Goya und die Aufklärung* -...

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27 Gießener Universitätsblätter 42 | 2009 Wilfried Floeck Goya und die Aufklärung* Der Titel „Goya und die Aufklärung“ ist nicht unproblematisch, da Goya bekanntlich nicht nur als Maler der Aufklärung, sondern auch als erster Maler der Moderne gehandelt wird. Nicht ohne Grund hat Fred Licht seinem Goya-Buch den Untertitel Die Geburt der Moderne gegeben (Licht 2001), und 2005 wurde ein gemeinsames Ausstellungsprojekt der Alten Nationalgalerie Berlin und des Kunst- historischen Museums Wien unter dem Titel Goya: Prophet der Moderne verwirklicht (Schu- ster 2005). „Aufklärung“ und „Moderne“ aber sind Begriffe, die in einem Spannungsverhält- nis zueinander stehen. Auf diese Frage wird noch zurückzukommen sein. Dass es eine enge Beziehung zwischen Goyas Werk und der spa- nischen Ilustración gibt, liegt nicht nur auf Grund der Lebensdaten des Malers – 1746– 1828 – auf der Hand. Andererseits geht seine letzte und sicherlich wichtigste Schaffens- periode über die Epoche der Ilustración hinaus und reicht bis in eine Zeit, in der die Ideen der Aufklärung in Spanien nach dem Tod des auf- geklärten Königs Karls III., nach dem Ausbruch der Französischen Revolution und nach der französischen Besetzung der Iberischen Halb- insel und den spanischen Befreiungskriegen gegen Napoleon in den Jahren 1808 bis 1813 in eine schwere Krise geraten waren. Diese Kri- se spiegelt sich auch im Spätwerk Goyas deut- lich wider, dessen Beziehung zum Geist der Aufklärung wesentlich spannungsreicher und ambivalenter wird. In den vergangenen Jahren wurde in der For- schung gerade dieser Aspekt in Goyas Werk besonders hervorgehoben. Jüngst erst hat Su- sanne Schlünder (2002) karnevaleske Wirk- lichkeitsgestaltung im Sinne Bachtins sowie Ambivalenz und Ambiguität vor allem in der Körpergestaltung als wesentliche Merkmale von Goyas Spätwerk herausgearbeitet. Zwei- fellos erschöpft sich der Sinnhorizont von Go- yas Spätwerk nicht im Geist der Aufklärung, doch wenn man in ihm nur Ambivalenz, Am- biguität, Polyvalenz und Unbestimmtheit sieht, verkennt man andererseits die tiefe Ver- wurzelung des Malers in der kritisch-sati- rischen und didaktischen Tradition der spa- nischen Aufklärung. Ohne die Komplexität von Goyas Werk verkennen zu wollen, ist es das erste Ziel des vorliegenden Beitrags, Go- yas enge Beziehung zu den aufklärerischen Ideen seiner Zeit und den literarischen Texten der Aufklärer in seinem Werk aufzuzeigen. In dem Text, den Goya wahrscheinlich selbst ver- fasst hat, um im Diario de Madrid vom 6. Fe- bruar 1799 das Erscheinen seiner Caprichos anzukündigen, hob er die enge Verbindung zwischen dem Ziel seiner Radierungen und dem der literarischen Texte seiner Zeitgenos- sen hervor, wenn er schrieb: In der Überzeugung, dass die Kritik der mensch- lichen Verfehlungen und Laster (obwohl dies eigentlich ein typisches Thema der Rhetorik und Dichtung darstellt) doch auch Gegenstand der Malerei sein kann, hat der Autor unter den zahlreichen Extravaganzen und Irrtümern, die in jeder Zivilgesellschaft üblich sind, […] als entsprechende Themen für sein Werk gerade jene ausgewählt, von denen er glaubte, dass sie das ergiebigste Material für ihre Ridikülisie- rung bieten würden (in: Gassier/Wilson 1970: 129). Es besteht kein Anlass, diese Worte nicht ernst zu nehmen und ihnen die Absicht zuzu- schreiben, die Leser zu irritieren (so Schlünder 2002: 102). Der Text der Ankündigung zeigt vielmehr, dass sich Goya bewusst war, dass er mit seinen Caprichos das ureigene Feld der Li- teratur betrat. Von Feijoo bis Jovellanos, von * Abschiedsvorlesung am 2. 7. 2008

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GießenerUniversitätsblätter42 | 2009

Wilfried Floeck

Goya und die Aufklärung*

Der Titel „Goya und die Aufklärung“ ist nichtunproblematisch, da Goya bekanntlich nichtnur als Maler der Aufklärung, sondern auch alserster Maler der Moderne gehandelt wird.Nicht ohne Grund hat Fred Licht seinemGoya-Buch den Untertitel Die Geburt derModerne gegeben (Licht 2001), und 2005wurde ein gemeinsames Ausstellungsprojektder Alten Nationalgalerie Berlin und des Kunst-historischen Museums Wien unter dem TitelGoya: Prophet der Moderne verwirklicht (Schu-ster 2005). „Aufklärung“ und „Moderne“ abersind Begriffe, die in einem Spannungsverhält-nis zueinander stehen. Auf diese Frage wirdnoch zurückzukommen sein. Dass es eine engeBeziehung zwischen Goyas Werk und der spa-nischen Ilustración gibt, liegt nicht nur aufGrund der Lebensdaten des Malers – 1746–1828 – auf der Hand. Andererseits geht seineletzte und sicherlich wichtigste Schaffens-periode über die Epoche der Ilustración hinausund reicht bis in eine Zeit, in der die Ideen derAufklärung in Spanien nach dem Tod des auf-geklärten Königs Karls III., nach dem Ausbruchder Französischen Revolution und nach derfranzösischen Besetzung der Iberischen Halb-insel und den spanischen Befreiungskriegengegen Napoleon in den Jahren 1808 bis 1813in eine schwere Krise geraten waren. Diese Kri-se spiegelt sich auch im Spätwerk Goyas deut-lich wider, dessen Beziehung zum Geist derAufklärung wesentlich spannungsreicher undambivalenter wird.In den vergangenen Jahren wurde in der For-schung gerade dieser Aspekt in Goyas Werkbesonders hervorgehoben. Jüngst erst hat Su-sanne Schlünder (2002) karnevaleske Wirk-lichkeitsgestaltung im Sinne Bachtins sowieAmbivalenz und Ambiguität vor allem in der

