Gemeinsames Lernen

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Mit dem Gesicht zu den Menschen. Märkische Hefte 26 November 2012 Gemeinsames Lernen Wie kommen wir zu einer Schule für alle?

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Wie kommen wir zu einer Schule für alle?

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Mit dem Gesicht zu den Menschen.

MärkischeHefte

26November 2012

Gemeinsames Lernen Wie kommen wir zu einer Schule für alle?

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Impressum

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Liebe Brandenburgerinnen, liebe Brandenburger,

Kinder sind das Wichtigste, das wir haben. Deshalb brauchen wir Chancengleichheit für alle Kinder und Jugendlichen. Bisher verlassen rund 9 Prozent unserer Schülerinnen und Schüler die Schule ohne Abschluss – die meisten von ihnen haben eine Förderschule besucht. Diese jungen Menschen starten mit ungleich schlechteren Bedingungen in das Berufsleben als die Schülerinnen und Schüler mit einem qualifizierten Schulabschluss. Das wollen wir ändern.

In Brandenburg sollen deshalb ab dem Schuljahr 2014/2015 auch Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine inklusive Grundschule besuchen können. Die inklu-sive Grundschule als „Schule für alle“ ist ein wichtiger Beitrag zu mehr Chancengerechtigkeit. Studien und die Erfahrungen unserer europäischen Nachbarn beweisen, dass der gemeinsame Unterricht von lernstarken und lernschwachen Schülern auch bei den Lernstarken zu größeren Bildungserfolgen führt.

Im Schuljahr 2012/2013 starten in ganz Brandenburg 85 Pilotschulen. Wir wollen damit an die guten Erfahrungen anknüpfen, die wir mit inklusiver Bildung gemacht haben, neue Erkennt-nisse gewinnen und auch so manche Vorbehalte entkräften. Dafür ist der intensive Austausch zwischen Lehrern, Schülern und Eltern ganz wichtig. Wir sind überzeugt davon, dass wir auf diesem Wege unser Bildungssystem nicht nur in seiner Qualität weiter verbessern, sondern es auch sozial gerechter gestalten.

Wir Sozialdemokraten wollen kein Kind zurücklassen. Wir sorgen dafür, dass nicht länger viel zu viele Kinder in gesonderten Schulen ausgegrenzt und ihnen damit gute Startchancen ge-nommen werden. Jedes Kind soll in Brandenburg eine gute berufliche Perspektive bekommen.

Ralf Holzschuher MdL Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion

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Solidarität und Chancengleichheit sind sozialdemokratische Leitmotive. Deshalb ist das gleichberechtigte Zusammenleben unterschiedlichster Menschen uns sehr wichtig. Unser Ziel ist es, niemanden zu-rückzulassen. Genau darum geht es bei dem etwas sperrig anmutenden Begriff „Inklusion“. Inklusion ist ein Thema, das alle Lebensbe-reiche und unsere gesamte Gesellschaft betrifft. Ein zentraler Bereich ist dabei die Bildungspolitik. Hier entscheidet sich bereits sehr früh, ob alle Kinder die gleichen Start-chancen ins Leben bekommen.

Kinder sind das Wichtigste, das wir haben. Gerade im Bildungsbereich brauchen wir Chancengleichheit für alle Kinder und Ju-gendlichen. Die Kinder, die heute in die Schu-

Dr. Martina Münch ist Ministerin für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg

le gehen, werden schon bald Verantwortung übernehmen in einer Welt, die deutlich viel-fältiger und heterogener sein wird, als wir uns das heute vorstellen können. Inklusion ist zukunftsorientiert und bedeutet vor al-lem Wertschätzung der Vielfalt.

Vielfalt ist eine große Entwicklungschance. Genau an dieser Stelle setzt inklusive Bil-dung an, denn sie schließt alle Kinder und Jugendlichen ein. Inklusive Bildung ist ein Menschenrecht und eine Forderung zu-kunftsorientierter Bildungspolitik, nicht erst seit Ratifizierung der UN-Konvention.

Eine inklusive Schule geht von den individu-ellen Stärken aller Kinder und Jugendlichen aus, ermöglicht diskriminierungsfreies Ler-nen und Leben in einer Balance von Vielfalt und Gemeinsamkeit und unterstützt jede Schülerin und jeden Schüler, seine individu-ellen Fähigkeiten voll zu entfalten.

Dass hier zunächst Vorbehalte existieren, ist nachvollziehbar. Eine so breite Diskussion kann gar nicht immer nur von Übereinstimmung geprägt sein. Damit inklusive Bildung für alle Kinder und Jugendlichen gelingt, brauchen wir deshalb eine breite und nach vorne gerichte-te Diskussion. Wir alle müssen tagtäglich ein Stück mehr Experten für Inklusion werden.

Martina Münch

Die Schule der Zukunft ist die inklusive Schule

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Unser Ziel ist: Wir wollen kein Kind zurück-lassen. Jedes Kind ist an der Schule seines Wohnortes willkommen – mit seinen Stär-ken und Schwächen, mit seinen Begabungen und seinem Unterstützungsbedarf. Wir wol-len eine Schule, die jedes Kind dort abholt und fördert, wo es steht.

Um dieses Ziel zu erreichen, haben alle Ressorts der Landesregierung unter Feder-führung des Sozialministeriums ein Maß-nahmenpaket für das Land Brandenburg zur Umsetzung der UN-Konvention für die Rechte der Menschen mit Behinderungen erarbeitet Einige wichtige Maßnahmen im Bildungsbereich sind:

1. Qualitätssicherung des gemeinsamen Unterrichtes

■ durch bessere Verbindung von schulischer Diagnostik und Bereitstellung entspre-chender Förder- und Beratungsangebote,

■ durch Ausweitung und Qualifizierung des Bildungsberatungs-Angebotes für Schüle-rinnen und Schüler mit sonderpädagogi-schen Förderbedarfen sowie deren Eltern,

■ durch Neustrukturierung der sonderpä-dagogischen Beratung und Unterstüt-zung in den staatlichen Schulämtern und Standardisierung und Zentralisierung der Feststellungsverfahren sowie

■ durch Verankerung von inklusionspäda-gogischen Inhalten in die Lehramtsaus-bildung.

2. Qualifizierung von Lehrkräften zur Wei-terentwicklung des integrativen Unter-richts durch Individualisierung auf dem Weg zu einer „Schule für alle“.

3. Abstimmung mit den Schulträgern und den kommunalen Spitzenverbänden über die quantitative und qualitative Auswei-tung der Angebote des gemeinsamen Unterrichts in Grundschulen und weiter-führenden Schulen für Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf körperlich-mo-torische Entwicklung, Sehen, Hören, geis-tige Entwicklung und Autismus.

4. Sicherung von Rahmenbedingungen für eine landesweit vergleichbare Qualität der inklusiven Schulbildung.

5. Schrittweiser Umbau des Parallelsystems von Förderschulen und gemeinsamem Unterrichts in Grundschulen und weiter-führenden Schulen für Schülerinnen und Schüler mit dem sonderpädagogischen Förderbedarf LES hin zu einer inklusiven Schule beginnend ab dem zum Schuljahr 2012/13 mit den Pilotschulen. Ab 2015 soll es beginnend mit der Jahrgangsstufe 1 keine Einschulungen mehr in Förderschu-len für diese Förderschwerpunkte geben.

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Bei der Umsetzung von Inklusion brauchen wir die Erfahrungen und das Knowhow aller Beteiligten. Dabei ist mir eines besonders wichtig: Die vor uns liegenden Prozesse wer-den Veränderungen in der Arbeit vieler Fach-kräfte mit sich bringen, die bisher in Spezi-aleinrichtungen unterschiedlicher Art tätig sind – z.B. in Förderschulen. Wir werden sie und ihr Können unvermindert brauchen.

Selbstverständlich brauchen wir rechtliche, pädagogische, personelle und finanzielle Rahmenbedingungen. Ich habe immer nach-drücklich vertreten, dass Inklusion kein Spar-

konzept sein kann. Die Beschlüsse des Land-tages und der Regierungsfraktionen über den Landeshaushalt zeigen deutlich, dass uns dies auch Ernst ist.

Wir werden unser Bildungssystem behutsam und mit Augenmaß weiterentwickeln. Dabei liegt unser Hauptaugenmerk zunächst auf Schülerinnen und Schülern mit besonderem Unterstützungsbedarf in den Förderschwer-punkten Lernen, emotional-soziale Entwick-lung und Sprache (LES). Hierzu haben wir – beginnend mit dem Schuljahr 2012/13 – in allen Schulamtsbezirken insgesamt 85 Pilot-

Gemeinsames Lernen in Brandenburg auf dem Vormarsch. Teilnehmende Schulen am Pilotprojekt „Inklusive Grundschule“

Quelle: MBJS 2012

PROPR

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Brandenburg

Cottbus

Frankfurt (Oder)Potsdam

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schulen, davon 11 in freier Trägerschaft, ein-gerichtet. Diese werden wir wissenschaftlich begleiten und Erfahrungen beim Aufbau inklusiver Schulangebote systematisch sam-meln.

Pilotschulen stärken gemeinsames Lernen

Die Idee des gemeinsamen Unterrichts ist nicht grundsätzlich neu. Bereits jetzt lernt fast jeder zweite Schüler mit Förderbedarf an einer Regelschule, viele Grundschulen haben bereits Erfahrungen mit inklusiver Bildung gesammelt. Die Pilotschulen sollen hier ansetzen, Erkenntnisse vertiefen und auf dem Weg zu einer „Schule für alle“ eine Brückenfunktion übernehmen.

