The Age of Agile Systems // Inga Nandzik for Strategie Austria
Gorlenko, Inga; Starostenko, Anna; Friedlein, Günter ...
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Die Tschernobyl-Katastrophe in der Ukraine:soziale und wirtschaftliche FolgenGorlenko, Inga; Starostenko, Anna; Friedlein, Günter
Veröffentlichungsversion / Published VersionZeitschriftenartikel / journal article
Empfohlene Zitierung / Suggested Citation:Gorlenko, I., Starostenko, A., & Friedlein, G. (1997). Die Tschernobyl-Katastrophe in der Ukraine: soziale undwirtschaftliche Folgen. Europa Regional, 5.1997(3), 5-11. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-48345-2
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Zehn Jahre sind seit der immer noch unbe-greiflichen Katastrophe von Tschernobylvergangen – ein Bruchteil der Halbwert-zeiten der gefährlichsten dabei entstande-nen Isotope. Dementsprechend sind so-wohl die wirtschaftlichen wie auch diesozialen Folgen der Katastrophe ständigaktuell, ständig präsent. Die summierteFläche mit radioaktiven Verunreinigun-gen, teilweise Verseuchungen, ist in derUkraine mehr als 40 000 km² groß, wasreichlich sieben Prozent der Landesflächeausmacht.
Die größten zusammenhängenden Be-lastungsareale liegen in den vier OblastenKiew (ukr. Kijw), Shytomyr, Tschernihiw
INGA GORLENKO, ANNA STAROSTENKO und GÜNTER FRIEDLEIN
Die Tschernobyl-Katastrophe in der Ukraine –Soziale und wirtschaftliche Folgen
und Tscherkassy, weitere, z.T. nicht mitden genannten verbundene Areale befin-den sich in den Oblasten Winnyzja, Riw-ne, Wolynien und Tscherniwzi. Entspre-chend der radioaktiven Belastung am bzw.im Boden (Cäsium 137 – mehr als 1 Ci/km²)und der davon ausgehenden Gefahr fürdie Bevölkerung wurden diese Areale denvier, nach der Katastrophe ausgerufenenVorsorgezonen zugeordnet. Die innerenzwei (darunter die 30-km-Isolierzone),die man unter der Bezeichnung Evakuie-rungszone zusammenfassen kann und dieBelastungen von mehr als 15 Ci/km² auf-weisen, nehmen in der Ukraine 1700 km²ein. Die Zonen 3 („mit unterstützter frei-
williger Aussiedlung“ wegen radioakti-ver Belastungen von 5 bis 15 Ci/km²) unddie Zone 4 („mit verstärkter radioökolo-gischer Kontrolle“ wegen der Belastun-gen von 1 bis 5 Ci/km²) umfassen rund43 000 km² (Abb. 1). Da den zugehörigenAbgrenzungen die Grenzen der mittlerenVerwaltungseinheiten „Rayons“ (Kreise)am nächsten kommen und mit den Kata-strophenfolgen verbundene Probleme vorallem auf diesem administrativen Niveaubewältigt werden müssen, zählen zu die-sen vier Zonen 99 Rayons, d.h. ein Fünf-tel aller Rayons der Ukraine. Große Area-le mit weniger als 1 Ci/km² technogenerradioaktiver Belastung sind auch in allen
Desna
S c h w a r z e s
Asowsches Meer
Donezk
Dnipropetrowsk
Westl. B
ug
Dnestr
Südl. Bug
Dnepr
Psjo
l
Donau
Odessa
Luzk
Lwiw
Ushhorod
Iwano-Frankiwsk
Ternopil
Riwne
Chmelnyckyj
Shytomyr
Tscherniwzi
Winnyzja Tscherkassy
Tschernihiw
Sumy
Poltawa
Luhansk
Saporishja
Kirowohrad
Mykolajiw
Cherson
Simferopol
KIJWCharkiw
M e e r
Nördl. Donez
IfL 1997Kartographie: R. Bräuer
0 100 200
Maßstab 1 : 7 500 000
Belastungsdichte in Ci/km²
< 0,1
0,1 - < 0,5
0,5 - < 1,0
1,0 - < 5,0
5,0 - < 10,0
10,0 - < 50,0
> 50,0
Datenerhebung und -bearbeitung:Geol. Dienst "Sewukrgeologija" undStaatl. Hauptamt "Ukrgeologija"
UkraineBelastung der Böden mit Cäsium 137 im Jahr 1990
Abb. 1: Belastung der Böden in der Ukraine mit Cäsium 137 im Jahr 1990Quelle: Tschernobyl-Katastrophe: Ursachen und Folgen, Bd. 4, Minsk 1993
EUROPA REGIONAL 5(1997)36
weiter östlich und südlich gelegenen Ob-lasten anzutreffen.