Körpergestaltung als wesentliche Merkmalevon Goyas Spätwerk herausgearbeitet. Zwei-fellos erschöpft sich der Sinnhorizont von Go-yas Spätwerk nicht im Geist der Aufklärung,doch wenn man in ihm nur Ambivalenz, Am-biguität, Polyvalenz und Unbestimmtheitsieht, verkennt man andererseits die tiefe Ver-wurzelung des Malers in der kritisch-sati-rischen und didaktischen Tradition der spa-nischen Aufklärung. Ohne die Komplexitätvon Goyas Werk verkennen zu wollen, ist esdas erste Ziel des vorliegenden Beitrags, Go-yas enge Beziehung zu den aufklärerischenIdeen seiner Zeit und den literarischen Textender Aufklärer in seinem Werk aufzuzeigen. Indem Text, den Goya wahrscheinlich selbst ver-fasst hat, um im Diario de Madrid vom 6. Fe-bruar 1799 das Erscheinen seiner Caprichosanzukündigen, hob er die enge Verbindungzwischen dem Ziel seiner Radierungen unddem der literarischen Texte seiner Zeitgenos-sen hervor, wenn er schrieb:In der Überzeugung, dass die Kritik der mensch-lichen Verfehlungen und Laster (obwohl dieseigentlich ein typisches Thema der Rhetorikund Dichtung darstellt) doch auch Gegenstandder Malerei sein kann, hat der Autor unter denzahlreichen Extravaganzen und Irrtümern, diein jeder Zivilgesellschaft üblich sind, […] alsentsprechende Themen für sein Werk geradejene ausgewählt, von denen er glaubte, dasssie das ergiebigste Material für ihre Ridikülisie-rung bieten würden (in: Gassier/Wilson 1970:129).Es besteht kein Anlass, diese Worte nichternst zu nehmen und ihnen die Absicht zuzu-schreiben, die Leser zu irritieren (so Schlünder2002: 102). Der Text der Ankündigung zeigtvielmehr, dass sich Goya bewusst war, dass ermit seinen Caprichos das ureigene Feld der Li-teratur betrat. Von Feijoo bis Jovellanos, von* Abschiedsvorlesung am 2. 7. 2008

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Torres Villarroel bis Cadalso, von Fernándezde Moratín bis Meléndez Valdés und Quintanasowie von dem Herausgeber der Zeitschrift ElPensador bis zu dem von El Censor kämpftendie Schriftsteller der Ilustración „für die Auf-deckung der gemeinen Irrtümer“ der Gesell-schaft, wie der Benediktinerpater Feijóo es imUntertitel seines Teatro crítico universal formu-liert hatte. Goya begleitete und unterstütztesie in dieser Aufgabe mit seinem Pinsel. Oftgenug nahm er in den Titeln, Inschriften oderKommentaren zu seinen Bildern direkt oderindirekt auf die literarischen oder periodis-tischen Vorlagen Bezug. Dies aufzuzeigen, istZiel des vorliegenden Beitrags, wobei ich mirselbstverständlich bewusst bin, dass sich Sinnund Ziel vor allem seines Spätwerks nicht darinerschöpfen, den Geist der Aufklärung mit denMitteln der Malerei zum Ausdruck zu bringenund zu propagieren.

Edith Helman hat bereits in den sechziger Jah-ren die enge Beziehung zwischen dem WerkGoyas und den literarischen und periodis-tischen Texten der Aufklärung herausgearbei-tet (1963 und 1970). Schon ein erster Blick aufGoyas Werk zeigt die persönliche Verbindungdes Malers mit den Protagonisten der Ilustra-ción, mit denen er in engem Kontakt stand.Am eindrücklichsten stellt dies das bekanntePorträt von Gaspar Melchor de Jovellanos un-ter Beweis, einem der prominentesten Vertre-ter der spanischen Aufklärung (Abb. 1). DasGemälde zeigt nicht nur die enge BeziehungGoyas zu Jovellanos; ein Vergleich mit dem of-fiziellen Gruppenporträt der Familie Karls IV. il-lustriert zugleich auch die unterschiedlicheWertschätzung, die der Künstler auf der einenSeite seinem aufgeklärten Freund und auf deranderen Seite den traurigen Nachfolgern KarlsIII. entgegenbrachte, dem etwas vertrotteltdreinschauenden Karl IV., seiner im Zentrumstehenden Gemahlin, die nicht von ungefährden Eindruck eines Hausdrachens erweckt, unddem infantilen Thronfolger Ferdinand VII., des-sen Infantilismus sich später freilich eher in Sa-dismus und Gewaltherrschaft verwandelnsollte (Abb. 2).Goya war mit dem Großteil der kleinen Gruppeaufgeklärter Intellektueller und Künstler be-freundet und teilte ihre Vorstellungen (vgl. Gas-sier/Wilson 1970: 132ff.). Ihre Ideen finden sichin zahlreichen seiner Gemälde und Radierungenwieder. „Goyas Werk ist entscheidend von denIdeen der Aufklärung geprägt, und in geradezusubversiver Weise machte er sie in seinen Bildernanschaulich und sichtbar,“ schreibt Helmut C.Jacobs in seinem schönen Goya-Buch von 2006(Jacobs 2006: 15; ähnlich schon Helman 1963:147). Das möchte ich illustrieren, indem ich fünfder zentralen Themen der spanischen Aufklä-rung herausgreife und entsprechende Beispieleaus den Texten der Schriftsteller den Bildern desMalers gegenüberstelle.