Für die Pilotschulen werden wir im Jahr 2012 zwei Millionen Euro zusätzlich einsetzen. Für die Fortbildung der Lehrkräfte stehen im Jahr 2012 zusätzlich eine Million Euro zur Verfü-gung. Die 85 Pilotschulen, die jetzt an den Start gehen, erhalten gute Startbedingun-gen:

■ Die Pilotschulen werden kleinere Klassen haben – mit einem Frequenzrichtwert von 23 Schülerinnen und Schülern und ei-ner Obergrenze von 25.

■ Sie erhalten 3,5 Lehrer-Wochenstunden pro Schüler als Basisausstattung für fünf

Prozent der Gesamtschülerzahl für för-derdiagnostische Lernbegleitung in den Schwerpunkten LES und zusätzliche Leh-rer-Wochenstunden bei besonderen Prob-lemlagen.

■ Die Pilotschulen erhalten eine prozessbe-gleitende Fortbildung und Beratung und Transferleistungen durch regionalen und überregionalen Erfahrungsaustausch mit anderen Schulen.

■ Grundprinzip ist die kollegiale Fortbil-dung in Netzwerken. Zielgruppen der Fortbildung sind Schulen und deren Netz-werke, nicht Einzelpersonen. Daneben werden Angebote für die Schulleitungen der Pilotschulen entwickelt.

■ Die Fortbildung der Fachberater/-innen und Moderator/-innen hat bereits begon-nen.

■ Die FLEX-Klassen erhalten wie bisher zusätzlich 5 Lehrer-Wochenstunden für Differenzierung. Dabei ist die bisher ge-sonderte Zuweisung für die förderdiag-nostische Lernbegleitung in der Grund-ausstattung bereits enthalten.

■ Diese Rahmenbedingungen bilden für die beteiligten Schulen eine verlässliche Basis für die individuelle Förderung der Schüle-rinnen und Schüler.

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Um die beteiligten Lehrkräfte auf die Beson-derheiten einer inklusiven Schule bestmög-lich vorzubereiten, erhalten sie eine pro-zessbegleitende Fortbildung und Beratung. Daneben können sie vom regionalen und überregionalen Erfahrungsaustausch mit den anderen am Vorhaben beteiligten Schu-len profitieren. Durch Austausch und Fortbil-dung werden Erfahrungen bei dem bereits praktizierten binnendifferenzierten Unter-richt optimiert. Schulen erhalten zusätzlich bei besonderen Problemlagen Unterstüt-zung durch wissenschaftliche und fachliche Begleitung.

Wenn wir zum Schuljahresbeginn 2015 mit inklusiven Schulangeboten in der Jahrgangs-stufe 1 im ganzen Land starten, wird das Wis-sen der Pilotschulen anderen Schulen helfen. Es wird uns für die Umsetzung inklusiver Angebote ein klares Bild liefern, in welchen Bereichen die Schulen bereits sehr gut auf-gestellt sind und an welchen Stellen Nach-steuerungsbedarf besteht. Diese Erfahrun-gen werden auch den Schulträgern helfen, die tatsächlichen Bedarfe inklusiver Schulen noch besser einschätzen zu können.

Wir sind gut vorbereitet

Im September 2011 hat der Runde Tisch Inklu-sive Bildung seine Arbeit aufgenommen. Er tagt mit ca. 35 Vertreterinnen und Vertretern von Verbänden der Menschen mit Behin-

derungen, Lehrerverbänden, kommunalen Spitzenverbänden und Schulen, Kirchen und weiteren Verbänden sowie den bildungspo-litischen Sprecherinnen und Sprechern der Landtagsfraktionen.

Seit Oktober 2011 arbeitet der wissenschaft-liche Beirat von zehn ausgewiesenen Exper-tinnen und Experten für Inklusive Bildung. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-ler für inklusive Bildung haben ihre grund-sätzliche Zustimmung für den Brandenbur-ger Weg signalisiert. Der Beirat berät das Ministerium bei der Umsetzung inklusiver Schulangebote in Brandenburg.

In diesem Jahr haben wir das Gesamtkon-zept weiterentwickelt und die Pilotschulen benannt. Jetzt kann die Umsetzung vor Ort erfolgen. Dabei kommt es auch auf eine enge Kooperation zwischen Schule, Kinder- und Jugendhilfe und dem Gesundheitsbe-reich an, um erfolgreich lokale und regionale Strukturen für inklusive Angebote zu entwi-ckeln.

Natürlich haben die Schulträger eine große Bedeutung in unserem Vorhaben. Wir ken-nen inzwischen zahlreiche Bürgermeister und Landräte, die unsere Bemühungen tat-kräftig unterstützen. Auch mit den kommu-nalen Spitzenverbänden sind wir dazu im laufenden Kontakt. Wir möchten die Schul-träger u.a. ermutigen, die Entwicklung inklu-

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siver Schulangebote in die Erstellung ihrer Schulentwicklungspläne einzuarbeiten und dabei nicht nur für fünf Jahre, sondern län-gerfristig voraus zu planen. Die demografi-sche Entwicklung hat auch Einfluss auf die Standorte der Förderschulen. Auch deshalb ist es wichtig, regionale und lokale inklusive Bildungsangebote zu stärken.

Gute Beispiele von Schulen in Brandenburg zeigen, dass die Entwicklung inklusiver Schulangebote schon begonnen hat. Der Be-auftragte der Bundesregierung für die Belan-ge behinderter Menschen, Hubert Hüppe, die Bertelsmann Stiftung, die Sinn-Stiftung und die Deutsche UNESCO-Kommission zeichnen jährlich bundesweit Schulen mit herausra-genden inklusiven Angeboten aus. Ich freue mich, dass dieses Jahr mit der Regine-Hilde-brandt-Gesamtschule aus Birkenwerder schon zum zweiten Mal eine Brandenburger Schule diesen Preis erhalten hat. Damit wird deutlich, dass es bereits hervorragend funk-tionierende Konzepte für inklusive Schulan-gebote in Brandenburg gibt.

Inklusive Bildung beginnt nicht erst in der Schule, sondern bereits in der Kita. In Bran-denburger Kitas werden Kinder mit und ohne Förderbedarf gemeinsam betreut. Auch an diese Erfahrungen können wir an-knüpfen auf dem Weg zur Entwicklung in-klusiver Schullandschaft.

Unser Ziel ist eine Schule für alle Kinder. Internationale wissenschaftliche Einrich-tungen und Unternehmen haben es längst erkannt. Vielfalt ist eine wichtige Ressource. Aus Vielfalt und Verschiedenheit entstehen neue Ideen und Kreativität. Eine Reihe von wissenschaftlichen Studien, allen voran die Bertelsmann Studie 2009 belegen das aus-drücklich auch für die Schule. Kinder lernen besser im gemeinsamen Unterricht. Er hilft ihnen, ihre Fähigkeiten voll zu entfalten und individuelle Bestleistungen zu erlangen. Es gibt kaum einen besseren Ort, an dem Kinder den Umgang mit Vielfalt und Heterogenität lernen können, als die Inklusions-Schule.

Wir haben allen Grund zuversichtlich zu sein und werden den Weg zur inklusiven Schule gemeinsam meistern.

Bildungsministerin Martina Münch liest Grundschülern zum Welttag des Buches vor.

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Seit Jahren wird in der allgemeinen wie in der Fachöffentlichkeit die Frage diskutiert, wel-che Konsequenzen aus der seit März 2000 gültigen Übernahme der UN-Behinderten-rechtskonvention (UN-BRK) in das bundes-deutsche Recht für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen in Kita und Schule zu zie-hen sind. Die hier zentralen Sätze in Artikel 24 der UN-BRK lauten: „Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Be-hinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundla-

Prof. Dr. Ulf Preuss-Lausitz war von 1980 bis 2008 Pro-fessor für Erziehungswissenschaft/Schulpädagogik an der Technischen Universität Berlin. Er ist u.a. Mitglied des Sprecherrats des Expertenkreises Inklusive Bildung der Deutschen UNESCO-Kommission und Mitglied des Fachbeirates Inklusion beim Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg.

1) Der Text der UN-BRK mit seinen 50 Artikeln für alle Lebensbereiche ist in englischer und deutscher – auch einfacher – Sprache u.a. auf der Internetseite des Deutschen Instituts für Menschenrechte (www.institut-fu-er-menschenrechte.de) zu finden. Dort sind außerdem juristische und andere Stellungnahmen zu Einzelfra-gen der UN-BRK abrufbar.

Professor Dr. Ulf Preuss-Lausitz

Was bedeutet inklusive Bildung? ge der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein in-klusives Bildungssystem auf allen Ebenen.“ Kinder mit Behinderungen sollen „Zugang zu einem inklusiven, hochwertigen und unent-geltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben und inner-halb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung“ erhalten.1

Diese und andere Formulierungen der Kon-vention verweisen auf einen Bildungsbegriff, der zum einen die individuellen Bedürfnisse und Potenziale, zum anderen das diskrimi-nierungsfreie Lernen und Leben in der Ge-meinschaft des sozialen Näheraums her-vorhebt – in einer Balance von Vielfalt und Gemeinsamkeit, geprägt von Wertschätzung und anspruchsvoller Bildung und Förderung. Die UN-BRK schließt damit an ein zukunfts-fähiges Bildungsverständnis an, das von den Stärken (Potenzialen) jedes Menschen und zugleich von der Notwendigkeit individuel-ler Förderung und Unterstützung ausgeht, und das schon in den 1990er Jahren von der Salamanca-Konferenz der Unesco von 1994 (Unesco 1996), vom Unesco-Report „Lernen

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ist nicht der Fall: Die Umsetzungszeit wird nicht vorgegeben. Der Zeitplan ist jedoch nicht beliebig. Die UN-BRK verpflichtet jeden Unterzeichnerstaat, in regelmäßigem Ab-stand über die Umsetzung in den einzelnen Bereichen gegenüber der UN zu berichten, und in jedem Staat gibt es eine Monitoring-Stelle, die den Realisierungsprozess kritisch begleitet. In Deutschland ist dies das Deut-sche Institut für Menschenrechte.