Mit den wirtschaftlichen und sozialenKatastrophenfolgen konfrontiert sind folg-lich nicht „nur“ Gebiete mit vorrangigerLand- oder Forstwirtschaft, deren volks-wirtschaftlicher Ausfall in gewissen Gren-zen leichter kompensiert werden könnte.Im nördlichen Bereich der stärker belaste-ten Gebiete liegen auch die bedeutendsteukrainische Industrieagglomeration Kiewmit einem umfangreichen produktiven,wissenschaftlich-technischen und kultu-rellen Potential sowie die Industrieknoten(d.h. weniger vielfältig orientierte und ko-operierende räumliche Gruppierungen vonIndustrieorten) Korosten, Shytomyr, BilaZerkwa und Swenigorodka-Tscherkassy.So hatte und hat der sogenannte Tschern-obyl-Faktor bedeutende Veränderungen inder Wirtschaftsstruktur zur Folge: durchdas Auflassen bzw. Umsiedeln von Indu-striebetrieben und das Auflassen land- undforstwirtschaftlicher Nutzflächen, durcheine teilweise notwendige neue Ressour-cennutzung (verminderte Energie- und
Brauchwasserverfügbarkeit, geringeresArbeitskräftepotential, Einschränkungenbeim offenen Abbau und bei der Verarbei-tung von Bodenschätzen) und letztlich auchdurch die Umstellung der Finanzhaushalteund Investitionen. Einerseits mußten dieam stärksten geschädigten Zonen um dashavarierte Kraftwerk in Prypjat und imGebiet von Narodytschi aus allen volks-wirtschaftlichen und gesellschaftlichenZusammenhängen herausgelöst werden,andererseits an anderen Orten Einrichtun-gen der Produktions- und Infrastruktur er-gänzt und neu geschaffen werden. In dielandwirtschaftliche Produktion wurde wohlam meisten in den Oblasten Wolynien,Shytomyr und Winnyzja eingegriffen: dortmußten die Zuckerrüben- und Milcher-zeugung stark eingeschränkt werden. Ins-gesamt verminderte sich zwischen 1986und 1991 – also noch vor Beginn dermarktwirtschaftlichen Reformen – dasNationaleinkommen der Ukraine um 14 %.
Ohne Übertreibung ist der primäre undder inzwischen aufgelaufene Schaden fürdie Wirtschaft des Landes gewaltig. Er
wird u.a. durch die umfangreichen finan-ziellen Mittel widergespiegelt, die in denvergangenen zehn Jahren für die gesund-heitliche und soziale Fürsorge um die vonder Katastrophe betroffenen Menschen undfür die Sanierung der in Mitleidenschaftgezogenen Gebiete aufgewendet wurden:Die knapp fünf Prozent des ukrainischenStaatshaushalts von 1995 entsprachen 2,3Mrd. Dollar; in den Jahren zuvor lag derAnteil für staatliche Tschernobylhilfen imMittel bei 12 Prozent. Doch ebenso wievorläufig die Stromerzeugung im Kern-kraftwerk Tschernobyl weiterläuft, wer-den in Gebieten mittlerer Strahlenbela-stung auch einzelne Formen der Landnut-zung wieder betrieben, die 1986 in Fragegestellt worden waren. So werden in Tage-bauen wirtschaftlich wichtige Steine undErden wie metallurgische Quarzite als auchErze wie Ilmenit (Titaneisen) abgebautund auf nutzbar scheinenden Flächen Land-wirtschaft betrieben. Zur weiteren Verrin-gerung der Gefährdungen und zur allmäh-lichen wirtschaftlich-sozialen Regenerie-rung von Arealen der Zone 2 – insbesondere
Datenerhebung (907 Proben) und -bearbeitung:Geol. Dienst "Sewukrgeologija"
Dn
ep
r
Dn
ep
r
Dn
ep
r
1,36
2,02
2,28
2,91
2,22
Obolon
Trojeschtschina
1,55
1,87
Darnyzja
Osokorky
Petschersk
Podil
Swjatoschin
Teremky
1,32
UkraineBelastung der Böden mit Cäsium 137 im Jahr 1992 in Kijw/Kiew
Belastungsdichte in Ci/km²
Maßstab: 1 : 200 000
0 2,5 5 km
< 0,5
0,5 - 1,0
> 1,0
lokaler Maximalwert
Stadtzentrum
Durchgangsstraße
1,55
IfL 1997Kartographie: R. Bräuer
Grenze desKontrollmeßgebiets
Abb. 2: Belastung der Böden mit Cäsium-137 in Kijw/Kiew 1992Quelle: Tschernobyl-Katastrophe: Ursachen und Folgen, Bd. 4, Minsk 1993
7
innerhalb der Zone 3 – wurde unlängst dasRegionsprogramm „Polesje“ entwickelt.
