blit zt n icht nur sowie Gold, das i st Gold.
~ir kcnnen dafur auch sagen, es sei .wahres- Gold, und der Grieche sagt in
diesern Falle .alcrhes-. Noeh besse r entspricht c lem in unse rem eiger.en
Spraehgebrauch, wenn wir vonjemandem sagen, erseiein .wahrer Preund. ,
Wir meinen damit, er sei e iner, de r sich a ls Freund bewahrr hat der einem
nieht nur den Anschein freundschaftli eher Verbundenhei t und 'Gesinnung
entgegenbrachte. Es hat sich vielmchr herausgestell t, daB er ein wirklicher
Freund ist, »unvcrborgen«, wit Heidegge r sagt. In diescm Sinne f rage ich
nach der Wahrheit der Diehtung.
Was ist mit der Sprache geschehen, wenn sie Sprache der Dichtung ist?Was
kommt an ihr he raus, wie ane incm Menschen herauskornmt, daf er sich als
Freund bewahrt? 1eh kann es auch so formuiieren, Wenn ich sage .cin wahrer
Preund., dann meine ich: Hier entspr icht das Wort seinem Begriff. Dieser
Mensch isr wirklich in Obereins timmung mi t dem Begriff eincs Freundes .
Genauso frage ichjetzt, was ist das diehterisehe Wort in seiner Wahrheit? Wie
entspricht es demBegriff cines Wortes?
. Mit dieser Frage sind wir sehr weit von der Fragestellung der Kommunika-
nons- und Informationstheorie entfernt. Zwar gilt auch fiir das dichterisehe
Wort , daf es in der Moglichkei; i st, e in Text zu sein, geschrieben zu sein. Als
geschricbcnes ist esin einem besonderen und ausgezeiehneten Sinne ein Wort
narnlich ein Wort, das -geschrieben steht.. Ich benutze diesen lutherischen
Ausdruek, weil er etwas deutlich macht. Was heillt denn das: Es steht
geschrieben? Das meint doch offenbar nicht nur , daBesf ix iert i st , sodaf man
s~inen Inlialt wieder erneuern kann. Das trifft auf aile moglichen sehriftlichen
FIX)er~ngen zu. So steht etwa in meinen Not izen, die ieh bei einern Vortrag
vormir
habe, e:was geschrieben. Aber das is t kein Wort , das .geschriebensteht-. Warum nicht? Offen bar ist es lediglieh so da, und nur dazu da , daB es
auf einen Gedanken weist , den ieh vor meinen Harem etwa ausfiihren wollte.
Der Wert dieser Notiz ist also ausschliefl lich der der dienstbaren Unterord-
nung unter den Gedanken und gehort nicht zur -Literaturr, Ein Gedicht
dagegen ist niche eine Erinnerung an den urspriingliehen Vollzug cines
Gedankens, nur fiirseinen N euvollzug dienlieh. Esistumgekehrt, und sosehr
umgekehrt , daB derText viel mehr Wirklichkeit hat alsjede seiner rncglichen
Darbietungen je fur sich beanspruehen kann. Ob e in Dichte r se ine Werke
s~lber vorliest , ob ein anderer s ie spricht, j eder wei ll , daf das Gesprcchene
hinter dem zuruckbleibr, was man eigentlieh meint und woran man alle
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74 Poctik und Aktualitat desSchonen
Darbietungen miBt. Was ist das fur eine Moglichkeit des Wortes, daB esso fur
sich selbst stchen kann?'