Überschaut man die Zeitpläne einzelner Bundesländer zur Umsetzung der UN-BRK im Bereich Bildung, so wird deutlich, dass es unterschiedliche ‚Geschwindigkeiten’ und Entwicklungen gibt – wie immer in Bildungs-fragen. Brandenburg und einige andere Län-der haben sich mit dem Zwischenziel 2020 einen Zeitpunkt für die Verwirklichung be-stimmter Ziele gesetzt. Solche ‚benchmarks’ sind nötig, um planen zu können, Klarheit für alle Beteiligte zu schaffen und bei Nicht-erreichung konkreter Teilziele neue Schritte einzuleiten.

Die UN-BRK zielt mit ihrer Formulierung „in-clusive education at all levels“ auf die Inte-grationsfähigkeit und Nichtdiskriminierung des gesamten Bildungssystems. Es geht also um mehr als um individuelle Förderung: In-klusion verlangt auch systemische Antwor-ten für die Teilsysteme der Frühförderung, der Kindertagesstätten, der Schulen und ih-res sozialen Umfeldes, des Freizeitbereichs,

– Der innere Reichtum“ (1996/7) und von einzelnen Pädagoginnen und Pädagogen in Deutschland (z.B. Prengel 1993, Hinz 1993, Preuss-Lausitz 1993) formuliert wurde. Die zitierten Sätze aus Art. 24 UN-BRK verweisen darauf, dass das gemeinsame Lernen und Le-ben alle Bildungseinrichtungen – von Anfang an – einschließen, sich also nicht nur auf Schule beschränken, auch nicht nur auf die gemeinsame Grundschulzeit. Welche Schlüs-se sind außerdem zu ziehen? Die UN-BRK formuliert das Recht auf inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinde-rungen in Bezug auf allgemeine Menschen-rechte. Das ist etwas anderes, als diesen Kindern nach Maßgabe vorhandener Mittel gemeinsamen Unterricht zu gewähren (ci-vil rights statt charity). Vielmehr ist damit ein uneingeschränktes Individualrecht auf inklusive Bildung gesetzt (vgl. dazu u.a. das Institut für Menschenrechte Berlin oder das Gutachten von Riedel 2010). Dieses Individu-alrecht gilt seit März 2009; es muss jedoch zur Klarstellung in den (Bildungs-) Gesetzen der Bundesländer verankert werden, schon zur besseren Information nicht nur von El-tern, sondern auch aller anderen Akteure im Bereich von Bildung und Förderung.

Häufig wird unterstellt – und zuweilen wer-den daraus Horrorszenarien abgeleitet –, die UN-Behindertenrechtskonvention verlange nun einen sofortigen und totalen Umbau des Bildungssystems und der Schulen. Das

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der Unterstützungssysteme der Jugend- und der Familienhilfe, der beruflichen Übergänge usw. Daher sind alle Akteure – die Träger von Kitas und (Sport-) Vereinen, die Schulträger, die kommunalen Ämter des Sozialwesens, der Jugend- und Familienhilfe, das Land, die Eltern und Kinder, die Pädagoginnen und Pä-dagogen usw. aufgefordert, mehr als bisher zu kooperieren, vernetzt zu denken und ge-meinsam zu handeln.

Zugleich ist zu betonen: Gemeinsames Ler-nen von Kindern mit und ohne Behinderun-gen ist nichts Neues. In Brandenburg gibt es in jedem Landkreis und in jeder kreisfreien Stadt seit 20 Jahren Erfahrungen mit ge-meinsamem Unterricht. Solch ein gemeinsa-mer Unterricht – der bislang unter ‚Integra-tion’ firmierte –, war und ist ‚inklusiv’, wenn und weil er sich an gemeinsamen Lernsitu-ationen und den didaktischen Grundsätzen eines guten Unterrichts orientierte. Es gibt daher keinen Grund, anzunehmen, unter-

richtlich sei ‚Inklusion’ etwas Neues, was von den bisherigen Unterrichts- und Schul-erfahrungen der Integrationslehrkräfte ab-weiche, und etwas Besseres. Die wertvollen Erfahrungen, die Sonderpädagogen als auch allgemeine Lehrkräfte im gemeinsamen Un-terricht bislang gewonnen haben, sind viel-mehr eine hervorragende Grundlage für die Ausdehnung und systemische Umstellung auf ein insgesamt inklusives Bildungssystem in jeder Region. Der Inklusionsanspruch gilt, wie die Textpassagen der UN-Behinderten-rechtskonvention deutlich machen, nicht für bestimmte Schulformen und Trägerschaften, sondern generell. Auf Deutschland übertra-gen: also auch für das noch vorhandene ge-gliederte (Sekundar-) System, und für private Schulträger ebenso wie für öffentliche. Was dies jedoch etwa für ein Gymnasium kon-kret bedeutet, ist zu klären. Zumindest was den ‚zielgleichen’ (rahmenlehrplankonform) gemeinsamen Unterricht, etwa für Kinder und Jugendliche mit Sinnes- und Körperbe-

UN-Behindertenrechtskonvention, Artikel 24

Menschen mit Behinderungen sollen zur wirklichen Teilhabe an der Gesellschaft be-fähigt werden

„… Menschen mit Behinderungen dürfen nicht aufgrund von Behinderung vom all-gemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und Kinder mit Behinderungen

nicht aufgrund von Behinderung vom unent-geltlichen und obligatorischen Grundschul-unterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden.“ Geltendes Völkerrecht, Beschluss Bundes-rat und Bundestag, Ratifizierung 2009 mit Rechtsbindung für die Umsetzung in den einzelnen Bundesländern

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hinderungen, aber auch mit sprachlichem, emotionalem und sozialem Förderbedarf oder mit autistischen Zügen betrifft, müs-sen sich auch Gymnasien der inklusiven Be-schulung öffnen und – im weitesten Sinne – barrierefrei werden. Grundsätzlich kann von einem „inklusiven Bildungssystem“ allerdings erst dann gesprochen werden, wenn es überall Schulen für alle Kinder und Jugendlichen vorhält, die auf Zurückstellun-gen und (zwangsweisem) Sitzenbleiben ver-zichten, nicht ‚abschulen’ und alle Bildungs-abschlüsse ermöglichen. Die Erfahrungen mit gemeinsamem Unterricht machen für viele Beteiligte die Widersprüchlichkeit von Inklusion und Selektion deutlicher. Mögli-cherweise führt diese Erfahrung zu einem

Abbau segregierender Praktiken sowohl in der einzelnen Schule als auch im gesamten Schulsystem.

‚Kinder mit Behinderungen’ werden im eng-lischen Original der UN-BRK students with disabilities genannt, in der englischsprachi-gen Fachliteratur wird von students with special educational needs gesprochen. Die deutschen Bildungsminister vermeiden seit Jahren die Begriffe „Behinderung“ und „be-hinderte Kinder“ und sprechen stattdessen von „Schülerinnen und Schülern mit sonder-pädagogischem Förderbedarf“.

Dieser Förderbedarf wird, international be-trachtet, durchaus auf unterschiedliche

16.000 Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Brandenburg nach Förderschwerpunkten

Quelle: MBJS 2010

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Gruppen bezogen: In vielen Staaten sind damit nur Heranwachsende mit Sinnes-, körperlichen und geistigen Behinderungen gemeint, häufig nicht jedoch jene, für die wir bislang (sonderpädagogische) Förderung im Bereich Lernen, emotionale und soziale Ent-wicklung und Sprache feststellen (für diese werden dann meist allgemeine pädagogi-sche Förderkonzepte vorgehalten). Manche Staaten ziehen also engere Grenzen des Begriffs disability. Der breitere deutsche Be-hinderungsbegriff (im Sinne pädagogischer zusätzlicher Unterstützung) ist begrüßens-wert, schafft er doch eine höhere Wahr-scheinlichkeit, dass individuelle Förderung auch realisiert wird. Er hat jedoch auch dazu geführt, dass der Anteil der Schüler/-innen

mit (festgestelltem) sonderpädagogischem Förderbedarf seit Jahrzehnten steigt: Lag er 1990 noch in der DDR und in der Bundesre-publik bei ca. vier Prozent, so stieg er bis 2010 auf etwa sechs Prozent, also um mehr als ein Drittel mit weiter steigender Tendenz. Es ist nicht so, dass die – leichte – Zunahme der Kinder mit Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht (GU) zu einer generellen Abnah-me im Förderschulsystem führt; vielmehr steigen sowohl die Anteile im GU als auch im Förderschulsystem (im Einzelnen vgl. Preuss-Lausitz 2010 mit Zahlen seit 1950).

Blickt man auf die europäische Entwicklung im gemeinsamen inklusiven Unterricht, dann muss man feststellen, dass das deutsche Kon-zept – gemeinsamer Unterricht für eine Min-derheit, für die breite Mehrheit separierende Förderschulen mit extrem unterschiedlichen Chancen für gemeinsamen Unterricht zwi-schen und in den Bundesländern – ein nega-tiver, aussondernder Sonderweg ist:

Gerade in Kenntnis solcher Vergleiche erle-ben viele Eltern von Kindern mit und ohne Behinderungen, wie ungerecht die Chancen auf Inklusion in Deutschland verteilt sind. In den letzten Jahren hat die Zustimmung zum gemeinsamen Unterricht deutlich zugenom-men. Darauf verweist eine repräsentative Umfrage von Infratest unter allen Eltern mit Schulkindern. Diese Eltern wurden gefragt, ob sie eher Vor oder Nachteile im gemeinsa-

Anteil gemeinsamen Unterrichts in Europa 2009

Quelle: Daten (gerundet) nach Preuss-Lausitz 2012

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men Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung sehen, und wie sie diese Frage in Bezug auf Primar- und Sekundarstufe be-urteilen. Das Ergebnis: Rund 75 Prozent der Schuleltern sehen große oder eher Vorteile, und zwar für Primar- und Sekundarstufe in fast gleichem Maß. 20 Prozent sehen für den Primarbereich, 25 Prozent für den Sekundar-bereich Nachteile, darunter nur fünf Prozent, die große Nachteile annehmen (Infratest 2011).