Die soziale Komponente der Normali-sierung des Lebens ist in allen seit derKatastrophe radioaktiv belasteten Gebie-ten von großer Bedeutung, denn dort kames zu wesentlichen Verschlechterungender demographischen Situation, zu Än-derungen der Bevölkerungsverteilung, derBevölkerungs- und der Beschäftigten-struktur sowie – aus anderem Blickwin-kel betrachtet – zur Störung und Zerstö-rung der sozialen Umwelt von Hundert-tausenden von Menschen, eine derschwerwiegendsten Folgen. Über insge-samt 13 Oblaste verteilt leben in mehr als3000 betroffenen Siedlungen 3,7 Mio. inMitleidenschaft gezogene Menschen. Inden vier am stärksten belasteten – denOblasten Kiew, Shytomyr, Tschernihiwund Riwne – sind es allein 2,1 Mio.,darunter fast 500 000 Kinder und Jugend-liche unter 18 Jahren (Tab. 1a); in diese
Summen sind die Einwohner betroffenerStadtteile Kiews – 30 % der Fläche hat
eine Belastung von über 1 Ci/km² – nochnicht eingerechnet (Abb. 2).
Infolge der notwendigen bzw. freiwilli-gen Aussiedlungen der Bevölkerung so-wie des nun zehn Jahre anhaltenden ver-minderten natürlichen Bevölkerungs-wachstums nahm die Bevölkerungszahldieser Region deutlich ab. Allein im Rah-men der Evakuierungen kurz nach derKatastrophe wurden aus 70 besonders starkvon Strahlungen belasteten Siedlungen92 000 Menschen vor allem in die 19 mitt-leren und südlichen Rayons der OblastKiew und die Stadt Kiew selbst umgesie-delt. Die meisten Umzüge erfolgten1990/91, doch auch danach, ja bis heuteverlassen Menschen ihre strahlenbelaste-
Oblaste Isolierzone (1) Zone unbedingter Aussiedlung (2)
Sied- Einwohner Sied- Einwohner
lungen insges. dav. jünger lungen insges. dav. jünger
als 18 Jahre als 18 Jahre
Kiew 69 90.300 - 20 15.151 3.086
Rowno - - - 5 2.891 692
Shytomyr 7 935 - 63 14.375 2.122
Czernowitz - - - 2 503 71
Wolynien - - - 2 3.285 1.007
insgesamt 76 91.235 - 92 36.205 6.978
Oblaste Zone freiwilliger Aussiedlung (3) Zone verstärkter radioökologischer Kontrolle (4)
Siedlungen Einwohner Siedlungen Einwohner
insgesamt davon jünger als insgesamt davon jünger als
18 Jahre 18 Jahre
Chmelnyzkyj - - - 0 + 51 0 + 29.127 0 + 5.071
Iwano-Frankiwsk - - - 5 + 71 8.346 + 108.664 2.123 + 29.394
Kiew 18 + 6 20.255 + 4.409 4.306 + 827 430 + #### 897.516 + 178.432 191.407 + 38.548
Kirowohrad - - - 0 + 29 0 + 13.919 0 + 2.597
Rowno 269 + 0 241.483 + 0 67.021 + 0 65 + 0 148.176 + 0 44.469 + 0
Shytomyr 282 + 8 211.641 + 4.289 42.528 + 865 379 + 25 193.438 + 12.973 39.856 + 3.371
Sumy 2 + 0 1.778 + 0 252 + 0 2 + 45 957 + 130.052 179 + 33.792
