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Heike Noll/Martin Schieder

Montessori-FreiarbeitMöglichkeiten und Grenzen

im Alltag öffentlicher Schulen

2000

Bearbeiter für das Internet2011

Aus datenschutzrechlichen Gründen haben wir die Namen der Kinder geändert. Situationsbeschreibungen, die Rückschlüsse auf bestimmte Personen ermöglichen

könnten, wurden verschleiert.

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Inhaltsverzeichnis

O. Wege 7

1. Fragen 12

2. Zugänge 212.1 Die Beobachtungen Maria Montessoris 242.2 Eine Pädagogik für alle Kinder? 332.3 Die Fundamente der Montessori-Freiarbeit 37

3. Beobachtungen im Alltag der Schulen 443.1 Die Kinder 443.2 An einem Donnerstag um acht. 51

Eine Freiarbeit in einer ersten Klasse3.3 Die ersten Rückmeldungen der Eltern 583.4 Lesen und Schreiben 613.5 Mathematik in der Freiarbeit 823.6 Nach drei Jahren: ein tiefer Einschnitt 89

Gespräch mit einer Lehrerin3.7 Sechs Jahre in einer Integrationsklasse 943.8 Jedes Kind ist anders! Jedes Kind lernt anders! 1043.9 Ein kleiner Rückblick 123

4. Möglichkeiten 127

5. Grenzen 1365.1 Die Grenzen im System der öffentlichen Schule 1365.2 Die Grenzen im System der Montessori-Freiarbeit 1425.3 Die Grenzen der Lehrkräfte 147

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6. Perspektiven 152

7. Literaturverzeichnis 166

Wer glaubt, die Montessori-Pädagogik könne wie eine neue Karosserie auf ein altes Fahrgestell geschraubt werden, scheitert. Er sollte dafür aber weder das Fahrgestell noch die Karosserie verantwortlich machen.

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„Kinder sind anders!“Maria Montessori

Jedes Kind ist anders!

Jedes Kind lernt anders!

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„Wenn es nur eine einzige Wahrheit gäbe, könnte man nicht hundert Bilder über dasselbe Thema malen.“

Pablo Picasso

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„Wenn es nur eine einzige Wahrheit gäbe, könnte man nicht hundert Bilder über dasselbe Thema malen.“

Pablo Picasso

O. Wege

Das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Schulen schwindet. Die Erwartungen an die Kinder steigen. Im Alltag der Schule kommt es deshalb immer häufiger zu Konflikten, die wir als Zeichen großer gesellschaftlicher Veränderungen deuten.

Wir sind entsetzt über die Gleichgültigkeit, mit der heute über die grundlegenden Fragen des menschlichen Lebens hinweggegangen wird. Die Tatsache, dass in unserem Land Kinder leben mit ihren eigenen Bedürfnissen, Erwartungen und Hoffnungen, haben viele Menschen inzwischen verdrängt. In den Debatten über die Zukunft unserer Gesellschaft spielen Kinder keine Rolle mehr. Wir wundern uns über den Fortschrittsglauben, der auf den Einsatz von Maschinen setzt, mit denen die Menschheit ihre körperliche Existenz hinter sich lassen könnte:

„Die Maschinen des späten zwanzigsten Jahrhunderts haben die Differenz von natürlich und künstlich, Körper und Geist, selbst gelenkter und außengesteuerter Entwicklung sowie viele andere Unterscheidungen, die Organismen und Maschinen zu trennen vermochten, höchst zweideutig werden lassen. Unsere Maschinen erscheinen auf verwirrende Weise quicklebendig - wir selbst dagegen aber beängstigend träge.“ (Haraway zit. nach Dülmen: 596)

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Es wird daran gearbeitet, den Geist aus dem Gefängnis des Körpers zu befreien. „Die materielle Welt wird als Gefängnis betrachtet, der Körper als Kerker und der Geist als Fenster. Die Technik unterstützt den Geist bei seinen Unabhängigkeitsbestrebungen vom Körper, von der Schwerkraft, von der Natur.“ (Weibel zit. nach Staatliche Museen zu Berlin: 378)

Aus dieser Perspektive betrachtet, wirken die Projekte der Pädagogen der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts merkwürdig verstaubt. Sie „entdeckten das Kind“, sie wollten einen „neuen Menschen“ schaffen, der dann, befreit von den schlechten Eigenschaften der Gattung, die „Vervollkommnung des Menschengeschlechts“ in Angriff nehmen könnte.

Aus dem Blick geraten ist bei den Projekten der „Pädagogik vom Kinde aus“, dass Kinder einen Anspruch auf ihr eigenes Leben haben, dass es einen EigenSinn des Kindes gibt, dass sich Kinder deshalb grundsätzlich nicht als Transportmittel für die Wünsche der Erwachsenen eignen.

Vergessen wurde bei der Planung des „Neuen Menschen“ nicht nur, dass „Kinder anders sind“, sondern auch, dass jedes Kind anders ist, dass jedes Kind andere Möglichkeiten, andere Grenzen, andere Wünsche und anderen Hoffnungen hat.

Das zwanzigste Jahrhundert hat uns gezeigt, dass letztlich alle Projekte, mit denen „Neue Menschen“ geschaffen werden sollten, in Katastrophen geführt haben. Wir grenzen uns von solchen Zielsetzungen ab. Wir wollen niemanden „normalisieren“. Wir bemühen uns vielmehr darum, mit den Kindern zu arbeiten, die in unsere Klassen gehen. Wir versuchen, ihre Stärken und Schwächen zu akzeptieren. Wir suchen mit den Kindern nach Möglichkeiten, wie sie ihre eigenen Wege finden können. Wir unterstützen sie bei ihren Versuchen, auf ihren eigenen Wegen zu lernen und ihr Leben zu meistern.

Dies klingt leichter als es ist, denn in unseren ersten Klassen sitzen heute Kinder, die mit einem Rechenbrett ohne Mühe

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hundertsiebenundvierzigtausendachthundertsechs mit siebenunddreißig multiplizieren neben Kindern, die gerade mal bis sechs zählen. Einige haben lange vor dem ersten Schultag gelesen und geschrieben, andere fangen gerade erst an, Kopffüßler zu zeichnen. Manche Kinder wollen sich im Unterricht ständig bewegen, andere sind eher träge. Einige Kinder interessieren sich sehr für die Entstehung der Welt, andere spielen lieber mit Handpuppen. Einige sind sehr verantwortungsbewusst. Andere können noch nicht einmal für sich selbst sorgen.

(Abb. 1: Kinderbilder aus Arnheim)

Auf unserer Suche nach Alternativen zum herkömmlichen Unterricht lernten wir Lehrerinnen und Lehrer kennen, die den Mut hatten, sich in ihrem Unterricht stärker an den unterschiedlichen Möglichkeiten der Kinder in ihren Klassen zu orientieren. Wir

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veränderten unseren Unterricht indem wir die Kinder zu Gruppenarbeiten und kleinen Projekten anregten. Damit veränderten sich die Bedingungen unserer Arbeit, aber irgendetwas fehlte.

Wir haben in dieser Zeit viel gelesen über Integration behinderter Kinder, über die unterschiedlichen Formen des offenen Unterrichts und über Wochenpläne. Wir besuchten andere Schulen und tauschten uns über unsere Erfahrungen aus.

Bei Hospitationen in Klassen, die sich an der Pädagogik Maria Montessoris orientierten, beeindruckte uns besonders die ruhige und intensive Arbeit der Kinder. Wir erlebten bei diesen Unterrichtsbesuchen zum ersten Mal Kinder, die lernen konnten, ohne dass sie von ihren Lehrerinnen und Lehrern ständig gestört wurden.

Nach und nach wurde uns dann bewusst, dass wir den Kindern in unseren Klassen oft viel zu wenig zugetraut hatten und dass wir die inneren Kräfte der Kinder durch unseren Ehrgeiz und unser Engagement behinderten.

Wir meldeten uns zu Montessori-Ausbildungskursen an und erfuhren dort, dass das, was wir vorher manchmal „aus dem Bauch heraus“ getan hatten, in einen größeren pädagogischen und philosophischen Zusammenhang gebracht werden konnten. Dies hat uns sehr geholfen, die Kinder in unseren Klassen neu zu entdecken.

Damit rückte die Frage nach dem Sinn unseres Tuns in der Schule immer mehr in den Mittelpunkt unseres Denkens. Wir veränderten unser Leben und unsere Arbeit. Und zum Glück fanden wir in unseren Schulen Menschen, die uns in dieser Umbruchphase einen Vertrauensvorschuss gegeben haben, indem sie uns und unsere Arbeit mit Geduld und Zuversicht begleitet haben.

Es war aber keineswegs so, das wir überall auf Interesse und Wohlwollen stießen. Es gab Zeiten, in denen wir uns mit massiven Widerständen auseinandersetzen mussten. Wir waren dadurch

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immer wieder gezwungen, unsere Standpunkte zu überprüfen und teilweise auch zu korrigieren, aufgegeben haben wir nicht.

Wenn wir an die Zeiten zurückdenken, in denen wir mehr schlecht als recht versucht haben, Kindern im Gleichschritt Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen, stellen wir fest, dass wir heute mit mehr Freude, Zuversicht und Zufriedenheit arbeiten als früher. Daraus schöpfen wir Kraft, die wir an die Kinder weitergeben können.

Seit einigen Jahren berichten wir von unseren Beobachtungen in Vorträgen, Seminare, Workshops und Ausbildungskurse. Da wir dort nur selten die Möglichkeit haben, unsere Erfahrungen in größeren Zusammenhängen darzustellen, haben wir uns dazu entschlossen, unsere Einschätzungen über die Möglichkeiten und Grenzen der Montessori-Freiarbeit an öffentlichen Schulen aufzuschreiben und zur Diskussion zu stellen.

Wir wollen mit dieser Arbeit dazu beitragen, dass ein differenzierteres Bild der Praxis der Montessori-Pädagogik in unseren Schulen entstehen kann. Wir legen deshalb großen Wert auf den Hinweis, dass es nur in den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts eine authentische pädagogische Praxis der Ärztin und Pädagogin Maria Montessoris gegeben hat , dass es inzwischen eine unübersehbare Fülle von Interpretationen zur Montessori-Pädagogik gibt, und daneben eine authentische pädagogische Praxis von Lehrerinnen und Lehrern, die sich in Schulen und Kindergärten darum bemühen, die Grundgedanken der Montessori-Pädagogik in die Arbeit mit Kindern einzubeziehen.

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„Von dem unermesslichen Wortschwall der Schule werden die jugendlichen Seelen wie von einem Aschenregen überfallen und verschüttet.“

Rainer Maria Rilke

1. Fragen

Die Schulen in unserem Land befinden sich in einer tiefen Krise. Diese Krise betrifft das Selbstverständnis der Gesellschaft, in der wir leben. Wir haben deshalb zu fragen, ob die Krise der Schule tatsächlich nur eine Krise der Schule ist oder ob sie nicht viel mehr ein Symptom der Krise des Denkens und Handelns unserer Gesellschaft ist.

Vor diesem Hintergrund fragen wir uns, ob sich die Schule den existentiellen Herausforderungen des kommenden Jahrhunderts überhaupt stellen kann. Wie reagieren die Schulen auf „das Verschwinden der Kindheit“, auf die Mikroelektronik, die Informationstechnologien und die Genforschung?

Nach welchen Kriterien soll die Qualität einer Schule beurteilt werden? Wer stellt diese Kriterien auf? Kann Qualität gezählt und gemessen werden? Nach welchen Maßstäben soll die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer beurteilt werden?

Der Zustand unserer Schulen wird in allen uns vorliegenden Untersuchungen als besorgniserregend bezeichnet. Das Fazit aus diesen Untersuchungen hat uns sehr zu denken gegeben:

1) Es ist unklar, was die Schulen in Zukunft leisten sollen.

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„Es gibt Leistungsbereiche, in denen wir über unsere Ziele und Schwerpunkte nachdenken müssen; vor allem ist zu klären, was wir mit Blick auf die nächsten 50 Jahre unter `Grundbildung´ verstehen und fördern wollen.“ (Brügelmann: 158)

2) Es ist unklar, wie die Schule mit der Unterschiedlichkeit der Kinder umgehen soll.

„Es gibt Gruppen von SchülerInnen, denen unser Schulsystem nicht gerecht wird - vor allem in den unteren Leistungsbereichen, unter den sozial Benachteiligten, aber auch unter den besonders Begabten.“ (Ebenda)

3) Es ist unklar, wie die Lehrerinnen und Lehrer auf ihre zukünftigen Aufgaben vorbereitet werden sollen.

„Auf allen Ebenen des Systems finden wir Personen, die ihre Pflichten nicht ernst genug nehmen und die Anstoß und Hilfe bei der Weiterentwicklung ihrer Fähigkeiten brauchen.“ (Ebenda)

Vor dem Hintergrund der eben zitierten Untersuchungen wundern wir uns darüber, dass noch immer von „Mängeln im Schulsystem“ gesprochen wird, die behoben werden könnten, als ob nachgewiesen wäre, dass das System unserer Schulen insgesamt durchaus funktionsfähig sei, wenn nur die erforderlichen Reparaturen in Angriff genommen würden.

Wir haben da große Zweifel. Suchen wir in der Geschichte der Schule nach den konzeptionellen Grundlagen des Systems, das heute kritisiert wird, dann finden wir eine Fülle von Hinweisen darauf, dass die Mängel im System der Schule in Wirklichkeit keine Mängel sind, sondern Merkmale des Systems der Schule, wie es vor dreihundertfünfzig Jahren, im Zeitalter des Absolutismus, entwickelt wurde.

Geht es der Schule heute überhaupt um die „Grundbildung“ der Kinder?

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Und wer könnte beschreiben, was mit dem Begriff „Grundbildung“ gemeint sein könnte? Ist der Begriff „Bildung“ in unserem Land nicht schon längst in Verruf geraten? (Vgl. Mittelstraß: 25ff.) Musste sich nicht schon Jan Amos Comenius, der Architekt der europäischen Schule, mit dem Vorwurf auseinandersetzen, dass es ihm nicht um Inhalte der Kultur und um die Bildung des Menschen gegangen sei, sondern um die Propaganda für seine Unterrichtstechnologie, in der es fast ausschließlich um die Frage ging, „auf welche Weise wer auch immer wen auch immer was auch immer so gut wie möglich lehren könne“. (So Joachim Hübner in einem Brief an seinen Freund Comenius. Zit. nach Schaller: 8)

Nach unserer Auffassung schleppt die Schule das Problem des Umgangs mit den „Inhalten“ der „Bildung“ seit dieser Zeit mit sich herum. Die Organisation der Schule und des Unterrichtes hatte dabei stets Vorrang vor dem „Stoff“ (den Gegenständen des Unterrichts) und den Bedürfnissen der Kinder. Im Zentrum stehen seit vielen Jahrhunderten die Fragen der Organisation der Schule und nicht die Inhalte und die Probleme der Vermittlung dieser Inhalte:

„Brich das Muster auf, das die Lerninhalte verbindet, und du zerstörst notwendigerweise alle Qualität ... Warum lehren die Schulen fast nichts über das Muster, das verbindet?“ (Gregory Bateson 1982: 15)

Wir glauben, dass die Schulen vor dem Hintergrund ihrer Tradition bis heute so handeln müssen, weil sie nur auf diese Weise ihre überkommene innere Organisation aufrechterhalten können.

Handeln die Schulen also entgegen ihrem Bildungsauftrag nach gedanklichen Mustern, die zur Analyse von Problemen und nicht zur Konstruktion von Strukturen erfunden wurden?

„Wenn ein Problem so komplex ist, als du es nicht auf einmal lösen kannst, so zerlege es in so viele Unterprobleme, die dann entsprechend klein sind, dass du jedes dieser Unterprobleme für sich lösen kannst.“ (Descartes: Discours de la méthode)

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Warum akzeptieren die Schulen die Unterschiedlichkeit der Kinder nicht?

Wenn in den Untersuchungen zur Leistungsfähigkeit der Schulen festgestellt wird, dass es der Schule schwer fällt, Kinder zu fördern, die aus dem „mittleren Leistungsbereich herausfallen“, dann genügt es nach unserer Auffassung nicht, nach den schulischen Ursachen zu fragen. Hier geht es um politische Entscheidungen und um die Frage, wie eine Gesellschaft mit der Unterschiedlichkeit ihrer Mitglieder umgeht, denn Unterschiede zwischen den Menschen hat es wohl immer gegeben und wird es wohl auch immer geben:

„Einige sind schon mit zwei Jahren sehr sprachgewandt und zu allem aufgeweckt, andere tun es ihnen kaum mit fünf Jahren gleich.“ (Comenius: 197)

Doch wie soll die Schule damit umgehen? Hier überrascht uns Comenius mit einer Antwort, die wir nach seiner Analyse nicht erwartet hätten:

„Die Methode unsrer Didaktik (verlangt) notwendigerweise, dass die gesamte Schülerzahl gleichzeitig zum Unterricht nach gleichbleibenden Prinzipien dem gleichen Lehrer übergeben und schrittweise vom Anfang bis zum Ende gebildet werde ... damit alle gleichzeitig zum Ziele geführt und zusammen in die nächste Klasse versetzt werden.“ (Comenius: 219)

Gefangen in dem Glauben an die Möglichkeit einer „universalen Methode“ (Comenius: 216), d.h. einer Methode für alle Kinder dieser Welt, setzte sich Comenius über die Ergebnisse seiner eigenen Beobachtungen hinweg.

Entgegen allen Alltagserfahrungen organisiert sich die Schule bis heute nach dem Schulmodell des Comenius und nährt damit bei Schülern, Eltern und Lehrern die Erwartung, dass es tatsächlich möglich sein könnte, alle Kinder einer Altersgruppe in einer Unterrichtsstunde zu einem „Lernziel“ zu führen.

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Aus dieser Perspektive betrachtet, sind die Probleme der Kinder, die in der Schule nicht mitkommen, dann auch kein Problem der Schule mehr, sondern ein Problem der betroffenen Kinder, ihrer Eltern, der Ärzte und Therapeuten.

Warum wird die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer heute so wenig geachtet?

Comenius behauptete, dass es auf der Grundlage seiner „universalen Methode“ auch Lehrern, „die mit weniger Geist und langsameren Sinnen begabt sind“, möglich sei, zu lehren, „was zu lehren ist“. (Comenius: 216) „Die Bildung“ könne „mit fertigen, an die Hand gegebenen Mitteln der Jugend eingeträufelt oder eingegossen werden“. (Ebenda)

„Denn wie jeder Organist irgendwelche Kompositionen leicht vom Blatt spielen kann ... so kann auch ein Schullehrer alles unterrichten, wenn er den ganzen Stoff und alle Unterrichtsweisen wie auf einem Notenblatt vor sich hat.“ (Ebenda)

Entsteht aberwirklich Musik, wenn Noten mechanisch, das heißt ohne Verständnis für den Inhalt eines Stückes einfach aneinandergereiht werden? Reicht es aus, wenn in den Schulen vorgefertigte Programme abgespielt werden? Was brauchen Lehrerinnen und Lehrer, wenn sie sich vom technologischen Verständnis der Pädagogik lösen wollen, wenn sie nicht mehr als Rädchen eines Uhrwerks funktionieren wollen oder können?

Wie sollen sich Lehrerinnen und Lehrer aber auf neue Formen des Lehrens und Lernens einstellen, wenn ihnen in ihrer Ausbildung vermittelt wurde, dass es in erster Linie von der „richtigen“ Planung abhängt, ob „die Ziele des Unterrichts“ erreicht werden.

Auf welcher Ebene des Verständnisses vom Lernen bewegt sich die Schule? Warum sagt niemand den Lehrerinnen und Lehrern in unserem Land, dass Lernen kein Vorgang ist, der auf der Grundlage mechanischer Modelle erklärt werden kann?

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Wer einen Stein mit dem Fuß anstößt, weiß, dass der Stein wegfliegen wird. Sein Weg durch die Luft könnte exakt beschrieben werden. Vorausgesetzt, alle Daten über den Stein, den Fuß, den Boden usw. wären vorhanden sind. Wer einem Hund einen Tritt versetzt, weiß vorher nicht, was passieren wird. Es kann sein, dass der Hund wegläuft. Es ist aber ebenso möglich, dass er beißt. Die Entscheidung trifft der Hund. Jeder kennt den prinzipiellen Unterschied zwischen einer mechanischen Bewegung und der komplexen Reaktion eines Lebewesens. Wie kommt es dann, dass im System der Schule bis heute geglaubt wird, dass das Verhalten der Kinder im Unterricht bis ins Einzelne geplant werden könnte?