Auch eine zweite Elternbefragung kann In-klusionsbefürworter optimistisch stimmen. In Nordrhein-Westfalen wurden über 500

Eltern sprachbehinderter Grundschüler/-innen in entsprechenden Förderschulen und im gemeinsamen Unterricht nach ihrer Einschätzung der Zufriedenheit, Diskrimi-nierungserfahrung und Zukunftschancen ihrer Kinder befragt. Das Ergebnis: Die El-tern sind in beiden Settings mit ihren Schu-len in gleichem Maß zufrieden. Eltern von Kindern im GU berichten aber signifikant häufiger von weniger Diskriminierung ihrer Kinder (!), von mehr Zuversicht, dass ihre Kinder die Sprachprobleme überwinden würden, und sie sind optimistischer in Be-zug auf bessere Schulabschlüsse (vgl. Lüke/ Ritterfeld 2011).

Wie kommen wir zu einer Schule für alle? Auf einer Veranstaltung der SPD-Landtagsfraktion im März 2012 holt die SPD die Meinung von Fachleuten ein. Im Bild Professor Dr. Ulf Preuss-Lausitz, Bildungsministerin Dr. Martina Münch und der bildungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Thomas Günther (v.l.n.r.)

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Diese Umfrage bestätigt eine schon ältere brandenburgische Elternbefragung. Dort wurde festgestellt, dass anfangs eher skepti-sche Eltern (nicht behinderter Kinder) durch die Erfahrung ihrer Kinder und den Einblick in die pädagogische Arbeit der (Grundschul-)Lehrkräfte überzeugt wurden von den Vor-zügen gemeinsamen Lernens: „Erfahrungen fördern Akzeptanz“ (vgl. Heyer u.a. 1997, 151ff.). Das gilt nicht nur für Eltern. Deshalb sollten bei der landesweiten Umsetzung der inklusiven Schule alle jene Schulen und Lehr-kräfte in einem peer-peer-System durch inte-grations- und inklusionserfahrene Schulen und Lehrkräfte begleitet werden. So können Ängste abgebaut und Probleme gemeinsam gelöst werden.

Dieser Beitrag beruht auf einem Vortrag, der im Januar 2012 im Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg in Potsdam gehalten wurde.

LiteraturHeyer, P. / Preuss-Lausitz, U. / Schöler, J. (Hrsg.): „Behin-

derte sind doch Kinder wie wir!“ Gemeinsame Erzie-

hung in einem neuen Bundesland. Berlin 1997.

Hinz, A.: Heterogenität in der Schule. Hamburg 1993.

Infratest: Ergebnisse einer Umfrage zur gemeinsa-

men Unterrichtung, Nov. 2011.

Lüke, T. / Ritterfeld, U.: Elterliche Schulzufriedenheit in

integrativer und segregativer Beschulung sprachauf-

fälliger Kinder. Ein Vergleich zwischen Förderschule

und Gemeinsamem Unterricht. In: Empirische Son-

derpädagogik Nr. 4, 2011, 324-342.

Prengel, A.: Pädagogik der Vielfalt. Opladen 1993.

Preuss-Lausitz, U.: Die Kinder des Jahrhunderts. Zur

Pädagogik der Vielfalt im Jahr 2000. Weinheim und

Basel 1993.

Preuss-Lausitz, U.: Separation oder Inklusion. In: Bos,

G. u.a. (Hrsg.): Jahrbuch für Schulentwicklung, Bd. 16,

Weinheim und München 2010, 155-181.

Riedel, E.: Gutachten zur Wirkung der internationalen

Konvention über die Rechte von Menschen mit Be-

hinderungen. Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen

NRW e.V., Dortmund 2010.

Unesco: Österreichische Unesco-Kommission: Päda-

gogik für besondere Bedürfnisse. Die Salamanca-Er-

klärung vom Juni 1994, Wien 1996. Auch unter www.

bidok.uibk.ac.at/library/unescosalamanca.html.

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17Gemeinsames Lernen – Wie kommen wir zu einer Schule für alle?

Thomas Günther und der Bildungsexperte Wilfried Steinert im Interview

„Jedem Kind von Anfang an eine gerechte Chance geben“ Herr Steinert, Sie haben 2002 in Templin da-mit begonnen, eine Schule für geistig beein-trächtigte Kinder umzugestalten, um so ge-meinsamen Unterricht mit allen Kindern zu ermöglichen. Wie erklären Sie Eltern, warum ein gemeinsamer Unterricht für ihre Kinder gut ist?

Steinert: Ganz wichtig ist, die Eltern frühzei-tig einzubeziehen und sie mit Argumenten zu überzeugen. Viele Vorbehalte der Eltern lösen sich dann auf, wenn sie vom Gesamt-konzept überzeugt sind.

Was verstehen Sie unter gemeinsamem Ler-nen?

Steinert: Meine Schulphilosophie ist: „Wir brauchen alle Kinder, niemand bleibt zurück, niemand wird beschämt”. Das heißt, wir wol-len individuelles Lernen für alle Schülerinnen und Schüler. Das Ziel dieses pädagogischen Ansatzes besteht letztlich darin, voneinan-der zu lernen. Und zwar beide Seiten! Denn sowohl lernstarke als auch lernschwächere Kinder profitieren im tagtäglichen Umgang voneinander. Die Stärkeren helfen den Schwä-cheren, umgekehrt werden die Lernschwä-cheren herausgefordert, mehr lernen zu wol-len. Das ist die beste Konstellation, um die soziale Kompetenz aller Kinder zu stärken.

Herr Günther, was spricht aus Ihrer Sicht für gemeinsames Lernen?

Günther: Wenn wir von einer „Schule für alle“ sprechen, dann verbinde ich auch im-mer „Chancen für alle“ damit. Das ist unser sozialdemokratischer Ansatz. Es ist schlicht-weg unfair, lernschwächere Kinder auszu-grenzen. Wir wissen, dass viele von ihnen kei-nen anerkannten Schulabschluss schaffen und dann auch kaum Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt haben. Wir müssen aber jedem Kind von Anfang an eine gerechte Chance geben. Das schaffen wir am besten, indem lernstarke und lernschwächere Kindern zu-sammen lernen. Das ist auch unsere Vorstel-lung von einer modernen Gesellschaft, in der Menschen mit unterschiedlichen Fähigkei-ten nicht getrennt sind, sondern zusammen lernen, arbeiten und leben.

Thomas Günther ist Mitglied des Landtags Brandenburg und bildungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion.

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18 Märkische Hefte 26 | November 2012 Gemeinsames Lernen – Wie kommen wir zu einer Schule für alle?

Was sind die Voraussetzungen dafür, dass gemeinsames Lernen gelingen kann?

Steinert: Am Anfang geht es im Unterricht darum, dass alle Beteiligten lernen, wie man lernt. Das betrifft zum einen die Schü-lerinnen und Schüler, die wissen müssen, wie man gemeinsam lernt. Aber natürlich sind auch die Pädagogen gefordert. Man braucht dazu ein Konzept, wie gemeinsamer Unterricht aussieht. Das gelingt nur, wenn Fachlehrer und Sonderpädagogen an einem Strang ziehen. Natürlich muss auch die Infra-struktur stimmen: Relativ kleine Klassen und eine gute Betreuungssituation mit Pädago-gen sind wichtig.

Schildern Sie doch bitte mal aus der Praxis: Wo steht Ihrer Einschätzung nach Branden-burg beim gemeinsamen Lernen? Was sind die Stärken, was bleibt noch zu tun?

Steinert: Eine ganz klare Stärke ist, dass in Brandenburg die Klassengröße im Rahmen der inklusiven Bildung auf 23 Schüler redu-ziert wird und für fünf Prozent der Schüler einer Schule zusätzlich 3,5 Stunden pro Schü-ler bereitgestellt werden – bei 100 Schülerin-nen und Schülern sind das also 17,5 Stunden Sonderpädagogik. Damit wird eine solide Basis für einen guten inklusiven Unterricht geschaffen. Allerdings muss aber noch kon-kreter beschrieben werden, wie die Son-derpädagoginnen und -pädagogen in den Unterricht einbezogen werden. Was nicht passieren darf ist, dass man die Förderkin-der einfach aus dem allgemeinen Unterricht herausnimmt und extra unterrichtet – und damit erneut stigmatisiert. Die Rolle der Sonderpädagogen wird sich gegenüber dem früheren Förderschulsystem ganz sicher ver-ändern und darin sehr viel qualifizierter wer-den. In diesem Veränderungsprozess muss

Gemeinsames Lernen: Wie viele Förderschülerbesuchen reguläre Schulen? (2010/2011)

Brandenburg ist bei der inklusiven Bildung bundes-weit mit an der Spitze. 39 Prozent der Förderschüler besuchen reguläre Schulen – bundesweit sind es durchschnittlich nur 22 Prozent.