Ternopil - - - 8 + 49 47.807 + 46.296 11.530 + 10.234
Tscherkassy 1 + 2 236 + 822 24 + 84 83 + #### 156.346 + 192.428 32.463 + 43.676
Tschernihiw 51 + 0 9.338 + 0 1.298 + 0 160 + #### 92.865 + 52.374 16.920 + 12.751
Czernowitz 0 + 1 0 + 2.960 0 + 617 9 + 92 19.068 + 411.819 4.417 + 93.172
Winnyzja - - - 86 + #### 134.454 + 119.608 26.703 + 28.263
Wolynien 163 + 1 136.847 + 1.790 37.066 + 732 0 + 9 0 + 3.157 0 + 716
insgesamt 786 + 18 6.211.578 + ##### 152.495 + 3.125 1.227 + #### ###### + ####### 370.067 + #####
Ort Lage zum Belastungsdichte mit
Kernkraftwerk Cäsium 137 Strontium 90
Opatschytschi SE ## km 5,8 ± 1,6 3,6 ± 0,7
Otaschiw SE ## km 9,7 ± 3,2 5,1 ± 1,7
Kupowate SE ## km 2,9 ± 0,6 1,2 ± 0,4
Selenyj Mys SE ## km 1,1 ± 0,2 0,1 ± 0,03
Kopatschi SSE 4 km 35,0 ± 12,0 21,0 ± 8,0
Salissja SSE ## km 11,0 ± 2,2 5,6 ± 1,4
Dytjatky S ## km 3,9 ± 0,6 1,4 ± 0,5
Korohod SSW ## km 5,5 ± 1,1 3,1 ± 1,3
Stetschanka SW ## km 1,3 ± 0,3 0,6 ± 0,2
Tschystogaliwka WSW 7 km 250,0 ± 80,0 135,0 ± 70,0
Illinzi WSW ## km 1,8 ± 0,3 0,9 ± 0,3
Rud. Illinezka WSW ## km 3,5 ± 0,7 1,9 ± 0,6
Burjakiwka W 7 km 130,0 ± 25,0 75.0 ± 18,0
St. Schepelytschi WNW ## km 12,9 ± 3,2 7,8 ± 2,3
Tab. 1a: Anzahl der Siedlungen und Einwohner in den Zonen radioaktiver Verschmutzung 1 und2 entsprechend der Unterstützungsverordnung der ukrainischen Regierung vom 23. Juni 1991Quelle: Tschernobyl-Katastrophe: Ursachen und Folgen, Bd. 4, Minsk 1993
Tab. 1b: Anzahl der Siedlungen und Einwohner in den Zonen radioaktiver Verschmutzung 3 und 4 entsprechend der Unterstützungsverordnungder ukrainischen Regierung vom 23. Juni 1991 und zusätzlich (+) entsprechend den Feststellungen der Oblastverwaltungsräte von 1992Quelle: Tschernobyl-Katastrophe: Ursachen und Folgen, Bd. 4, Minsk 1993
Tab. 2: Radioaktivität der Böden in Siedlungsbereichen der 30-km-Zone 1995 (in Ci/km²)Quelle: Bulletin (Nr. 5) zur ökologischen Situation in der Isolier-(10 km-)zone im 1. Halbjahr 1995, Tschernobyl1995
EUROPA REGIONAL 5(1997)38
ten Heimatorte. Bis einschließlich 1995mußten sich 54 900 Familien (142 000Personen) aus den Zonen 1 und 2 eine neueExistenz aufbauen. So wurde dieser Teilder Nordukraine und – in geringerem Maße– das Gebiet am Unterlauf des Flusses Rosregelrecht entvölkert. Einige Gebiete wei-sen deutliche Degradierungserscheinun-gen auf, hier übertrifft der Anteil alterMenschen dreimal den Anteil der Arbeits-fähigen, eine natürliche Bevölkerungsre-produktion ist hier nicht mehr möglich.
