Hans Ulrich Wehler Streiter für Deutschlands Demokratie

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Hans-Ulrich Wehler Nachruf

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KULTUR

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H A N S - U L R I C H W E H L E R

Streiter für Deutschlands DemokratieHans-Ulrich Wehler scheute keine Debatte. Er mischte sich ein,um Erkenntnis zu fördern. Gesellschaftshistoriker dieses Formatsgibt es hierzulande keine mehr.VON Alexander Cammann | 07. Juli 2014 - 13:05 Uhr

© Matthias Benirschke / dpa

Hans-Ulrich Wehler im Februar 2013

"Nun lauft mal schön weiter für die Republik!" Der junge Mittelstreckenläufer Hans-Ulrich

Wehler hörte diese Worte vom Bundespräsidenten Theodor Heuss, nach einem Wettkampf

in Bonn im Herbst 1949. Diese Worte hat sich der junge Sportler zu Herzen genommen:

als linksliberaler Historiker und als stets streitlustiger öffentlicher Intellektueller hat Hans-

Ulrich Wehler die Bundesrepublik über viele Jahrzehnte hinweg geistig geprägt wie kein

anderer Vertreter seiner Wissenschaft. Jetzt ist dieser republikanische Ausdauerläufer im

Alter von 82 Jahren gestorben . Bis zuletzt beteiligte er sich unermüdlich an den aktuellen

Debatten über den Sozialstaat oder die Europapolitik, während daheim am Schreibtisch in

Bielefeld seine Bücher entstanden.

Oft schon ist über die enorme Leistungskraft seiner Generation gerätselt worden. Der 1931

als Sohn eines Kaufmanns in Gummersbach geborene Wehler verkörperte diese Dynamik

in besonderem Maße, nicht nur als begeisterter Sportler. Als bis zum Kriegsende glühender

Hitleranhänger setzte erst nach 1945 bei ihm allmählich die Aufklärung ein, nicht zuletzt

dank der Jazzmusik, die die G.I.s mitbrachten und die ihn lebenslang begeistern sollte –

so wie übrigens auch seinen großen britischen Historikerkollegen Eric Hobsbawm . Wie

sein Jugendfreund Jürgen Habermas studierte er in Bonn, allerdings hatte er da bereits

einen mehrmonatigen Aufenthalt in den USA hinter sich. Amerika blieb ihm stets die

Befreiernation, bei aller Kritik stand er in verständnisvoller Treue fest zu den USA.

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Linksaußen unter den Historikern

Anders die Bundesrepublik der fünfziger Jahre: Er selbst hat sie als patriarchalisch-

konservative, muffige Zeit erlebt, die den dynamischen jungen Intellektuellen

herausforderte. Tatsächlich fand sich Wehler alsbald linksaußen unter den Historikern

wieder, von vielen misstrauisch beäugt, weil er auch Marx las. Nur mit Mühe gelang ihm

die Habilitation in Köln: Die erste Habilitationsschrift wurde abgelehnt. Seine zweite,

vehement kritische Arbeit über Bismarck war vielen älteren, national gesinnten Historiker

eine Provokation, nur mit allergrößtem Einsatz konnte sein akademischer Lehrer Theodor

Schieder seinen Schützling durchpauken.

Wehler ließ sich jedoch von Widerständen nie aufhalten. Im Rückblick wird deutlich, wie

sie ihn erst so richtig stimuliert haben – schon diese Energie nötigt Bewunderung ab. Kritik

wurde zum Leitmotiv seines Werks. Somit überrascht es auch nicht, dass er sich von den

68ern darin nicht überholen lassen wollte: Wie viele der SPD nahestehende Intellektuelle

– Grass, Habermas – diskutierte er damals mit den nur wenig jüngeren studentischen

Rebellen, hatte für deren revolutionäre Flausen gar nichts übrig, sondern hatte immer den

reformistischen Realismus im Kopf. Links ja, aber immer auch liberal, und nie gegen das

demokratische System. Das war die Lehre, die viele in seiner Generation aus dem Scheitern

der Weimarer Republik gezogen hatten, als sich kaum jemand fand, die Demokratie zu

verteidigen.

