Grenzen und Kreuze

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1 Kreuze und Grenzen Aus aktuellem Anlass lohnt es sich, ein Blick auf unsere Grenzen zu werfen. Auf die Grenzen entlang der Küsten Europas, sowie auch auf die Grenzen, die es uns ermöglichen Wir zu sagen. Der Dokumentarfilm Keine Insel 1 dient als Sprungbrett, um in dieses Thema einzusteigen. Gleich zu Beginn des Films gibt es einen Rückblick auf das Flüchtlingsunglück (2013) vor Lampedusa, dem »Tor nach Europa«, im Speziellen auf die Reaktionen, die es damals in Form von Kommentaren in der Onlineausgabe einer österreichischen Tageszeitung gab: "Warum stattet man nicht jeden Flüchtling mit Schwimmflügerln aus?" oder "Wenn alle Schiffe sinken, dann haben wir auch keine Flüchtlinge zu befürchten, eine win-win Situation, worüber wird da eigentlich diskutiert?". Solche Reaktionen finden sich leichter sehr häufig und es ist fragwürdig, vor was jene Angst haben, oder warum sie so voller Abscheu sind. Sind es manchmal frustrierte Menschen, die ihrem Frust so ein Ventil verschaffen? Ist es bei manchen eine Angst vor Identitätsverlust, weil es scheinbar so viel Fremdes gibt, und so wenig Eigenes? "Ich bin über die Gleichgültigkeit entrüstet, die hier alle angesteckt zu haben scheint. Mich regt das Schweigen Europas auf, das den Friedensnobelpreis gewonnen hat". Europa 2 und die vielen Probleme, die oftmals selbst erzeugt sind? Wir wollen die Krisen und Kriege in Afrika nicht sehen, profitieren lieber (auch indirekt) von der Ausbeutung dieses Kontinents durch Europa. Die Bürgermeisterin von Lampedusa, Giusi Nicolini, macht die europäische Abschottungspolitik - und nicht die Flüchtlingsströmeselbst - für die prekären Situationen auf beispielsweise Lampedusa verantwortlich. Nicolini sieht die Konfliktherde in unseren Umgangsweisen, in unserer Politik und setzt bei der Bildung an, denn sie spricht sich unter anderem dafür aus, Kindern bereits im Kindergarten zu zeigen, "dass Migration etwas völlig natürliches ist" 3 . Man kann sich die empörten Kommentare hierzu vorstellen. Migration als natürliche Bewegung auf der Erde; und wir, wir sorgen für Verstopfung. Auf beispielsweise Malta angekommen werden sie zunächst "von den Gesundheitsbehörden untersucht und dann der Einwanderungsbehörde übergeben". Dann "werden sie ins Anhalte-Lager gebracht, wo sie festgehalten werden, bis sie den Flüchtlingsstatus erlangen" 4 . Ein Prozedere, das an Abläufe einer Fabrik erinnert. Auch wir sind in einer Fabrik, vielleicht Angestellte, oder doch nur Hilfskräfte, manche in Führungspositionen. Kaum eine_R aber landet auf dem Fließband. Oder doch? Vielleicht sehr früh, so dass es noch relativ natürlich (ein)wirkt. Das relevante Resultat 1 Fabian Eder, 2014: Keine Insel http://backyard.at/project/keine-insel-lampedusa/ 2 Zum Thema Europa sind folgende Texte von Jacques Derrida sehr lesenswert: Politik der Freundschaft (2000); sowie Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa (1992) 3 Nicolini im Interview mit Fabian Eder in Keine Insel, 2013, ab 38:50 4 Eder im Interview Im Interview mit Mario Schembri, Anhaltelager Hal Safi, ab 03:29

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Ein älterer Text, mehrmals überarbeitet und immer wieder aktuell: Das Mittelmeer und Europa, in folgendem Text dient der Dokumentarfilm "Keine Insel" als Sprungbrett, um in dieses Thema einzusteigen.

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Kreuze und Grenzen

Aus aktuellem Anlass lohnt es sich, ein Blick auf unsere Grenzen zu werfen. Auf die Grenzen

entlang der Küsten Europas, sowie auch auf die Grenzen, die es uns ermöglichen Wir zu sagen.

Der Dokumentarfilm Keine Insel1dient als Sprungbrett, um in dieses Thema einzusteigen.