Obwohl die wechselnden Wetter-, vorallem Windverhältnisse, die in den Tagenbis zur weitgehenden Beruhigung des ha-varierten Kernkraftwerksreaktors bis ca.Mitte Mai 1986 herrschten, zu unterschied-lichen Ausbreitungsrichtungen, -entfer-nungen und „Spuren“ der radioaktiven„Wolken“ führten, waren und sind in der
Oblast Kiew – auch wegen der geringenEntfernungen – die Folgen der Katastro-phe am umfangreichsten (Tab. 2). Nachden Erhebungen von 1991 und 1992 – diefortschreitenden kleinräumigen Untersu-chungen und die Mobilität der in den Stoff-kreislauf der Natur eingedrungenen Ra-dionuklide ließen die Anzahl der Betroffe-nen immer noch zunehmen – liegen in denBelastungszonen 3 und 4 (mit 1 bis 5 und5 bis 15 Ci/km²) dieser Oblast (ohne dieStadt Kiew) 628 Siedlungen mit rund1,1 Mio. Einwohnern, davon 235 000 Kin-der und Jugendliche unter 18 Jahren(Tab. 1b). Dies entspricht 58 % der Bevöl-kerung der gesamten Oblast. Da dort wieauch in den anderen gleich belasteten Ge-bieten lange Zeit die Sorgen um ein gesun-des Leben und die Heimatverbundenheitder Menschen im Widerstreit lagen und
sich das Gros zum Wohnenbleiben ent-schloß, dürften die Angaben weitgehendauch heute noch zutreffen.
Und auch wenn sie fortgezogen sind:Die physische und soziale Gesundheit die-ser Bevölkerung ist durch die Katastrophestark geschwächt. Dabei bilden die unmit-telbaren Strahleneinwirkungen nur eineUrsachengruppe. Kaum weniger nachtei-lig wirkten und wirken verschiedene Streß-faktoren – sowohl in Verbindung mit derUngewißheit über den Grad der gesund-heitlichen Beeinträchtigung und den not-wendig gewordenen Änderungen der Le-bensgewohnheiten als auch mit dem Ver-lassen des Heimatortes und dem Fußfassenin neuer Umgebung. Entsprechende Un-tersuchungen ergaben, daß fast alle Krank-heiten bei den Leidtragenden der Katastro-phe deutlich stärker verbreitet sind als im
Kindersterblichkeit
8
10
12
14
16
18
20
1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992
Sterberate
8
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16
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1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992
Geburtenrate
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‰
1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992
Oblast Kijw/ Kiew
Oblast Shytomyr
Oblast Tschernihiw
Ukraine (zum Vergleich)
‰ ‰
Kreise unterradioökologischerKontrolle
stärker belastete Kreiseund solche, dieTschernobyl-Umsiedleraufnahmen
18
A
B
22
C22
IfL 1997Grafik: R. Bräuer
Abb. 3: Entwicklung der Geburtenrate, der Sterberate und der Kindersterblichkeit in den radioaktiv belasteten Gebieten der Ukraine zwischen1981 und 1992Quelle: BARJACHTAR 1995
9
(übrigen) Mittel der Oblast. Hoch ist au-ßerdem die Sterberate im allgemeinen so-wie die der Kinder, die Geburtenrate istabnehmend (Abb. 3).
Bei Kindern treten vor allem bösartigeNeubildungen, die Vergrößerung (Hyper-plasie) der Schilddrüse und krankhafteVeränderungen des Knochen- und Mus-kelsystems, aber auch Krankheiten, wiechronische Mandelentzündungen u.ä., ver-mehrt auf. Dabei ist es gleich, ob sie in denOrten der Zone 3 – in der die Eltern selbstüber ihre Umsiedlung entscheiden können– oder in Orten der Rayons der OblastKiew leben, die Tschernobyl-Umsiedleraufnahmen. So fallen in der Statistik dieRayons Poliske und Iwankiw ebenso aufwie die Rayons Wyschgorod, Kiew-Swja-toschine, Wasylkiw, Obuchiw und Skwy-ra, z.T. auch Bila Zerkwa und Jahotin
(Abb. 4 u. 5). Obwohl zu den zuerst Evaku-ierten gehörend bzw. unter sehr guten äu-ßeren Bedingungen geboren und lebend,bilden die Kinder der „Kernkraftwerker“in der neu erbauten Stadt Slawutitsch, 50km östlich des Kraftwerks gelegen, keineAusnahme: eineinhalbmal häufiger alssonst im Mittel treten auch dort angebore-ne Entwicklungsstörungen, bösartige Neu-bildungen und Erkrankungen des Blutesund der blutbildenden Organe auf. Fast diegleichen, oft sogar höhere Werte charakte-risieren die Erkrankungshäufigkeit derstrahlenbelasteten Erwachsenen. So liegtdie Rate im Rayon Iwankiw bei Erkran-kungen der Verdauungsorgane um das 1,5-fache, bei Erkrankungen des Blutes undder blutbildenden Organe um das 2,4-fa-che über dem Oblastmittel. In Slawutitschkommen Erkrankungen des Blutes und derblutbildenden Organe, von Organen mitinnerer Sekretion und von Sinnesorganen1,9- bis 2,1-mal häufiger als im Mittel vor.