1. Kampf für die Vernunft undgegen Wunder und Aberglauben

Dass die Vernunft im 18. Jahrhundert zu einerder beiden fundamentalen erkenntnistheore-

Abb. 1: Gaspar Melchor de Jovellanos – Bildquelle: Pro-metheus. Bildarchiv für Kunst- und Kulturwissenschaften.– Standort: Museo del Prado, Madrid

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tischen Säulen des Wissens werden sollte, da-für hatte in Spanien bereits der Benediktiner-pater Benito Jerónimo Feijóo in seinemachtbändigen Teatro crítico universal (1726–1739) plädiert und sich auch gleich zu derzweiten Säule, dem naturwissenschaftlichenExperiment, bekannt. Descartes und Newtonbildeten in der Tat die Säulen der Erkenntnis-theorie des gesamten 18. Jahrhunderts, unddafür trat in Spanien der Pater Feijóo bereits inder ersten Jahrhunderthälfte energisch ein. Indem folgenden Satz kommt eindrücklich dasganze Selbstbewusstsein und der enorme Ver-nunftoptimismus des Aufklärers zum Ausdruck,was nicht nur für Feijóo charakteristisch war:„Así yo, ciudadano libre de la República Litera-ria, ni esclavo de Aristóteles ni aliado de sus

enemigos, escucharé siempre con preferenciaa toda autoridad privada lo que me dictaren laexperiencia y la razón.“ (Feijóo 1961, 460)„So werde ich, freier Bürger der Gelehrten-republik, weder Sklave von Aristoteles nochVerbündeter seiner Gegner, vor jeder privatenAutorität stets dem mit Vorliebe folgen, wasmir Erfahrung und Vernunft vorschreiben.“Wie Kant wollte auch Feijóo seine Zeitgenos-sen mit Hilfe der Vernunft aus ihrer „selbstver-schuldeten Unmündigkeit“ herausführen undvon ihren „gemeinen Irrtümern“ befreien. Ja-cobs hat die Caprichos zu Recht als „Pendantzu Feijóos Teatro críticio universal“ bezeichnet(Jacobs 2006: 314). In zahlreichen Discursosseines Teatro hat der Benediktinerpater die„Lichter der Vernunft“ gegen alle Arten von

Abb. 2: La familia de Carlos IV – Bildquelle: Prometheus. Bildarchiv für Kunst- und Kulturwissenschaften. – Standort:Museo del Prado, Madrid

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Wunder- und Aberglauben eingesetzt. Alsgläubiger Geistlicher leugnete er keineswegsdie Möglichkeit eines unmittelbaren Eingrei-fens Gottes in die Welt, doch wandte er sichstets vehement gegen die Auffassung, dassGott die Welt als eine Art Spielwiese zur De-monstration seiner Allmacht betrachte. Plötz-lich läutende Glocken, Blut schwitzende Kruzi-fixe oder weinende Madonnen versucht erstets als natürliche Erscheinungen zu erklären.Die Menschen, die sie als Wunder betrachten,obliegen in der Regel optischen Täuschungen,die entstehen, wenn die Vernunft außer Kraftgesetzt ist, wenn die Vernunft schläft. Waspassiert, wenn die Vernunft schläft, hat Goyaja in dem Protagonisten seines Capricho 43eindrücklich dargestellt (Abb. 3). Die Hexen-und Monsterwesen, die der Schlaf der Vernunftgebiert, hat Pater Feijóo schon lange vor Goyazu vertreiben versucht. Hexen- und Aberglaubesind Themen, die wir bei Goya häufig finden,

etwa in dem bekannten Aquelarre (Hexensab-bat) aus der Serie der Schwarzen Gemälde.Was der Maler von den Zuhörerinnen des ge-hörnten schwarzen Hexenmeisters hält, de-monstrieren ihre grotesk verzerrten Gesichterzur Genüge. Bei Goya ist der Kampf gegen denAberglauben sehr häufig mit einer Kritik an re-ligiösem Fanatismus, besonders an dem Vorge-hen der Inquisition gegen alle tatsächlichenoder angeblichen Abweichler vom rechtenGlauben verbunden, wobei sein Mitgefühlstets den Opfern der Inquisitionsjustiz gehört.