Nun ist esnicht nur das dichterische Wort, das in diesem Sinne -autonorn-
ist , sodaBwir uns ihm unterordnenundaufes inseiner Gestaltals .Text: unser
Bemuhen konzentr ieren mussen, Es gibt, wie ieh meine, 110chzwei andere
Weisen solcher Texte. Das eine ist der rel ig iose Text. Das ist k lar genug. leh
zit ierte die Luthersche Obersetzung: »Es steht geschrieben«. Was ist der Sinn
dieses »Es steht geschrieben«? 1mLutherschen Sprachgebraueh liegt in dieser
Wendung oft ein besonderer Sinn von Sagen, den ieh Zusage nennen mochte,
Man kann sieh auf etwas Zugesagtes berufen, ~.B. im Fall des Versprcchens,
das einer dem anderen gibt. Wer ein Versprechen gibt, sagt etwas zu, Ich kann
mich darauf verlassen und mich daraufberufen. Das ist nieht bloB Mitteilung,
sondern ein verbindliches Wort, das gegenseit ige Verbindlichkeit voraus-
setzt. Es steht nicht bei mir allein , ob ieh etwas verspreehen kann. Das hangt
auch davon ab, daBder andere das Versprechen annimrnt . Erst dann is t esein
Versprechen. Man srelle sich etwa folgende Situation vor: Ein Mann ver -
spricht seiner Frau , daB er nie wieder uber seinen Durst t rinken will . Aber
vielleicht hat die Frau es langst begriffen, dali er dies Versprechen nie halten
kann. Daher nimrnt s ie das Versprechen nicht an, sondern sagt: Icb kann dir
nicht glauben. - Zum Wesen der Zusage gehi5rt eben, daf sieein gegenseit iges
Verhaltn is des Sagens und Antwortens i st . In diesern Sinn s ind die Texte der
Offenbarungsreligion .Zusage«, d.b ., s ie gewinnen ihren Sagecharakter
allein durch das Angenommenwerden seitens des Glaubigen.
Eine andere Form eines solchen .eminenten. Textes scheint mir im moder-
nen Staat der Reehts text . Das Gesetz, das in einer bes timmten Weise durch
sein Geschriebenstehen bindet, hat aueheinen spezifischen Charakter, den ich
Ansage nennen mochte, Der Rechtstext ist bekanntlich durch seine Verkun-
dung erst gultig, Ein Gesetz muB verkundet werden, Der Charakter der
Ansage, in dern das Wort dureh sein Gesagtsein sein Rechtsdasein gewinnt
und ohne solches Gesagtsein nicht , macht seine Rechtsgeltung ers t aus . So
wares z.B. cine der schrecklichsten Rechtskatastrophen, alsin dem bosen Fall
des Gesetzes Lubbe imJahr 1933ein Gesetz mit riickwirkender Kraft erlassen
wurde. Jeder empfindet sofor t, e in Gesetz mi t ruckwirkender Kraft wider-
spricht dem eigentlichen Sinn von .Gesetz., geschrieben zu stehen. Verkun-
dung von Gesetzen gehort zum Wesen des Rechtsstaates.
Die beiden Formen der )Zusage< und der -Ansage- sollen nun ZUl1l Hinter-
grund fiir den dichter ischen Text dienen, den ieh in einer entsprechenden
PormelAussage. nennen mochte, Die Vorsilbe .aus- druckt einen Anspruch
aufVollstandigkeit aus. Eine Aussage sagt vollstandig, was der Sachverhalt
ist . Die Aussage z.B., diewir vor Gericht machen, hat solchen Charakter , so
1 Siehe claw in diesem Band auch den Beitrag IVon der Wahrheit des WorteSi (Nr. 5).
L
Uber den Bei tr ag der Dichtkuns t bei der Suche nach der Wahrhei t 75
daf man als Zeuge sogar belehrt wird, man rnusse vol lstandig alles sagen,
was man weiB, ohne e twas zu verschweigen, ohne etwas hinzuzufugen.
Das nennt man im Gerichtsleben .Aussage., Ich sehe hier davon ab, wie
fragwiirdig die Funktion des vo r Gericht Aussagenden aus anderen herme-
neuti schen Grunden ist . Hier mochte ich zunachs t nur dies Perfektionisti -
sche, d iesen Vol lendungscharakter im Worte .Aussage: bewufl t machen.
Darin l iegt die Entsprechung zur diehter ischen -Sage« Sic is t eine Sage, d ie
sich voll aussagt, die also so ist, daf nichts, was nicht in ihr selber gesagt
i st , zur Aufnahme und zu ihrer Sprachwirkliehkeit h inzugenomrncn wer-
den rnufl. Sie ist .autonorn: im Sinne der Selbste rfuilung. Ebenso ist das
Wort des Dichter s. Das dichter ische Wort ist also in dem Sinne Aussage,
daB diese Sage sich selbst bezeugt und nichts anderes, das s ie verif iz iert ,
zulaBt. Sonst mi5gen wir eine Aussage kont ro lli eren , etwa die vor Gericht ,
ob das stimrnt, was der Zeuge sagt oder was der Angeklagte sagt oder wer
immer. Diesen Sinn ha t offenkundig das dichterische Wort nicht mehr,
und die Frage, die uns beschaftigen muB, ist: Wie kann das sein, daf ein
Sagen so ist, daBes s innlos und in einer uberzeugenden Weise verkehrt i st ,
uber das Gesagtsein hinaus nacb einer anderen Instanz de r Verifikation
auch nur zu fragen - und daf der Dichter es ein unumstofsliches Zeugnis
nennen kann und aile schlechten Gedichte .Meineide. heil len k6nnen? (P.