Bis zur Kernkraftwerkskatastrophewurden demographische Veränderungenin den nun betroffenen Gebieten haupt-sächlich durch die allgemeinen sozioöko-nomischen Bedingungen verursacht. Auchdie Entwicklung und räumliche Ausdeh-nung der städtischen Agglomeration Kiewzeigten Wirkungen. In den Jahren seit 1986wurden diese Einflüsse vom Tschernobyl-Faktor, dem Faktor Strahlenbelastung undUnglücksbewußtsein überlagert. Auf ihngehen die unfreiwilligen Wanderungsbe-wegungen und die Verschlechterung desGesundheitszustandes der Bevölkerung,aber auch die abnehmende Geburten- (al-lerdings nicht so dominant) und die stei-gende Sterberate in den am meisten bela-
Ros
Teteriw
Ush
Desna
D
nipro
IfL 1997Karteninhalt: I. GorlenkoKartographie: R. Richter
Poliske
Iwankiw
Makariw
Irpin
Browary
Boryspil
Fastiw
Wasylkiw
Obuchiw Perejaslaw- Chmel.
Jahotyn
Bila Zerkwa
Kaharlyk
Myroniwka
BohuslawTaraschtscha
Tetijw
Kijw
1
2
34
5
67
8
910
11
12
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13a
14
15
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16
Erstvorstellungenund - erkennungenpro 10 000 Kinder
> 50
< 10
10 - < 20
20 - < 30
30 - < 40
40 - < 50
Skwyra
Ukraine - Oblast Kijw / Kiew
Oblast-Mittel: 14,6
Bösartige Neubildungen beiKindern bis 14 Jahre 1992
Kulturart aufnehmender Cs 137 Sr 90
Pflanzenteil
Gerste Halme 0,68 ± 0,34 6,19 ± 2,71
Körner 0,37 ± 0,12 0,94 ± 0,30
Hafer Halme 0,62 ± 0,27 4,67 ± 0,93
Körner 0,32 ± 0,15 0,63 ± 0,14
Raps Grünmasse 11,00 ± 4,00 34,00 ± ######
Lupine Bohnen 6,40 ± 2,30 4,27 ± 2,12
G rünmasse 6,30 ± 4,10 12,10 ± 1,93
Kartoffe l Knollen 0,22 ± 0,02 –
Kraut 1,12 ± 0,10 –
Rübe Fruchtwurze l 2,00 ± 1,30 –
M öhre Fruchtwurze l 1,20 ± 0,80 –
Weidelgras Grünmasse 1,60 ± 0,70 7,89 ± 3,35
Natur-(Brach-)gräser Grünmasse 3,70 ± 1,90 10,60 ± 1,50
Abb. 4: Bösartige Neubildungen bei Kindern bis 14 Jahre in der Oblast Kiew
Tab. 3: Koeffizienten des Radioaktivitätsübergangs* Boden – Acker-/ Gartenpflanze fürCäsium 137 und Strontium 90 im Jahr 1994 (in 10-3 m²/kg)Quelle: Bulletin (Nr. 5) zur ökologischen Situation in der Isolier-(10 km-)zone im 1. Halbjahr 1995, Tschernobyl 1995
* Die Berechnung der Übergangskoeffizienten erfolgt nach der Formel Kü = (in Worten) Radionuklidkonzentration in
der Pflanze (Ci/kg)(langer Bruchstrich) (in Worten) radioakt. Verschmutzungsniveau i. Boden (Ci/km²)
EUROPA REGIONAL 5(1997)310
steten Oblasten sowie Beschäftigungs- undsoziale Versorgungsprobleme an den neu-en Wohnorten zurück. Dabei verschärftensich mit der Zeit offenbar die sozial pro-blematischen Folgen der Katastrophe, damit der Auflösung der Sowjetunion undmit dem Eintritt der Ukraine in eine markt-wirtschaftliche Entwicklung die Lebens-bedingungen im allgemeinen schwierigerund die Bereitschaft zur Integation derZugezogenen geringer wurden. Die psy-chischen Belastungen gehen oft in psychi-sche Erkrankungen über.