„Würden wir die Gesetze der Natur und den Zustand des Universums für einen gewissen Zeitpunkt genau kennen, so könnten wir den Zustand des Universums für irgendeinen späteren Zeitpunkt genau voraussagen. Aber selbst wenn die Naturgesetze für uns keine Geheimnis mehr enthielten, können wir den Anfangszustand immer nur näherungsweise kennen ... Es kann der Fall eintreten, dass kleine Unterschiede in den Anfangsbedingungen große Unterschiede in den späteren Erscheinungen bedingen; ein kleiner Irrtum in der ersteren kann einen außerordentlich großen Irrtum für die letzteren nach sich ziehen. Die Vorhersage wird unmöglich und wir haben eine `zufällige Erscheinung´.“ (Poincaré: 56f.)

Warum erkennen die Schulen nicht, dass sie bei ihren Versuchen, die Probleme des Lehrens und Lernens „lösen“ (vgl. z.B. Heimann u.a.: 9) zu wollen, ständig neue Probleme schaffen?

Wenn selbst einfache Bewegungsformen der Materie nicht exakt berechnet werden können, wie soll es dann möglich sein, komplexe Lernprozesse einer Gruppe von Menschen in allen Einzelheiten zu planen?

Warum ignoriert die Mehrzahl der Erziehungswissenschaftler und der Pädagogen die Grundlagen des naturwissenschaftlichen Denkens unserer Zeit?

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Warum wird der Konflikt zwischen dem erstrebenswerten Ziel, die Selbsttätigkeit (Comenius: 66) und die Selbstverantwortung (Comenius: 126) des Kindes fördern zu wollen und dem Menschenbild dieser Pädagogik, das sich in seinem Kern auf das Denken des Absolutismus und die Technologie der Mechanik stützt (vgl. Foucault), nicht aufgedeckt?

Wie konnte es dazu kommen, dass Comenius sein mechanistisch geprägtes Bild der Welt ohne weiteres auf den Menschen übertragen konnte? Das Herz war für ihn ein „Motor“, das Gehirn ein „Gewicht“, das die Bewegungen des Menschen auslöst, der Wille der Seele war ein „Hauptrad“ und die Vernunft ein „Anker“. (Ebenda)

Erst vor dem Hintergrund dieses Denkens erschließt sich für uns das Verständnis für das Modell der Uhr als Modell für die Schule:

„Lasst uns also im Namen des Höchsten versuchen, eigenen Typus von Schule zu begründen, der einer kunstreich angefertigten, mit vielfacher Pracht gezierten Uhr genau entspricht.“ (Comenius: 75)

Im System dieser „Machina didactica“ (vgl. Schaller: 37) kommt dem Lehrer dann die „göttliche Aufgabe“ zu, diese Schule in Gang zu setzten und in Gang zu halten. Von „Selbsttätigkeit“ und „Selbstverantwortung“ kann dann allerdings keine Rede mehr sein.

Zur Steuerung der „didaktischen Maschine bedarf es einer besonderen Planungstechnik, die Comenius bis in die letzte Einzelheit ausgearbeitet hat:

Es „muss alles, was getan werden soll, so geordnet sein, dass jedes Jahr, jeder Monat, jede Woche, jeder Tag und sogar jede Stunde ein eigenes Pensum hat, wodurch alle gleichzeitig zum Ziel geführt werden, ohne zu straucheln.“ (Comenius: 129)

Comenius Entwurf einer Schule traf keineswegs überall auf begeisterte Zustimmung. Bereits lange vor der Veröffentlichung der „Großen Didaktik“ wurden seine Überlegungen heftig kritisiert.

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Comenius setzte sich gegen die gut begründete Kritik eines engen Freundes zur Wehr, indem er seine Überlegungen zur Technik des Lehrens und Lernens in größere politische und religiöse Zusammenhänge stellte. Seine Schule sollte nach seinem Verständnis dem höheren Zweck der Verbesserung des Menschens (vgl. Schaller: 30), seiner Vervollkommnung (vgl. Schaller: 37) und dem „Fortschritt“ (Schaller: 30) dienen. Wer die „Grosse Didaktik“ aufmerksam liest, stellt dann auch schnell fest, dass die Sorge um das Lernen der Kinder keineswegs im Mittelpunkt der „Lehrkunst“ des Comenius steht.

Comenius hatte mit dieser Taktik Erfolg. Und so stehen bis heute die gesellschaftlichen Zielsetzungen der Schule im Zentrum des öffentlichen Interesses:

„Erstes und letztes Ziel unserer Didaktik soll es sein, die Unterrichtsweise aufzuspüren und zu erkunden, bei welcher die Lehrer weniger zu lehren brauchen, die Schüler dennoch mehr lernen; in den Schulen weniger Lärm, Überdruss und unnütze Mühe herrsche, dafür mehr Freiheit, Vergnügen und wahrhafter Fortschritt; in der Christenheit weniger Finsternis, Verwirrung und Streit, dafür mehr Licht, Ordnung, Friede und Ruhe.“ (Comenius: 1)

Das mechanistisch ausgerichtete „Betriebssystem“ der Schule des Comenius arbeitet seit Jahrhunderten im Hintergrund. Wer erwartet hatte, dass es mit dem Siegeszug der Kybernetik und der Informationstechnologien einen Wechsel des „Betriebssystems“ der Schule geben würde, sieht sich getäuscht. (Vgl. Schieder 1998) Das alte Grundverständnis vom Lehren und Lernen bleib erhalten.

Wir sehen in der Phase des Übergangs von der Schule der Bücher zur Schule der elektronischen Medien aber trotzdem Möglichkeiten, die Grundlagen des Lehrens und Lernens neu zu diskutieren.

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„Wir dürfen nicht denken, wir könnten das Kind machen; wenn wir das tun, verderben wir das göttliche Werk. Wenn wir meinen, wir seien es, die das Kind formen, bauen wir nicht den aktiven Teil im Kinde auf. Wir vermindern die Kräfte des menschlichen Geschöpfes“. Maria Montessori (KE: 18)

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2. Zugänge

Maria Montessori hat auf der Grundlage ihrer medizinischen, psychologischen und pädagogischen Praxis als Ärztin und Erziehungswissenschaftlerin ein weltweit anerkanntes pädagogisches Konzept entwickelt, in dem die Freiheit der Entwicklung des Kindes im Mittelpunkt steht.

Sie erprobte zu diesem Zweck neue Möglichkeiten zur Förderung der Selbsttätigkeit des Kindes und damit zur eigenständigen Entwicklung seiner Persönlichkeit.

Wer nach einer verbindlichen Definition der „Montessori-Methode“ fragt, erhält keine befriedigende Antwort, denn Maria Montessori wehrte sich in ihren letzten Lebensjahren gegen die Behauptung, dass sie eine „Methode“ entwickelt hätte. Sie hätte lediglich auf die Bedeutung der Rolle der Kinder, der Kindheit und der kindlichen Entwicklung hinweisen wollen.

Da wir nicht die Absicht haben, in diese Diskussion einzusteigen, beschränken wir uns an dieser Stelle darauf, zentrale Aussagen der Montessori-Pädagogik in einen Zusammenhang zu bringen, der zum Verständnis der Praxis der Montessori-Pädagogik in den Schulen von Bedeutung sein könnte.

Als Kern der Pädagogik Maria Montessoris gelten die Forderung nach der Freiheit des Kindes und die Prinzipien der Selbsttätigkeit und der Selbstorganisation beim Aufbau der Persönlichkeit des Kindes.

Während die Praxis der Montessori-Pädagogik heute praktisch überall anerkannt wird, werden Montessoris Aussagen zur Entwicklungsbiologie, zur Lerntheorie und zur Organisation der Freiarbeit in der wissenschaftlichen Diskussion ganz

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unterschiedlich bewertet. Neueste Erkenntnisse aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen bestätigen allerdings Montessoris Grundaussagen zu den neuronalen Aspekten der kindlichen Entwicklung, zur Bedeutung der Tätigkeit für den Aufbau der Persönlichkeit, zur Bedeutung der Aufmerksamkeit und zur Konstruktion der Wirklichkeit durch das Kind.

Montessori sah sich selbst als Wissenschaftlerin und nicht als Praktikerin. Ihre ethischen, erkenntnistheoretischen und pädagogisch-praktischen Überlegungen sprengten das traditionelle Verständnis der Welt der Pädagogik. Da die kritische Aufarbeitung ihres Lebenswerkes gerade erst begonnen hat, wollen wir an dieser Stelle nur darauf hinweisen, dass es Maria Montessori nie um die Verbesserung der vorhandenen Mittel der Schule gegangen ist. Sie bemühte sich vor dem Hintergrund ihres außergewöhnlichen Welt- und Menschenbildes (vgl. Böhm 1991) um ein neues Verständnis für das Leben und Lernen der Kinder.

Das Grundprinzip ihrer Pädagogik ist die freie Wahl einer sinnvollen Tätigkeit. Diese ist in einer kinderfeindlichen Welt aber an besondere Voraussetzungen gebunden. Montessori zählt dazu in erster Linie die Bereitstellung einer entwicklungsgerechten „vorbereiteten Umgebung“ und die intensive Vorbereitung der Lehrkraft auf ihre neuen Aufgaben in der Freiarbeit.

Die „Montessori-Methode“ und das besondere „Montessori-Material“ tragen in besonderer Weise zur Förderung der sensorischen, motorischen, geistigen und sozialen Entwicklung der Kinder bei. Die Beherrschung der handwerklichen Seite des „Montessori-Materials“ und die formale Kenntnis der Methode bilden eine unerläßliche Voraussetzung für die Förderung selbstorganisierter Lernprozesse, garantieren allein aber keineswegs den Erfolg dieser komplexen und vielschichtigen, in ihrer Theorie und in ihrer Praxis äußerst anspruchsvollen Pädagogik.

Nicht nur für die Montessori-Pädagogik gilt, daß die Persönlichkeit der Lehrerin oder der Erzieherin das entscheidende Fundament für eine erfolgreiche Freiarbeit darstellt. Doch erst wenn sich in der Zeit nach der Montessori-Ausbildung zu dem neuen Wissen

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die eigenen Erfahrungen kommen, steht die freie Arbeit mit den Kindern auf einem festem Grund.

Daraus ergeben sich dann Handlungsmöglichkeiten, die unter Umständen weit über den Rahmen anderer pädagogischer Konzepte hinausgehen, denn die Montessori-Pädagogik schöpft nicht nur aus pädiatrischen und pädagogischen, sondern auch aus neurowissenschaftlichen und heilpädagogischen Quellen.

Sie enthält bahnbrechende Überlegungen zu den Problemen des Begreifens und Verstehens. Sie kann einen bedeutenden Beitrag zur Erneuerung der öffentlichen Erziehung leisten, wenn sie sich den Herausforderungen unserer Epoche stellt.

Maria Montessori hat Bedeutendes zur Entwicklung der Erziehungswissenschaft und zur Praxis in Kindergärten, Kinderhäusern und Grundschulen beigetragen. Immer wieder hat es auch Versuche gegeben, an diese erfolgreiche Praxis der Elementarpädagogik anzuknüpfen und die Methoden der Grundschule auf die Sekundarschulen zu übertragen.

Häufig wird dabei leider übersehen, dass es in der Montessori-Pädagogik nicht um den Einsatz eines besonderen pädagogischen Materials geht, sondern um einen anderen Zugang zum Verständnis der Zusammenhänge zwischen dem Lehren des Lehrers und dem Lernen des Kindes, sowie um die Änderung der Haltung gegenüber den Kindern und Jugendlichen in unseren Schulen.

Von Kindergärten und Schulen wird heute erwartet, dass sie über ihren traditionellen Bildungs- und Erziehungsauftrag hinaus pädagogische und therapeutische Aufgaben übernehmen, die in der Vergangenheit von den Familien geleistet wurden. Wir beobachten, dass sich die Hoffnungen einer immer größeren Zahl von Eltern auf die Möglichkeiten der Montessori-Pädagogik richten. Wir denken, dass diese Erwartungen durchaus verständlich sind. Sie können aber nur erfüllt werden, wenn die materiellen und personellen Bedingungen vorhanden sind. Wer die Grenzen der so genannten Montessori-Klassen nicht beachtet, gefährdet die Gesundheit der Lehrkräfte und die

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Lernmöglichkeiten der Kinder. Wir wollen deshalb darauf hinweisen, dass keine Pädagogik die Versäumnisse der Gesellschaft gegenüber den Kindern ausgleichen kann.

Vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen wollen wir uns deshalb darum bemühen, ein realistisches Bild der aktuellen Handlungsmöglichkeiten der Montessori-Pädagogik zu geben und die pädagogisch-praktischen, psychologischen, neurowissenschaftlichen und systemischen Aspekten der Montessori-Pädagogik so darzustellen, dass die Zusammenhänge zwischen den theoretischen und den praktischen Aspekten der Montessori-Pädagogik nachvollzogen werden können.

2.1 Die Beobachtungen Maria Montessoris

„In einem der Irrenhäuser fiel ihr eine Gruppe schwachsinniger Kinder auf, die in einem kerkerartigen Raum wie Gefangene zusammengepfercht waren. Die Aufseherin gab sich keine Mühe, ihre Abneigung gegen die Kinder zu verbergen, und als die junge Ärztin sie fragte, warum sie die Kinder nicht leiden möge, antwortete die Frau: `Weil sie sich, kaum dass sie aufgegessen haben, auf den Boden stürzen und die Krümel aufklauben.´ Maria Montessori sah sich im Raum um: er enthielt nicht nur keinerlei Spielzeug, sondern überhaupt keinerlei Gegenstände, nichts, was die Kinder in die Hand nehmen, womit sie sich hätten beschäftigen können. Ob sie vielleicht gar nicht nach Nahrung, sondern nach etwas ganz anderem und Höherem hungerten? Sehr wahrscheinlich konnten die armen Geschöpfe ihre Intelligenz nur auf einem Wege nähren: durch ihre Hände, und instinktiv hatten sie diesen Weg auf die einzige ihnen mögliche Weise gesucht...“ (Standing 1959: 26f.)

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Montessori beobachtete das spontane Bedürfnis der Kinder, mit ihren Händen tätig werden zu können. Montessori „entdeckte“ die Bedeutung der körperlichen Tätigkeit für die geistige Entwicklung des Kindes.

Kinder aus Irrenanstalten regten sie an, darüber nachzudenken, welche Voraussetzungen gegeben sein müssten, damit sie entsprechend ihren inneren Bedürfnissen aktiv werden könnten:

„Im Gegensatz zu meinen Kollegen hatte ich jedoch die Eingebung, dass das Problem der geistig Zurückgebliebenen eher überwiegend ein pädagogisches als überwiegend ein medizinisches war.“ (EdK: 26)

Montessori suchte nach einer Antwort auf diese, für eine Ärztin eher ungewöhnliche Frage. Sie beteiligte sich deshalb an der Entwicklung pädagogischer Konzepte, die diesen Kindern besser gerecht werden sollten. In einem Ausbildungsinstitut für Behindertenlehrer, dem eine Versuchsschule angeschlossen war, setzte sie sich intensiv mit der Theorie und Praxis der Förderung behinderter Kinder auseinander:

„So bereitete ich mit Hilfe von Kollegen die römischen Lehrer zwei Jahre lang nicht nur auf die Spezialmethoden zur Beobachtung und Erziehung schwachsinniger Kinder vor, sondern, was wichtiger ist, ich begann, selbst Kinder zu unterrichten und die Arbeit der Erzieherinnen schwachsinniger Kinder in unserem Institut zu leiten.“ (EdK: 26f.)

Zwei Aspekte sollen hier besonders hervorgehoben werden. Montessori betont hier zum ersten Mal die Bedeutung der Beobachtung in der pädagogischen Arbeit. Sie verknüpft ihre praktischen Erfahrungen als Medizinerin und Lehrerin mit den Theorien Séguins (Vgl. EdK: 26 und 29ff.), kritisiert die mangelnde Wirksamkeit der traditionellen Methoden der Arbeit mit behinderten Kindern und entwickelte neue Formen des Unterrichts:

Es „musste zu anderen Mitteln gegriffen werden, die sich den Fähigkeiten jedes einzelnen (Kindes) anpassen ließen.“ (EdK: 37)

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Wir wollen darauf aufmerksam machen, dass bei diesen Versuchen nicht das Kind den Mitteln, sondern die Mittel dem Kind angepasst werden sollten. Wir wollen darauf hinweisen, dass es Maria Montessori in dieser Phase ihres Schaffens um die Hilfe für das einzelne Kind gegangen ist, also noch nicht um die Konstruktion ihrer universellen Methode.

In dieser Phase ihrer pädagogischen Arbeit ging es Montessori nach unserem Verständnis also um das konkrete Schicksal des einzelnen Kindes, seine individuellen Möglichkeiten und um die konkrete Frage der individuellen Förderung eines einzelnen Kindes durch eine bestimmte Lehrerin.

Im Rahmen ihrer Versuche mit „geistig zurückgebliebenen Kindern“ ist es Montessori dann gelungen, einigen Kindern das Lesen und Schreiben beizubringen (vgl. EdK: 32):

„Diese Kinder konnten danach in einer öffentlichen Schule zusammen mit normalen Kindern eine Prüfung ablegen, die sie auch bestanden. Dieses großartige Ergebnis erschien den Beobachtern fast wie ein Wunder.“ (EdK: 32)

„Doch für mich holten die Kinder des Irrenhauses die normalen bei öffentlichen Prüfungen nur deshalb ein, weil ihnen ein anderer Weg gewiesen worden war. Bei ihrer psychischen Entwicklung war ihnen Hilfe zuteil geworden, während die normalen Kinder stattdessen unterdrückt und erniedrigt worden waren.“ (ebenda)

Montessori gab sich mit den Ergebnissen dieses Versuchs nicht zufrieden, sie suchte nach Antworten auf die Frage, wie eine Schule für „normale“ Kinder gestaltet werden müsste, damit diese den Entwicklungsbedürfnissen der Kinder besser gerecht werden könnte:

„Während alle die Fortschritte meiner Idioten bewunderten, machte ich mir Gedanken über die Gründe, aus denen glückliche und gesunde Kinder in den gewöhnlichen Schulen auf so niedrigem Niveau gehalten wurden, dass sie bei Prüfungen der

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Intelligenz von meinen unglücklichen Schülern eingeholt wurden.“ (EdK: 32f.)

„Ich war ganz sicher, dass ähnliche Methoden, wie ich sie bei den Schwachsinnigen angewandt hatte, auch normaler Kinder Persönlichkeit entwickeln und auf das wunderbarste befreien würde.“ (nach Standing: 28)

„Mein Wunsch war es, die mit so großem Erfolg von Séguin ausgearbeiteten Methoden an Kindern der ersten Grundschulklasse zu erproben, wenn sie im Alter von 6 Jahren als undisziplinierte Analphabeten zur Schule angemeldet wurden.“(EdK:37)

Es sollte einige Jahre dauern, bis dieser Wunsch in Erfüllung gehen konnte:

„Am 6. Januar (1907) wurde die erste Gruppe von über 50 kleinen Kindern zusammengestellt. Es war interessant, diese kleinen Wesen zu sehen, die sich so stark von denen unterschieden, welche die üblichen schulgeldfreien Schulen besuchten. Sie waren schüchtern und unbeholfen, sahen dumm und unzurechnungsfähig aus. Sie waren nicht in der Lage, in einer Reihe hintereinander zu gehen, und die Lehrerin ließ jedes Kind den Schürzenzipfel des vor ihm laufenden packen, so dass sie sich wie im Gänsemarsch fortbewegten. Sie weinten, und alles schien ihnen Angst einzuflößen - die Schönheit der anwesenden Damen, der Baum und die daran hängenden Dinge. Weder nahmen sie die Geschenke an, noch probierten sie die Süßigkeiten, noch antworteten sie auf Fragen. Sie waren wirklich wie eine Gruppe wilder Kinder. Gewiss, sie hatten nicht wie der Wilde aus dem Aveyron in einem Wald unter Tieren gelebt, aber in einem Wald verlorener Menschen, außerhalb der Grenzen der zivilisierten Gesellschaft. Beim Anblick dieses ergreifenden Schauspiels meinten viele Damen, dass diese Kinder sich nur durch ein Wunder erziehen lassen würden und dass sie sie gerne nach ein oder zwei Jahren wiedersehen würden.“ (EdK: 40f.)