2. Adelskritik und Kampffür soziale Gerechtigkeit

Die Kritik am parasitären Charakter des Adels,der an seinen sozialen Privilegien festhaltenwollte, ohne dafür eine nützliche Gegenlei-stung für das Gemeinwohl zu erbringen,durchzieht sämtliche Schriften der spanischenAufklärer. José Cadalso lässt einen der Prota-gonisten seiner Cartas Marruecas einmal sa-gen:„Nobleza hereditaria es la vanidad que yo fun-do en que ochocientos años antes de mi naci-miento muriese uno que se llamó como yo mellamo, y fué hombre de provecho, aunque yosea inútil para todo.“ (Cadalso 7/1975: 55)„Erbadel ist die Eitelkeit, die ich darauf begrün-de, dass 800 Jahre vor meiner Geburt jemandgestorben ist, der genauso hieß wie ich undder ein nützlicher Mensch war, obwohl ich zunichts nutze bin.“Häufig verbindet sich die Adelskritik dabei miteiner scharfen Anklage gegen Klassendenkenund soziale Ungerechtigkeit. Auch hier gingder Pater Feijóo bereits mit gutem Beispiel vo-ran, wenn er etwa in seinem Essay Ehre undNutzen der Landwirtschaft das soziale Elendder Bauern beschrieb, die die Früchte ihrer har-ten Arbeit den reichen und mächtigen Groß-grundbesitzern überlassen mussten, währendihre Familien Hunger litten und in bitterer Ar-mut lebten.Goya hat dieses Thema unter anderem in sei-nem Capricho 42 behandelt (Abb. 4), in demzwei arme Bauern ihre adligen Herrschaften inForm von Eseln auf dem Rücken schleppen. Die

Abb. 3: El sueño de la razón produce monstruos (Capri-cho 43)

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Bauern tragen nicht nur die Last ihrer eigenenArbeit, sondern müssen auch noch die adligenSchmarotzer ernähren. Soziale Realität als ver-kehrte Welt, könnte man sagen. Dass auch dieFolgen des Krieges in erster Linie stets dieAngehörigen der untersten Schichten tragen,illustriert der Maler in seiner Radierung 61 ausdem Bildzyklus Desastres de la guerra mit demTitel „Sí, son de otro linaje“ („Ja, sie sind vonanderer Herkunft“). Während die Ärmsten derArmen frierend, ausgemergelt, verwundet undhalb verhungert am Boden liegen, betrachtendie in ihre warmen Mäntel gehüllten Angehöri-gen der Oberschichten ohne Mitleid und An-teilnahme das traurige Schauspiel. In zahl-reichen Darstellungen hat Goya die schlechtenArbeitsbedingungen von Arbeitern und Hand-werkern oder die katastrophalen Verhältnissein den überfüllten Gefängnissen und Irren-anstalten denunziert. Ein unter die Haut ge-hendes Zeugnis für die Brutalität der Haftbe-dingungen seiner Zeit stellt die Radierung dar,die einen an Händen und Füßen gefesseltenHäftling in verzweifelter Haltung zeigt.

3. Kritik an der Unterdrückung der Frau

Das Thema Frau und Aufklärung ist äußerstkomplex. Kritik an weiblicher Unterdrückungist noch nicht gleichbedeutend mit weiblicherEmanzipation. Gerade die bürgerliche Aufklä-rung war es ja, die die soziale Geschlechterdif-ferenzierung verfestigte und mit der biolo-gischen Natur der Frau neu begründete. Auchfür die Aufklärer war und blieb die Frau ausdem öffentlichen Bereich ausgeschlossen undauf die Privatsphäre der Familie beschränkt.Immerhin gab es auch in Spanien bereitsStimmen, die die gängige Meinung von derphysischen, moralischen und vor allem intellek-tuellen Unterlegenheit der Frau gegenüberdem Mann bekämpften. Wieder einmal erwiessich Pater Feijóo auch in diesem Bereich als be-sonders fortschrittlich. In seinem berühmtenEssay Defensa de las mujeres (Verteidigung derFrauen) geht er das Thema gleich zu Beginnfrontal an:„Auf eine schwierige Sache lasse ich mich hierein. Mit diesem Thema nehme ich nicht nur

den Kampf mit dem unwissenden Pöbel auf:die Frauen verteidigen, heißt heute so viel wiealle Männer beleidigen. [...] Die Ansicht überdie Minderwertigkeit der Frauen ist so starkverbreitet, dass man an ihnen kaum etwasGutes lässt. In moralischer Hinsicht sieht manin ihnen nur Schwächen, in physischer nur Un-vollkommenheiten; doch am tiefsten verwur-zelt ist das Vorurteil hinsichtlich ihres be-schränkten Verstandes.“ (Feijóo 1952: 50)Selbst dieses letzte und am stärksten verbreite-te Vorurteil versucht Feijóo zu widerlegen, in-dem er zahlreiche Beispiele von klugen Frauenaus der Geschichte aufzählt. Am Ende aberführt er ein Argument an, das auch heute nochmanchen Macho wenn nicht zu überzeugenvermag, so doch zumindest in Verlegenheitbringen könnte:„Bringen wir es auf den Punkt: Männer warenes, die jene Bücher schrieben, in denen derVerstand der Frauen als minderwertig verurteiltwird. Wenn Frauen sie geschrieben hätten,

Abb. 4: Tu que no puedes (Capricho 42)