Quelle: Bertelsmann Stiftung 2012

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es gelingen, den hohen Qualitätsstandard der Sonderpädagogik in unserem Land zu erhalten, denn dieser wird europaweit ge-schätzt. Und es wird sich noch ein zweiter Effekt einstellen: Die PISA-Untersuchungen haben festgestellt, dass die soziale Schere in Deutschland immer weiter auseinander geht. Finnische Freunde fragen mich, ob das nicht daran liegt, dass wir bisher die Son-derpädagogik aus der allgemeinen Schule ausgegrenzt und in das Sondersystem För-derschule verlagert haben. Aber gerade die schwächeren Schülerinnen und Schüler der Regelschulen könnten von sonderpädagogi-scher Unterstützung profitieren. Wenn nun durch die Entwicklung inklusiver Bildung die Sonderpädagogik ein fester Bestandteil der Arbeit an den Regelschulen wird, profitieren alle Kinder davon – und wir werden sensibel dafür, wo Kinder eine besondere Unterstüt-zung und Aufmerksamkeit brauchen. Um die Qualität der sonderpädagogischen Ar-beit weiterzuentwickeln, wäre es aus meiner Sicht wichtig, in den Schulamtsbezirken son-derpädagogische Fachkonvente einzurich-ten. Hier können Erfahrungen ausgetauscht und reflektiert werden. Durch gegenseitiges Mentoring kann die Zusammenarbeit der unterschiedlichen pädagogischen Professi-onen gefördert und die gemeinsame Unter-richtsarbeit weiter verbessert werden.

Günther: Hier hat Herr Steinert etwas ganz wichtiges angesprochen. Die Zusammenar-

beit von allen an der Schule Beteiligten muss geübt und gelernt werden. Es darf nicht so sein, dass der Lehrer sagt: Schön dass wir Sonderpädagogen haben, ich mache Unter-richt, vermittle Lerninhalte und wenn es ein Problem gibt, haben wir da den Sonderpäda-gogen. Das würde dem Ansinnen der Inklu-sion zuwiderlaufen. Darauf müssen wir auch bei dem neuen Studiengang Inklusionspä-dagogik achten. Er muss so konzipiert sein, dass er die Rollen von Sonderpädagogen und Lehrern zusammenführt, so dass fach-liche Synergien entstehen. Ohne das aktive Mittun und den Austausch aller Beteiligten kann Inklusion nicht funktionieren.

Wilfried W. Steinert war von 2002 bis 2010 Schulleiter der integrativen Waldhof-Ganztagsgrundschule Tem-plin. Die Schule ist im Jahr 2010 als inklusive Grund-schule mit dem deutschen Schulpreis ausgezeichnet worden. Wilfried Steinert arbeitet heute als Bildungs-experte mit dem Schwerpunkt „Inklusive Schule“ und ist Mitglied im Expertenkreis „Inklusive Bildung“ der Deutschen UNESCO-Kommission.

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Zur Frage von Umsetzung und Geschwindig-keit: Wie gehen wir voran? Mit Macht, um viel zu erreichen oder behutsam, um mög-lichst keinen zu verprellen?

Steinert: Ich halte den Weg mit den Pilot-schulen für einen Königsweg. Er ist mit den 85 Pilotschulen breit genug angelegt, um eine positive Grundstimmung vor Ort zu er-zeugen. Gleichzeitig lernt man nicht nur am Einzelfall einer ausgewählten Schule, son-dern wir werden Erfahrungen von ganz vie-len Schulen mit ganz unterschiedlichen Aus-gangsvoraussetzungen sammeln. Einerseits können wir damit erproben, ob die zur Verfü-gung gestellten Ressourcen ausreichen, an-dererseits können Vorbehalte abgebaut wer-

den. Gleichzeitig muss allen Beteiligten klar sein, dass es ab 2015/2016 kein „Wegstehlen“ mehr gibt. Alle haben jetzt drei Jahre Zeit, sich zu qualifizieren und auf den inklusiven Unterricht vorzubereiten. Auch die weiter-führenden Schulen haben so die Chance, sich darauf einzustellen, den Unterricht so zu verändern, dass keiner mehr ausgeschlossen wird. Eigentlich muss es selbstverständlich sein, dass sichergestellt wird, dass kein Kind aus dem gemeinsamen Unterricht mit dem Wechsel auf eine weiterführende Schule wieder in das alte Förderschulsystem zurück-fällt. Damit sind auch schon die weiterfüh-renden Schulen in der Verantwortung und müssen entsprechend unterstützt werden, sich auf ihre neue Rolle vorzubereiten. Durch

Entwicklung des Schüleranteils mit sonderpädagogischem Förderbedarfin Brandenburg

Quelle: Preuss-Lausitz 2012

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das Bildungsministerium werden in diesem Prozess Chancen eröffnet, die wir nutzen sollten, um unser Bildungssystem zukunfts-fähig zu machen und zu einer deutlichen Qualitätssteigerung unserer Unterrichtsan-gebote zu kommen.

Günther: Diese Chance muss man auch wert-schätzen. Es ist unsere Aufgabe, die vorhan-denen Sorgen der Eltern ernst zu nehmen, aber auch über die tatsächlichen Fakten zu sprechen. Wenn man die Anzahl der Kinder zum Maßstab nimmt, die heute an den För-derschulen „Lernen, emotional-soziale Ent-wicklung und Sprache“ unterrichtet werden, werden rechnerisch höchstens ein oder zwei Schüler mit entsprechendem Förderbedarf in einer Klasse hinzukommen. Rechnet man jetzt noch die zusätzlichen Unterstützungs-angebote durch Sonderpädagogen und Stundenaufstockungen hinzu, wird das nach meiner Überzeugung keine Klasse und kei-nen Schüler überfordern. Ich bin ja regelmä-ßig in anderen Bundesländern unterwegs. In Gesprächen höre ich oft: Wenn Brandenburg das kann, warum kann das unser Bundesland nicht? Das ist glaube ich die beste Auszeich-nung, die man erhalten kann.

Zum Abschluss: Wie sieht Ihre persönliche Vision für inklusive Bildung in Brandenburg aus?

Steinert: Meine Vision ist, das wir etwa um 2025/2030 keine Förderschulen mehr in Brandenburg haben und damit auch im in-nerdeutschen Ranking bei den Vergleichs-studien einen gewaltigen Schritt nach vorne machen, weil Inklusion ausweislich aller Un-tersuchungen zu einer Qualitätssteigerung führt und die individuellen Bildungschancen erhöht.

Günther: Ich würde keine Jahreszahlen nen-nen. Ich setze darauf, dass es sich durch unsere Erfolge mit dem gemeinsamen Lernen keiner mehr vorstellen kann, sein Kind an einer För-derschule unterrichten zu lassen. Das muss die Perspektive werden! Was die allernächste Zeit angeht, ist es die große Aufgabe, die Ver-lässlichkeit dieses Modells zu organisieren. Der Zeitplan ist da, wir haben die finanziel-len und organisatorischen Voraussetzungen geschaffen, jetzt liegt es an allen Beteiligten, dass Inklusion in Brandenburg zu einem Er-folg wird – damit wir unserem Anspruch „Kein Kind zurücklassen“ gerecht werden.

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Hansjörg Behrendt

Ein Praxisbericht: Gemeinsamer Unterricht in der Regine-Hildebrandt-Gesamtschule Birkenwerder

Im Schuljahr 2011/12 lernten in der Regine-Hildebrandt-Schule (RHS) insgesamt 680 Schülerinnen und Schüler, von denen 12 Prozent sonderpädagogischen Förderbedarf haben. Auf die sechszügige Sekundarstufe I (Klassen 7 – 10) entfallen 513 Schülerinnen und Schüler, die in 22 Klassen ausschließlich im gemeinsamen Unterricht unterrichtet werden. Es gibt keine Regelklassen mehr, weder in der Sekundarstufe I noch in der Se-kundarstufe II (Klassen 11 – 13). „Gemeinsa-mer Unterricht“ – auch „Integrationsklasse“ genannt – bedeutet nach Sonderpädagogik-

verordnung, dass die Klasse 23 Schülerinnen und Schüler hat, von denen vier einen son-derpädagogischen Förderbedarf haben.

Zum Personal: An der Schule arbeiten 68 Lehrkräfte, davon 12 Sonderpädagoginnen; dazu kommen acht Referendarinnen und Referendare, fünf pädagogische Hilfen, eine Physiotherapeutin, eine Sozialarbeiterin, zwei Mitarbeiter im Bundesfreiwilligendienst, zwei Hausmeister und zwei Schulsekretärinnen.

Seit Anfang der 1990er Jahre kann die RHS in Birkenwerder auf eine ereignisreiche Ge-schichte zurückblicken. Mitte der 1990er Jahre wurde den Schulträgern klar, dass an diesem Standort zwei Sekundarschulen aus demographischen Gründen nicht haltbar waren. Unter Einbeziehung aller Beteiligten begann ein beispielhafter Schulentwick-lungsprozess, der 1999 bis 2005 in einem Schulversuch mündete.

Im Schulversuch sollten vor allem zwei Schwerpunkte untersucht werden:

■ Wie gelingen Schulfusionen – hier: dieje-nige einer Förderschule mit einer Regel-schule?

Hansjörg Behrend war von 2000 bis zu seiner Pensi-onierung im Jahr 2012 Schulleiter der Regine-Hilde-brandt-Gesamtschule Birkenwerder (Oberhavel). Seit-her arbeitet er als freier Bildungsreferent.

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■ Wie kann die Integration von Schülerin-nen und Schülern mit sonderpädagogi-schem Förderbedarf am besten gelingen? Ist eine Förderklasse (Kooperationsklasse) neben den anderen Integrationsklassen hilfreich?