Celan).
leh mochte uber den religiosen Gebrauch des Wortes, etwa die Analo-
gien , die hier zur Erfahrung des Gebetes vorliegen, n ichts sagen. Das ent-
zieht sich meiner Kompe tenz. Aber es liegt auf der Hand, da f hier etwas
Analoges vorl iegt , wenn es auch auf ganz anderer Basis beruht. Wahrheit
in dcr Dichtung, das rneint: Wie macht es das Wort des Dichtcrs, daf es
s ich selbst ein losr und geradezu abweis t, daB man Verif ikationen von au-
Ben sueht? Nehmen wir ein ganz beliebiges literarisches Beispiel, etwa
einen Roman von Dostojewskij. Da spielt eine bestimrnte Treppe eine
groBe Rolle, die Smerdjakow vorgeblieh heruntergefallen ist . Jeder, der die
,Karamasows< gelesen hat, hat diese Szene nicht vergessen und .weill: ganz
genau, wie die Treppe aussieht, Keiner von Ul1S hat dabei dieselbe Vorstel-
lung; jeder von uns glau bt sie dennoch in ganz konkre ter Weise zu haben.
Es ware sinnlos zu fragen: Und wie sah die Treppe wirklich aus, die
Dostojewskij uneinre.? Der Dichter hat e s hier ve rmocht, durch die Art
seines Erzahlens, durch seine erzahlerische Gestaltung, eine Imagination zu
wecken, die nun injedem Leser etwas aufbaut, und zwar so aufbaut, daB er
genau zu sehen glaubt, wie die Treppe da rechts herum und dann ein paar
S.t llfen heruntergeht , und dann verlier t s ich die Treppe i rn Dunkeln , Wenn
em anderer sagr, sie geht links herum und dann kommen sechs Stufen und
dann wird es clunkier, so i st er offenbar genauso im Recht. Dosto jewskij,sofern . h 13 . di T .er es me t genauer sagt, weckt nur dies, da wir ie reppe m uns
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76 Poe tik und Akmal it at des Schonen Ube r de! ' Bei tr ag der Dichtkuns t bei der Suche nach der Wahrhei t 77
aufbauen. An dem Beispiel s ieht man, daB der Dichter esfer tigbekommt , d ie
Selbsterfii llung von Sprache nerzuzaubern. Aber wie macht das der Dichter,
mit welchen Mitteln?Ieh mochte eine kleine Zwiseheni.iberlegung einschalten. Offenbar ist das
Wort der Dichtung auf eine unlosbare Weise mit der Seite des Klanges und der
Seite der Bedeutung verwebt. Der Grad dieser Verwo benheit kann rnehr oderminder grof sein, bis zu dern Extrem, daB esgewisse sprachliche Kunsrarten
gibe, in denen diese Verwobenheit absolut unlosbar wird. Ich meine das
lyrische Gedicht. Hier haben wir den Fall der Uniibersetzbar~:it in se iner
vollen Unbedingtheit vor unser aller Augen. Es gibt keine Uber se tzung
lyrischer Gedichte, die das uspri.ingliche Werk ZUT Wirkung bringt. Es gib t i rn
besten fall einen Dichter, de r iiber einen Dichter kommt und sozusagen ein
neues dichter isches Werk an diese Stel le stel lt, e ine Entspreehung in neuern
Sprachstoff schafft . Nun gibt es gewif Abstufungen der Unubersetzbarkeit ,
Ein Roman ist i.ibersetzbar - und wir fragen uns: Woran liegt das, daf der
Roman ubersetzbar ist und daB wir etwa Dostojewskijs Treppe, ohne Rus-
sisch zukonnen, sovor Augen sehen, daGich mich mitjedem streitcn mochte,
wo herum sic geht? Wie macht das die Sprache? Offenbar i st das Verhaltni s
von Klang und Bedeutung hier ein wenig mehr nach der Seite der Bedeutunghin verschoben -und doeh bleib t auch dies dichrer isches Wort . Es erf iil lt s ich