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dann würden wir Männer eher alt aussehen.“(Feijóo 1952: 57)Mit dieser These der intellektuellen Gleichstel-lung von Mann und Frau stand Feijóo in derspanischen Aufklärung ziemlich allein da. Diegroße spanische Frauenrechtlerin und Autorindes späten 19. Jahrhunderts Emilia Pardo Ba-zán hat ihm das stets hoch angerechnet.Auch Goya hat die Frauen immer wieder vertei-digt und vor allem ihre Rolle als soziale Außen-seiter und rechtlose Mitglieder der Gesellschaftgebrandmarkt. In einem seiner Bilder zeigt ereine gefesselte Frau und gibt dem Bild als Titeldie Frage „Weil sie liberal ist?“. Das ist nicht nurKritik am absolutistischen Terrorregime Ferdi-nands VII., sondern zugleich auch ein Plädoyerfür das Recht der Frau auf freie Meinungsäuße-rung und politische Betätigung. Auch die üb-liche harte Bestrafung der Frauen für voreheli-chen Sexualkontakt oder eheliche Untreue klagtder Maler an, so wohl auch in dem ganz in Aqua-tintatechnik gemalten Capricho 30, das eineFrau in einer Gefängniszelle zeigt, wobei derGrund für ihre Inhaftierung im Titel zum Aus-druck gebracht wird: „Weil sie sensibel war“.Wir hatten schon gesehen, dass die Adelskritikeines der beliebtesten Themen der spanischenAufklärer war. Dabei ging es nicht nur um denparasitären Charakter der Aristokratie, sondernauch um ihre moralische Verwahrlosung. Dabeisparte die aufgeklärte Kritik auch nicht das Ver-halten der aristokratischen Damen aus, wiebeispielsweise die berühmte Satire Contra lasmalas costumbres de las mujeres nobles ausder Feder von Jovellanos zeigt. In ihr kritisiert erdie Unmoral der hohen Damen, die ihren La-stern nicht einmal mehr – wie früher – heimlichund im Verborgenen frönen, sondern sich garnoch in aller Öffentlichkeit ihrer Liebhaber undSeitensprünge brüsten. „Hubo un tiempo enque andaba la modestia // dorando los delitos,hubo un tiempo // en que el recato tímido cu-bría // la fealdad del vicio; pero huyóse // el pu-dor a vivir en las cabañas“, zieht Jovellanosvom Leder. Doch dann kommt der Autor aufdes Pudels Kern, indem er die herrschende Hei-ratspraxis seiner Zeit aufs Korn nimmt. Wieviele junge Frauen auch aus den Mittelschichteneifern der von ihm geschilderten und kritisier-

ten adligen Protagonistin Alcinda nach, die sichihre Freiheit durch eine Eheschließung erkaufthat, die ihr zumindest einen Teil der Rechteschenkt, die sie als unverheiratete Frau nichtbesitzt. Wie viele junge Frauen stürzen sich da-her wie die Protagonistin seiner Satire völligunüberlegt und übereilt und ohne die Ver-dienste und Eigenschaften ihrer künftigen Ehe-männer zu prüfen in das Abenteuer der Ehe,um auf diese Weise in den Genuss der Frei-heiten Alcindas zu kommen:„Das Jawort sprechen sie aus und reichen dieHand dem Erstbesten, der ihnen über den Wegläuft.“„¡Cuántas, oh Alcinda, a la coyunda uncidas,tu suerte envidian! ¡Cuántas de Himeneobuscan el yugo por lograr tu suerte,y sin que invoquen la razón, ni pesesu corazón los méritos del novio,el sí pronuncian y la mano alarganal primero que llega! ¡Qué de malesesta maldita ceguedad no aborta“(in: Polt 1975: 176)Jovellanos spricht hier in der Tat einen gesell-schaftlichen Missstand an, der zu seiner Zeiteine erhebliche Bedeutung besaß und insbe-sondere das Leben der Frau betraf. Die unver-heiratete Frau war im Spanien des AntiguoRégimen der strengen Kontrolle der Familie un-terworfen und so gut wie ohne Möglichkeiteneiner freien Lebensgestaltung. Diese Situationlockerte sich erst durch ihre Heirat. Die verhei-ratete Frau hatte einen größeren Freiheitsraumals die unverheiratete. Daher kam es, dass vie-len Frauen jede eheliche Verbindung recht war,um dem tyrannischen Regiment der Familie zuentkommen. Die Folge waren bereits im An-satz gescheiterte Ehen und dazu ein allgemei-ner Sittenverfall, wie ihn Jovellanos in seinerSatire beklagt. Auch Goya hat sich dieses The-mas in mehreren seiner Radierungen ange-nommen, und eine von ihnen zeigt, dass ersich dabei unmittelbar auf die Texte seines lite-rarischen Freundes bezieht, da er ihren Titelaus der Satire von Jovellanos entnommen hat:„El sí pronuncian y la mano alargan / al primeroque llega“ (Abb. 5).Häufiger noch haben die Aufklärer eine andereVariante der zeitgenössischen Heiratspraxis kri-

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tisiert: die Zwangsehe junger Mädchen mit al-ten, aber reichen Männern, die eine sozialeAbsicherung nicht nur der Töchter, sondern vorallem auch von deren Eltern garantierten. Dieswar gängige Praxis der Sozialversicherung imAncien Régime. Dass dabei die Gefühle undWünsche der jungen Frauen unter die Räderkamen, war sozusagen ein bedauerlicher, aberunvermeidbarer Kollateralschaden. Die Aufklä-rer liefen auch dagegen Sturm, allen voranGoyas Freund Moratín in seinen beiden Thea-terstücken El viejo y la niña und El sí de lasniñas. Natürlich hat auch Goya dieses Themaaufgegriffen und mehrfach behandelt, wieetwa in dem Ölgemälde „Matrimonio des-igual“, das eine junge Frau mit einem häss-lichen, verkrüppelten Alten vor dem Altar zeigt,oder in der noch ausdrucksstärkeren gra-phischen Gestaltung des gleichen Motivs, derer den Titel „Welch ein Opfer!” gegeben hat.