Als Ergebnisse dieses Schulversuchs können zwei zentrale Erfolgsbedingungen vorweg hervorgehoben werden. Zum einen geht es um Beteiligung und Ressourcen. Am Beispiel der Regine-Hildebrandt-Schule ist nach-weisbar, dass Schulfusionen hervorragend gelingen können, wenn alle Betroffenen, vor allem Lehrer, Schüler, Eltern und staatliche Institutionen, gut miteinander zusammen-arbeiten. Zudem müssen die Schulen auch nach der Startphase angemessenen unter-stützt werden mit Personal, Fortbildungen, Qualifizierungen und wissenschaftlicher Be-gleitung.

Zum anderen geht es um eine gute Integrati-on. Eine parallele Förderklasse, die mit einer Integrationsklasse kooperiert, ist nur zu An-fang, in einer Übergangsphase einer Schul-fusion hilfreich. Für eine längerfristige Inklu-sion ist dies nicht zielführend. Seit 2005 gibt es an der Regine-Hildebrandt-Schule keine Förderklasse mehr im jeweiligen Jahrgang. Alle Schüler mit sonderpädagogischem För-derbedarf nehmen regulär am gemeinsa-men Unterricht teil.

Die Regine-Hildebrandt-Schule in Birkenwerder ist eine Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe, die im ge-bundenen Ganztagsbetrieb geführt wird. Die Schule hat auf dem Weg zum gemeinsamen Unterricht schon ein gutes Stück des Weges beschritten und wurde 2012 mit dem Jakob-Muth-Preis der Bertelsmann-Stiftung ausgezeichnet. Im Folgenden geht es darum, über die praktischen Erfahrungen zu berichten, die die RHS auf dem Weg zum gemeinsamen Unterricht gemacht hat.

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Diese Erfolgsbedingungen können auf mög-liche Schulfusionen übertragen werden, die in den nächsten Jahren eine reale Perspekti-ve für einige Brandenburger Schulen werden:

Gutes Schul- und Lernklima

Die meisten Besucher der Schule erleben ein entspanntes Schul- und Lernklima. Hierzu trägt das Leitbild der Schule bei. An der RHS umfasst das Leitbild die Begriffe Leistungs-bereitschaft, Selbstständigkeit, Teamfähig-keit, Toleranz, Hilfsbereitschaft und Rück-sichtnahme. Das gute Schulklima ist, neben dem Ganztagsbetrieb und der gymnasialen Oberstufe, ein wichtiger Grund für die ho-hen Anmeldezahlen, welche die Kapazitäten der Schule vor allem beim Übergang von der sechsten zur siebten Klasse bei weitem über-steigt.

Ausgeglichene Zusammensetzung

Die Erfahrungen an der Regine-Hildebrandt-Schule zeigen, wie wichtig eine ausgegliche-ne Zusammensetzung jeder einzelnen Klasse ist. Es wird darauf geachtet, dass jede Klasse ein Drittel gymnasialempfohlene Schülerin-nen und Schüler hat, denn Leistungsspitzen sind in jeder sozialen Gruppe notwendig. Dies, der Ausgleich zwischen Jungen und Mädchen, die Vermeidung einer Häufung von disziplinschwachen und die sehr diffe-renzierte und individuelle Platzierung von Kindern mit sonderpädagogischem Förder-bedarf führt zu heterogenen Lerngruppen. In der Fachliteratur ist nachgewiesen, dass alle Mitglieder von heterogenen Gruppen dort mehr lernen als in homogeneren Grup-pen. Zumindest lernen gute Schüler kognitiv nicht weniger, aber im Bereich der sozialen Lernziele um ein Vielfaches mehr. Diese Er-kenntnis war für Lehrer und Eltern gleicher-maßen etwas Neues.

Teamarbeit

Einen nicht zu unterschätzenden Anteil an der hohen Arbeitszufriedenheit bei den Leh-rern – die wiederum in hohem Maße den Schülern zugutekommt – hat die starke in-nere Vernetzung der Schule, sprich „Teamar-beit“. Jeder Kollege ist auf allen Ebenen der Organisation in Teams eingebunden:

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■ Es gibt eine erweiterte Schulleitung, die das Konzept von flachem Management und eine „Ermöglichungskultur“ prakti-ziert.

■ Jede Klasse wird von einem Klassenleiter-Tandem geführt. Beide Klassenleiter sind gleichberechtigt. Es gilt der Grundsatz, dass möglichst viel Unterricht in der eige-nen Klasse erteilt werden soll, damit der pädagogische Kontakt zwischen Lehrern und Klasse sehr eng und der Einfluss der Klassenleiter sehr intensiv ist.

■ Jedes Klassenleiter-Duo ist Teil des Jahr-gangsteams (mit Jahrgangsleiter), das sich mindestens einmal im Monat zu pä-dagogischen und organisatorischen Sit-zungen trifft. In der Regel sind in einem Jahrgangsteam auch alle Fächer vertre-ten, so dass jedes Jahrgangsteam auch mit allen Fachkonferenzen vernetzt ist.

■ Die meisten Lehrerinnen und Lehrer sind auch in Lehrer-Arbeitsgruppen organi-siert, die sich u.a. mit Evaluation, Organi-sation, Ganztagsbetrieb, Sozialarbeit oder Sonderpädagogik beschäftigen.

■ In der Steuergruppe als Schnittstelle zwi-schen Schulleitung und Schulentwick-lungsprozessen der gesamten Schule arbeiten die gewählten Vertreter der Jahr-gänge, die Schulleitung sowie Vertreter

der wichtigsten Lehrer-Arbeitsgruppen an der Fortentwicklung des Schulpro-gramms.

Handlungsspielräume und Eigen-verantwortung

Für all diese organisatorischen Einheiten – vor allem für die Jahrgangsteams und die Fachkonferenzen – gilt, dass sie im Rahmen des Gesamtsystems über großen Entschei-dungsspielraum verfügen und in hohem Maße eigenverantwortlich handeln. Für den Schulalltag sind in dieser Hinsicht zwei Aspekte besonders wichtig. Erstens betrifft dies die Aussetzung der äußeren Teilung bei der Leistungsdifferenzierung. Nach wie vor werden die Schüler gemäß den Richtlinien in zwei Differenzierungsgruppen – Grund- und Erweiterungskurse – eingeteilt. Sie werden aber in den bekannten fünf Dif-ferenzierungsfächern im Klassenverband binnendifferenzierend unterrichtet. Damit werden sie genauso wie in allen anderen Fä-chern auch im Klassenverband unterrichtet. Dies hat den Vorteil der zweiten Neuerung: Dadurch, dass die Stundenplaner die bisher vorhandenen Lehrerwochenstunden für die Leistungsdifferenzierung mit der hohen Zahl von regulären Integrationsstunden und der Einsatzmöglichkeit von Referen-daren bündeln, können zumeist gleichzei-tig zwei Lehrer eingesetzt werden. Es liegt auf der Hand, dass ein Team von zwei Leh-

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rern einen bedeutend flexibleren, lern- und übungsintensiveren Unterricht gestalteten kann.

Diese bessere Förderung und Unterstützung des Lernens kommt allen Schülern zugute. Dabei können alle Lehrer ihre Kompetenzen einbringen und weitergeben. Dies betrifft auch die Sonderpädagogen, die nicht mehr Schüler vereinzelnd aus dem Unterricht her-ausnehmen, sondern sie in einem gemeinsa-men Unterricht integrieren. Mit dieser Maß-nahme konnten die Leistungsergebnisse aller etwas besser werden! Mit diesem Argu-ment können viele Eltern überzeugt werden. Unter dem Strich wird sehr wohl von breiten Kreisen wahrgenommen, dass die Schule zwar nur ein Drittel gymnasialempfohlene Kinder in die 7. Klasse aufnehmen darf, am Ende der 10. Klasse aber fast doppelt so viele Jugendliche für die gymnasiale Oberstufe fit gemacht hat.

Erfolgsbedingungen

Als Fazit können eine Reihe von Erfolgsbe-dingungen ausgemacht werden. Gemein-

samer Unterricht und Inklusion können gut gelingen,

■ wenn die Bereitschaft aller dazu vorhan-den ist: bei Eltern, Schülern und Lehrern, Sozialarbeitern, Schulträgern, staatlichem Schulamt und Ministerium;

■ wenn qualifiziertes Fachpersonal vor Ort dauerhaft und in ausreichender Zahl vor-handen ist;

■ wenn die Schule zusammen mit Schul-amt und anderen Institutionen häufige Fortbildungen anbieten kann zu den The-menbereichen „Behinderungsarten“, „of-fene und kooperative Lernformen“ sowie „binnendifferenzierender Unterricht“;

■ wenn Verantwortung von der Schullei-tung zielgerecht delegiert und entspre-chend wahrgenommen wird;

■ wenn alle Klassen tatsächlich heterogen zusammengesetzt sind und die Vielfalt und Unterschiedlichkeit pädagogisch ge-nutzt werden kann.

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27Gemeinsames Lernen – Wie kommen wir zu einer Schule für alle?

Fragen und Antworten zum gemeinsamen Lernen Was ist inklusive Bildung?Warum brauchen wir sie in Brandenburg?

Wir wollen ein Brandenburg für alle! Wir wollen kein Kind zurücklassen, gerade nicht bei der Bildung. In Brandenburg erreichen aber 95 Prozent der Jugendlichen in Förder-schulen keinen anerkannten Schulabschluss. Das ist den Jugendlichen gegenüber unfair, die anschließend kaum Chancen auf dem Ar-beitsmarkt haben. Wir wollen das System des Aussortierens beenden und jedem Kind eine gute Zukunft in Brandenburg ermöglichen. Wir verfolgen das Bild einer Gesellschaft, in der Menschen mit unterschiedlichen Fähig-keiten nicht getrennt voneinander, sondern miteinander leben. Auf ein solches Leben soll auch die Schule vorbereiten.