Gleich zu Beginn des Films gibt es einen Rückblick auf das Flüchtlingsunglück (2013) vor

Lampedusa, dem »Tor nach Europa«, im Speziellen auf die Reaktionen, die es damals in Form

von Kommentaren in der Onlineausgabe einer österreichischen Tageszeitung gab: "Warum

stattet man nicht jeden Flüchtling mit Schwimmflügerln aus?" oder "Wenn alle Schiffe sinken,

dann haben wir auch keine Flüchtlinge zu befürchten, eine win-win Situation, worüber wird da

eigentlich diskutiert?". Solche Reaktionen finden sich leichter sehr häufig und es ist fragwürdig,

vor was jene Angst haben, oder warum sie so voller Abscheu sind. Sind es manchmal frustrierte

Menschen, die ihrem Frust so ein Ventil verschaffen? Ist es bei manchen eine Angst vor

Identitätsverlust, weil es scheinbar so viel Fremdes gibt, und so wenig Eigenes? "Ich bin über

die Gleichgültigkeit entrüstet, die hier alle angesteckt zu haben scheint. Mich regt das

Schweigen Europas auf, das den Friedensnobelpreis gewonnen hat". Europa2 und die vielen

Probleme, die oftmals selbst erzeugt sind? Wir wollen die Krisen und Kriege in Afrika nicht

sehen, profitieren lieber (auch indirekt) von der Ausbeutung dieses Kontinents durch Europa.

Die Bürgermeisterin von Lampedusa, Giusi Nicolini, macht die europäische

Abschottungspolitik - und nicht die „Flüchtlingsströme“ selbst - für die prekären Situationen

auf beispielsweise Lampedusa verantwortlich. Nicolini sieht die Konfliktherde in unseren

Umgangsweisen, in unserer Politik und setzt bei der Bildung an, denn sie spricht sich unter

anderem dafür aus, Kindern bereits im Kindergarten zu zeigen, "dass Migration etwas völlig

natürliches ist"3. Man kann sich die empörten Kommentare hierzu vorstellen. Migration als

natürliche Bewegung auf der Erde; und wir, wir sorgen für Verstopfung. Auf beispielsweise

Malta angekommen werden sie zunächst "von den Gesundheitsbehörden untersucht und dann

der Einwanderungsbehörde übergeben". Dann "werden sie ins Anhalte-Lager gebracht, wo sie

festgehalten werden, bis sie den Flüchtlingsstatus erlangen"4. Ein Prozedere, das an Abläufe

einer Fabrik erinnert. Auch wir sind in einer Fabrik, vielleicht Angestellte, oder doch nur

Hilfskräfte, manche in Führungspositionen. Kaum eine_R aber landet auf dem Fließband. Oder

doch? Vielleicht sehr früh, so dass es noch relativ natürlich (ein)wirkt. Das relevante Resultat

1 Fabian Eder, 2014: Keine Insel http://backyard.at/project/keine-insel-lampedusa/ 2 Zum Thema Europa sind folgende Texte von Jacques Derrida sehr lesenswert: Politik der Freundschaft (2000); sowie Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa (1992) 3 Nicolini im Interview mit Fabian Eder in Keine Insel, 2013, ab 38:50 4 Eder im Interview Im Interview mit Mario Schembri, Anhaltelager Hal Safi, ab 03:29

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sei ein Menschentypus, der nicht dazu erzogen sei, den Dingen auf den Grund zu gehen, sie

nehmen die Erscheinung für das Wesen5. Selbstständiges Denken, welches über bloße

Feststellungen und ein bloßes Aufnehmen von Vorliegendem hinausgehe, übersteige den

geformten Horizont, man habe gelernt, sich kritiklos der religiösen und sonstigen Kategorien

zu bedienen”6. Die Anderen und Wir stellen ebenfalls Kategorien dar, die immer mehr

verschwimmen. Die Österreicher gibt es nicht, gab es vielleicht noch nie, haben nicht viele auch

Wurzeln im Irgendwo? Und, ist das so wichtig?

"Das Obst wird schon noch reifen. Das kommt heraus, wenn man viele menschliche Gewohnheiten aufeinanderstapelt,

damit man im Wipfel was abpflücken kann, das einem dann doch nicht schmeckt"7

Wir nehmen den Ankommenden ihre Unabhängigkeit, verwalten sie und erwarten aber

gleichzeitig den Willen zur ... wie war das gleich, also die sollen sich gefälligst anpassen. Den

Willen zur Assimilation und dafür Danke sagen. Das alles aus einer kindischen Angst und

gefangen in einem völlig absurden System, dass sich inzwischen und

Kolonialisierung/Landraub sei Dank über viele Teile der Welt erstreckt. Ersticken wir langsam

selbst daran? Wir kehren alles unter den Teppich was unsere scheinbare Zufriedenheit stört und

irritiert, all die Nebenwirkungen unserer Politiken und Geschichten sind ungebetene Gäste.