Bekanntlich folgten auf die Maßnah-men zur Eindämmung der Katastropheund zur Lebenssicherung der Bevölke-rung eine ganze Reihe von Verordnungenund Gesetzen, mit denen allen in Mitlei-
denschaft Gezogenen – den Ausgesiedel-ten (der Zonen 1 bis 3), den „Liquidato-ren“, d.h. den mehreren hunderttausend
Mitarbeitern und Helfern des ad hoc orga-nisierten Katastrophenschutzes, wie auchden weiter in den Zonen 3 und 4 Ansässi-gen – die behördliche Unterstützung inihrem schweren Los zugesichert wurde.Ihre Verwirklichung wurde ab 1991 mitder Ausweitung der kritischen wirtschaft-lichen Situation immer schwieriger. An-dere Verordnungen galten den forschen-den und regenerierenden Aktivitäten inWissenschaft und Technik, denn nur diegenaue Kenntnis der Schädigung der ein-zelnen Umweltkomponenten und Bevöl-kerungsgruppen sowie des Verlaufs ihrernatürlichen Wiederbelebung und Gesun-dung (oder fortdauernden Erkrankung) undder möglichen Hilfen für diese Prozesseerlaubt die allmähliche verantwortungs-bewußte Wiedereingliederung der geschä-digten Gebiete in den gesellschaftlichenOrganismus des Landes (Tab. 3 u. 4). ZurErgänzung der herkömmlichen wissen-schaftlichen Untersuchungsmethodenwurden für die kontinuierliche Beobach-tung der veränderten natürlichen Umweltund der betroffenen Bevölkerung unter-schiedliche Formen des Monitorings ent-wickelt und angewendet.
Für die angesprochene Wiedereinglie-derung der radioaktiv belasteten Gebietewar und ist es notwendig, die Steuerungs-möglichkeiten staatlicher Stellen mit indi-viduellen, marktwirtschaftlich orientier-ten Initiativen zu verbinden. Außerdem istdie Abstimmung derartiger Entwicklungs-programme zwischen der Ukraine, Weiß-rußland und der Russischen Föderationsinnvoll. So muß das staatliche Projekt zurwirtschaftlichen und sozialen Reaktivie-rung vorrangig die Schaffung ökologischsicherer Verhältnisse verfolgen. Da land-wirtschaftliche (und ähnliche) Landnut-zung die Radioaktivität vermindern kann,müssen Wege zur gefahrenreduziertenVerarbeitung und damit zur allmählichenWiedereinbeziehung der Produzenten in
Dnipro
Ros
Teteriw
Ush
Desna
IfL 1997Karteninhalt: I. GorlenkoKartographie: R. Richter
Poliske
Iwankiw
Makariw
Irpin
Browary
Boryspil
Fastiw
Wasylkiw
ObuchiwPerejaslaw- Chmel.
Jahotyn
Bila Zerkwa Kaharlyk
Myroniwka
Bohuslaw
Taraschtscha
Tetijw
Kijw
1
2
3
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5
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Erstvorstellungenund - erkennungenpro 10 000 Kinder
> 1000
< 200
200 - < 300
300 - < 400
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Skwyra
Ukraine - Oblast Kijw / Kiew
Oblast- Mittel: 222,6
Chronische Mandelerkrankungenbei Kindern bis 14 Jahre 1991
100 -
< 100
Pflanzenart Cs 137 Sr 90
Kl. Sauerampfer 48,1 ± 11,7 64,9 ± 18,3
Schafgarbe 31,4 ± 6,4 102,0 ± 27,0
Gänsefingerkraut 18,1 ± 5,4 124,0 ± 21,0
Quecke 6,4 ± 1,9 15,2 ± 4,7
Löchr. Johanniskraut 6,1 ± 1,4 15,9 ± 3,7
Wiesenrispe 4,9 ± 1,2 14,1 ± 5,8
Wiesenlieschgras 1,5 ± 0,4 3,7 ± 1,1
Gem. Labkraut 1,4 ± 0,4 21,7 ± 4,9
Abb. 5: Chronische Mandelerkrankungen – bei geschädigtem Immunsystem – von Kindern bis14 Jahre in der Oblast Kiew 1991
Tab. 4: Koeffizienten des Radioaktivitätsübergangs* aus Rasenpodsolen in Wiesenvegetationfür Cäsium 137 und Strontium 90 im Jahr 1994 (in10-3 m²/kg)Quelle: Bulletin (Nr. 5) zur ökologischen Situation in der Isolier-(10 km-)zone im 1. Halbjahr 1995, Tschernobyl 1995