Außerdem ist die Inklusion, also das gemein-same Lernen, inzwischen anerkanntes Men-schenrecht. Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 gilt sie auch in Deutschland. Gemeinsames Lernen ist in vielen europäischen Ländern längst selbstverständlich.

Bieten die Förderschulen nicht einen Schutz-raum und eine bessere Unterstützung für Kinder mit besonderem Förderbedarf?

Wenn Kinder mit Lernschwierigkeiten Anre-gung und positive Vorbilder um sich haben, entwickeln sie sich viel besser. Das zeigen Studien zu diesem Thema und die Erfahrun-gen in unseren europäischen Nachbarlän-dern. Mit einer „Schule für alle“ bekommen Förderschüler deutlich höhere Chancen, ei-nen anerkannten Schulabschluss zu machen. Damit das klappt, erhalten Schüler mit För-derbedarf auch an der Regelschule individu-elle Förderung im gemeinsamen Unterricht.

Welchen Platz haben besonders begabte Kinder in einer inklusiven Schule?

Gemeinsames Lernen ist auch für hochbe-gabte Kinder von Vorteil. Gemeinsames Ler-nen auf differenzierten Niveaus – da sind sich Wissenschaftler und Praktiker einig – kommt allen zugute: Starke Schüler lernen in inklusiven Schulen genauso viel, wie sie sonst auch lernen würden. Sie erweitern aber ihre sozialen Kompetenzen in einem heterogenen Umfeld viel stärker.

Wie sehen die nächsten Schritte aus?

■ Zum Schuljahr 2012/13 werden 84 Grund-schulen den ersten Schritt Richtung gemeinsames Lernen machen und alle

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28 Märkische Hefte 26 | November 2012 Gemeinsames Lernen – Wie kommen wir zu einer Schule für alle?

Kinder aus ihrer Umgebung aufnehmen, die besonderen Förderbedarf in den Be-reichen „Lernen, emotionale und soziale Entwicklung sowie Sprache“ (LES) haben. Die notwendigen Rahmenbedingungen (Zuweisung von Lehrerstunden, Beschrän-kung der Klassengrößen, Fortbildung und Beratung der Lehrkräfte) werden geschaf-fen.

■ Eine Fortbildungsoffensive für Lehrerin-nen und Lehrer wird gestartet, mit dem Ziel sie auf die neuen Herausforderungen wie den Umgang mit heterogenen Klas-sen und eine stärkere individuelle Förde-rung vorzubereiten.

■ Der Studiengang „Inklusionspädagogik“ an der Universität Potsdam wird einge-richtet, um Sonderpädagogen auszubil-den, aber auch alle anderen Lehramts-studierenden für den gemeinsamen Unterricht zu qualifizieren.

■ Ab dem Schuljahr 2015/16 soll jede mär-kische Grundschule beginnend mit Jahr-gangsstufe 1 alle Kinder mit Förderbedarf LES aufnehmen. Die entsprechenden Förderschulen werden dann schrittweise auslaufen.

■ Langfristig sollen auch Kinder mit ande-ren Förderschwerpunkten in die Regel-schulen integriert werden.

Wie wird der Umbau hin zu einem gemein-samen Schulsystem unterstützt?

Inklusion ist kein Sparprogramm. Für die Pi-lotschulen werden im Jahr 2012 zwei Millio-nen Euro zusätzlich eingesetzt. Für die Fort-bildung der Lehrkräfte steht 2012 zusätzlich eine Million Euro zur Verfügung. Die Koaliti-onsfraktionen werden diese Unterstützung im anstehenden Doppelhaushalt 2013/14 fortschreiben.

Welche Förderung erhalten die Pilotschulen?

■ Die neuen Klassen werden kleiner sein. (Richtgröße von 23 Schülerinnen und Schülern und eine Obergrenze von 25).

■ Sie erhalten pauschal 3,5 Wochenstunden für fünf Prozent der Gesamtschülerzahl als Basisausstattung zur förderdiagnos-tischen Lernbegleitung in den Schwer-punkten LES. Darüber hinaus bekommen sie zusätzliche sonderpädagogische Un-terstützung bei besonderen Problemla-gen.

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29Gemeinsames Lernen – Wie kommen wir zu einer Schule für alle?

■ Sie erhalten eine prozessbegleitende Fort-bildung und Beratung durch regionalen und überregionalen Erfahrungsaustausch mit anderen Schulen.

■ Zielgruppen der Fortbildung sind Schulen und deren Netzwerke, nicht Einzelperso-nen. Daneben werden Angebote für die Schulleitungen der Pilotschulen entwi-ckelt.

■ Es wird nach einem schulinternen Un-terrichtskonzept auf der Grundlage von Rahmenplänen unterrichtet und für jedes Kind ein individueller Lehrplan bei diffe-renzierter Leistungsbewertung geführt.

■ Die Arbeit der teilnehmenden Schulen wird wissenschaftlich begleitet, das Mo-dell evaluiert.

SPD-Fraktionschef Ralf Holzschuher zu Besuch in einer Kita in Brandenburg an der Havel.

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30 Märkische Hefte 26 | November 2012 Gemeinsames Lernen – Wie kommen wir zu einer Schule für alle?

Bildungspolitisches Massnahmenpaket der SPD-Landtagsfraktion

Bildung – Der wichtigste Rohstoff in Brandenburg Die Landesregierung und die sie tragenden Fraktionen setzen, wie im Koalitionsvertrag angekündigt, ihren Schwerpunkt auf Bil-dung. Gute Bildung für alle von Anfang an ist nicht nur die wichtigste Voraussetzung für die Verwirklichung von Lebenschan-cen sondern auch die Antwort auf die Her-ausforderungen unserer Zeit. Um zu mehr Chancengleichheit zu gelangen, müssen die Rahmenbedingungen für eine frühere und intensivere individuelle Förderung sowie für längeres gemeinsames Lernen verbessert werden. Damit kann gleichzeitig ein Beitrag zur Entkopplung von Bildungserfolg und so-zialer Herkunft geleistet werden.

Bisherige Erfolge Wir haben in dieser Legislaturperiode in der Bildungspolitik bereits wichtige Ziele er-reicht.

■ Zum Oktober 2010 haben wir den Betreu-ungsschlüssel in den Kindertagesein-richtungen in Brandenburg verbessert. Seitdem werden bei den unter 3-Jährigen sechs Kinder von einer Fachkraft betreut, bei den 3- bis 6-Jährigen ist das Betreu-ungsverhältnis so verbessert worden, dass 12 Kinder von einer Erzieherin oder einem Erzieher betreut werden. Die Lan-

desausgaben für die Kindertagesbetreu-ung sind seit dem Jahr 2008 von 137 Mio. € auf derzeit 204 Mio. € gestiegen, ein Plus von 50 Prozent.

■ An der im vergangenen Schuljahr zum zweiten Mal verbindlichen flächende-ckenden Sprachstandsfeststellung vor der Einschulung haben 97 Prozent der 5-Jäh-rigen teilgenommen. Aufgrund der Dia-gnose nahmen 29 Prozent der Kinder an der kompensatorischen Sprachförderung in den Kindertageseinrichtungen teil.

■ Auch die Rahmenbedingungen in den Schulen haben wir verändert und bereits 700 zum großen Teil junge Lehrerinnen und Lehrer eingestellt. Bis zum Ende der Legislaturperiode werden weitere 1.300 folgen. Die ursprünglich vorgesehene Zahl der Einstellungen wurde damit von 1.250 auf 2.000 aufgestockt.

■ Um auch in Zukunft den Bedarf an quali-fizierten Lehrerinnen und Lehrern zu de-cken, wurde die Zahl der Plätze im Vorbe-reitungsdienst von 600 auf mittlerweile 900 Referendariatsplätze erhöht.

■ Zur Qualitätssicherung an den Schulen wurden verschiedene Maßnahmen ergrif-

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fen: Die Leseförderung wurde intensiviert und die verbindliche Lektüre eines Kinder- und Jugendbuches in den Klassen 3 und 8 eingeführt, ein Grundwortschatz für die Klassen 1 bis 4 sowie Basiskompetenzen wurden definiert und Orientierungsarbei-ten in den Klassen 2 und 4 implementiert. Die zweite Runde der Schulvisitationen im Land Brandenburg läuft seit Januar 2011.

■ Nach den Ergebnissen des Länderverglei-ches wurde eine Fortbildungsoffensive für Englischlehrerinnen und -lehrer u. a. mit zweiwöchigen Kursen im englisch-sprachigen Ausland gestartet.

■ Wir haben das Schüler-Bafög eingeführt: Im vergangenen Jahr haben mehr als 1.250 Schülerinnen und Schüler der elf-ten Klassen auf dem Weg zum Abitur von der brandenburgischen Ausbildungsför-derung (Schüler-Bafög) profitiert. Im ge-rade begonnenen Schuljahr werden es aufgrund der aufwachsenden Einführung weit mehr sein.

■ Auch in der Primar- und Sekundarstufe haben wir für Schülerinnen und Schüler aus einkommensschwachen Familien eine schnelle und unbürokratische Un-terstützung geschaffen, den Schulsozial-fonds. Damit soll allen Schülerinnen und Schülern eine Teilhabe an den anregungs-reichen Bereichen des schulischen Lebens

ermöglicht werden, die ohne eine Kosten-beteiligung der Eltern nicht möglich ist.

Vorsorgende und soziale Bildungspolitik

In Brandenburg gibt es wie in ganz Deutsch-land nach wie vor viele Jugendliche, die nur mangelhaft lesen und schreiben können. Je-der elfte Schüler (und es sind überwiegend Jungen) verlässt die Schule derzeit ohne ei-nen qualifizierenden Abschluss. Diese jun-gen Menschen finden nur schwer eine Lehr-stelle und einen Arbeitsplatz. Gleichzeitig fehlen auf dem Arbeitsmarkt qualifizierte Fachkräfte.