Man will sie [die BettlerInnen, die Alten, die Kranken, die Obdachlosen, die Asylsuchenden,…]

weg haben, weg aus dem alltäglichen Blickfeld. Aus welchen Gründen bilden Menschen diese

Ignoranz und Abscheu aus, oder verschieben ihren Frust dorthin, um dann, wie ein Hund, nicht

das Alpha Tier zu beißen/beißen zu müssen, sondern die, die in der Hierarchie weiter unten

geschlichtet werden? Hierarchien und Ressentiments bedingen einander. Wie betrachten wir

‚Putzpersonal‘? Meistens gar nicht, denn jene räumen unseren Dreck weg. Stellen das primitive

kapitalistische Ausbeutungsniveau und unsere unwirtlichen Städte einen Grund für das

Desinteresse und Wegschauen dar8? Und natürlich das Prekariat und die Entfremdung durch

Arbeit, hier hat ein Mensch an seiner/ihrer Tätigkeit oftmals „kein genuines primäres Interesse

[…], weil er sich dort nicht kreativ entfalten kann und sich nur durch Anpassung und

Selbstverstümmelung an diesem Arbeitsplatz hält - von diesem Menschen kann ich nicht

verlangen, daß er sich nach Feierabend für die Probleme seiner Umwelt interessiert oder gar

engagiert“9. Dabei geht es (mir) nicht um allgemeines Engagement, zunächst wäre ein leben

5 vgl. Max Horkheimer, 2010: Autorität und Familie, S.390 6 vgl. ebda. 7 Jelinek, 2004: Lust, S. 18 8 vgl. Alexander Mitscherlich, 1972: Neue Städte - Utopie oder Wirklichkeit?, S. 34f 9 ebd., S. 36

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und Leben lassen ein riesen Schritt. Ja, und da waren noch die Kreuze. Die standen zunächst

am Spreeufer und wurden abmontiert und an die Südgrenze Europas gebracht. Ein symbolischer

Akt, der zwei Thematiken überkreuzt. Die einen durften ein Gebiet nicht verlassen und nun

dürfen andere ein Gebiet nicht betreten. In beiden Fällen war/ist der Gebrauch der Schusswaffe

durchaus legitim. Ein symbolischer Akt, eine Kunstaktion, Diebstahl? Die Aktivist_innen, oder

sind es linksradikale Asylrechtsaktivist_innen, oder einfach Künstler_innen10 werden sehr

schnell in den gängigen Extremen erfasst: Die Linken, die Radikalen. Es wird breit über diesen

‚Diebstahl‘ und die ‚Übeltäter_innen‘ debattiert, aber das, auf was aufmerksam gemacht

werden sollte, verschwindet unter dem Mantel der Bürokratie. Das Zentrum für politische

Schönheit wurde vom Berliner Maxim Gorki Theater unterstützt und die Intendantin Langhoff

meinte „Seit dem Tod von Christoph Schlingensief vermisse ich immer wieder eine starke,

provozierende Stimme in der Kunstlandschaft, die politisch interveniert“11. Genau dies tut die

Gruppe um Das Zentrum für Politische Schönheit mit ihrem Projekt „Erster Europäischer

Mauerfall“12, in dem sie symbolisch „vergangene und künftige Mauertote vereint“13. Wozu gibt

es Grenzen noch? Sie sind etwas Imaginäres, imaginäre Linien, die eine Form von Einheit

suggerieren, Identität stiften können. Früher gab es Gebiete, auf die Besitzanspruch erhoben

wird. Wer erhebt diesen Anspruch auf Österreich und mit welcher Rechtfertigung? Es gibt

niemanden mehr, der_die regiert, es gibt nur noch Verwaltung, Verwaltung von Gebieten, von

Menschen und Gütern. Grenzen suggerieren auch eine Form von Ordnung, leider immer entlang

von Gefällen der Ausgrenzung. Das Eigene hängt nicht von Grenzen ab, vielleicht müssen wir

uns nur dessen klarwerden.

10 vgl. die TAZ, 4.November 2014, http://www.taz.de/!148901/ 11 ebda 12 siehe hier: http://www.politicalbeauty.de/ 13 ebda.

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Quellen

Alexander Mitscherlich, 1972: Neue Städte - Utopien oder Wirklichkeit? in: Werner

Heisenberg: Die Evolution ist kein Betriebsunfall. Alexander Mitscherlich: Neue Städte. Zwei

Gespräche – aufgezeichnet von Adelbert Reif, Arche Verlag, Zürich

Elfriede Jelinek, 2004: Lust, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbeck bei Hamburg

Fabian Eder, 2013/14: Keine Insel, http://backyard.at/project/keine-insel-lampedusa/, zuletzt

abgerufen am 20. Juli 2014; zu sehen auf http://vimeo.com/ondemand/17056/90332648 und

vgl. http://www.europeinbloom.eu/

Max Horkheimer, 2010: Autorität und Familie in: Philosophische Geschlechtertheorien, Hg:

Sabine Doyé, Marion Heinz, Friederike Kuster, Reclam Verlag, Stuttgart