nicht von anderem her, z.B. durch bestatigende Nachprufung einer Informa-
t ion oder durch neue Erfahrung, sondern aus s ich selbs t. Selbsterfi .i llung
rnein t, daGman nicht mehr hinausgewiesen wird auf andere Ins tanzen, Dann
aber ist es die hochste ErfUllung des Offenbarmachens ((5 r l . 1 , o i i v ) , das die
generelle Leistung des Sprechens ist , was die dichterische Sprache auszeich-
net. Es scheint mir daher eine abwegige asthetische Theorie, das dichterische
Wort dadurch zu interpretieren , daBman esals eine Zusammenballung von
emotionalen undBedeutungsmomenten auffaBt, diezum Alltagswort hinzu-
rreten. Das mag zwar stets so sein, Aber nicht dadurch wird ein Wort
d ichter isch, sondern weil es die Kraft der .Reali s.erung. gewinnt. So t ri ff t
selbst Husserls feine Bemerkung, daB im Faile des A.sthetischen die eidetische
Redukt ion spontan erfull t sei , sofern die »Posi tion«, das heiBt das Setzen,
immer schon aufgehoben sei ,nur zur Hal fte die Sache. Husser! spricht davon
»Neutral ita tsmodl fikar ione Wenn ieh jetzt , zum Fenster h inausweisend,
sage: Seht ma l das Haus da - dann siehtjeder, de r me inem Zeigen folgt, das
Haus da als die Erfti llung meines Sagens, indern erhinsieht. Wenn ein Dichter
in seinen Worten ein Haus schildert oder die Vorstellung iHaus- heraufruft,
sehen wir dagegen nicht aufirgendein Haus hin , sondern ein jeder baut .sein:
Haus auf , uncizwar so, dal i idas Haus: fur ihn daist , Es i st also eine eideti sche
Reduktion darin wirksam. Es ist das Allgemeine des Hauses das in den
Worten wie eine spontane »Intentionserfi il lung« zur Gegebenheit kornmt. In
diesem Sinne ist das Wort bier ,wahn, das heiBt )aufdeckend,. Esleistet seIche
Selbsterfii llung. Das Posit ive, das Gesetzte, das , was man aueh woanders
antreffen karin, so dall man zu prufen vermag, ob unsere Aussage damit
ubereinstimrnt - all das wird im dichrerischen Wort suspendiert ,
Und doch ist es irrefuhrend, dies als ein geschwachtes Realitatsbewulltsein
zu fassen, e twa als eine ve rringer te Setzungskraft des BewuBtse ins. Es ist
umgekehrt. Die durch das Wor t geschehende Rea lisierung schlagt allenVergle ich mit anderem, das mit da ware , aus und hebe das Gesagte uber die
Partikularit at h inaus, d ie wit sonst Wirklichkei t nennen. DaB esdas tut, daG
wir nicht hinaussehen in eine bestatigende Welt, sondern dail wir umgekehrt
im Gedieht die Welt des Gedichtes aufbauen, ist ja unbestrit ten. Ieh frage, wie
macht es das Wort, daBes das kann, daB wir plotzlich eine Ver ifikation des
Gesagten zu suchen ablehnen? Das 1Stetwa bei Holderlin, der die Rt ickkehr
der Gorter verki indet, ganz deut lich. Wer ernstl ich glaubt, auf die Rf ckkehr
der griechischen Gorter wie auf etwas fur die Zukunft Versprochenes warten
zusollen , der hat nicht begri ffen , was die Dichtung Holderl ins i st . »Im Liede
wehet ihr Geist . Ii Wie mach t esder Diehter? Was mach t die Diehtun g mit dern
Dichter, daf sein Wort als ein Wortgebi lde pl6 tzlieh -so- i st , und ich meine
damit: so, daBesnicht etwas meini, sondern daf esdas Dasein dessen ist , was es
meint - und das so sehr, daf selbst der Dichter, wenn er es hart, niche etwameinen kann, daB er es i st , der essagt?