Vor diesem Hintergrund ist es notwendig und unser Ziel, eine gute Bildung für alle Schülerinnen und Schüler in Brandenburg zu gewährleisten. Viel zu häufig gibt es einen en-gen Zusammenhang zwischen der wirtschaft-lichen und sozialen Lage des Elternhauses und dem Bildungserfolg der Kinder. Bildung ist deswegen heute auch eine „soziale Frage“. Es sind die Schwächsten, die wir besonders fördern sollten, um ihnen zu ermöglichen, von unserem guten Bildungssystem zu profitieren und einen Schulabschluss zu machen. Im Sin-ne einer vorsorgenden und sozialen Bildungs-politik ist es daher notwendig, weitere Verän-derungen auf den Weg zu bringen. Dafür heißt es, so früh wie möglich mit der individuellen Förderung zu beginnen.

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Bildungsstudien zeigen, dass eine „gute Bildung für alle“ in vielen Fällen dann be-sonders gut gelingt, wenn lernstarke und lernschwache Kinder gemeinsam in einer anregungsreichen Umgebung unterrichtet werden und ein besonderes Augenmerk auf die individuelle Förderung im gemeinsamen Unterricht gelegt wird.

Wir haben in Brandenburg bereits wichtige Schritte unternommen:

■ Mit der Einführung und dem Ausbau der flexiblen Eingangsphase in den Grund-schulen („FLEX“), der individuellen Lern-standanalyse für Grundschülerinnen und -schüler und der förderdiagnostischen Lernbeobachtung wurde die individuelle Förderung verbessert.

■ Es unterrichten auch heute schon 427 Sonderpädagoginnen und -pädagogen an den 417 Grundschulen.

■ Bereits heute lernen 39 Prozent der Kin-der mit sonderpädagogischem Förderbe-darf im gemeinsamen Unterricht an den Regelschulen (Brandenburg gehört damit zu den besten fünf Bundesländern).

Bei den lernschwachen Kindern sind es bis-lang allerdings nur 24 Prozent, die am Regel-unterricht teilnehmen. Gerade diese Schüle-rinnen und Schüler, die häufig aus Familien

in prekärer wirtschaftlicher Lage kommen, gilt es zukünftig in besonderem Maße zu fördern und zu fordern, damit auch sie einen qualifizierten Schulabschluss erreichen kön-nen. Wir wollen damit die Zahl der Schüle-rinnen und Schüler, die ohne Abschluss ihre Schullaufbahn beenden, deutlich reduzieren.

Den gemeinsamen Unterricht von lernstar-ken und lernschwachen Schülerinnen und Schülern, der vielerorts bereits gelebt wird, zu stärken und weiterzuentwickeln auf dem Weg zur Inklusion ist für die kommenden Jahre und Jahrzehnte unser Vorhaben. Wir werden dabei insbesondere in der Anfangs-phase darauf setzen, dass sich Schulen frei-willig an Modellprojekten beteiligen. Am Ende soll jede Schule eine „Förderschule“ sein, d. h. in allen Schulen soll die individuelle Förderung jeder Schülerin und jedes Schülers gelebt werden. Dafür heißt es die begonne-nen Maßnahmen fortzusetzen und zu inten-sivieren sowie neue auf den Weg zu bringen.

Maßnahmenpaket zum gemeinsamen Lernen

Von Anfang an:

■ Erhebungen belegen, dass bei Kindern, die im „Netzwerk Gesunde Kinder“ be-treut wurden, seltener ein Sprachförder-bedarf attestiert wird. Auf Grundlage ei-ner mit dem Bundeskinderschutzgesetz

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33Gemeinsames Lernen – Wie kommen wir zu einer Schule für alle?

einzuführenden Neuregelung in § 20e SGB V sind die „Netzwerke Gesunde Kin-der“ in eine dauerhafte und verlässliche Regelfinanzierung zu überführen. Ziel ist es, die Netzwerke so auszubauen, dass möglichst alle Kinder begleitet werden.

In den Kindertagesstätten:

■ Die Förderung der Kinder mit besonderen Bedarfen muss in den Kindertagesein-richtungen einsetzen, zentral ist dabei die Sprachförderung: Bei 29 Prozent der 5-Jährigen wurden vor der Einschulung sprachliche Defizite diagnostiziert. Die Sprachförderung in den Kindertagesein-richtungen soll daher intensiviert wer-den. Dabei gilt es, die alltagsintegrierte Sprachförderung zu stärken und das Kita-Personal entsprechend zu qualifizieren und zu unterstützen.

■ Es gilt darüber hinaus, in die Ausbildung des Kita-Personals ein Modul „Förderpä-dagogik“ zu integrieren bzw. das Kita-Personal auf die neuen Herausforde-rungen einer frühzeitigen individuellen Förderung vorzubereiten und entspre-chend fortzubilden.

In den Schulen:

■ Damit die Förderbemühungen der Kin-dertageseinrichtungen auch in den

Grundschulen weitergeführt werden, gilt es Kita und Grundschulen noch besser zu vernetzen.

■ Um die neuen Herausforderungen des zu-nehmend individualisierten Unterrichts in heterogenen Klassen zu meistern, ist eine gute Ausstattung der Schulen mit Lehrpersonal und Stunden zu sichern. Wir benötigen dafür mehr Lehrerinnen und Lehrer in den allgemeinbildenden Schulen. Dafür brauchen wir auch in den kommenden Jahren eine Zahl an Studi-enplätzen für Lehramt an der Universität Potsdam, die am Bedarf orientiert ist.

■ Derzeit ist der Anteil der Kinder, bei denen ein Förderbedarf diagnostiziert wird, in den einzelnen Landesteilen stark unter-schiedlich, was auch auf die Handhabung der Diagnoseverfahren für sonderpäda-gogischen Förderbedarf zurückzuführen ist. Das förderdiagnostische Verfahren soll daher vereinheitlicht werden.

■ Wir wollen, wie im Koalitionsvertrag ver-einbart, einen grundständigen Studien-gang der Sonderpädagogik an der Uni Potsdam einrichten, der pro Jahr 60 Stu-dierende ausbildet. Inklusionspädagogi-sche Lehrinhalte sollen darüber hinaus in alle lehramtsbezogenen Studiengänge in-tegriert werden. Damit sollen die Bedarfe an qualifizierten Sonderpädagoginnen

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und -pädagogen in Zukunft gedeckt wer-den sowie auch alle Lehrkräfte befähigt werden, eine gezielte individuelle Förde-rung durchzuführen.

■ Die bereits an den Schulen tätigen Lehr-kräfte sollen im Rahmen einer Fortbil-dungsoffensive unter Beteiligung der Universität Potsdam befähigt werden, in heterogenen Lerngruppen eine indivi-duelle Förderung der Schülerinnen und Schüler zu leisten.

■ Gemeinsames Ziel ist es, dass die Mittel aus dem Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung in den Kreisen für die

Einstellung von Schulsozialarbeiterinnen und -arbeitern an Schulen mit besonders heterogenen Schülerschaften eingesetzt werden, um eine bessere Vernetzung von Schule, Eltern und sozialem Umfeld zu er-reichen.

Im Umsetzungsprozess:

■ Zur Begleitung der Einführung von Maß-nahmen zur gemeinsamen Förderung aller Kinder ist es notwendig, auf Lan-desebene ein Gremium („Runder Tisch“) einzurichten, an dem die Vertreterinnen und Vertreter aller Akteure angehört und beteiligt werden.

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35Gemeinsames Lernen – Wie kommen wir zu einer Schule für alle?

Informationen zu wichtigen Themen der Landespolitik...können Sie kostenfrei per Post erhalten. Bestellungen nehmen wir telefonisch unter 0331 – 966 13 55 oder per E-Mail an [email protected] gern entgegen.

■ Auf einen Blick – Die SPD-Fraktion im Brandenburger Landtag

■ Versprochen – Gehalten! Eine Zwischenbilanz sozialdemokratischer Politik für Brandenburg.

■ Faltblatt – 10 Antworten zu Brandenburgs Schüler-Bafög

■ Faltblatt – Gemeinsames Lernen. Wie kommen wir zu einer Schule für alle?

■ Faltblatt – Innere Sicherheit. Antworten zur Polizeireform

■ Elektronischer Newsletter (dafür benötigen wir Ihre E-Mail-Adresse)

■ Schriftenreihe „Märkische Hefte“

Lieferbar sind noch folgende Titel:

Brandenburg steht heute besser da. Bilanz der Arbeit der Wahlperiode 2004-2009.Wie weiter mit der frühkindlichen Bildung? – Dokumentation vom 29. Juni 2010.20 sozialdemokratische Jahre – Die SPD-Landtagsfraktion 1990-2010.Erneuerung durch Gemeinsinn – Der Brandenburger Weg im dritten Jahrzehnt der Einheit. Alle inklusive! – Die neue UN-Konvention und die berufliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen – Dokumentation vom 4. April 2011.Der Mutmacher – Manfred Stolpe legte die Grundlage für Brandenburgs Zukunft. Versprochen und gehalten! Halbzeitbilanz der SPD-Landtagsfraktion. Energieland Brandenburg – Herausforderungen und Chancen der Energiewende.Zukunft im ländlichen Raum – Wie wir das Leben auf dem Land lebenswert gestalten.Gemeinsames Lernen. Wie kommen wir zu einer Schule für alle?20 Jahre Brandenburger Verfassung.Alt werden in Brandenburg. Aktiv, selbstbestimmt, solidarisch.Starke Städte in Brandenburg.

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SPD-Fraktion im Brandenburger LandtagAm Havelblick 814473 Potsdam

Tel.: 0331 – 966 13 40Fax: 0331 – 966 13 41

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