4. Kampf für Wissen und Bildung

Universale Neugierde hat man immer wieder alstypisches Merkmal der europäischen Aufklärungbezeichnet. Die Aufklärer waren sich in der Tat

bewusst, dass die berüchtigte „unverschuldeteUnmündigkeit“ des Menschen nur durch Bil-dung zu überwinden war. Immer wiederrühmten sie die Vorzüge von Wissen und Bil-dung, allen voran wieder einmal der Pater Feijóo,der geradezu ins Schwärmen geriet, wenn ervon seinen langen Bibliotheksaufenthalten undseiner Lektüre kluger Bücher berichtete:„¿Qué cosa más dulce hay que estar tratandotodos los días con los hombres más racionalesy sabios que tuvieron los siglos todos, como selogra en el manejo de los libros?“ („Desagraviode la profesión literaria“: Feijóo 1952: 19)„Was gibt es Schöneres als jeden Tag mit denvernünftigsten und klügsten Menschen, die dieJahrhunderte hervorgebracht haben, Umgangzu pflegen, wie man es beim Gebrauch derBücher erlebt?“Goya war ebenfalls ein bekennender Anhängerder These vom lebenslangen Lernen. Wie an-ders soll man sonst seine wunderschöne Dar-stellung eines uralten Greises mit langem Bart

Abb. 5: El sí pronuncian y la mano alargan al primeroque llega (Capricho 2)

Abb. 6: Aun aprendo. – Bildquelle: Neues Handbuch derLiteraturwissenschaft, hrsg. von Klaus von See, Bd. 13:Europäische Aufklärung III, hrsg. von Jürgen von Stackel-berg, Wiesbaden 1980, S. 364

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verstehen, der sich nur noch mit Hilfe zweierStöcke auf den Füßen halten kann, der aber imKopf wohl noch glasklar ist und sich selbst alsTitel unter sein Porträt die Worte gesetzt hat„Noch immer lerne ich“ (Abb. 6).Mit dem Plädoyer für Bildung und Wissen ein-her ging die Kritik an dem deplorablen Zustanddes spanischen Bildungswesens der Zeit, dasinsbesondere die Universitäten betraf. SchonFeijóo hatte in seinem Essay Zu den Ursachendes Rückstandes, den Spanien im Bereich derNaturwissenschaften erlebt als erste und wich-tigste Ursache die Unfähigkeit einiger Pro-fessoren genannt. Wie die Situation an denspanischen Hochschulen der Zeit aussah, hatDiego de Torres Villarroel in seiner Autobio-graphie geschildert. Hier eine kleine Anekdoteaus seiner Studienzeit, in der er berichtete, wieeiner seiner Professoren seine Vorlesung durchdie Lektüre eines Buches bestritt. Als er dasBuch eines Morgens verlor und es trotz mehre-rer Anschläge und der Aussetzung einesFinderlohns nicht wiederbekam, war es mit derVorlesung für den Rest des Semesters vorbei.

„Diejenigen, die den Lehrer kannten und diemit dem Schüler Umgang hatten, die werdensich denken können, was er mir beibringenund ich von ihm lernen konnte“, bemerkt derAutor dazu sarkastisch:„Era el catedrático el doctor Don Pedro Sama-niego de la Serna. Los que conocieron al maes-tro y han tratado al discípulo, podrán discurrirlo que él me pudo enseñar y yo aprender.Acuérdome que nos leía a mí y a otros dos co-legiales por un libro castellano, y este se le per-dió una mañana; puso varios carteles, ofrecien-do buen hallazgo; al que se lo volviese. El papelno pareció, con que nos quedamos sin arte y sinmaestro, gastando la hora de la cátedra en con-versaciones, chanzas y novedades inútiles y aundisparatadas“ (in: Aguilar Piñal 1967: 211f.).Goya, der Torres Villarroel bestens kannte undseine Schriften verwertete, hat den Gedankenin mehreren seiner Caprichos aufgegriffen,etwa in dem schönen Eselsbild mit dem Titel„Ob der Schüler wohl mehr wissen wird?“(Abb. 7), der direkt der Vida des Torres Villa-rroel entnommen zu sein scheint. Wenn eingroßer Esel sich anschickt, auf das Katheder zusteigen, dann können dabei auch in den Bän-ken nur kleine Esel herauskommen, eine Er-kenntnis, die ihre Gültigkeit auch heute nochnicht verloren hat.

5. Kritik an Gewalt und Krieg

Auch für die pazifistische Grundhaltung derAufklärung mag Pater Feijóo wieder als Kron-zeuge dienen. In dem schon zitierten EssayHonra y provecho de la agricultura plädierte erberedt dafür, dass man die Bauern vom Kriegs-dienst befreien solle, da sonst die Felder unbe-stellt und dem Land die Früchte der bäuerlichenArbeit vorenthalten blieben. Doch am bestensei es, jegliche Art von Krieg zu verhindern unddie Schwerter in Pflugscharen zu verwandeln,um seine Worte vielleicht ein wenig frei, aberdurchaus sinngemäß zu übersetzen:„Der glücklichste Krieg ist ein großes Unglückfür jedes Reich. Für den Staat sind Felder, diemit Ähren bepflanzt sind, allemal besser als sol-che, die mit Kriegstrophäen übersät sind. DasBlut der Feinde, das sie durchtränkt, macht sieAbb. 7: Si sabrá más el discípulo? (Capricho 37)