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Im Kinderhaus von San Lorenzo konnte Maria Montessori Kinder beobachten, die so intensiv arbeiteten, wie sie es nie vorher erlebt hatte:

„Als ich meine ersten Versuche unter Anwendung der Prinzipien und eines Teils des Materials, die mir vor vielen Jahren bei der Erziehung schwachsinniger Kinder geholfen hatten, mit kleinen normalen Kindern von San Lorenzo durchführte, beobachtete ich ein etwa dreijähriges Mädchen, das tief versunken war in der Beschäftigung mit einem Einsatzzylinderblock, aus dem es die kleinen Holzzylinder herauszog und wieder an ihre Stelle steckte. Der Ausdruck des Mädchens zeugte von so intensiver Aufmerksamkeit, dass er für mich eine außerordentliche Offenbarung war. Die Kinder hatten bisher noch nicht eine solche auf einen Gegenstand fixierte Aufmerksamkeit gezeigt. Und da ich von der charakteristischen Unstetigkeit der Aufmerksamkeit des kleinen Kindes überzeugt war, die rastlos von einem Ding zum anderen wandert, wurde ich empfindlicher für dieses Phänomen.

Zu Anfang beobachtete ich die Kleine, ohne sie zu stören, und begann zu zählen, wie oft sie die Übung wiederholte, aber dann, als ich sah, dass sie sehr lange damit fortfuhr, nahm ich das Stühlchen, auf dem sie saß, und stellte Stühlchen und Mädchen auf den Tisch; die Kleine sammelte schnell ihr Steckspiel auf, stellte den Holzblock auf die Armlehne des kleinen Sessels, legte sich die Zylinder in den Schoß und fuhr mit der Arbeit fort. Da forderte ich alle Kinder auf zu singen; sie sangen, aber das Mädchen fuhr unbeirrt fort, seine Übungen zu wiederholen, auch nachdem das kurze Lied beendet war. Ich hatte 44 Übungen gezählt; und als es endlich aufhörte, tat es dies unabhängig von den Anreizen der Umgebung, die es hätte stören können; und das Mädchen schaute zufrieden um sich, als erwachte es aus einem erholsamen Schlaf. - Mein unvergesslicher Eindruck glich, glaube ich dem, den man bei einer Entdeckung verspürt.“ (SdK: 69f.)

Diese „erstaunliche Entdeckung“ (EdK: 43) steht ganz im Kontrast zu den Erfahrungen Montessoris mit den behinderten Kindern, die nach ihrer Auffassung die Stimme ihrer Lehrerin brauchten, um aktiv zu werden (vgl. EdK: 31)

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„Jedesmal, wenn eine solche Polarisation der Aufmerksamkeit stattfand, begann sich das Kind vollständig zu verändern. Es wurde ruhiger, fast intelligenter und mitteilsamer. Es offenbarte außergewöhnliche innere Qualitäten, die an die höchsten Bewusstseinsphänomene erinnern, wie die Bekehrung. Es schien, als hätte sich in einer gesättigten Lösung ein Kristallisationspunkt gebildet, um den sich dann die gesamte chaotische und unbeständige Masse zur Bildung eines wunderbaren Kristalls vereinte. Nachdem das Phänomen der Polarisation der Aufmerksamkeit stattgefunden hattem, schien sich in ähnlicher Weise alles Unorganisierte und Unbeständige im Bewusstsein des Kindes zu einer inneren Schöpfung organisieren, deren überraschende Merkmale sich bei jedem Kind wiederholten.“ (SdK: 70f.)

Neben dem Phänomen der großen Aufmerksamkeit zeigten sich andere „erstaunliche Tatsachen, wie die unverhofften Äußerungen spontanen Schreibens und Lesens, die spontane Disziplin, das freie Leben in der Gesellschaft, Tatsachen, die Neugierde hervorriefen und in der Welt Interesse weckten.“ (EdK: 44) Und schnell wurde das Kinderhaus in Rom zu einem „Wallfahrtsort für Leute aus allen Ländern“ (EdK: 43)

Drei „Entdeckungen bilden nach unserem Verständnis die Grundlage der Montessori-Pädagogik:

Die Bedeutung der spontanen, gegenständlichen Tätigkeit für die Entwicklung des Kindes:

„Die Selbstentfaltung (des Kindes) ist seine wahre und fast einzige Lust. Die Entwicklung des Säuglings bis zum Ende der ersten Jahres besteht in großem Umfang in der Einnahme von Nahrung; später aber besteht sie in der Beförderung der geordneten Tätigkeit der seelischen und körperlichen Äußerungen seines Organismus.“ (SE: 331 nach Kramer 169)

„Die Polarisation der Aufmerksamkeit“ als Auslöser einer Veränderung des Kindes:

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Das Mädchen „hielt inne, als erwache es aus einem Traum und lächelte glücklich. Sie hatte glänzende Augen und sah sich um. Sie hatte nicht einmal bemerkt, was wir getan hatten, um sie zu stören. Und jetzt, aus keinem ersichtlichen Grund, war ihre Aufgabe beendet. Aber was war beendet, und warum?“ (Secret of Childhood zit. nach Kramer:140)

„Die sensiblen Phasen“ als Epochen besonderer Lernmöglichkeiten:

Es handelt sich um besondere Empfänglichkeiten, die in der Entwicklung, das heißt im Kindesalter der Lebewesen auftreten. Sie sind von vorübergehender Dauer und dienen nur dazu, dem Wesen die Erwerbung einer bestimmten Fähigkeit zu ermöglichen. Sobald dies geschehen ist, klingt die betreffende Empfänglichkeit wieder ab (...) Das Wachstum ist nicht ein unbestimmtes Werden, ererbt und dem Lebewesen eingeboren, sondern das Ergebnis einer inneren Arbeit, die von periodisch auftretenden Instinkten sorgfältig geleitet wird.“ (Ksa:47) „Die mit dem Wachstum verbundene innere Arbeit ... hat bisher nicht unsere volle Beachtung gefunden; aber eine lange Erfahrung hat uns gezeigt, wie schmerzhaft und heftig das Kind reagiert, sobald äußere Hindernisse sich seinen Lebensbetätigungen in den Weg stellen.“ (Ksa: 50)

Montessori war davon überzeugt, dass sie die verborgenen Natur des Kindes“ entdeckt hatte (EfenW: 41f.). Sie räumte zwar ein, dass andere vor ihr „diese psychologischen Phänomene“(ebenda) des Selbstaufbaus der Persönlichkeit des Menschen ebenfalls gesehen haben. Sie verweist dabei auf Pestalozzi und Tolstoi (ebenda: 42f.), betonte aber, dass es ihr gelungen sei, besondere Bedingungen zu schaffen, unter denen die Phänomen des Selbstaufbaus immer wieder beobachtet werden konnten:

„Jemand, der die Elektrizität entdeckt, hat die Elektrizität nicht erschaffen. Der Entdecker vermag jedoch die Bedingungen für die Wiederholung der beobachteten Phänomene wiederherzustellen. Er tut dies, weil er versteht, was sie hervorgerufen hat.“ (Ebenda: 42)

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„Ein Gegenstand, mit dem sich das Kind mit langdauernder Aufmerksamkeit beschäftigt, entspricht seinen inneren Bedürfnissen. Nur solche Spielzeuge oder Bechäftigungsmittel, die die spontane Aufmerksamkeit des Kindes erregen und lange fesseln, sind für das Kind geeignet, denn nur sie können seiner Entwicklung förderlich sein.“ (Grunwald: 17)

In der Montessori-Pädagogik wird der Erwachsene dann auch nicht mehr als Schöpfer des Kindes betrachtet, sondern als „Verbündeter“ und „Helfer“, der die Aufgabe hat, dem Kind zur rechten Zeit die notwendigenden Voraussetzungen für seine „innere Arbeit“ zu geben (Vgl. Ksa: 58f.):

„Wir dürfen nicht denken, wir könnten das Kind machen; wenn wir das tun, verderben wir das göttliche Werk. Wenn wir meinen, wir seien es, die das Kind formen, bauen wir nicht den aktiven Teil im Kinde auf. Wir vermindern die Kräfte des menschlichen Geschöpfes“. (KE: 18)

Nach unserer Auffassung vollzieht Montessori hier den Bruch mit jenem Denken, das zweitausendfünfhundert Jahre die Schulen geprägt hat:

„Die Aufgabe, die sich die Lehrer selbst vorgenommen haben, ist gewöhnlich gewesen, weiches Material zu modellieren und leere Gefäße zu füllen. Aber wir müssen uns darauf einstellen, die verborgenen Wunder im Kinde zu sehen und ihm zu helfen, sie zu entfalten.“ (KE: 19)

„Wissenschaftliche Beobachtung hat demnach ergeben, dass Erziehung nicht das ist, was der Lehrer weitergibt. Erziehung ist vielmehr ein natürlicher Vorgang, den der einzelne Mensch von selbst vollzieht, nicht durch Hinhören auf Worte, sondern durch Erfahrungen mit der Umwelt.“ (EfenW: 55)

Diese Beobachtungen gelten nach ihrer Auffassung nicht nur für die Schule, sondern grundsätzlich für das Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern:

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„Es hieß: Die Mutter bringt das Kind zur Welt, sie lehrt es sprechen, gehen usw. All dies ist jedoch absolut nicht Werk der Mutter, sondern eine Eroberung des Kindes.“ (DkK: 13) „Das Kind formt von sich aus den zukünftigen Menschen, indem es seine Umwelt absorbiert.“ (DkK: 14)

Maria Montessori spricht in diesem Zusammenhang dann vom „Kind als Baumeister des Menschen“. (z.B. DkK: 13), das sich im Prozess der „autoeducazione“, der „formazione“, der „costruzione“ und der „creazione“ (vgl. DkK: 13,Fn. 8) selbst zu schaffen hätte.

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„Das Milieu, in dem die ersten „Kinderhäuser entstanden, muss für die Erziehung ganz besonders günstig gewesen sein, denn der in jenen ersten Jahren mit diesen Kindern erzielte Erfolg einer erstaunlichen Verwandlung wurde nie wieder erreicht.“ Maria Montessori 1950 (EdK: 43)

„Ich habe über vierzig Jahre gelehrt und Diplome vergeben, aber bis jetzt ist nichts wirklich Großes zustande gebracht worden.“Maria Montessori (GudK: 140)

2.2 Eine Pädagogik für alle Kinder?

„Erzieher aller Arten - Lehrer, Gesetzgeber, Ärzte, Eltern, Schriftsteller - waren fasziniert von dem, was die (Versuche in der) Casa dei Bambini zu versprechen schienen. Sie kamen, um mit eigenen Augen zu sehen, und berichteten dann über den Versuch in der ganzen zivilisierten Welt. Das System wurde in Schulen eingeführt, die so weit entfernt waren wie die Australiens und Argentiniens.“ (Kramer: 187f.) „Die `Methode´ eroberte sich die Welt.“ (Kramer: 177)

Neunzig Jahre später ergibt sich ein weitaus differenzierteres Bild. In einer Reihe von Ländern hat sich die Montessori-Pädagogik innerhalb des Systems der Schulen etabliert, in anderen wird sie toleriert. Montessori bemühte sich bis in ihre letzten Lebensjahre darum, das traditionelle System der Schule zu ersetzen. Dieses Ziel wurde nicht erreicht. Das pädagogische System des Comenius setzt bis heute die Maßstäbe für die Schulen.

Vor diesem Hintergrund fragen wir uns dann, welche Rolle die staatlichen und privaten Montessori-Schulen innerhalb des Schulsystems spielen. Welchen Stellenwert hat die Tatsache,

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dass es im Einzugsbereich der großen Städten Dutzende von Schulen gibt, in denen ganz oder teilweise nach dem Konzept der italienischen Ärztin gearbeitet wird? (Vgl. Sommerlatte u.a.: 30)

Wir glauben, dass die Erfolgsgeschichte der Montessori-Pädagogik zu einem nicht geringen Teil auf einem „Montessori-Missverständnis“ beruht.

In einem Aufsatz des Schweizer Psychologen Jean Piaget haben wir eine Einschätzung der Montessori-Pädagogik gefunden, die sicherlich zur Verbreitung dieses „Montessori-Missverständnis“ beigetragen hat. Piaget schreibt dort, dass Maria Montessori „in einer meisterhaften Verallgemeinerung unmittelbar auf die Normalen angewendet hat, was die Schwachsinnigen sie gelehrt hatten: Während der ersten Stadien lernt das Kind mehr durch das Handeln als durch das Denken; ein angemessenes Material, das dieses Handeln zu fördern imstande ist, führt schneller zum Wissen als die besten Bücher und die Sprache selbst. Derart bildeten die scharfsinnigen Beobachtungen einer psychiatrischen Assistentin über den Verstandesmechanismus zurückgebliebener Kinder den Ausgangspunkt einer allgemeinen Methode, deren Auswirkungen in der ganzen Welt unübersehbar sind.“ (Piaget: 122)

Eine Interpretation der Montessori-Pädagogik, die sich ausschließlich auf diese „Methode“ und die mit dieser „Methode“ zusammenhängenden anthropologischen Fragen bezieht, hat nach unserer Auffassung dazu beigetragen, dass die Pädagogik Maria Montessoris heute wie ein Findling in der pädagogischen Landschaft herumliegt.

Der Kult um Montessori hat dazu geführt, dass die kulturgeschichtlichen, erkenntnistheoretischen, philosophischen, psychologischen, anthropologischen, systemtheoretischen und pädagogisch-praktischen Zusammenhängen ihrer Pädagogik weitgehend in Vergessenheit geraten sind. So konnte es dann auch dazu kommen, dass viele „Montessorianer“ glauben, Montessori hätte in ihrem Kinderhaus in Rom in einer Art plötzlicher Eingebung eine neue Pädagogik erfunden. (Vgl. hierzu Böhm 1996: 115f.)

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In manchen Teilen der Welt ist ein Kult um die Montessori-Pädagogik entstanden, der mit dem ursprünglichen Anliegen der Italienerin nichts mehr zu tun hat. (Vgl. leGrand Richards: 32ff.)

Nach unserer Auffassung trägt Maria Montessori für dieses eigenartige Gebaren ein Stück weit selbst die Verantwortung, denn sie unterstützte diesen Kult, indem sie überall die Sonderstellung ihrer Pädagogik herausstellte (vgl. Flores d´ Arcais: 118ff.) und indem sie dafür sorgte, dass „ihre Methode“ buchstabengetreu umgesetzt wurde.

Im Sinne dieser Tradition wird dann von einem Teil der „Montessorianer“ behauptet, dass die Montessori-Pädagogik „originalgetreu verwirklicht werden muss“, damit „sich die erwartete spontane Arbeit der Kinder und die Heilkraft solcher Arbeit einstellen“ kann. (Gebhardt-Seele: 4)

Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass der wissenschaftliche Anspruch, den Maria Montessori zunächst für sich reklamiert hat (EdK: 3ff., 8 und 12) mit den ersten spektakulären Erfolgen der Montessori-Pädagogik aufgegeben wurde.

Dies hat nach unserer Auffassung dann dazu geführt, dass sich die Montessori-Pädagogik für Jahrzehnte aus den Diskussionsprozessen über die Zukunft der Schule ausgeschlossen hat. (Vgl. hierzu Berg)

Nach zwei Weltkriegen und den großen kulturellen und sozialen Umwälzungen in allen Industriestaaten ist dann die paradoxe Situation entstanden, dass die Urheberin der „Montessori-Methode“ ratlos vor ihren Schülerinnen und Schülern stand, denn diese sahen in ihrer „Methode“ entgegen ihren ursprünglichen Absichten „ein probates Mittel“, zum Teil auch „ein technologisches Erziehungsinstrument“, um Kinder zu „dressieren“ und zu „manipulieren.“ (Harth-Peter: 122):

Montessori scheiterte nach unserer Auffassung zum einen am „Montessori-Missverständnis“ ihrer Schülerinnen und Schüler, zum anderen aber wohl an ihrem Ziel, eine „universale

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(Unterrichts-) Methode“ schaffen zu wollen, die dem einzelnen Kind helfen sollte, seine eigene Persönlichkeit auzubauen.

Es gehört zur Tragik ihres Lebens, dass sich das Interesse der Öffentlichkeit auf die technologische Seite ihrer Pädagogik konzentrierte und nicht auf die kulturgeschichtlichen Grundlagen ihres Denkens und Handelns.

In ihren letzten Vorträgen beklagte sich Maria Montessori dann darüber, „sie habe ihr Leben lang nichts anderes tun wollen, als mit ihrem Finger auf das Kind, wie es wirklich ist, zu zeigen, ihre Zuhörer und Anhänger aber hätten noch immer nicht gelernt, auf das Kind zu blicken, und glotzten unbeirrt nur auf ihren Finger.“ (Zit nach Böhm 1996: 117)

Hier benennt Maria Montessori den Konflikt, der in der Montessori-Pädagogik bis heute unter der Decke gehalten wird. Wir beobachten unausgesprochene Differenzen zwischen Lehrerinnen und Lehrern, die versuchen, die Kinder in das „Montessori-Material“ einzugleisen (vgl. zu dieser Praxis z.B. Wünsche), damit dieses Material später als „Schiene für die normale Entwicklung des Kindes“ (zit. nach Böhm 1991: 117) dienen kann und anderen, die sich auf der Grundlage der Pädagogik Maria Montessoris darum bemühen, dem einzelnen Kind zu helfen, seinen eigenen Weg in der Welt zu finden.

„Jedes Kind ist anders!“ (DMdS: 102) Und jedes Kind lernt anders. Dies ist der Grund, warum es nach unserer Auffassung keine universelle pädagogische Methode geben kann.

Dies heißt aber nicht, dass das Montessori-Material und die Struktur der Montessori-Freiarbeit keine Hilfe ist bei der Arbeit mit den Kindern. Im Gegenteil! Wir wollen aber nicht verschweigen, dass wir Kinder kennen, die in unseren Klassen auch ohne das Montessori-Material mit gutem Erfolg gelernt haben. Daneben gibt es aber immer Kinder, die das Material brauchen und die intensive Unterstützung durch ihre Lehrerinnen und Lehrer.

Es ist gerade diese Ambivalenz der Montessori-Pädagogik, die uns immer wieder dazu zwingt, unsere Haltungen und unsere

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Entscheidungen kritisch zu überprüfen. Dabei hilft dann aber weder der Mythos dieser Pädagogik, noch der Glaube an die Möglichkeit, die Pädagogik Maria Montessoris mit den Kindern von heute „originalgetreu“ verwirklichen zu können.

„ ... in der Seele jedoch bleibt kein gewaltsam erzwungenes Wissen haften ... Erziehe daher mein Liebster die Knaben in den Wissenschaften nicht mit Gewalt, sondern spielend, damit du umso besser die Natur eines jeden erkennen kannst.

Platon, Politeia

2.3 Die Fundamente der Montessori-Freiarbeit

Wenn wir uns von der Vorstellung lösen, dass aus der Montessori-Pädagogik eine Unterrichtsmethode hergeleitet werden könnte, dann gewinnen wir einen Zugang zum Verständnis dieser Pädagogik, der den Rahmen des pädagogischen Denkens unserer Epoche sprengt.

Wir können die Geschichte der Schule als Geschichte der Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen lesen. Wenn Platon sich in der Politeia aus guten Gründen gegen die Gewalt in der Pädagogik wendet, dann begründet er damit eine Tradition des pädagogischen Denkens, die sich gegen das Grundverständnis der abendländischen Schule richtet. Platon, Luther, Montaigne, Kant, Rilke und Einstein haben sich zu den Problemen der Pädagogik in ganz ähnlicher Weise geäußert wie Montessori.

Bei der Lektüre von Texten des Thomas von Aquin fanden wir eine Fülle von Parallelen zum Denken Maria Montessoris. Diese Beobachtung lässt uns vermuten, dass sich Maria Montessori mit den Grundfragen des Denkens auseinandergesetzt hat. Wir glauben, dass Montessori bei ihren Nachforschungen zu

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Ergebnissen gekommen ist, die bisher kaum beachtet wurden. Wir wollen dies nun an einigen Beispielen zeigen.