Was bedeutet es, daB ein Gedicht gdingt? Was bedeutet es, daB ein
besrirnmter Inhalt, etwas bestimrnt Gcmeintes, dadurch, dafl es ein Gedicht
g ib t, auf dem Weg dieses hervorkommenden wahren Wortes sozusagen zum
Stehen kommt?
Denken wir nochmals an unsere Anfangsi. iberlegung. Dart sagten wir uns:
Jedes Sprecher ; sagt etwas. Sieh etwas sagen lassen konnen oder jemandem
etwas sagen konnen setzt voraus, daGesoffen Fragliches fUreinen gibt, das das
Wortals Antwort anzunehmen ni:it igt. Wie sieht es beim dichterischen Werk
aus? Hier handelt es sich nicht darum, was cler Dichter meint ode r was ihn
motivie rt, das oder jenes zu sagen, Es geht urn die Frage, die durch das im
GedichtGekonnte oder Vermochte beantwortet ist , und umnichts -dahinter-.
Wasist das fur eine Frage? Wiekommt es, daBetwa inunserer Zeit das Gedicht
bes timmte Inhal te abweist und andere Inhal te bevorzugt? U nd wie komrnt es,
wenn esein Gedicht i st, daB diese neue Welt von Inhalten sich genauso zum
Stehen bringt , daf wir mit dem selben wachen und cmpfanglichen dichteri-
scherrS inn dies Heutige horen wie etwa das dichterische Wort Sehi llers oder
Sh~kespeares oder Goethes? Welche Dberwindung gelegenheitlicher Moti-
vat ;on. oder zei tgeschiehtli cher Gebundenheit gel ingt h ier und auf welche
~e lSe? Ich kann es auch anders formulie ren: Auf welche Frage bleibt e in
dl"chterisches Gebildeimmer eine Antwort? Ich glaube nicht, daB esausreicht,
Wenn man sagt: In allen dichter isehen Gebilden komrnen le tz te Fragen
un-seresmenschlichen Erlebens zur Beantwortung, und dadurch sprechen sie
8/3/2019 Gadamer 1993 Über den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche nach der Wahrheit
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78 Poetik und Akrualirat des Schonen
uri s an. Das gilt zwar in gewissen Bereichen. Es is t vernunft ig zu sagen, daf
Grenzsituationen wie Tad oder Geburt, Leiden cder Schuld und was immer-
all das, was etwa die grofie Tragodie zu ihrer besonderen Kunstforrn erhoben
hat - bes tandig offene Fragen s ind , auf die wir Menschen Antwort suchen.
Aber muss en wir die Frage nicht umfassende r ste llen? Miissen wir nicht
fragen: Auf welche Frage ist e in jedes dichterische Gebilde immer eineAntwort?Vielleicht zeichnet sich eine Antwort ab, wennich andas anknupfe,
was ein leitend als das Gemeinsame alles Sprechens beschrieben wurde: daf
das daist , was durch das Wort evoziert wird. Ob es in dieser oderjener Zei t, in
unserer Zeit fur spezifische Inhalte, die inunserer Zeit zur Sprache kommen,
gilt, ist dabei nicht entscheidend, sondern daB das Wort so Da-sein be-
schwort, daf eszum Greifen nahe ist. Das i st d ie Wahrheit der Dichtung, daB
sie solches »Hal ten der Nahe« zustande bringt. Was Hal ten der Nahe meint ,
wird am Gegenbeispiel deut lich. Wenn wir in einem Gedicht etwas vermis-
sen, dann ist c s kein sich in sich ha ltender Bau. So verha llt e s, weil etwas
Konventionelles oder Abgeniitztes darm ist , Ein wirkliches Gedicht dagegen
bringt Ndhe zur Erfahrung, und zwar so, daf diese Nane durch das Gedicht
und seine sprachl iche Gestalt gehal ten wird. Welche Nahe und wovon? Was
wird da gehalten? Wenn man etwas hal ten rnufi, dann is t das, was man hal ten
muG, enrganglich, d. h., es rriochte entgehen. In der Tat ist das unsere
Grunderfahrung als zeit liche Wesen, daf aile Dinge uns enrgehen, daG alle
Inhalte unseres Lebens uns mehr und mehr verblassen, so daGsieaus fernstcr
Erinnerung hochstens noch in einem fast unwirklichen Schimrner leuchten.