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unfruchtbar; wie viel mehr noch das eigene.[…]. Weh dem Land, dem die Landarbeiterfür Schlachten entzogen werden! Glücklichdagegen das Land, in dem die Soldaten dieSchwerter durch Pflugscharen ersetzen!“„La guerra más feliz es una gran desdicha delos reinos. Mucho más importan á la repúblicalas campañas pobladas de mieses, que corona-das de trofeos. La sangre enemiga que las rie-ga, las esteriliza, cuanto más la propria. [...].¡Ay de la tierra donde los labradores se extraende los campos para las campañas! ¡Feliz elreino donde los soldados dejan las espadas porlos azadones!“ (Feijóo 1952: 460).Spanien sollte dieses Glück leider nicht zuteilwerden, im Gegenteil. Der Einfall der Franzosenim Jahre 1808 führte zu einem Aufstand desVolkes und zu einem jahrelangen Guerillakrieg,in dem beide Seiten sich an Brutalität und Grau-samkeit zu übertreffen schienen. Der Madrider

Volksaufstand von Anfang Mai führte zu gewalt-tätigen Repressalien und Erschießungen durchfranzösische Exekutionskommandos, die Goyain seinem berühmten Gemälde El tres de mayo1808 gestaltet hat (Abb. 8). Darüber hinaus hatGoya die Gewalt- und Leidensexzesse der Betei-ligten zwischen 1810 und 1820 in einer Serievon Radierungen mit dem Titel Desastres de laguerra dargestellt, in denen er dem Betrachterin expressionistischer Manier drastisch die Ver-rohung des Menschen unter den Bedingungendes Krieges vor Augen geführt hat. Dabei hat erdie Unmenschlichkeit und Brutalität beider Sei-ten zum Ausdruck gebracht.

Goya und die Moderne

Soweit meine Ausführungen zum Thema„Goya und die Aufklärung“. Sie haben gezeigt,dass Francisco de Goya in der Tat eng mit den

Abb. 8: El tres de mayo 1808. – Bildquelle: Prometheus. Bildarchiv für Kunst- und Kulturwissenschaften. – Standort:Museo del Prado, Madrid

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Ideen der spanischen Aufklärung verbundenwar und dass sein künstlerisches Werk nurdann zu verstehen ist, wenn es kulturwissen-schaftlich vor diesem Hintergrund verortetwird. Doch damit sind wir noch nicht am Ende.Zu klären bleibt noch die Frage nach dem Ver-hältnis von Goya zur Moderne. Denn wie schonbetont, gilt Goya ja allgemein als einer derVäter der Moderne, und diese beginnt erstweit nach der Aufklärung und steht zu ihr ineinem erheblichen Spannungsverhältnis. Merk-male wie Vernunftoptimismus, Vertrauen in dieBeherrschbarkeit von Natur und Mensch unddamit verbundener Fortschrittsglaube passennicht zu dem, was gemeinhin als Moderne be-zeichnet wird. Deren Schlagworte sind vielmehrein pessimistisches Menschenbild, Verlust desVertrauens in die Fähigkeit menschlicher Ver-nunft in Bezug auf Wahrheitserkenntnis undWeltgestaltung, Zweifel an der Sinnhaftigkeitder Welt und Glaubensverlust, soziale undexistenzielle Einsamkeit etc.Im Spätwerk Goyas, in der Radierfolge seinerCaprichos und vor allem in seinen Desastres dela guerra und seinen Pinturas negras findensich allerdings auch zahlreiche Bezüge zusolchen Schlagworten. Schon wenn man diePersönlichkeiten des Paters Feijóo und Goyasmiteinander vergleicht, wird man feststellen,

dass beide durch Welten voneinander getrenntsind. Hier der in sich ruhende, selbstsichere,heitere, von keinerlei erkenntnistheoretischenoder gesellschaftlichen Zweifeln geprägte Auf-klärer; auf der anderen Seite ein zumindest imAlter eher pessimistischer, skeptischer, miss-trauischer, an sich und seiner Welt zweifelnderMensch, wie er sich selbst beispielsweise imEingangs-Capricho zu seiner Druckserie oder ineinem Selbstporträt von 1815 gezeichnet hat.Spricht aus den Gemälden und Zeichnungenüber die Grausamkeiten des Krieges wirklichnur Kritik am Krieg? Sind sie nicht zugleichauch Ausdruck der Verzweiflung angesichtsder unausrottbaren Bestialität der mensch-lichen Natur schlechthin? Manche Kritikerhaben von einer sadomasochistischen Veran-lagung Goyas gesprochen, die sich selbst anden Szenen von Gewalt und Zerstörung berau-sche. So weit muss man und sollte man nichtgehen. Ich sehe in solchen Gewaltszenen ehereine Denunzierung der pervertierten mensch-lichen Natur. Von einem optimistischen Welt-und Menschenbild sprechen solche Bilder frei-lich nicht. Goya scheint längst den Glauben andie positive Entwicklung des Menschen unterdem Gebot der Vernunft und an die Möglich-keit des gesellschaftlichen Fortschritts verlorenzu haben.