Für Thomas von Aquin wie für Maria Montessori ist der Lehrer eine Person, die, im Besitz einer Erkenntnis, einem anderen Subjekt zu seiner Erkenntnis verhilft, und zwar so, dass der andere die Möglichkeit hat, selbständig zu erkennen, was es zu erkennen gilt.

Für die Tätigkeit der Lehrers gebraucht Thomas von Aquin den gleichen Begriff „doctrina“ wie für den Erkenntnisinhalt selbst. Thomas von Aquin ging davon aus, dass dem Lehrer zwei Wege zur Verfügung stehen, auf denen er dem Schüler das selbständige Erkennen ermöglichen könnte: „die mündliche Unterweisung“ und „die augenfällige Demonstration“. (Thomas von Aquin: De magistro)

Maria Montessori ging darüber weit hinaus. Sie gab sich mit der akustischen und optischen Repräsentation des Wissens nicht zufrieden. Sie verknüpfte in ihren Lektionen die mündliche Unterweisung mit der „augenfälligen Demonstration“. Sie gab den Kindern darüber hinaus die Möglichkeit, abstrakte Begriffe und abstrakte Operationen auf der Ebene der konkret-gegenständlichen Tätigkeit zu erarbeiten. In ihren Lektionen verbindet Montessori die sensorischen und die motorischen Dimensionen des menschlichen Handelns zu einem sensomotorischen Kreislauf, in dem das Montessori-Material als Werkzeug für den Geist eingesetzt werden kann. (Vgl. Schieder: Montessori-Mathematik)

Für Maria Montessori wie für Thomas von Aquin kam es nicht darauf an, auf welchem Weg der Lernende die geistige Eigenaktivität aufbaute, die ihm das Lernen ermöglichte. Thomas legte aber großen Wert auf den Hinweis, dass es kein Lernen gibt, dem nicht irgendein Wissen vorausgeht. Wir nennen „das Wissen, das vorausgeht“ heute Gedächtnis oder innere Repräsentation. In der Montessori-Freiarbeit können wir sehen, dass jedes Kind stets dort anknüpft, wo es sich gerade befindet. In dieser Möglichkeit sehen wir heute ein spezifisches Merkmal der Montessori-Pädagogik:

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Das Kind beginnt mit dem Lernen stets dort, wo es sich in seiner aktuellen geistigen Entwicklung befindet und nicht an einem fiktiven Ort, den eine Lehrkraft für das Kind bestimmt hat.

Aus der Sicht des Thomas ist der Lehrer trotz der Betonung der großen Bedeutung der Selbsttätigkeit des Lernenden keineswegs entbehrlich, denn ohne einen äußeren Anstoß, „wartend auf den Zufall“, wäre es um „die Weitergabe des Wissens“ schlecht bestellt. Nach seiner Auffassung muss der Lehrer deshalb ein Vermittler sein zwischen dem, was der Lernende schon weiß und dem, was er noch nicht weiß.

In der Praxis der Montessori-Freiarbeit ist die Lehrkraft hier doppelt gefordert. Sie muss dafür sorgen, dass das Kind eine Lernumgebung bekommt, in der es diese Verbindungen möglichst selbst herstellen kann. Und sie muss bei der Herstellung dieser Verbindungen helfen, wenn dies erforderlich ist.

Für Thomas von Aquin ist alles Wissen ein „Erfinden“. Der Lehrende hat vor diesem Hintergrund die Aufgabe, den Lernenden „auf die gleiche Weise zum Wissen zu führen, wie es jemand tut, der sich selbst auf dem Wege der Erfindung zur Erkenntnis von Unbekanntem bewegt.“ (Ebenda: De veritate XI)

„Wie man also vom Arzt sagt, dass er die Gesundheit im Kranken nur aufgrund der Eigentätigkeit seiner Natur bewirkt, so gilt auch, dass ein Mensch in einem anderen Wissen nur aufgrund der Selbsttätigkeit von dessen naturhaft angelegter Vernunft bewirken kann.“ Das heißt: „Der Lehrer flößt dem Schüler nicht in dem Sinne Wissen ein, dass gleichsam ein und dasselbe Wissen aus dem Besitz des Lehrers in den des Schülers übergeht. Vielmehr ist die Sache so, dass aufgrund des Lehrens im Schüler durch Aktualisierung eines Vermögens ein Wissen entsteht, das dem des Lehrers ähnlich ist. (Ebenda)

Wir sehen hier erstaunliche Parallelen zu den neuesten Theorien der anthropologisch orientierten Naturwissenschaften, auf die wir an dieser Stelle nicht weiter eingehen können (vgl. Heinz von Foerster, Gerhard Roth, Humberto Maturana u.a.) und eine

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implizite Kritik an der Methode des so genannten sokratischen Gesprächs (vgl. hierzu Bateson/Bateson: 226).

Interpretieren wir die Montessori-Pädagogik vor diesem Hintergrund, bewegen wir uns in einem Rahmen der von Thomas von Aquin bis zur konstruktivistischen Neurobiologie des einundzwanzigsten Jahrhunderts reicht.

Ziehen wir an dieser Stelle ein Resümee, dann können wir feststellen, dass Maria Montessori mit ihrer Pädagogik eine praktikable Alternative zum Subjekt-Objekt-Modell des Lehrens und Lernens geschaffen hat. Zugleich hat sie wesentliche Aspekte des ökologisch-systemischen Denkens vorweggenommen:

„Das Erziehungswerk verteilt sich auf (die) Lehrerin und (die) Umgebung. Die frühere `Lehrende´ wird durch ein sehr viel komplexeres Ganzes ersetzt, das heißt, gleichzeitig mit der Lehrerin wirken zahlreiche Gegenstände (das Entwicklungsmaterial) bei der Erziehung des Kindes mit. Der tief greifende Unterschied zwischen dieser Methode und dem so genannten `objektiven Unterricht´ der alten Methoden besteht darin, dass die `Gegenstände´ keine Hilfe für die Lehrerin sind.“ (EdK: 166)

Das heißt mit anderen Worten, die Entwicklung eines lebenden Organismus ist mit der Entwicklung seiner Umwelt verkoppelt. Sie vollziehen eine „Koevolution“ (Bateson. Geist und Natur: 62f.). Beide sind füreinander Umwelt, sie verändern sich gegenseitig und bestimmen auf diese Weise für den jeweils anderen die Überlebensbedingungen. Im Gegensatz zum traditionellen anthropozentrischen Denken ist „die Überlebenseinheit“ also nicht ein isoliertes System (ein einzelner Mensch), sondern die Einheit aus einem lebenden System und seiner Umwelt (das Kind in seiner Umgebung).

Das Modell der alten Schule, in der es ein starres System aus einem Subjekt (Lehrer) und einem Objekt (Schüler) gibt, wird in der Montessori-Pädagogik ersetzt durch ein System aus einem Subjekt (dem Kind) und seiner Umgebung, die aus dem Material und der Lehrerin besteht.

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„Das Kind kann sich nicht entwickeln, wenn es nicht von Gegenständen umgeben ist, die zu handeln ermöglichen. Bisher glaubte man, dass der von den Erziehern unmittelbar erteilte Unterricht der wirkungsvollste sei, während es in Wirklichkeit der der Umgebung ist. Das Kind braucht Gegenstände zum Handeln, und diese Gegenstände sind wie eine Nahrung für seinen Geist.“ (DMdS: 76)

Die vorbereitete Umgebung der Freiarbeit ist für das Kind ein Teil seiner Umwelt. Jedes Kind nutzt sie auf andere Weise, entsprechend seinen aktuellen Möglichkeiten. Kinder, die mit dieser vorbereiteten Umgebung nichts anfangen können, benötigen andere Handlungsmöglichkeiten. Diese müssen von den Lehrkräften bereitgestellt werden. Die Lehrkräfte haben die Aufgabe, die Kinder zu unterstützen bei ihren Versuchen, die Handlungsmöglichkeiten der vorbereiteten Umgebung zu erkunden und zu nutzen.

Weil es im linearen System des traditionellen Unterrichts diese Möglichkeiten nicht gibt, sehen wir im System der Freiarbeit einen geeigneter Rahmen, in dem wir jedem Kind helfen können, entsprechend seinen eigenen Möglichkeiten seinen eigenen Weg zu gehen.

„Die Aktivität des Kindes entwickelt sich in einer direkten Beziehung zum Material, das heißt zu wissenschaftlich bestimmten Objekten, die ihm in seiner Umgebung zur Verfügung gestellt werden. Jedes Kind beschäftigt sich mit jedem gewählten Gegenstand so lange es will; und dieser Wille entspricht dem Bedürfnis innerer Reifung des Geistes, einer Reifung, die einer ständigen und lang währenden Übung bedarf. Keine Anleitung, kein Lehrer könnte das innere Bedürfnis und die notwendige Reifezeit eines jeden Schülers erraten. Wenn dem Kind jedoch Freiheit gelassen wird, wird uns all dies durch die Leitung der Natur offenbart.“ (SdK: 87)

Maria Montessori suchte die Lösung des Vermittlungsproblems der Pädagogik nicht in der Verbesserung der traditionell linear strukturierten Unterrichtsmethoden, sondern im Aufbau räumlicher

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und zeitlicher Strukturen, in denen die Selbstorganisation des Lernens der Kinder unterstützt werden könnte. Dazu gehört die Gestaltung besonderer Räume und die Bereitstellung von Materialien, die es den Kindern erlauben, von selbst die notwendigen Kenntnisse, entsprechend ihren eigenen Entwicklungsbedürfnissen, zu erwerben. (Vgl. Maria Montessori: „Das Neue Kind“)

Die Lehrerin ist in der Freiarbeit also keinesfalls der „Macher“, sondern ein „Helfer“ oder ein „Diener“, „während sich die Persönlichkeit des Kindes aus eigener Kraft entwickelt“. (Ebenda)

Im traditionellen Unterricht hat der Lehrer die Aufgabe, das Lernen einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern zu steuern.

In der Montessori-Freiarbeit können Kinder ihre Lernprozesse selbst steuern. Sie werden unterstützt durch die Lehrkräfte, das Material und die anderen Kinder ihrer Lerngruppe. Diese Kinder arbeiten zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Konstellationen mit unterschiedlichen Materialien zu unterschiedlichen Themen und mit unterschiedlichen Ergebnissen.

Wer die Aufgabe hat, diese Lernprozesse verantwortlich zu begleiten, braucht neben der unerlässlichen Fach- und Sachkenntnis ein großes Einfühlungsvermögen und die Bereitschaft beobachten zu lernen.

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„Es bedarf materieller Mittel, Führung, unerlässlicher Kenntnisse. Es ist der Erwachsene, der diese Bedürfnisse befriedigen muss. Er muss ganz genau das geben und tun, was nötig ist, damit das Kind aus sich heraus nutzbringend handeln kann; Wenn er weniger als nötig tut, kann der Kleine nicht nutzbringend handeln; und wenn er mehr tut, als er muss und sich dem Kind aufdrängt oder sich an dessen Stelle setzt, zerstört er in ihm den kreativen Impuls. Es existiert also eine Intervention, die man determinieren kann; es gilt eine scharfe Grenzlinie zu erreichen, die man Interventionsschwelle nennen könnte.“ (Maria Montessori: „Das Neue Kind“)

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3. Beobachtungen im Alltag der Schulen

(2 Bilder von Kindern: Freiarbeit)

3.1 Die Kinder

Wir sind immer sehr neugierig, wenn wir eine neue Klasse bekommen. Wir versuchen mit den Eltern über ihre Kinder ins Gespräch zu kommen und fragen sie deshalb auf dem ersten Elternabend nach den Stärken ihrer Kinder. Diese kleine Umfrage bildet dann die Grundlage für die Erörterung der Frage, wie die Schule mit der Unterschiedlichkeit der Kinder umgehen solle.

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3.1.1 Was kann mein Kind zur Zeit besonders gut?(Quelle: eine Umfrage unter den Eltern einer 1. Klasse)

A kann toll malen und basteln, singen und tanzen.

B kann alles gut, was mit Bewegung zu tun hat.

C kann schwimmen, mit dem Computer umgehen und Fahrrad fahren.

D kann besonders gut mit Lego bauen und malen, schreiben und rechnen, sich auf eine Sache konzentrieren und gut mit sich alleine sein.

E kann mit Geduld basteln und puzzeln, sie schaut sich konzentriert Bücher an, ist sehr kontaktfreudig, hat keine Probleme im Umgang mit anderen Kindern.

F lässt sich leicht für Dinge begeistern, malt gerne Bilder, kann sich auch in Dinge vertiefen, die sie interessieren.

G ist ausdauernd, kann gut zuhören, malen und basteln.

H interessiert sich für alles, was in der Welt geschieht, z.B. für Naturereignisse.

I malt und rechnet sehr gern, interessiert sich für den Computer, baut gern mit Lego und Playmobil, hört anderen gerne beim Vorlesen zu.

K kann werken, toben, klettern, stänkern, erzählen und phantasieren.

L mag Autos, Tiere, Basteln und Malen, besonders gern zeichnet er Dinosaurier.

M ist sehr hilfsbereit, liebt es zu spielen, am liebsten mit anderen Kindern. Wasser ist ihre grosse Leidenschaft. Sie liebt phantastische Geschichten und Märchen. Gerne schreibt sie.

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N interessiert sich besonders für die Tierwelt, kann gut zuhören, diskutieren und Fragen hinterfragen.

O hat ein ausgeprägtes soziales Verhalten.

P kann gut rechnen und gut mit anderen Kindern spielen.

R kann sich gut ausdrücken und lange mit einer Aufgabe beschäftigen.

S ist sehr musikalisch, kontaktfreundlich und hilfsbereit.

T kann gut malen und singen, gut abschreiben, obwohl es ihm nicht beigebracht wurde.

Vor fünfzig Jahren saßen fünfzig und mehr Kinder in einer ersten Klasse. Heute haben wir manchmal das Gefühl, dass zwanzig Kinder schon zuviel sind. Was hat sich geändert? Achten wir heute mehr auf das einzelne Kind oder sind die Unterschiede zwischen den Kindern tatsächlich immer größer geworden?

In unseren ersten Berufsjahren hätten wir mit den unterschiedlichen Voraussetzungen der Kinder sicherlich große Schwierigkeiten gehabt. Heute sehen wir die Unterschiedlichkeit der Kinder als Chance und als Herausforderung, denn die Kinder in unseren Klassen regen sich auf vielfältige Weise gegenseitig an. Dies trägt sehr zur Bereicherung der Lernatmosphäre bei.

In vielen Montessori-Schulen gibt es altersgemischte Lerngruppen. Hier lernen die älteren Kinder von den jüngeren und die jüngeren von den älteren. Nach dem Wechsel der Stammgruppe sind die älteren dann eine Zeit lang wieder die jüngeren. So erhalten alle Kinder, eine Fülle von Möglichkeiten zu sozialen Erfahrungen. Von Lehrerinnen. die in altersgemischten Klassen arbeiten, haben wir erfahren, dass sich die Altersmischung sehr positiv auf die Sprachentwicklung auswirkt.

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Die Unterschiedlichkeit der Kinder zwingt uns als Lehrer dazu, die Kinder viel genauer zu beobachten als im traditionellen Unterricht, denn wir bemühen uns sehr darum, kein Kind links liegen zu lassen. Wir suchen deshalb ständig nach individuelle Anregungen und Hilfen für jedes einzelne Kind, zum einen, weil wir die Gefahr kennen, die darin liegt, dass einzelne Kinder übersehen werden, zum anderen, weil wir es als unsere Pflicht ansehen, dass sich unserer Lerngruppen im Lernniveau und im Lerntempo nach Möglichkeit im Rahmen der staatlichen Vorgaben bewegen.

Dies gelingt im allgemeinen gut, weil wir in unseren Klassen immer Kinder haben, die mit den besonderen Herausforderungen der Freiarbeit im Bereich der Selbsttätigkeit und der Selbstverantwortung vom ersten Schultag an sehr gut umgehen können. Diese Kinder besitzen häufig besonders gute sprachliche und gestalterische Ausdrucksmöglichkeiten. Sie verstehen jede Lektion mit dem Montessori-Material beim ersten Mal, sie können sich gut konzentrieren, sie können ihre Bewegungen angemessen steuern, sie besitzen ein Gespür für ihre Bedürfnisse und die Bedürfnisse der anderen Kinder ihrer Klasse. Solche Kinder sind, wie Montessori einmal sagte, vom ersten Schultag an „Meister ihrer selbst“.

Es gibt in unseren Klassen aber durchaus auch Kinder, denen es schwer fällt, sich angemessen zu bewegen, sich verständlich auszudrücken und für sich selbst zu sorgen. Diese Kinder beanspruchen uns manchmal in einer Weise, die uns an den Rand unser psychischen, physischen und fachlichen Möglichkeiten bringt. Dies geschieht vor allem dann, wenn die Eltern solcher Kinder glaubten, ein feindliches Verhältnis zur Schule aufbauen zu müssen, um von ihren eigenen Schwierigkeiten abzulenken.

Betrachten wir einen Augenblick einige Bilder solcher Kinder:

(Bilder vom ersten Schultag)

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Diese Bilder stammen von Kindern aus einem Bezirk in der Innenstadt von Berlin. Bei der schulärztlichen Untersuchung wurden bei keinem dieser Kinder besondere Auffälligkeiten festgestellt.

Wenn wir diese Bilder betrachten, haben wir eine Menge Fragen: Was ist mit den Händen? Wo sind die Füße, wo sind die Augen, wo sind die Ohren?

Bilder dieser Art stammen in der überwiegenden Mehrzahl von Jungen. Kinder, die mit sechs Jahren derartige Bilder malen, kommen keineswegs nur aus den sogenannten sozial benachteiligten Schichten.

Kinder, die sich selbst so zeichnen, wie wir es eben gesehen haben, bekommen nach unseren Erfahrungen später häufig Probleme beim Schreiben- und Lesenlernen, teilweise auch beim Rechnen mit den Montessori-Materialien. Manche von ihnen wehren sich gegen die Arbeit mit den Materialien oder versuchen sich vor der für sie mühevollen Arbeit zu drücken.

Diese Kinder haben oft große Schwierigkeiten, sich in eine Reihe zu stellen. Sie finden sich im Klassenraum nicht zurecht. Sie stoßen sich an Tischen, Schränken, und Stühlen. Arbeitsanweisungen, in denen Begriffe wie „vorne“, „hinten“, „neben“, „vor“, „nach“ enthalten sind, verstehen sie oft gar nicht oder nicht richtig.

Viele Missverständnisse zwischen Lehrern und Kinder sind damit vorprogrammiert. Wir haben lernen müssen, dass wir auch in Freiarbeit-Klassen mit der Entstehung von Teufelskreises aus Lern- und Verhaltensstörungen rechnen müssen.

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3.1.2 Die Fragen der Kinder.

Die Fragen der Kinder aus unseren Klassen geben uns eine Fülle von Hinweisen, wie diese Kinder denken und was sie im Augenblick beschäftigt. Wir sammeln immer wieder einmal ihre Fragen, schreiben sie auf und hängen sie als Anregung für die weitere Arbeit an eine Pinnwand.

Fragen von Kindern einer ersten Klasse(Quelle: Das Ergebnis einer Umfrage)

Wie ist der Urknall entstanden? Wie können Planeten entstehen? Wie fliegen die Vögel? Wenn der Mond eine Sichel ist, wie wird er dann wieder rund?

Wie können die Menschen reden? Wie ist der Mensch entstanden? Ich will etwas wissen über fliegende Fische! Warum gibt es Erdbeben? Warum rennen die Geparden so schnell? Woraus besteht der Jupiter? Wieviele Kinder sind hier in der Schule?

Haben sie sich auch über diese Fragen der Kinder gewundert? Nach den ersten Umfragen hatten wir noch versucht, diese Fragen zu beantworten. Es ist uns natürlich nicht gelungen. Inzwischen wissen wir, dass die Kinder gut damit umgehen können, dass wir oft genauso ratlos sind wie sie.

Gerne zeigen wir den Eltern die Fragen ihrer Kinder. Die meisten Eltern wundern sich über die Themen, mit denen sich ihre Kinder beschäftigen. Die Fragen der Kinder bieten immer eine gute Grundlage für ein Gespräch über die Frage, was die Schule heute leisten soll.

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3.1.3 Die Erwartungen der Eltern(Quelle: Ergebnis einer Umfrage)

Die Eltern von A wünschen sich ein offenes und ehrliches Leben und Lernen miteinander.

Der Vater von B will , dass sein Kind lesen, schreiben, malen und rechnen lernt.