Wissenschaftlich entdeckte er bald ein Programm, mit dem er die deutsche

Geschichtswissenschaft umwälzen sollte: die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, die er

zu einer allgemeinen Gesellschaftsgeschichte forcieren wollte. Der 40-Jährige erhielt

eine Professur an der damals neugegründeten Universität Bielefeld – bis zu seiner

Emeritierung formte er dort, zusammen mit seinem Freund und wissenschaftlichen

Weggefährten Jürgen Kocka, die legendäre "Bielefelder Schule" der Historiker. Dort wurde

mit theoretischem Anspruch unter diversen Forschergenerationen streng debattiert, in

polemischer Frontstellung zur Politik-, Ideen-, Kultur- und Alltagsgeschichte, die allesamt

als Spielarten eines letztlich reaktionären oder naiven Historismus galten. Stattdessen

wurde die Statistik entdeckt: Geschichte sollte als "historische Sozialwissenschaft"

betrieben werden und anschlussfähig für die internationalen Strömungen werden, vor allem

aus Amerika, Frankreich und Großbritannien.

Hier, in der ostwestfälischen Provinz, entstand auch Wehlers Hauptwerk: die fünf Bände

der Deutschen Gesellschaftsgeschichte , 4.500 Seiten über die Zeit vom 18. Jahrhundert

bis 1990, eine gigantische Leistung der deutschen Geisteswissenschaften seit 1945.

Wieder einmal zeigte sich Wehlers Ausdauer, der zwanzig Jahre lang unermüdlich dieses

Projekt verfolgte – ironischerweise letztlich in der Tradition der großen, von Wehler

so oft attackierten deutschen Historiker des 19. Jahrhunderts, die sich gern solchen

Megaprojekten verschrieben. Sinnstiftungswillen jedenfalls lässt sich auch Wehlers

Bielefelder Projekt nicht absprechen, ebenso wie den Geschichtswerken von Ranke bis

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Treitschke. Die Arbeitsintensität, intellektuelle Neugier und Lesewut verlor Wehler darüber

kaum, auch wenn andere intellektuell neue Bahnen jenseits von Bielefeld beschritten.

Scharfe, spitze Rhetorik

Der öffentliche Intellektuelle Wehler kämpfte zeitlebens gegen eine von ihm diagnostizierte

konservative Übermacht im geistigen Diskurs der Bundesrepublik. Natürlich legte er

sich mit Helmut Kohl an, Helmut Schmidt verkörperte für ihn hingegen das Ideal eines

Bundeskanzlers, mehr noch als der zögerliche Willy Brandt. Im Historikerstreit 1986/87

entfaltete sich Wehlers ganzes polemisches Talent, als er seine konservativen Gegenüber

attackierte; tiefe Wunden blieben auf beiden Seiten. Charakteristisch für ihn waren die

zuspitzende Rhetorik, seine zupackenden Sätze, das scharfe, von ihm als "agonales Prinzip"

beschriebene Herausarbeiten der Gegensätze – er war streitlustig nicht nur aus persönlicher

Neigung, sondern weil er dadurch Erkenntnisfortschritte glaubte beschleunigen zu können.

Im persönlichen Gespräch war er charmant und neugierig, von Offenheit geprägt, vielleicht

machte sich auch Altersmilde bemerkbar, in angelsächsischer Manier wollte er Interviews

nicht gegenlesen. Dieser Ordinarius konnte bemerkenswert locker sein.

Vier prägende Gestalten hat die deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945

hervorgebracht, die allesamt auch öffentlich wirkten: den Ideenhistoriker Reinhart

Koselleck , den Althistoriker Christian Meier , den Neuzeithistoriker Thomas Nipperdey –

und eben den Gesellschaftshistoriker Hans-Ulrich Wehler. Sie und viele andere haben den

globalen Rang der deutschen Historiker gesichert, genauer gesagt: wiedererrungen nach

den politischen Instrumentalisierungen vor 1945. Dass Wehler sich zudem unermüdlich

in die öffentlichen Debatten einmischte, wenn er Gefahr im Verzug sah – und das geschah

generationstypisch sehr oft –, half der deutschen Demokratie enorm. Die Fähigkeit zur

Erregung in öffentlichen Angelegenheiten und der unbedingte Wille zur Wirkung sind

den Nachgeborenen abhandengekommen. Schon aus diesem Grund wird uns Hans-Ulrich

Wehler schmerzlich fehlen.

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