Abb. 9: La riña a garrotazos. – Bildquelle: Prometheus. Bildarchiv für Kunst- und Kulturwissenschaften. – Standort:Museo del Prado, Madrid

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Auch aus seinen Pinturas negras spricht die Bot-schaft, dass der Mensch von Natur aus verderbtund schlecht sei. Die antike Mythologie liefertedem Maler hierfür Motive, die er auf geradezuabschreckende Weise künstlerisch gestaltete.Ein besonders eindrückliches Beispiel hierfür istdas düstere Gemälde von Saturn, wie er einesseiner Kinder verschlingt. Dass der Menschnicht vernünftig, nicht lernfähig und unrettbaran seine verdorbene Natur gebunden sei, zeigteindrucksvoll das bekannte Gemälde La riña agarrotazos (Abb. 9), auf dem zwei Männer, diebeide bis zu den Knien im Morast stecken, sichtot zu schlagen versuchen, anstatt sich gegen-seitig zu helfen, dem Sumpf zu entkommen.Aus solchen Bildern spricht ein Menschenbild,das von Unmenschlichkeit und Verrohung ge-prägt ist. Unmenschlichkeit, Dummheit undFanatismus sprechen auch aus den Gesichternder Menschen, die sich beim Aquelarre um dengehörnten Ziegenbock versammelt haben.Grotesk verzerrte und entstellte Gesichter alsSinnbild der menschlichen Natur werden zurSpezialität im Alterswerk des Malers. DerMensch ist auch dem Alter und schließlich demTod unentrinnbar ausgeliefert. Die Gesichterder beiden Alten in dem Gemälde Viejo y viejacomiendo sopa wirken eher wie Totenschädelals wie menschliche Antlitze.Eines von Goyas Pinturas negras scheint mir ameindrucksvollsten die pessimistisch-verzweifelteWeltsicht des alternden Künstlers wiederzuge-ben: das Gemälde mit dem schlichten Titel Per-ro (Abb. 10). So schlicht wie der Titel, so mini-malistisch ist auch die Technik dieses Gemäldes,das einen Hundekopf zeigt, der aus einemdunklen Hang (einer Sanddüne?) hervorschautund wie verloren oder verzweifelt in einen vomSandsturm (?) verdunkelten Himmel schaut.Der Hund ist Sinnbild der sozialen Isolierungund existenziellen Einsamkeit des modernenMenschen, dem die Sinnhaftigkeit seines eige-nen Daseins abhanden gekommen zu seinscheint. „In Goyas Hund ist die ‚condition hu-maine’ so stark komprimiert, dass sie die Ge-stalt eines Tieres annahm“ (Földényi 2001: 21).In solchen Bildern zeigt sich in der Tat, dassGoya im Alter die Aufklärung weit hinter sichgelassen und das vorweggenommen hat, was

erst in der Moderne und der historischenAvantgarde des frühen 20. Jahrhunderts zurallgemeinen Erfahrung der Kunst wird.Für die Künstler der Moderne wurde Goya inder Tat zum großen Vorbild und Modell. Jacobshat allein der Rezeption und intermedialenTransformation des berühmten Capricho 43 inder Moderne zwei umfangreiche Kapitelgewidmet (2006: 461–600). Ramón del Valle-Inclán hat wohl als erster spanischer Künstlerdem modernen Welt- und Menschenbild blei-benden Ausdruck verliehen, indem er eineneue dramatische Gattung schuf, das Esper-pento, die spanische Form des europäischenGroteskdramas. Sein fundamentales Merkmalist die Verzerrung der Wirklichkeit, die groteskeDeformation, die alle Bereiche dieses neuen

Abb. 10: Perro. – Bildquelle: Prometheus. Bildarchiv fürKunst- und Kulturwissenschaften. – Standort: Museo delPrado, Madrid

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Dramentyps erfasst: die Figurengestaltung, denSchauplatz, die Sprache u. a. (Floeck 2003:1–14). In der berühmten 12. Szene von Lucesde Bohemia von 1920 lässt Valle-Inclán seinenProtagonisten Max Estrella, Verkörperung desmodernen Künstlers und Bohémiens, die Äs-thetik des Esperpento erläutern:„MAX. –La tragedia nuestra no es tragedia.DON LATINO. –¡Pues algo será! MAX. –El Es-perpento. [...]. Los héroes clásicos reflejadosen los espejos cóncavos dan el Esperpento. Elsentido trágico de la vida española sólo puededarse con una estética sistemáticamente de-formada. [...]. España es una deformación gro-tesca de la civilización europea.“ (Valle-Inclán4/1983: 131–132).„MAX: Unsere Tragödie ist keine Tragödie.DON LATINO: Na was dann? MAX: EineSchauerposse. [...] Wenn die klassischen Hero-en vor den Hohlspiegeln paradieren, bieten siedie Schauerposse dar. Das tragische Lebens-gefühl Spaniens kann nur mit Hilfe einer syste-matisch verzerrten Ästhetik dargeboten wer-den. [...] Spanien ist eine groteske Verzerrungder europäischen Zivilisation.”(dt. Übers. nach Fritz Vogelgsang)Die Definition des Esperpento als groteske Ver-zerrung der Wirklichkeit fordert den Vergleichmit Goya ja geradezu heraus. Und dieser Ver-gleich lässt nicht lange auf sich warten. MaxEstrella macht Goya in der Tat zum Erfinder desmodernen Esperpento: „Den esperpentismohat Goya erfunden“, mit diesem Satz machtValle-Inclán Francisco de Goya zum Vater der

spanischen Ästhetik der Moderne. Zu Beginndes 21. Jahrhunderts scheinen sich mensch-liche Erfahrungswirklichkeit und ihre künstle-rische Gestaltung noch mehr verdüstert zu ha-ben, und so ist es kein Zufall, dass Goya heutemehr denn je zum Bezugspunkt der Literaturund Kunst geworden ist.

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