* Die Berechnung der Übergangskoeffizienten erfolgt nach der Formel Kü = (in Worten) Radionuklidkonzentration in
der Pflanze (Ci/kg)(langer Bruchstrich) (in Worten) radioakt. Verschmutzungsniveau i. Boden (Ci/km²)
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den ukrainischen Markt gefunden werden.Nur ähnlich vorausschauend gefahrloskann die Nutzung anstehender Bodenschät-ze und der vielfältig nutzbaren Steine undErden fortgesetzt werden; ihr Absatz inIndustrie und Bauwesen kann nur dannsicher sein, wenn die erreichte Ungefähr-lichkeit der Produkte nachgewiesen ist.Um Städte bzw. größere Siedlungen wie-der mit Leben zu erfüllen, muß zur ge-sundheitlichen Unbedenklichkeit eventu-ell der Ersatz der früheren industriellenProduktionsrichtungen durch neue kom-men. Dabei können gleichzeitig „konven-tionelle“ Quellen der Umweltbelastungsaniert oder eliminiert werden. Die Zuge-hörigkeit der Agglomeration und Haupt-stadt Kiew zur radioaktiv belasteten Regi-on spielt bei allen Aktivitäten eine großeRolle: Sie wird auch in Zukunft für dieWahrnehmung ihrer Funktionen das Ar-beitskräftepotential der umgebenden Ray-ons benötigen, deren Wirtschaftsstrukturmitbestimmen und – nach den bedeuten-den Einschränkungen infolge der Kata-strophe – das vielfältige Naherholungspo-tential dieser Rayons brauchen.
Bei aller Hoffnung und allem Willen,die Folgen der Tschernobyl-KatastropheSchritt für Schritt weniger spürbar werden
zu lassen, sie zu vermindern, darf nichtübersehen werden, daß diese Aufgabe auchweiterhin beharrliche Arbeit und enormefinanzielle Mittel verlangt, und daß dasLand zusätzlich mit anderen, ebenfalls gra-vierenden ökologischen Schäden im Dne-pr-Industriegebiet, im Donbass und inTaurien sowie mit dem Erbe der Staats-planwirtschaft und den Transformations-schwierigkeiten bei der Einführung derMarktwirtschaft konfrontiert ist. Die Ge-samtschau und die damit verbundenen Pro-bleme sind erdrückend.
Natürlich liegt das Katastrophenkraft-werk auf ukrainischem Territorium, dochWissenschaftler und Politiker unseres Lan-des sind auch der Ansicht, daß bei derHavarie in gewisser Hinsicht der Zufall imSpiel war. Die friedliche Nutzung der Kern-energie begann im Glauben an den techni-schen Fortschritt weltweit, und so bedarfdie Lösung der Tschernobyl-Probleme derinternationalen intellektuellen und finan-ziellen Zusammenarbeit.
Literatur:
BARJACHTAR, W.G. (BAR’JACHTAR, V.G.) (Hrsg.)(1995): Èernobyl’skaja katastrofa (DieTschernobyl-Katastrophe). Kiew.
Internationale Gesellschaft zur Wiederher-
stellung der Umwelt und gefahrloser Le-bensbedingungen des Menschen / Verei-nigter Expertenrat Minsk – Moskau –Kiew (Me• dunarodnoe soobšèestvo vos-stanovlenija sredy obitanija i bezopasnogopro• ivanija èeloveka/Ob“edinennyj ekspert-nyj komitet Minsk – Moskva – Kiev) (1993):Èernobyl’skaja katastrofa: pricipy i pos-ledstvija; 4: Posledstvija katastrofy dljaUkrainy i Rossii (Die Tschernobyl-Kata-strophe: Ursachen und Folgen; 4: DieKatastrophenfolgen für die Ukraine undRußland). Minsk.
Verwaltung der (30-km-)Isolierzone / Tschor-nobylinterinform (Administracija zonyvidèu• ennja/Èornobyl’interinform) (1996):Bjuleten’ ekologiènogo stanu zonyvidèu• ennja No. 6 (Bulletin über die öko-logische Situation der Isolierzone Nr. 6).
Autoren:Dr. sc. INGA GORLENKO,Dr. ANNA STAROSTENKO,Ukrainische Finanz- und Wirtschafts-hochschule Irpin,Gagarinstraße,UA-Irpin (Kreis Kiew).
Dr. GÜNTER FRIEDLEIN,Institut für Länderkunde,Schongauerstr. 9D-04329 Leipzig.