Die Mutter von D hofft, dass ihr Kind in eine rücksichtsvolle Klassengemeinschaft kommt, dass das Selbstbewusstsein der Kinder gestärkt wird, und dass die Kinder in dem Lehrer eine Vertrauensperson haben.

Der Vater von E wünscht sich, dass sein Kinder lernt etwas mehr auf das zu hören, was man sagt.

Die Mutter von F erwartet, dass das Kind lernt, seine eigenen Interessen stärker zu vertreten und dass ihr Selbstbewusstsein gestärkt wird.

Die Eltern von G erwarten von der Schule, dass das Vertrauen in die eigenen Fertigkeiten und Fähigkeiten zunimmt und dass ein offener Umgang mit allen Kindern und Erwachsenen möglich ist.

Die Mutter von H wünscht sich, dass ihr Kind die Meinung von anderen akzeptieren lernt.

Der Vater von I hofft, dass sein Sohn selbsbewusster wird und geduldiger zuhören lernt.

K soll sich beim Lernen wohlfühlen.

L lässt sich leicht ablenken, die Mutter wünscht sich mehr Konzentrationsfähigkeit. Sie hofft, dass sich ihr Kind in die Gruppe einfügt und dass es mit Spaß und Freude zur Schule geht.

Die Mutter von M hofft, dass ihr Kind lernt ausdauernd zu sein und bei einigen Themen etwas interessierter.

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Die Eltern von N erwarten von der Schule, dass ihr Kind sich gut in die Gemeinschaft eingliedert und seinen Egoismus etwas abbaut. Sie hoffen, dass in der Schule Werte wie Moral, Anstand, gutes Reden und Benehmen nicht abhanden kommen.

Der Vater von O wünscht sich, dass sein Kind begreifen lernt.

Die Eltern von P erwarten, dass ihr Kind gern in die Schule geht und lernt, was nötig ist.

Die Eltern von S erwarten, dass alle Kinder in der Schule gleich behandelt werden.

Die Eltern von T berichten, dass ihr Kind im Augenblick sehr nervös ist. Sie bitten darum, dass ihrem Kind geholfen wird, damit es aus dieser Situation herausfindet.

Konnten sich Eltern vor der Einschulung ihres Kindes darauf vorbereiten, dass ihre Kinder bei uns eine andere Art des Unterrichts erleben werden, dann steht der erste Elternabend gewöhnlich im Zeichen eines lebhaften Erfahrungsaustauschs und im Mittelpunkt die Freude über alles, was die Kinder schon gelernt haben.

Im Lauf der Jahre haben wir mühsam lernen müssen, dass die erste Begeisterung der Eltern einer Klasse keineswegs eine Garantie für eine ruhige Arbeit in der Klasse darstellt. Immer wieder erleben wir, dass sich ein Teil der Eltern, die ihre Kinder ganz gezielt in einer Freiarbeitklasse angemelden, von der Montessori-Pädagogik wahre Wunderdinge erwarten.

Wir haben aus solchen Erfahrungen den Schluss gezogen, dass wir die Erwartungen der Eltern eher dämpfen sollten. Wir versuchen deshalb auch, die Probleme der Kinder, die sich in den ersten Wochen zeigen, deutlich zu benennen, damit sich die Eltern frühzeitig um eine außerschulische Unterstützung gesucht bemühen.

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3.2 An einem Donnerstag um acht.Eine Freiarbeit in einer ersten Klasse

Maria Montessori ging davon aus, dass nur ein Film das komplexe und vielschichtige Geschehen in einer Freiarbeit-Klasse wiedergeben könnte. Wir haben diese Idee aufgegriffen und eine Freiarbeit mit einer Videokamera gefilmt. Anschließend haben wir aufgeschrieben, was die wandernde Kamera für uns aufgezeichnet hat.

Januar 1997

Um 7.45 Uhr gehe ich mit meiner kleinen Video-Kamera in den Raum der 1e. Ich warte dort auf die Ankunft der Kinder.

Beim Betreten des Klassenraumes fällt die liebevolle und übersichtliche Gestaltung der Wände und der Regale auf.

An der Rückseite des Raumes stehen halbhohe Regale, so dass die Kinder ohne Mühe an alle Arbeitsmaterialien herankommen können. Neben den klassischen Montessori-Materialien stehen den Kindern Bastelmaterialien und Sachen zum Malen zur freien Verfügung.

An den Wänden hängen viele Arbeiten der Kinder, eine große Anlauttabelle, eine Uhr, ein Geburtstagkalender und die Planeten. Der Raum wird von Japan-Ballons erleuchtet. Diese Lampen geben ein angenehmes, den Raum betonendes Licht.

Statt eines Lehrertisches gibt es neben der Tür einen großen Schrank für die persönlichen Materialien der Lehrerin.

Die Tische der Kinder stehen zum Teil an der Fensterseite, zum Teil an der Türseite und zum Teil in der Mitte des Raumes. So konnte vor der Tafel eine große freie Fläche gewonnen werden, auf der die Kinder sich frei bewegen können. Hier gibt es auch die Möglichkeit zur Arbeit auf kleinen Teppichen.

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Die ersten Kinder kommen gegen 7.50 Uhr in den Klassenraum. Diese Kinder beginnen sofort mit einer Arbeit, obwohl es auf dem Flur zu dieser Zeit noch recht laut ist.

Ich beobachte Yildiz, wie er seine Schultasche an der Seite seines Tisches festmacht, anschließend seinen Turnbeutel in einen dafür vorgesehenen Korb legt und dann zu einem Tisch neben Tafel geht. Er holt sich einen Arbeitsbogen mit Schreib-, Lese- und Malübungen. An seinem Arbeitsplatz wählt er für seine Arbeit eine Reihe von Buntstiften aus, dann beginnt er mit der Bearbeitung des Übungsblattes. Er schreibt einen kleinen Text ab und malt die kleinen Bilder, die den Text erläutern, mit den bunten Stiften aus.

Lena holt sich die Holzbrettchen mit den Fühlbuchstaben aus Velour und die große Anlauttabelle von Kjellshög. Sie legt die Anlauttabelle vor der Tafel auf den Fußboden. Anschließend verdeckt sie die Abbildungen der Anlauttabelle mit den Buchstabentäfelchen aus dem Kasten mit den großen Buchstaben. Ich wundere mich über die Wahl dieser Arbeit, denn Lena konnte schon in der Vorschule lesen und schreiben.

Max kommt dazu und beobachtet Lena bei ihrer Arbeit. Wenig später stellt sich Ramon breitbeinig daneben, so, als ob er sich auf eine lange Wartezeit einrichten wollte.

Die meisten Kinder kommen kurz vor acht Uhr in die Klasse. Sie räumen ihre Taschen weg und beginnen leise mit einer Arbeit.

Kurz nach acht wird Konni von seinem Vater gebracht. Er spricht einige Worte mit der Lehrerin und verlässt dann sachte den Raum.

Immer mehr Kinder gesellen sich zu Lena und beobachten ihre Arbeit mit der Anlauttabelle.

Max und Ramon gehen von Lena weg. Sie necken sich und blödeln ein wenig herum, ohne dass sich die anderen Kinder stören lassen.

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Konni holt sich einen Arbeitsbogen und legt ihn an seinen Platz. Dann dreht er sich um und sucht im Zeitlupentempo in seiner Schultasche das Federmäppchen.

Einige Kinder unterhalten sich. Die meisten Kinder sitzen kurz nach acht an ihren Plätzen und arbeiten.

Konni öffnet nun ganz ganz langsam sein Federmäppchen, guckt sich dabei einige Male um, spricht mit sich selbst, gähnt und lässt sich von der Kamera stören. Nachdem er den passenden Stift gefunden hat, beginnt er ruckartig mit seiner Arbeit. Er schreibt einige Wörter von seinem Arbeitsbogen ab. Er wirkt dabei nicht recht zufrieden. Plötzlich dreht er sich um, kramt wieder in seiner Tasche und findet dann seine kleine Anlauttabelle. Mit Hilfe dieser Tabelle entziffert er nun die Wörter auf dem Arbeitsbogen.

Neben Konni sitzt normalerweise Christian. Im Augenblick robbt er aber auf dem Fußboden herum, weil er nach einer kleinen roten Perle sucht, die ihm gerade vom Tisch gerollt ist. Konni lässt sich durch Christian nicht im Geringsten stören.

Nach einigen Versuchen, hinter den Sinn der Wörter zu kommen, wendet sich Konni an seinen Nachbarn Marco. Gemeinsam erarbeiten sie sich nun den Satz auf dem Arbeitsbogen. Marco spricht Konni den Satz ganz langsam vor, so dass Konni die Laute und Zeichen gut miteinander verbinden kann.

Es ist nun 8.15 Uhr. Die letzten Kinder kommen in die Klasse. Einige werden von der Lehrerin begrüßt. Andere gehen gleich zu ihrem Platz. Zwei Kindern gibt die Lehrerin Hinweise für die Freiarbeit.

Ramon und Christian beginnen mit Knetarbeiten. Sie bewegen sich sehr ruhig, zielgerichtet und harmonisch.

Emine, ein Mädchen aus der Türkei, und Öczan, ein Junge aus demselben Kulturkreis, sitzen an einem Tisch und lösen Rechenaufgaben, die auf kleinen Kärtchen stehen. Ihre Lösungen vergleichen sie mit den Ergebnissen, die auf den Rückseiten der

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Kärtchen stehen. Ihre Mimik zeigt mir, dass sie mit Vergnügen bei der Sache sind.

Nicht weit weg sitzt Nesrin und liest ganz vertieft in einem Buch.

Yildiz beschäftigt sich noch immer mit seinem Arbeitsbogen.

Alle Kinder haben nun einen Platz gefunden und sitzen an ihren Aufgaben.

Frau Koch gibt einzelnen Kinder leise, kurze Hinweise, dann setzt sie sich wieder hin und beobachtet ihre Klasse.

Ich gehe nun auf den Flur, weil ich bemerkt habe, dass einige Kinder auf dem Flur arbeiten.

Lena sitzt dort neben David. Vor ihnen stehen die Holzfiguren, die zu der Anlauttabelle gehören. Zum Pinguin gehört das „P“, Zum Wolf das „W“, zur Giraffe das „G“ usw. Die Augen von David wandern über die Figuren, dann springt er plötzlich los. Er holt aus der Klasse das Buchstabentäfelchen mit dem „L“ und legt es zu dem kleinen Löwen aus Holz. Immer wieder rennt er los und holt ein passendes Täfelchen. Er sucht sich einen Anlaut, kombiniert Lautbild und Buchstabenzeichen im Kopf, vergleicht auf der Anlauttabelle seine Hypothese und legt dann das Buchstabenzeichen und den Gegenstand, der den Anlaut enthält, nebeneinander. Lena beobachtet David bei seiner Arbeit. Sie wartet geduldig, bis David passende Kombinationen hergestellt hat und gibt weder Kommentare noch Hilfestellungen. Erst als David keine Kombinationen mehr findet, stellt sie drei Holzfiguren (Kuh, Fuchs, Junge) direkt vor David auf. Diese winzige Hilfe genügt und David kann die Arbeit selbständig abschließen.

Neben dem Tisch stehen die ganze Zeit über Kinder und beobachten still das Geschehen.

Es ist nun 8.40 Uhr. Die Lehrerin sitzt nun bei einer Tischgruppe und beobachtet die Arbeit der Kinder. Während ich auf dem Flur war, hat sie einem Kind gezeigt, wie Schiffe aus Papier gefaltet

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werden können. Dieses Kind hat die Anregung aufgenommen, faltet Schiffe und zeigt dabei seinen Nachbarn, wie das geht.

Christian ist gerade mit dem Bau seines Prismas aus bunten Perlenstäbchen fertig geworden. Er geht nun zum Tisch an der Tafel und holt sich einen Arbeitsbogen.

Dragan beschäftigt sich mit einem Lottospiel. Er bemüht sich darum, Uhren mit gleichen Zeigerstellungen herauszusuchen. Sein Freund Yildiz legt den Arbeitsbogen in das Körbchen für die Korrekturarbeiten. Er wendet sich Dragan zu und darf beim Uhrenlotto mitspielen.

Frau Koch hat mittlerweile vier Kinder angeregt, Schiffchen aus Papier zu falten.

Mary liegt auf einem Arbeitsteppich und sortiert Zahlplättchen auf dem „roten Hunderterbrett“. Sie wollte eigentlich mit dem „blauen Brett“ die Zahlen von 1 bis 100 auslegen. Da dieses Brett vergeben war, begnügte sie sich mit dem „roten Brett“, das die nur die 1x1-Reihen enthält. Mary bemüht sich mit Hilfe des Lösungsbrettes darum, den Platz der Plättchen herauszufinden. Sie erarbeitet sich dabei erste Vorstellungen von der Funktion des Koordinatensystems und von den 1x1-Reihen. Sie löst sich schnell vom Aufbau eines linearen Musters und verteilt die Plättchen mit Hilfe des Lösungsbrettes frei auf der Gitterfläche.

Die Lehrerin geht nun zu Lajos. Sie liest ihm einige Seiten aus einem Janos-Buch vor. Lajos möchte dann selbst weiter lesen. Er lautiert ganz langsam. Mit dem Zeigefinger wandert er von Buchstabe zu Buchstabe. Bis zum Ende der Freiarbeit wird Lajos nun lesen. Ganz allein, sehr konzentriert.

Die meisten Kinder haben ihre erste Arbeit abgeschlossen und nach einer kleinen Paus eine zweite Arbeit geholt.

Es ist nun 9.15 Uhr. Einige Kinder arbeiten allein, andere zu zweit, wieder andere in kleinen Gruppen. Die Lehrerin sitzt lange Zeit mit dem Rücken zur Klasse. Nur wenige Kinder mussten zu einer Arbeit aufgefordert werden. Alle Kinder haben in dieser Freiarbeit

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gearbeitet. Kein Kind einziges Kind wurde bei seiner Arbeit gestört.

Die beiden Jungen, die gegen 8 Uhr mit dem Kneten angefangen haben, kneten immer noch: winzige Figürchen, Obst und Gemüse.

Eine Gruppe von Jungen baut nun aus den bunten Perlenstäbchen Türme.

Plötzlich stehen drei Mädchen auf, ziehen sich Jacken an und gehen die Treppe hinunter. Irritiert frage ich die Lehrerin, was die Kinder vorhaben. Die Kinder hatten sich ein Körbchen mit Leseaufgabe genommen und eine Aufgabe im Körbchen lautete: „Gehe auf den Hof und streichle die Bäume!“ Eine attraktive Aufgabe, wie mir die Lehrerin mitteilte.

Nach kurzer Zeit kommen die Mädchen wieder hoch und lesen die anderen Aufgaben.

Konni ist nun mit seinem Arbeitsblatt fertig, er wendet sich seinem Freund Christian zu und baut mit ihm weiter an dem Prisma aus den bunten Stäbchen. Nach und nach entsteht eine L-förmige Dachkonstruktion.

Die Lehrerin sitzt auf einem Stuhl neben der Türe. Sie beobachtet die Klasse. Hin und wieder kommt ein Kind vorbei, fragt etwas, sucht eine Anregung oder holt ein Lob.

Dann bittet Emine um die Kontrolle ihrer Rechenaufgaben. Jeden Tag stehen Aufgaben mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad an der Tafel. Emine hat die „Sonnenaufgaben“ gerechnet und will nun wissen, ob sie alle Aufgaben richtig gelöst hat. Für sie eine gute Möglichkeit, mit der Lehrerin zusammen zu sein. Als alle Aufgaben nachgesehen sind, geht Emine vergnügt zu ihrem Platz zurück.

Yildiz, Dragan und David haben sich Sachbücher aus der Bücherkiste geholt. Sie sprechen angeregt über die Bilder.

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Kurz vor dem Ende der Freiarbeit baut Nesrin auf dem Flur das Schlangenspiel auf. Sie möchte mit Duygu die Schlange aus bunten Stäbchen nach und nach in eine goldene Schlange aus Zehnerstäbchen verwandeln. Schnell entdeckt Duygu, dass Nesrin mit diesem Spiel überfordert ist. Sie zählt von diesem Moment an ganz langsam und deutlich vor, betont jeden Zehner besonders stark und überlässt Duygu das Hinlegen und Weglegen der Perlenstäbchen. Dieses Spiel geht fast die ganze Pause durch, während sich die anderen Kinder der Klasse auf dem Hof befinden.

3.3 Die ersten Rückmeldungen der Eltern(Quelle: Ergebnisse einer Umfrage)

Im Spätherbst haben wir die Eltern einer ersten Klasse gefragt, welche Veränderungen sie bei ihren Kindern in den ersten Schulmonaten beobachtet haben.

Z spielt mehr mit ihrer Schwester, kann anspruchsvollere Spiele spielen, ist selbstständiger beim Essen, übt Buchstaben schreiben, zeigt mehr Interesse und Verständnis beim Fernsehen, hat Lieblingsfilme.

D hat ein ungeheueres Gerechtigkeitsempfinden entwickelt, Frieden, Streit und Krieg sind für ihn plötzlich große Themen. Er schreibt viel, vor allem selbst erfundene Lieder und Geschichten. Er stellt viele wissenschaftliche Fragen, ist noch vergesslicher geworden, liebt Schreibmaschinen, klagt über die kurze Zeit des Tages, dass er keine Zeit mehr zum spielen habe, sagt, es gehe ihm oft nicht gut im Kopf, ist in den letzten 4 Wochen sehr streitsüchtig.

E ist aufgeschlossener geworden gegenüber Themen wie Natur, Erdgeschichte, Entstehung der Lebewesen, liest begierig Überschriften und Aufschriften, rechnet und bittet um Rechenaufgaben.

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G ist selbstbewusster und selbstständiger, hat weniger Hemmungen vor neuen Dingen, ist sportlicher, aktiver und zeigt einen grösseren Bewegungsdrang, guckt mehr auf andere, denkt nicht nur an sich, schätzt die Leistungen der anderen Kinder, liest ihrem Bruder kleine Bücher vor.

H geht mit etwas mehr Freude zur Schule, möchte oft nicht, dass ich ihm abends vorlese, versucht selbst etwas vorzulesen. Wenn wir unterwegs sind, ist er ständig damit beschäftigt Worte zu lesen, die auf irgendeinem Reklameschild stehen. Beim Einkaufen will er genau wissen, wieviel Geld ich der Kassiererin gegeben habe, um mir dann zu sagen , was ich zurückbekommen müsste.

I ist selbstständiger geworden. Seine Lieblingsbeschäftigungen sind Rechnen, Lesen und Schreiben. Er rechnet schon morgens auf dem Schulweg, schreibt allen die er kennt Briefe und liest uns jeden Abend etwas aus der Fibel vor. Er hilft freiwillig und sehr gerne im Haushalt. Er schläft jeden Abend völlig fertig ein. Früher brauchte er dafür sehr lange. Ganz toll findet er das UNO-Spiel, er zählt immer alle Punkte zusammen.

K ist viel ernster geworden, eigentlich zu ernst, er möchte arbeiten und kaum noch spielen. Sein Interesse gilt dem Schreiben und Rechnen. Spielzeug liegt in der Ecke. In den 3 Monaten hat er die Buchstaben gelernt, was ich ganz toll finde. Allerdings hat er immer noch nicht den Mut, Schreiben und Lesen auszuprobieren und auch Fehler zu machen. Insgesamt sind wir mit seiner Entwicklung sehr zufrieden, denken aber er sollte nachmittags auch irgendwann abschalten können.

L buchstabiert gerne, zeigt Interesse am PC und an der Schreibmaschine, malt mehr als früher, singt mehr, hat einen größeren Wortschatz, ist etwas selbstbewusster und einsichtiger. Sein soziales Bewusstsein ist größer geworden. Er wirkt auch verantwortungsbewusster.M stellt mich öfter in Frage, das finde ich angenehm, weil ich ihr auf diese Weise öfter als sonst sagen kann, was ich selbst meine und denke. Obwohl ich alles schon einmal zuvor gesagt habe,

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habe ich jetzt gemerkt, dass einiges von meinem Kind gar nicht verstanden war, sondern nur akzeptiert. Es ist gerade sehr schön mit meinem Kind und ich habe den Eindruck, dass die Lehrer der Klasse Teil von M. Familie geworden sind.