Aber das Gedicht verblaGt nicht. Das dichterische Wort bringt gleichsam die
Zeitentgangl ichkei t zum Stehen. Auch es -steht geschrieben., nicht als Ver-
heiBung oder Versprechen, n icht als .Zusage., sondern als .Sage., indem es
seine eigene Gegenwart ausspielt. Es mag gerade mit dieser Macht des
dichterischen Wortes zusarnmenhangen, daf der Dichter sich herausgefor-
de rt fuhlt, auch das in Wort zu verwandeln, was uberhaupt der Sphare des
Wortes verschlossen scheint. Irn lyrischen Gedicht erscheint diese Selbster-
fii llung am ratselhaftesten, wo sich nicht einmal die Sinneinheit der dichteri-
schen Rede verifizieren laBt, und das ist der Fall der poes ie pure seit Mallarme.
Fragen wir erneut, wie das lyrische Gedicht sich selbst er fullt und mit
welchen Mitteln. Solches .Stehcn des Wortes< scheint mir aufjene Grundsi-
tuation des Menschen hinzudeuten, die Hegel als das Heimischwerden
beschrieben hat . Es i st die Grundaufgabe, d ie wir aile aus unserer Lebenser-
fahrung kennen, dall man sich in dem flutenden Strom der Eindrucke
.einhaust., Das geschieht vor allem im Erlernen der Muttersprache, durch das
eine steigende Ordnung eines sprachlich ausgelcgtcn Erfahrungsganzen sich
aufbaut. Und damit gewinnt die Muttersprache, indem sie diese erste Weltar-
t ikulation vollbringt, in der wir standig uns weiterbewegen, zugleich selber
Uber den Bei tr ag der Dichtkuns t bei der Suche nach der Wahrheit 79
eine steigende Vertraurbeir' . Jeder weiB, was das heifl t. Sprachgefiihl haben.
Etwas klingt fremd, e twas ist nicht .richtig-. Das erleben wir ja e twa bei
Obersetzungen s tandig. Welche Vertrautheit wird da enttauscht? Welche
Nahe wird da verfremdet? Das he iBt aber: Welche Vertrautheit tr agt uns,
wenn wir Sprechende sind , we1che Nahe umgibt uns? Esist offenbar so, daf
nicht nur Wor ter und Wendungen unserer Sprache uns irnmer vertraute rwerden, sonde rn auch das in Wor ten Gesagte. Das Hereinwachsen in eine
Sprache bedeutet insofern immer schon, daf uns die Welt nahegebracht wird
und in einer geistigen Ordnung zum Stehen komrnt. Worte sind immer
wieder die gleichen Grundartikulationen, die unser Weltverstandnis leiten.
Es gehort zur Vertrautheit der )Welt" daB sie sich im Mite inanderreden
tauscht.Das Wort des Dichters nun se tz t diesen Prozell der -Einhausung: nicht
einfach fort. Es tri tt ihm eher gegelli .iber, wie ein hingehaltener Spiegel. Aber
was inihm erscheint, istnicht die Welt, erst recht nicht dieses oderjenes, das in
der Welt is t, sondern die Nahe selbst , dieVertrautheit selbs t, in der wir eine
Weile stehen. Im literarischen Wort, LIndin hochster Vollendung 1111 Gedicht,
gewinnt dies S tehen und diese Nahe Bleiben. Es is t n icht eine romanti sche
Theorie , sondern einfache Beschreibung wirkl icher Zusammenhange, dafdie Sprachlichkeit den universalen Weltzugang offnet und daB sich in diesern
sprachlichen Weltzugang ausgezeichnete Formen menschlicher Erfahrung
herausheben: die religiose Botschaft verki.indigt das Heil; das Urteil spricht,
was Recht und Unrecht in unserer Gese llschaft ist; das dichterische Wor t
bezeugt uns unser Dasein , indem esselbst Dasein i st.
S2 Zum Thema Vertrautheit der Welt durch Sprache siehe in diesem Band ')Heimar und
pracht, (Nr. 34).