N ist selbstständiger geworden, geht alleine nach Hause und zum Bäcker, hat angefangen Sport zu treiben, zeigt mehr Interesse Buchstaben zu lernen (seit 2 Wochen), erzählt nichts mehr über Gemeinheiten gegenüber Mädchen.

J erzählt etwas mehr über ihr Schulleben. Unsere neugierigen Fragen weist sie: „Ich muss doch nicht alles erzählen“, selbstbewusst zurück. Ihr Schwimmabzeichen hat ihr Mut gemacht, mit der Hortgruppe schwimmen zu gehen. Kurze Sätze kann sie sinnerfassend lesen.

ST rechnet schneller, fängt an zu lesen und zu schreiben, ist noch aufgeweckter und aktiver, erzählt jetzt doch schon mal über Ärgernisse in der Schule.

CH möchte, dass man ihm zuhört. Er legt besonderen Wert darauf, ausreden zu dürfen. Er spielt wieder intensiver. Jeden Tag will er etwas abschreiben. Seiner Schwester sagt er, sie würde das alles doch noch nicht verstehen, was er jetzt machen müsse. Ganz wichtig ist für ihn, dass sein Heft in der Schule voll wird , damit er ein neues anfangen kann.

Wir staunen über die Fülle der Beobachtungen und freuen uns im Stillen ein wenig über die Vielfalt der Veränderungen.

Wir sind natürlich froh, wenn die Eltern mit unserer Arbeit und der Arbeit ihrer Kinder zufrieden sind. Die Erfahrung hat uns aber gelehrt, dass die Zustimmung der Eltern zur Freiarbeit in der Anfangsphase stets groß ist, dass es in zweiten und dritten Schuljahren dann fast immer zu Konflikten kommt und dass es von unserer Überzeugungskraft und von der Haltung der Eltern abhängt, ob und wie die Freiarbeit dann weitergeführt werden kann.

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„Nun müssen wir mit Verblüffung feststellen, dass Kinder, die ohne diese systematische Lenkung vor Eintritt der Schule lesen und schreiben lernen, völlig andere Lern-zugriffsweisen an den Tag legen.“

Die Grundschulzeitschrift, Heft 12/1988

3.4 Lesen und Schreiben

Erstklässler singen gern das Lied „Alle Kinder lernen lesen, Indianer und Chinesen, selbst am Nordpol lesen alle Eskimos! Hallo Kinder jetzt geht`s los!

Lernen alle Kinder lesen? Warum gibt es in unserem Land trotz einer neun- bis zehnjährigen Schulpflicht weit mehr als drei Millionen erwachsene Analphabeten? (FAZ, 20.4.1993)

Warum konnten im Mittelalter viele Mönche schreiben, aber nicht lesen? Warum konnten damals viele Priester und Bischöfe lesen, aber nicht schreiben?

Bis heute weiß niemand ganz genau, wie Lesen tatsächlich gelernt wird. Die Vorgänge, die zum Lesen gehören, können trotz aller Bemühungen der Wissenschaftler bis heute nicht lückenlos aufgeklärt werden.

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Wenn wir uns mit dem Lesen- und Schreibenlernen der Schulkinder befassen, bewegen wir uns also keineswegs auf festem Grund, sondern auf einem Feld mehr oder weniger gesicherter Hypothesen. Dies gilt auch für die „Methode“ Maria Montessoris:

„Unser Experiment, das mit Kindern zwischen drei und sechs Jahren 1907 begann, ist, wie ich glaube, das erste und einzige Beispiel des Schreibunterrichts, das ohne die Verwendung von Büchern die graphischen Zeichen des Alphabets unmittelbar mit der gesprochenen Sprache verband. Das wunderbare und unerwartete Ergebnis war, dass das Schreiben `explosiv´ hervorkam, wobei es mit vollständigen Wörtern begann, die pausenlos aus dem Geist der Kinder herabregneten.“ (EfenW: 165f.)

Halten wir fest: Im Kinderhaus fingen die Kinder plötzlich an, ganze Wörter zu schreiben. Zunächst konnten die Kinder die Wörter, die sie geschrieben haben, noch nicht lesen, denn Wörter sind zunächst einmal nur Reihen von Buchstaben.

(Erstes lautierendes Schreiben)

Sie werden dann aber zu kleinen Einheiten, die einen Sinn ergeben, der von anderen Menschen entschlüsselt werden kann, weil es relativ eindeutige Beziehungen zwischen den Zeichen des Alphabets und den Lauten unserer Sprache gibt.

(Erste Sinneinheiten)

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Das System der alphabetischen Schrift schafft die Möglichkeit, jede Sprache der Welt in ihre Laute zu zergliedern und diese Laute optimal wiederzugeben. Die alphabetische Schrift als Werkzeug des Geistes gibt uns damit die Möglichkeit, unsere Gedanken festzuhalten und diese dann anderen Menschen zur Verfügung zu stellen.

Wer einmal das Glück hatte und dabei sein durfte, wie kleine Kinder zum ersten Mal lautierend schreiben und dann fragen: „Was habe ich da geschrieben?“ spürt etwas von der Magie, die sich hinter den Anfängen der Kunst des Schreibens verbirgt:

„Die Grundlage dieser Übungen ist offenbar die Zerlegung der Wörter, also das Spelling, das Buchstabieren. Es ist eine gänzlich innere Übung, die es ermöglicht, eine Überprüfung der eigenen Sprache in ihren Bestandteilen vorzunehmen. Dies hat das Kind noch nie getan und konnte es auch nicht tun, ohne den durch diese sichtbaren und beweglichen Zeichen gegebenen Schlüssel zu besitzen. Auf solche Weise entdeckt das Kind seine eigene Sprache.“ (EfenW: 169)

Immer wieder wurden neue Schreib- und Leselehrgänge entwickelt, die den Kindern dabei helfen sollten, schnell lesen und schreiben zu lernen. Das Wort LehrGang sagt im Grunde schon, dass es nicht um das Entdecken der Schrift geht, sondern um die Technologie des Lehrens, das heißt um die Verminderung der Vielfalt der Zugänge zur Welt der Schrift.

Das Entdecken, Erfinden und Ausprobieren durch die Kinder wird ersetzt durch vorgegebene Wege, auf denen es nur ein Gesetz gibt: Weiter! Weiter! Weiter! Aber nur nach der Anweisung der Lehrerin. In manchen Schulen wird den Kindern deshalb verboten, in ihrer Fibel weiterzublättern. „Warum?“, fragt das Kind. „Weil du dich in der nächsten Woche nicht langweilen sollst!“

Der Glaube, dass das erste Schuljahr und das Lernen im Gleichschritt die günstigsten Bedingungen für das Lesen- und Schreibenlernen der Kinder bietet, ist auch der Grund, warum in

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den Kindertagesstätten der Wunsch der Kinder, ihrem inneren Antrieb folgend mit dem Schreiben und Lesen zu beginnen, entgegen allen Erfahrungen nur selten unterstützt wird.

Maria Montessori hat bei ihren Versuchen in ihrem Kinderhaus herausgefunden, dass Kinder mit vier bis fünf Jahren die geschriebene Sprache viel leichter lernen als mit sechs, sieben oder acht Jahren:

„Während die Kinder im Alter von sechs Jahren mit großer Mühe und hoher Anstrengung wider ihre Natur mindestens zwei Jahre auf das Erlernen des Schreibens verwenden müssen, lernen die vierjährigen Kinder die zweite Sprachform innerhalb weniger Monate.“ (EfenW: 159)

Diese „Entdeckung“ hat zum Welterfolg der Montessori-Pädagogik beigetragen. Es ist heute weitgehend wieder verlorengegangen.

Dennoch können wir davon ausgehen, dass es in der kindlichen Entwicklung offenbar eine vorübergehende Phase mit einer besonderen Sensibilität für das Schreiben- und Lesenlernen gibt:

„Wenn nämlich die so genannte obligatorische Erziehung mit sechsjährigen Analphabetenkindern beginnt, trifft diese auf große Schwierigkeiten, weil in dieser Lebensphase das Erlernen des Lesens und Schreibens Zeit und Energie vergeudet und den Kindern eine unfruchtbare geistige Anstrengung auferlegt, die eine gewisse Abneigung gegenüber dem Lernen und jeder intellektuellen Unterrichtung determiniert. Sie beseitigt den Hunger nach Wissen, bevor sie beginnt, sich davon zu ernähren.“(EfenW: 159)

Wer diese Zusammenhänge kennt und dann vor die Aufgabe gestellt ist sechs- und siebenjährigen Kindern zu helfen, schreiben und lesen zu lernen, hat mehrere Möglichkeiten. Bei Unterrichtsbesuchen haben wir gesehen, dass Schreib- und Leselehrgänge auf der Grundlage von Fibeln parallel zur Freiarbeit angeboten wurden. Wir haben auch erlebt, dass Aufgaben zum Schreiben und Lesen lernen in eine Art Wochenplan aufgenommen wurden.

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Beide Alternativen haben uns nicht sonderlich überzeugt, weil sie das offene System des Lehrens und Lernens in der Freiarbeit in Frage stellen. So suchten wir nach Möglichkeiten, wie Kindern, die „zu spät“ lesen und schreiben lernen, die Wege in die Welt der Schrift geebnet werden könnten.

Wir haben dann in Integrationsklassen und in Klassen mit einem hohen Ausländeranteil nach Antworten auf diese Frage gesucht. Unsere Arbeit wurde dadurch erschwert, dass wir zunächst nicht die auf Erfahrungen von Kolleginnen und Kollegen zurückgreifen konnten, dass wir bei unseren Beobachtungen auf eine Fülle von sensomotorischen Auffälligkeiten bei den Kindern stießen, dass wir uns in ersten Schuljahren mit Entwicklungsdifferenzen von drei bis vier Jahren auseinandersetzen mussten, dass die Unterschiede zwischen den Kindern das Malen und Zeichnen, den Mengenbegriff, den Zahlbegriff und die grob- und feinmotorische Kompetenz betrafen. Hinzu kam, dass wir in jeder dieser ersten Klasse auch Kinder hatten, die bereits lesen und schreiben konnten, bevor sie in die Schule geschickt wurden.

(Geschichte von Felix)

Abb. Geschichte eines Erstklässlers nach acht Schulwochen

Die Kinder unserer ersten Klassen zeigten uns, dass sie die klassischen Montessori-Materialien zum Schreiben und Lesen nicht attraktiv fanden. Weder mit den berühmten

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Sandpapierbuchstaben, noch mit den ausgeschnittenen Buchstaben, noch mit den metallenen Einsätzen zum Training der Handmotorik konnten sich diese Kinder anfreunden. Damit gab es in unseren Klassen keine geeigneten Arbeitsmaterialien für das Schreiben- und Lesenlernen im Rahmen der Freiarbeit.

Wir versuchten dann, neu nachzudenken über die Frage der individuellen Zugänge zum Schreiben- und Lesenlernen. Wir suchten in erster Linie nach Handlungsmöglichkeiten, die alle Kinder ansprechen könnten und Kinder mit besonderen Schwächen oder Stärken nicht diskriminieren sollten.

Wir konnten dann beobachten, dass sich die Kinder für die Lesekästchen interessierten, für kleine Gegenstände, die das freie Schreiben anregen sollten, für die Sandkiste zum Spuren von Zeichen, für die Lesedosen, für die Leseröllchen, für die Buchstabenkästen und für die „Schatzkiste“ mit den Anlauten und „Geheimnissen“.

Wir suchten dann nach einem Material, dass es auch älteren Kindern ermöglichten sollte, einen Überblick über das gesamte System der alphabetischen Schrift zu bekommen. Wir gaben den Kindern zunächst die Anlauttabellen von Jürgen Reichen und Gudrun Spitta. Wir kamen zu dem Ergebnis, dass ein großer Teil der Kinder auf der Grundlage dieser Materialien erfolgreich lesen und schreiben gelernt haben. Ein Teil der Kinder in Berlin hatte allerdings Schwierigkeiten, sichere Beziehungen zwischen den Bildern und den Schriftzeichen auf der Anlauttabelle herzustellen.

Wir suchten deshalb nach Alternativen und stießen dann durch einen Zufall auf das Buchstabenmaterial von Hannelore Kjellshög, das sie für geistig behinderte Kinder entwickelt hatte. Ihr Material hat den Vorteil, dass es nicht nur eine Anlauttabelle mit farbigen Bildern und den dazugehörigen großen und kleinen Buchstaben umfasst, sondern auch Veloursbuchstaben auf Holztäfelchen zum Fühlen der Buchstabenformen und Holzgegenstände, die mit den Bildern der Anlauttabelle identisch sind.

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(Kjellshög-Anlauttabelle)

Die Kinder erhalten mit der Buchstabentabelle einen Überblick über das System der alphabetischen Schriftsprache. Wenn sie mit dieser Tabelle arbeiten, tauchen sie ein in die Kulturgeschichte unserer Schrift, denn sie stellen die Beziehungen zwischen den Gegenständen, den Bildern und den Schriftzeichen im Handeln selbst her. Die Kjellshög-Tabelle bietet den Kindern eine Fülle von Handlungsmöglichkeiten.

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Wir haben beobachtet, dass Kinder mit Lernstörungen bis weit ins dritte und teilweise sogar bis ins vierte Schuljahr hinein immer wieder gern mit der Kjellshög-Tafel, den dazugehörigen Gegenständen und mit den Bild- und Wortkarten arbeiten.

Die Funktion der Tabelle ist mit der Erarbeitung der Zusammenhänge von Lauten, Gegenständen und Zeichen bei weitem nicht erschöpft. Die besondere Gestaltung der Tafel bereitet die Kinder darauf vor, die Buchstabenzeichen alphabetisch zu ordnen und die Zeichen nach Vokalen und Konsonanten zu sortieren.

Die Kinder erfahren in der Arbeit mit der Buchstabentafel, dass es zwischen der geschriebenen und gesprochenen Sprache Differenzen gibt. (c und k, i und y, v und f usw.)

Die Kinder erfahren in der Arbeit mit der Tafel, dass Bilder zweideutig sein können. So zum Beispiel, wenn auf der Buchstabentabelle eine Taube ein „Vogel“ sein soll oder ein Fisch ein „Delphin“.

Die Kinder erleben die Grenze der Tabelle, wenn sie das „Ze“ dem Clown zuordnen müssen, wenn sie nach dem „ä“, dem „ö“, dem „ü“ suchen, wenn sie ein Schriftzeichen für „ng“ brauchen, oder wenn sie „pf“, „sch“ oder „ch“ schreiben wollen.

Im Laufe der Zeit haben wir dann erlebt, dass die Buchstabentafel von Kjellshög eine brauchbare Grundlage für die Einführung in die Kultur des Lesens und Schreibens in der Freiarbeit bildet.

Die Kinder können mit der Tafel selbstständig arbeiten, wenn sie einige Gegenstände benennen können und wenn sie zu einigen Gegenständen Bilder und Buchstaben zuordnen können. Die Buchstabentafel ist nach unseren Beobachtungen eine geeignete Grundlage für das lautierende Schreiben. Ein Beispiel:

Wenn Kinder lautierend schreiben, schreiben sie das Wort „Eis“ nicht so, wie wir es gewöhnlich tun. Sie lautieren das Wort „Eis“ ganz langsam und hören dann vielleicht die Laute „A-E-S“. Wenn wir das Wort „AES“ lesen, dann kommen wir zunächst vielleicht

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gar nicht dahinter, dass es sich um das Wort „Eis“ handeln könnte. Versuchen wir, uns in die Situation der Kinder zu versetzen und sprechen wir die drei Buchstaben A - E -S erst langsam und dann immer schneller, dann kommt irgendwann einmal der Moment, in dem wir spüren, dass das Wort „Eis“ gemeint sein könnte.

Schreiben Kinder ohne zu schreiben?

In unseren Klassen gibt es immer wieder Kinder, die gerne schreiben möchten, aber noch nicht schreiben können, weil sie den Stift nicht halten können oder weil sie sich die Formen der Buchstaben noch nicht merken können. Diesen Kindern helfen wir, indem wir ihnen Buchstabenkarten, Stempelkästen, eine kleine Stempeldruckerei oder eine Schreibmaschine geben. Immer wieder können wir Kinder beobachten, die Schreiben lernen, indem sie kleine Büchlein durchpausen oder indem sie Wörter oder ganze Seiten aus Büchern abschreiben.

Die Vorbereitung des Schreibens

Die meisten Kinder, die in die Schule kommen, zeigen uns, dass sie schreiben lernen möchten. Sie sind bereit, auch längere Texte von der Tafel abzuschreiben.

Kindern, die damit Schwierigkeiten haben, geben wir Sandpapierbuchstaben und wenn sie diese ablehnen, Holztäfelchen mit Veloursbuchstaben. Die Kinder können diese Buchstaben mit den Fingern fühlen, sie können die Buchstabentäfelchen ordnen, sie können die Buchstabentäfelchen auch als Vorlagen nehmen für das Schreiben in der Sandkiste. Bei diesen Übungen verknüpfen sich optische und haptische Muster nach und nach zu Sinneseindrücken, die dann nicht mehr vergessen werden.

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Haben Kinder größere Probleme bei der Orientierung im Raum, können sie „links“ und „rechts“ nicht sicher unterscheiden, haben sie Probleme mit der Orientierung im Raum oder große Mühe, irgendwelche Gegenstände, die sie weggeräumt haben, wiederzufinden, dann regen wir sie dazu an, zu bauen, zu basteln, mit den Montessori-Sinnesmaterialien zu arbeiten oder mit den Materialien zu den „Übungen des täglichen Lebens“.

Lernen Kinder erst lesen und dann schreiben?

In unseren ersten Klassen gibt es viele Kinder, die zuerst lesen und dann schreiben lernen. Wir führen das darauf zurück, dass diese Kinder geduldige Eltern oder Geschwister hatten, die ihnen beim Lernen der Buchstaben geholfen haben.

Kinder, die zuerst schreiben und dann lesen lernen sind in unseren ersten Klassen eher die Ausnahme. Für diese Kinder haben wir eine Fülle von Schreibanregungen in der Klasse. Dazu gehören kleine Gegenstände, Bildkarten, bunte Papiere, Stifte in unterschiedlicher Art, bunte Papierstreifen und Papiere mit unterschiedlichen Lineaturen.

Anlässe zum Schreiben

Bunte Papierstreifen, bunte Mal- und Schreibblätter, einen Ordner für die Eigenfibel mit dem Foto und dem aufgedruckten Vornamen des Kindes, Hefte mit unterschiedlichen Lineaturen, ein Tagebuch und das Mitteilungsheft für die Eltern bilden die Grundlage für die Schreibarbeiten der Kinder in unseren Klassen. Nach und nach entdecken Kinder die Möglichkeit, Texte für die Klasse zu verfassen oder auch Einladungen und Plakate für die Eltern und die Nachbarklassen. Andere Kinder fangen irgendwann damit an, Briefe zu schreiben, Texte zu Fotos zu verfassen oder Geschichten zu selbst gemalten Bildern zu schreiben. Im Laufe des ersten, spätestens aber im zweiten Schuljahr haben dann alle Kinder kleine Geschichten geschrieben, die auf Wunsch der Kinder im Stuhlkreis vorgelesen und kommentiert werden.

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Das Lesematerial

Da wir seit vielen Jahren keine Fibeln mehr kaufen lassen, mussten wir uns Gedanken machen, welche Lesematerialien wir den Kindern als Ersatz für die Lesebücher geben. Das erste Lesematerial ist natürlich das, was das Kind selbst geschrieben hat. Hier erlebt es die Magie der Schrift.

Nach und nach entdecken die Kinder die Lesekästchen mit Wortkarten und kleinen Gegenständen, die Lesehefte der Regenbogenkiste, Sachbücher unterschiedlichen Schwierigkeitsgrades, Backrezepte und Bastelanleitungen und anderes Lesematerial, dass wir nach und nach in die Klassen geben.

Lesen durch Schreiben durch Lesen?

Den Streit, ob das Lesen vor dem Schreiben oder das Schreiben vor dem Lesen kommt, überlassen wir gern der akademischen Diskussion. Im Alltag unserer Klassen hängt dies ganz allein von Entscheidungen des einzelnen Kindes ab. In der Realität suchen sich die Kinder das aus, was ihnen wichtig ist. Nach und nach verknüpfen sie die verschiedenen Teilleistungen, die für das Lesen und Schreiben erforderlich sind und zu irgendeinem Zeitpunkt können sie dann zuerst lesen oder zuerst schreiben. Wir denken, dass es zum Teil auch von der Gestaltung der Lernumgebung abhängt, ob Kinder zuerst lesen oder schreiben lernen.

Immer wieder erleben wir Kinder, die gar nicht wissen, dass sie bereits lesen oder schreiben können. Sie staunen, wenn man ihnen sagt, dass sie eben etwas gelesen oder geschrieben haben. In unserer eigenen Schulzeit war es noch üblich, dass „Lesen“ mit

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„Vorlesen“ verwechselt wurde. Man glaubte, dass Kinder lesen lernen, indem sie etwas vorlesen. Wir haben aber darauf zu achten, dass Lesen und Vorlesen keineswegs dasselbe ist. Ein Kind, dass für sich selbst still liest, sucht nach dem Sinn des Gelesenen, es konstruiert für sich eine Bedeutung und findet darin eine Befriedigung. Das ist der Weg zum Lesen, den die Kinder in der Freiarbeit gewöhnlich gehen.

Kinder, die lesen lernen sollen, indem man von ihnen verlangt, laut vorzulesen, lernen dabei ganz sicher,wie Zeichen in Laute umgesetzt werden. Sie können irgendwann vorlesen, wenn man sie dann fragt, was sie gelesen haben, können sie keine Antwort geben.

Viele Kinder scheitern in den höheren Klassen, weil sie Arbeitsaufträge oder „Sachaufgaben“ nicht verstehen können. Wir versuchen die Entstehung des funktionellen Analphabetismus zu vermeiden. Es ist deshalb ein zentrales Anliegen unserer Arbeit, den Kindern die grundlegende Idee der Schriftsprache nahe zu bringen.

Die Kinder hören die Laute und ordnen ihnen die passenden Buchstaben zu. So schreiben sie, wie wir bereits gehört haben, das Wort „Eis“ zunächst häufig mit den Buchstaben A - E - S. Sie schreiben „Vater“ als „Vata“, weil sie dieses Wort so gehört haben. Nach und nach entdecken die Kinder, dass es viele Unterschiede zwischen der gesprochenen und der geschriebenen Sprache gibt. Sie entdecken, dass es keineswegs zu jedem Laut ein Zeichen und zu jedem Zeichen genau einen Laut gibt.

(Beispiele für lautierendes Schreiben)

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Im Wort „Sonne“ finden Kinder, die lautierend schreiben, zum Beispiel ein völlig anderes „O“ als in dem Wort „Ohr“. Trotzdem müssen sie beide Male ein „O“ schreiben. Über das Training der differenzierten Wahrnehmung beim Lesen und beim Schreiben entwickeln sich Lese- und Schreiblernprozesse, die sich vom Lesen- und Schreibenlernen mit der Fibel deutlich unterscheiden. Die Kinder trainieren beim lautierenden Schreiben intensiv die Wahrnehmung ihrer Sprechmuskulatur. Sie spüren die Wirkung der Klänge im Brustraum und im Bauch. Sie sind beim Schreiben ihrer kleinen Texte nicht allein. Sie arbeiten mit anderen Kindern zusammen. Sie können sich Hilfe holen und sie schreiben immer genau das, was sie sich selbst vorgenommen haben.

Einige Male haben wir erleben können, dass Kinder mit leichten Sprachstörungen auf diesem Weg zu einer besser verständlichen Aussprache gekommen sind.

Kindern beim Schreibenlernen zuzusehen ist in der Freiarbeit leicht möglich. Nur selten können wir Kinder beim Lesenlernen zu beobachten. Manchmal gibt dazu Möglichkeit, und wir können einen winzigen Augenblick lang dabei zuhören, wie ein Kind Buchstaben zu einem Wort oder zu einem Satz zusammenzieht.

Immer wieder staunen wir, dass Kinder von denen wir dies noch nicht erwartet hatten, plötzlich lesen können. Diese Kinder lesen dann keineswegs die „leichten“ Wörter, sondern praktisch alles, was sie lesen wollen. Wenn Kinder spontan mit dem Lesen beginnen, dann ist dieses Lesen immer verbunden gewesen mit dem Verständnis für den Inhalt der Texte.

Wir wissen, dass wir eine große Verantwortung tragen, wenn wir Kindern die Freiheit geben, auf ihren eigenen Wegen die Welt der Schrift zu entdecken. Wir beobachten das Schreiben- und Lesenlernen der Kinder in der Freiarbeit deshalb sehr sorgfältig und greifen ein, wenn wir spüren, dass ein Kind Auffälligkeiten

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zeigt, die es daran hindern könnten, selbsttätig und selbstverantwortlich lesen und schreiben zu lernen. Dies gilt selbstverständlich für die „Integrationskinder“, aber natürlich auch für die Kinder mit emotionalen und sozialen Störungen und für die Kinder mit sensomotorischen Auffälligkeiten.

Die Rechtschreibung

Die Arbeit mit den Anlauttabellen führt dazu, dass Kinder sehr schnell, oft schon in den ersten Schulwochen eine besondere Sensibilität für die Rechtschreibung gewinnen: „Schreibt man Fenster mit Vogel-Ef oder mit Fuchs-Vau?“ „Z-a-ng-e? - Ich kann Zange nicht schreiben, kannst du mir helfen?“ „Warum schreibt man manchmal kleine Buchstaben und manchmal nicht?“

Wenn die erste Gruppe der Klasse einigermaßen zügig schreiben kann, dann geben wir diesen Kindern jede Woche ein kleines Laufdiktat. Diese Diktate mit fünf oder sechs Wörtern hängen wir in den Flur. Die Kinder können die Wörter lesen, in der Klasse in ihr Heft schreiben und dann auf dem Flur korrigieren. Diese Laufdiktate werden von den Kindern so sehr geliebt, dass einige Kinder Laufdiktate schreiben, obwohl sie noch gar nicht lesen können. Diese Kinder prägen sich einen Text Buchstabe für Buchstabe ein und schaffen es auf diese Weise manchmal, zwanzig oder dreißig Wörter zu „schreiben“, das heißt Buchstabe für Buchstabe zu übertragen.

Wenn die erste Gruppe der Kinder Laufdiktate mit ungefähr zwanzig Wörtern einigermaßen fehlerfrei schreiben kann, dann geben wir diesen Kindern die Möglichkeit, Laufdiktate und Kassettendiktate zu schreiben. Bei den Kassettendiktaten, die von den Kindern in eigener Regie geschreiben werden, lernen die Kinder genau zuzuhören ohne dass ein Erwachsener dabei ist und „gute“ Ratschläge erteilt.

Die Bereitschaft der Kinder, ihre eigenverantwortlich geschriebenen Diktate selbständig zu korrigieren, ist immer sehr groß.

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Einmal hatte einer von uns eine empörte Mutter getroffen, die sich darüber beschwerte, dass ihr Sohn wochenlang das gleiche Diktat üben müsste. Er wunderte sich, denn zu dieser Zeit hatte er keine Hausaufgaben aufgegeben. Am nächsten Tag fragte er ihren Sohn, dieser ärgerte sich über seine Mutter: „Ich wollte doch einmal ein Diktat ganz richtig schreiben!“ Dieser Junge heißt Steffen.

Er war zunächst Schüler der Nachbarklasse. Er besuchte uns oft, weil wir eine Schreibmaschine hatten. Meistens hämmerte er unkontrolliert auf der Schreibmaschine herum und verschwand dann wieder. Von seiner Lehrerin erfuhr ich, dass er in ihrem Unterricht häufig stundenlang unter seinem Tisch saß und vor sich hin dämmerte. Von den Kindern wurde er „Schielauge“ gerufen. Steffen schielte aber nicht, er verdrehte den Kopf, wenn er einen Gegenstand genau betrachten wollte. Am Ende des Schuljahres sollte Steffen sitzenbleiben und in meine Klasse wechseln. Dies war Steffens Wunsch und ich hatte nichts dagegen.

Steffens Mutter lehnte ihren Jungen emotional ab, weil er wegen seines merkwürdigen Verhaltens abstoßend wirken würde. Sie stimmte nach einigem Zögern einer Spieltherapie für den Jungen ein. Der Therapeut stärkte Steffens Selbstbewusstsein und versuchte, die Beziehung zwischen Sohn und Mutter zu verbessern. Ich bemühte mich um angemessene Arbeitsmöglichkeiten für den Jungen, fand aber nichts, was Steffen längere Zeit fesseln konnte. Von der Schreibmaschine ging schon lange kein besonderer Reiz mehr aus. Nach und nach begann ich, an meinen Fähigkeiten zu zweifeln.

Eines Tages bat mich Steffen um Pappe und ganz viel Kleber. Die Pappe musste er selbst besorgen, Kleber hatte ich. Von diesem Tag an baute Steffen viele Monate lang in jeder Freiarbeit fantasievolle und funktionsfähige Pappmodelle. Besonders faszinierend fand ich seine Autowaschanlage. Für den Transport der Autos hatte sie eine eigene Vorrichtung mit einem Schlitten. Dieser musste mit einer Kurbel durch einen Karton gezogen werden. Der Karton hatte oben eine Öffnung für einen Trichter.

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Dort füllte Steffen das Waschwasser für die Autos ein, während er die Fahrzeuge langsam durch die Waschanlage kurbelte.

Besonderen Anklang bei den anderen Kindern fand Steffen mit seinem selbstgebauten Fernsehapparat. Einen großen flachen Karton hatte er an einer Seite aufgeschnitten. Dies war der „Bildschirm“. Oben und unten erhielt der Karton eine Kurbel aus Ästen. Auf den Kurbeln befestigte Steffen einen mehrere Meter langen Streifen mit Bildern in der Größe des „Bildschirmes“. Diesen „Zeichentrickfilm“ spulte Steffen dann zur Freude der Kinder ganz langsam und mit lustigen Kommentaren ab.

In Montessori-Klassen ist es üblich, ausgiebig die Geburtstage der Kinder zu feiern. Als Steffen Geburtstag hatte, fiel ihm ein, dass er kein Geschenk von seinem Vater bekommen hatte, und dass er schon sehr lange nichts mehr von ihm gehört hatte. Nach der Feier kam Steffen zu mir und fragte, ob ich ihm helfen könnte, eine Karte an seinen Vater zu schreiben. Ich war sofort einverstanden, hatte auch die notwendige Ruhe und Steffen diktierte mir dann: „Du hast mir nichts zum Geburtstag geschenkt. Du hast mir nicht geschrieben. Zur Strafe wünsche ich mir zwei Atari-Spiele!“ Als die Karte fertig war, spendierte ich eine Briefmarke und Steffen brachte die Karte zum Briefkasten. Seit diesem Tag kam Steffen täglich an und wollte mit mir schreiben. Er diktierte, ich sollte schreiben. Beim Schreiben beobachtete mich Steffen sehr genau. Er lernte auf diese ungewöhnliche Weise die Bedeutung der Buchstaben und auch die Phonem-Graphem-Zuordnungen. Da ich nicht die Absicht hatte, über Monate mit ihm zu schreiben, forderte ich ihn eines Tages auf, doch Bildergeschichten zu zeichnen. Steffen ließ sich auf diesen Vorschlag ein. Er zeichnete umfangreiche Comics und gemeinsam erfanden wir dazu passende Texte. Als Ergebnis dieser Arbeit konnte Steffen am Ende des dritten Schuljahres drei dicke Leitzordner mit seinen Bildergeschichten nach Hause schleppen.

Im vierten Schuljahr begann Steffen mit dem Diktatschreiben. Er machte viele Fehler, übte aber beharrlich und ließ sich nie entmutigen. Der Rest der Geschichte ist ja bekannt.

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Steffen war ein Junge, der viel Zeit, Kraft und Nerven gekostet hat. Andere Kinder arbeiten ruhig und gleichmäßig, so dass sie uns manchmal kaum auffallen. Zu ihnen gehört Maren.

Maren kam als schüchternes Kind zu uns. Sie beobachtete aufmerksam die anderen Kinder, setzte sich dazu, wenn ihre Freundinnen arbeiteten, malte viel und wollte plötzlich schreiben lernen. Da sie fast alle Buchstaben kannte, gab ich ihr eine kleine Lektion über das Durchlautieren: „Baaaalld kaan ich schwwwimmmenn!“ Während ich den Satz vorsprach, schrieb sie den Text lautgetreu auf. Beim „Es-Ce-Ha“ half ich ihr. Die Form der Buchstaben zeigt eine gute graphomotorische Kompetenz. Ich hoffte, dass Maren von nun an aus eigenem Antrieb schreiben würde, denn einige Kinder schrieben zu dieser Zeit bereits regelmäßig kleine Geschichten. Wenn Maren keine Arbeit fand, versuchte ich sie immer wieder zum Schreiben zu animieren. Ohne Erfolg. Eines Tages legte ich Fotos von einem Ausflug in die Klasse und regte die Kinder dazu an, Sätze zu den Fotos zu verfassen. Maren nahm sich sofort ein Bild, schrieb einen Satz und wendete sich dann einer anderen Aufgabe zu. Von diesem Tag an schrieb Maren fast an jedem Schultag einen Satz zu einem Foto oder zu einem Bild. Insgesamt kamen auf diese Weise über 200 Bildergeschichten zusammen. Ohne speziellen Unterricht bildete Maren nach und nach die Wortgrenzen, erprobte die Regeln der Groß- und Kleinschreibung, entdeckte die Satzzeichen, übte die Schreibschrift und reagierte auf Korrekturvorschläge, die ich an den Rand ihrer Blätter heftete.

In der zweiten Klasse gewöhnte ich die Kinder nach und nach an das Schreiben von Lauf- und Kassettendiktaten. Die Kinder bekamen die Aufgabe, ihre Sätze selbständig zu korrigieren. Maren nutzte dieses Übungsangebot sehr intensiv und mit viel Freude. Und obwohl sie zuhause praktisch nie übte, fand ich nur selten einen Fehler in ihren Texten.

Ein völlig anderer Mensch war ihr Klassenkamerad Obina.

Obina erklärte mir eines Tages, er würde niemals schreiben und lesen lernen. Ich war sehr erstaunt, denn ich hielt ihn für außerordentlich begabt. Ich fragte ihn nach seinen Gründen. Er

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antwortete, er sei Afrikaner und Linkshänder. Dies verblüffte mich so sehr, dass ich erst am nächsten Tag reagieren konnte. Ich holte Informationen über die Lebensbedingungen des Jungen ein und erfuhr, dass Obina bereits als Kindergartenkind stark selbstmordgefährdet war. Er warf sich während unserer Ausflüge oft vor die Autos und biss mich in das Handgelenk, wenn ich ihn von der Straße aufheben wollte. Zuhause wurde er mehrmals Zeuge, wie sein Vater dem älteren Bruder beim Lesenlernen „geholfen“ hat. Bei jedem Fehler bekam der Bruder Prügel oder Pfeffer in die Augen. Als ich den Hintergrund für Obinas Verhalten dann etwas besser einschätzen konnte, schlug ich ihm einen Vertrag vor. Ich versprach, daß er von mir niemals zum Schreiben oder Lesen gezwungen werden würde. Wir gaben uns die Hände und besiegelten auf diese Weise vor seinen Mitschülern unsere Vereinbarung.

Von diesem Tag an wurde Obina ruhiger. Er saß während der Freiarbeiten praktisch immer auf der Fensterbank und beobachtete mit großer Aufmerksamkeit die Kinder bei ihren Tätigkeiten. In der Weihnachtszeit sprang Obina plötzlich auf und rannte auf mich zu. „Ich kann lesen! Ich kann lesen!“ Da ich ihm nicht glauben konnte, zögerte ich lange, guckte ihn fragend an. Dies schien ihn zu irritieren. „Doch doch! Ich kann wirklich lesen!“ Nie hatte ich Obina mit Buchstaben hantieren sehen. Ich wusste von seinen Eltern, die von der Vereinbarung nichts wussten und vielleicht deshalb nach und nach Vertrauen zu mir gefasst hatten, daß er zuhause nicht geschrieben und gelesen hatte. Nun wollte ich es wissen. Ich holte einen Werbeprospekt, der auf dem Boden lag, blätterte ihn auf und bat Obina daraus etwas vorzulesen. Er betrachtete die Doppelseite, führte den Zeigefinger zur Überschrift und begann: „Schscheeennkeenn Siiiieee Iiiiihreeerr Liiiiibbßztenn zuuu Weihnnnnaaaachchten diießmmal eetwwaas a-u-s G-Goooolld!“ Beim Vorlesen dieses Satzes wurde er immer schneller. Er verstand den Inhalt des Satzes zu meiner Verwunderung sofort. Ich war verblüfft und versuchte meine Gefühle vor ihm zu verbergen.

An den nächsten Tagen saß er wieder auf seinem alten Platz und beobachtete das Treiben seiner Mitschüler. Es reizte mich, ihn

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zum Lesen oder Schreiben zu animieren, aber ich dachte an unsere Vereinbarung und hielt mich zurück.

Einige Wochen später nahm ich ein chinesisches Tuschemalset in die Schule mit. Ich setzte mich in einer ruhigen Freiarbeit auf den Flur, rührte ganz langsam die Farbe an und malte dann auf großen Bögen Zeichen für Zeichen, bis der ganze Flur mit chinesischen Schriftzeichen ausgelegt war. Zunächst nahm kein Kind von meiner Arbeit Notiz. Nach Schulschluss mussten die Kinder aber an den Blättern vorbeigehen. Am nächsten Tag kam Obina und wollte auf dem Flur „malen“. Ich gab ihm das Set und verschwand. Viele Tage formte er dann tiefschwarze Zeichen und irgendwann hörte seine Begeisterung dann plötzlich auf.

Es war die Zeit, in der es Obina immer öfter zu den Mathematik-Materialien hinzog. Er spürte schnell, dass er auch die schwierigen Aufgaben ganz allein lösen konnte. Er arbeitete fast nie mit anderen Kindern zusammen, verhielt sich aber stets sehr kameradschaftlich. Bei den Ausflügen gab es schon seit längerer Zeit kaum mehr Probleme.

Kurz vor Ostern verlangte Obina dann Tierbilder von mir. Ich reagierte zunächst abweisend, doch er ließ sich nicht abwimmeln: „Ich brauche Tierbilder! Aber aus Afrika!

(Zettel von Obina)

Hast Du welche? Schöne Bilder!?“ Zum Glück besaß ich eine Menge Kopiervorlagen von Tieren und tatsächlich waren Bilder von afrikanischen Tieren dabei. Ich brachte Sie zur Schule und

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Obina schrieb innerhalb weniger Tage mehrere Dutzend Tiergeschichten. Dies waren seine ersten Schreibversuche, denn an den Tagebuchübungen oder anderen Schreibarbeiten brauchte er sich ja nicht zu beteiligen. Obina konnte zu diesem Zeitpunkt längst hervorragend lesen. Und von Anfang an schrieb er fast vollkommen rechtschreibgerecht. Bis heute weiß ich nicht, wie er zu diesen Kenntnissen gekommen ist.

(Text von Obina mit Tierbild)

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„Hundertmal habe ich es dir erklärt, und du hast es immer noch

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nicht verstanden!“

3.5 Mathematik in der Freiarbeit

Glaubt man den Arbeitgeberverbänden und den Professoren der Hochschulen, dann leisten die Schulen im Mathematikunterricht keineswegs das, was von ihnen erwartet wird:

In der Oberstufe der Gymnasien erreichen angeblich vier Fünftel der Schüler in Mathematik nur das Niveau der Anwendung elementarer Konzepte. Selbst in Leistungskursen seien die wenigsten Schüler in der Lage, selbständig mathematische Probleme zu lösen.

Stella Baruk, eine Mathematik-Lehrerin und Kindertherapeutin, kam bei ihren Untersuchungen zum mathematischen Verständnis der Kinder in Frankreich zu Ergebnissen, die Eltern und Kinder am Sinn und Zweck das Mathematikunterrichts (ver)zweifeln lassen:

„Der Unterricht ist unfähig, ein Wissen zu vermitteln, gleich welcher Form, gleich welchen Inhalts.“ (Baruk 1989: 11)

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Und in einer aktuellen Untersuchung über die Probleme von Kindern mit einer so genannten Rechenschwäche schreibt der Psychologe Friedrich Steeg:

„Wissen stellt sich im Mathematikunterricht teilweise ein, als zufälliges, statistisch erhofftes Nebenprodukt bei einzelnen Schülern.“ (Vgl. Steeg: 9)

Wir haben uns hier mit massiven Vorwürfen auseinanderzusetzen, die wir vor dem Hintergrund unserer Freiarbeit-Erfahrungen näher untersuchen wollen.

Schauen wir uns zunächst eine kleine Episode aus einer Hospitation in einer „Mathematik-Stunde“ im zweiten Schuljahr etwas genauer an! An der Tafel steht „12 : 3 = 4“. Paul soll vorlesen. Er liest: „Zwölf geteilt durch drei gleich vier!“ Leise frage ich meine Nachbarin, was das bedeutet. Sie flüstert: „Weiß ich nicht! Ich soll fragen, wie oft die Drei in die Zwölf passt!“ „Aber was heißt: „Gleich vier?“ Schweigen.

Was ist hier passiert? Ein alltäglicher Vorgang, das gleichmäßige Verteilen einer überschaubaren Menge, wird in einem Satz versteckt, der von keinem Menschen verstanden werden kann. Was lernen die Kinder in dieser Stunde? Sie lernen nach unserer Auffassung, dass es auf ihre Erfahrungen und auf ihr sprachliches Verständnis nicht ankommt, dass es im Mathematikunterricht nicht ums Handeln geht, sondern darum, keine Fehler zu machen.

Wenn wir in unseren Freiarbeit-Kursen die Teilnehmerinnen fragen, woran sie sich erinnern, wenn sie an den Mathematikunterricht ihrer eigenen Schulzeit zurückdenken, bekommen wir immer wieder die gleichen Antworten: „Angst!“; „Hilflosigkeit!“; „Abscheu!“ „Alpträume!“

Nach dieser kleinen Rückblende in ihre eigene Schulzeit laden wir die Teilnehmer unserer Kurse zu ihrer ersten Freiarbeit ein und jedes mal können wir dann beobachten, dass schon nach kurzer Zeit die ersten Blockaden verschwinden: Überall sitzen kleine Grüppchen zusammen, überlegen, rechnen, suchen nach Mustern, diskutieren über die Muster, lachen, kichern und staunen

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über die „Verzauberung“, die sie dabei erleben: „Endlich habe ich verstanden, was ich mache, wenn ich Wurzeln ziehe!“

Was ist die Ursache für diesen Umschwung?

Gehen wir in eine zweite Klasse und beobachten, wie diese Kinder mit dem Montessori-Material rechnen!

Lange vor Unterrichtsbeginn sitzen Benni, Recep und Fatih vor der Klassenzimmertür und warten mit dem großen Multiplikationsbrett auf mich. Benni sitzt hinter dem Kasten mit den bunten Rechenstäbchen. Recep hat das Rechenbrett vor sich, Fatih sitzt daneben und beobachtet das Geschehen. Ich komme und will mich an der Gruppe vorbeidrücken. Die Kinder empören sich: „Du hast uns versprochen, daß du mit uns das „Schachbrett“ machst!“ Ich lasse mich breitschlagen, obwohl ich eigentlich den Beginn der Freiarbeit im Klassenraum beobachten wollte. Da ich zu diesem Zeitpunkt nicht mit der Begeisterung der Kinder für große Multiplikationsaufgaben gerechnet hatte, waren keine Aufgabenkarten vorhanden und ich mußte improvisieren. Ich holte schnell einen Taschenrechner für die Ergebniskontrolle und diktierte den Kindern in meiner Not eine Aufgabe aus dem Kopf: „4 Einer, 5 Zehner, 0 Hunderter, 8 Tausender, 3 Zehntausender, 6 Hunderttausender, 2 Millionen mal drei!“ Aus Recep platzte es heraus: „Mal 8 will ich rechnen, mal 3 ist viel zu wenig!“ „Also gut, mal 8!“ Recep legte mit Hilfe von Benni, der als „Bankier“ die Kasse mit den Stäbchen und Zahlenkärtchen verwaltete, die Aufgabe auf dem Rechenbrett aus. Recep bestellte dann der Reihe nach die entsprechenden Stäbchen: „Acht mal die 4! Acht mal die 5! Acht mal die 0!“ und so weiter. Benni suchte die Perlenstäbchen aus dem Kasten, manchmal brauchte er dazu sehr lange, denn er konnte sich die Ordnungsmuster der „Bank“ noch nicht merken. Manchmal zählte er Stäbchen für Stäbchen ab, obwohl die Stäbchen gleicher Menge stets die gleiche Farbe tragen. Recep wartete geduldig, Fatih beobachtete still das Geschehen. Beim Bestimmen der Mengen in den einzelnen Fächern des Rechenbrettes gab es Probleme. Recep verwechselte zum Teil die Zehner und Einer, Benni gab beim Umtauschen der Mengen manchmal falsche Mengen heraus. Im Dialog klärten Benni und Recep die Probleme

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und arbeiteten sich Schritt für Schritt voran. Im Fach mit der Null verlor Recep für kurze Zeit die Orientierung, was aber zunächst niemandem auffiel. Benni fand immer schneller die gewünschten Stäbchen, Recep rechnete von Mal zu Mal zügiger und sicherer. Fatih wartete. Als Recep alle Aufgaben in den Fächern erledigt hatte, tippte Fatih die Aufgabe zur Kontrolle in den Taschenrechner, drückte die „Ist-Gleich-Taste“ und stellte beim Vergleichen mit dem Rechenbrett rasch fest, dass beim Rechnen im Hunderter- und Tausenderfach Fehler aufgetreten sein müssten. Recep kickte die „falschen“ Perlenstäbchen weg, bestellte sich vom „Bankier“ neue und musste dann erleben, dass die Aufgabe trotzdem nicht richtig gerechnet war. Ich konnte mich in diesem Augenblick nicht mehr zurückhalten und fragte: „Und was machst Du nun?“ „Dann rechne ich das Ganze eben nochmal! Das ist für mich kein Problem!“ Fatih wurde sauer: „Jetzt bin aber ich dran! Das war ausgemacht!“ Recep räumte ohne Widerrede seinen Platz und Fatih bekam von mir eine Aufgabe. Benni wollte weiter die Bank versorgen. Recep suchte sich eine neue Arbeit.

Drei Kinder, die ich sonst noch nie bei einer gemeinsamen Arbeit gesehen hatte, bildeten an diesem Morgen ein Team, dem es gelang, meine Pläne für den Unterrichtsbeginn an diesem Tag über den Haufen zu werfen. Äußerst lebhafte Kinder hatten sich für eine komplizierte und langwierige Arbeit entschieden. Die Arbeitsbereiche verteilten sie offensichtlich nach einer angemessenen Selbsteinschätzung ihres individuellen Leistungsvermögens. Sie arbeiteten mehr als fünfzig Minuten konzentriert zusammen, obwohl ich zwischendurch immer wieder in die Klasse gehen musste, um nach den anderen Kindern zu sehen und obwohl eine Nachbarklasse zwischendurch den Flur durchquerte auf dem Weg zur Sporthalle.

Ich konnte beobachten, wie Benni beim Abzählen der Perlenstäbchen immer sicherer wurde, wie sich seine Bewegungsmuster stabilisierten. Zu Beginn der Arbeit war Benni dauernd beschäftigt, weil er viel Zeit für die einzelnen Handlungsschritte benötigte. Sein Partner musste warten. Im Laufe der Arbeit steigerte Benni sein Tempo, nun musste er auf

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Recep warten. Doch dies führte keineswegs zur Beeinträchtigung der Zusammenarbeit.

Recep steigerte seine Rechenfähigkeit von Arbeitsschritt zu Arbeitsschritt. Zu Beginn der Aufgabe zählte er oft noch mit den Fingern. Am Ende der Arbeit überblickte er Mengen bis zur Zwanzig sicher, beim Zählen entwickelte er Strategien für Zweier-, Dreier-, Vierer- und Fünfersprünge.

Die Umsetzung unserer Zahlensprache in Mengenvorstellungen fällt vielen Kindern schwer, besondere Schwierigkeiten haben hier die Kinder anderer Muttersprache. Recep setzte sich beharrlich mit dieser Schwierigkeit auseinander, ließ sich von Benni helfen, einmal musste ich ihn unterstützten.

Die Haltung der Kinder zu diesem Fehler ist nach unseren Erfahrungen typisch für Lerngruppen, in denen auf Bewertungen und Noten verzichtet wird. Es ging den Kindern nicht um das sture Üben der Einmaleinsreihen, sondern um eine gemeinsame Arbeit, die ihnen so wichtig war, daß sie diese trotz aller Schwierigkeiten gemeinsam zu Ende bringen wollten. Ich interpretiere die Arbeit dieser Kinder am Multiplikations-“Schachbrett“ als ernsthaftes Spiel, bei dem eine Fülle von mathematischen Teilleistungen geübt wurde und Fehler die Spielfreude nicht gefährdeten.

Wie kommen die Kinder zu ihren Aufgaben? In der Montessori-Freiarbeit gibt es, wie wir wissen, keine Lektionen für eine Klasse. Damit fallen eine Menge organisatorischer und inhaltlicher Probleme des traditionellen Unterrichts weg.

In der Freiarbeit lädt die Lehrerin ein Kind zu einer Lektion ein. Ist das Kind an der Lektion interessiert, zeigt die Lehrerin den Gebrauch eines Materials. Das Kind beobachtet die Bewegungen der Lehrerin, hört die sparsam gegebenen Erläuterungen und übernimmt, wenn es will, das Material und arbeitet dann selbstständig weiter.

Zu den Mathematik-Materialien gehören fast immer Aufgabenkarten. Auf der Rückseite dieser Karten steht das Ergebnis. So kann das Kind ohne zu schreiben mit den

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Materialien rechnen und seine Rechenoperationen selbständig überprüfen.

Das Kind arbeitet mit dem Material stets solange wie es will. Dann hat es die Pflicht, das Material einzuräumen und an seinen Platz zu stellen.

Bei den Material-Lektionen, die wir im Dialog mit dem Kind gestalten, gucken oft auch andere Kinder zu. Wir beobachten, dass viele Kinder auf diese Weise dazu angeregt werden, mit diesem Material später selbst zu arbeiten.

In unseren Klassen haben die Kinder eine Fülle von Möglichkeiten, einen individuellen Zugang zu den verschiedenen Rechenoperationen zu finden. Die Erfahrungen aus dem Alltag der Kinder fließen dabei immer mit ein. So gibt es in unseren Klassen viele Kinder, die in der Vorklasse oder im ersten Schuljahr gerne teilen und andere, die sich damit eher schwer tun. Manche Kinder lieben das Rechenbrett mit den grünen Perlen. Sie lernen dabei das Abzählen der Mengen, sie hören das Klick-Klick, wenn die Perlen in das Schälchen fallen, sie trainieren die Koordination von Auge und Hand, wenn sie die Perlen in die Vertiefungen des Rechenbretts legen. Sie erleben, dass beim Auslegen der Perlen Muster aus Rechtecken und Quadraten entstehen, sie lernen abzuschätzen, ob die Perlen für eine Reihe ausreichen, oder ob ein Rest übrig bleibt. Sie lernen beim Auslegen der Perlen zählen, sie subtrahieren, wenn sie die Perlen aus dem Schälchen nehmen, sie multiplizieren, wenn sie auf dem Rechenbrett die Perlenreihen auslegen und sie dividieren, weil sie die Menge der Perlen den kleinen Figürchen zuordnen und am Ende jeder Aufgabe ermitteln, wie viele Perlen die einzelnen Figürchen bekommen haben.

Aus dieser Perspektive betrachtet ist das Divisionsbrett dann auch kein Lernmittel, mit dem die Kinder die „Geteilt-Aufgaben“ besser und schneller lösen können. Es ist ein Werkzeug für den Geist, das den Kindern eine Fülle von Zugängen zum mathematischen Denken und Handeln ermöglicht, die auf der Ebene der Sprache und der Bilder allein niemals vorhanden wären.

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Mathematik in der Freiarbeit ist immer eine „Mathematik in Bewegung“ und eine „Mathematik im Dialog“. Die Kinder in unseren Klassen entwickeln bei ihren Arbeiten im mathematischen Bereich deshalb nicht nur sensomotorische und sprachliche, sondern auch soziale Muster, die es ihnen ermöglichen, auf einer stabilen Grundlage komplexe mathematische Strukturen aufzubauen.

Wenn wir über die Mathematik in der Freiarbeit sprechen, dann dürfen wir nicht verschweigen, dass wir zunehmend häufiger Kinder beobachten, die „im Kopf“ gut rechnen können, aber keinen spontanen Zugang zu den Mathematik-Materialien finden. Hier sehen wir ein großes Problem, denn wenn die mathematischen Anforderungen im Lauf der Jahre steigen, die grundlegenden kognitiven Strukturen im Kind aber nicht gebildet wurden, sondern durch das Auswendiglernen von Musteraufgaben kompensiert wurde, dann kann es leicht dazu kommen, dass Kinder nach Jahren, in denen sie „mitgeschwommen“ sind, plötzlich versagen.

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3.6 Nach drei Jahren: ein tiefer EinschnittGespräch mit einer Lehrerin

Sie haben drei Jahre eine Freiarbeitklasse geführt. Eben hatten wir uns noch einmal den Videofilm aus der ersten Klasse angesehen. Wie hat sich die Freiarbeit seit dieser Zeit verändert?

Die Grundmuster der Freiarbeit haben sich seit dieser Zeit nur wenig verändert. Die Kinder arbeiten weiterhin selbständig, sie lieben die Freiarbeit. Das Montessori-Materials steht nicht mehr im Zentrum de Interesses der Kinder. Sie nehmen sich inzwischen häufiger andere Freiarbeit-Materialien, arbeiten an ihren Projekten oder wählen Arbeitsblätter und Bücher.

Arbeiten die Kinder inzwischen länger und intensiver an ihren Themen als in der ersten Klasse?

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Dies stimmt. Vor allem an sachkundlichen Themen arbeiten viele Kinder häufig über Tage und Wochen. Ich beobachte mit Erstaunen, dass die Kinder immer wieder auch zu den Materialien gehen, die sie aus der ersten Klasse kennen. Nach einer bestimmten Arbeitsphase setzen oft Pausen ein, in denen sich die Kinder mit anderen Dingen beschäftigen.

Könnten Sie ein Beispiel nennen?

Im zweiten Schuljahr beschäftigten sich viele Kinder lange Zeit mit der „Großen Division“ (ein Spiel, in dem eine Gruppe von bis zu fünf Kindern Aufgaben mit siebenstelligen Dividenden dividieren kann). Dann lag die „Große Division“ mehrere Monate unbenutzt herum und plötzlich erwachte wieder das Interesse, weil ein Kind das Material neu entdeckt hatte.

Hat sich der Raum der Klasse in seiner Gestaltung verändert?

Ich konnte den Klassenraum vor drei Jahren nach meinen Vorstellungen gestalten. Ich hatte alle Montessori-Materialien für diese Altersgruppe zur Verfügung, so musste ich nur wenige kleine Veränderungen vornehmen, z. B. die Tische austauschen. Die Montessori-Materialien konnten über die drei Jahre an der gleichen Stelle bleiben. Als das Interesse der Kinder an sachkundlichen Themen größer wurde, habe ich einen „Sachkundetisch“ eingerichtet, auf dem vorbereitete Materialien lagen, die sich die Kinder für das gerade aktuelle Thema nehmen konnten.

Mir ist aufgefallen, dass der Stuhlkreis im Laufe der Zeit eine andere Bedeutung bekommen hat?

Im Laufe des dritten Schuljahres haben die Kinder den Stuhlkreis zunehmend häufiger dazu genutzt, über die Freiarbeit zu sprechen. In den beiden ersten Klasse hatte der Stuhlkreis nach dem Ende der Freiarbeit vor allem die Bedeutung, die sachkundlichen und gestalterischen Aufgaben vorzubereiten, die außerhalb der Freiarbeit erledigt werden sollten. Ich bin immer

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wieder erstaunt, wie aufmerksam die Kinder im Stuhlkreis mitarbeiten.

Worauf führen Sie dies zurück?

Der Stuhlkreis hatte von Anfang an für die Kinder die Bedeutung, dass etwas bedeutendes, etwas besonderes passiert, wo sie sich einbringen konnten, wo etwas passierte, was unmittelbar mit ihnen zu tun hatte. Die Kinder hatten ganz schnell gemerkt, dass das, was im Stuhlkreis besprochen wurde, von mir wichtig genommen wurde.

Sie können nun einen Zeitraum von drei Jahren mit dieser Klasse überschauen. Gab es besondere Probleme mit einzelnen Kindern in der Freiarbeit?

Es gab kaum spezielle Probleme. Naürlich kam es auch einmal vor, dass ein Kind versuchte, sich vor einer Arbeit zu drücken. Manchmal kamen Kinder auch mit weniger Freude zur Schule. Ich habe auch beobachtet, dass Kinder versuchten, bestimmte Arbeiten zu meiden. Wenn man die Kinder genauer kennt, stellt man sich auf diese Probleme ein und hat im Rahmen der Freiarbeit als Lehrerin natürlich viel mehr Möglichkeiten, auf einzelne Kinder intensiver einzugehen.

Sie haben zwei Kinder mit Verhaltensproblemen als Wiederholer einer ersten Klasse bekommen. Wie ist es diesen Kindern ergangen?

Diese Kinder haben sich in meiner Klasse schnell zurechtgefunden. Beide Kinder zeigen keine Verhaltensauffälligkeiten mehr. Sie kommen mit den anderen Kindern sehr gut zurecht. Einer der beiden Jungen ist inzwischen so beliebt, dass alle Kinder der Klasse gerne mit ihm zusammenarbeiten. Der andere Junge arbeitet sehr konzentriert, aber außerordentlich langsam. Diese wird von den anderen Kindern akzeptiert, sie ermutigen ihn und inzwischen kann ich feststellen, dass er an seinen Arbeiten dranbleibt und sie auch zu Ende bringt. Ich sehe bei diesem Jungen einen sehr großen

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Fortschritt, denn er hat in der ersten Zeit nur mit großem Widerwillen mit einer Arbeit begonnen.

Nach und nach sind drei weitere Kinder sind aus anderen Klassen in Ihre Freiarbeitklasse gekommen. Gab es hier Schwierigkeiten?

Nein. Diese Kinder haben sich nach einer Orientierungsphase recht schnell integriert. Sie fühlen sich in der Klasse wohl.

Worauf führen sie diese erfreuliche Entwicklung zurück?

Ich denke, dies ist auf das Verhalten der anderen Kinder zurückzuführen, die das Anderssein der neuen Kinder akzeptierten, sie ließen ihnen Zeit, sich zu orientieren.

Zu Beginn der ersten Klasse wusste nur ein Teil der Eltern, dass sie den Kindern das Lernen in der Freiarbeit ermöglichen wollten. Gab es deshalb Probleme?

Der Teil der Eltern, der sich für diese Arbeit interessierte und engagierte, den Raum renovierte und Regale und Materialien besorgte, schaffte es, die anderen Eltern zu interessieren. Auf den Elternabenden wurde zum Teil kontrovers, aber sehr konstruktiv diskutiert. Nach und nach ist eine große Akzeptanz für diese Art des Unterrichts entstanden. Ein problematischer Punkt war ganz sicher die Frage der Benotung. Bei einem Elternabend ging es darum, ob die Kinder im dritten Schuljahr eine verbale Beurteilung oder Noten bekommen sollten. Drei Eltern wollten gerne Zensuren für ihre Kinder. Hinterher stellte sich heraus, dass sie mit der Entscheidung der Mehrheit gut leben konnten. Diese skeptischen Eltern haben die Geschwisterkinder wieder für eine Freiarbeitklasse angemeldet.

Nach drei Jahren geben Sie die Klasse nun ab. Eine Weiterführung der Freiarbeit ist nicht vorgesehen. Wie haben die Eltern auf die Entscheidung der Schulleitung reagiert?

Die Eltern waren sehr enttäuscht und stark verunsichert. Sie hatten sich überlegt, ob sie ihre Kinder von der Schule abmelden sollten.

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Aus ihrer Antwort entnehme ich, dass die Eltern zu ihrer Arbeit Vertrauen hatten und dass sie es gerne gesehen hätten, wenn ihre Kinder weiter in der Form der Freiarbeit unterrichtet worden wären?

Dies kann ich bestätigen.

Über die Zukunft dieser Klasse kann hier nur spekuliert werden. Deshalb möchte ich Sie fragen, wie Sie die Zeit in der Freiarbeitklasse beurteilen, Sie hatten ja eine Menge Erfahrungen mit traditionellen Formen des Unterrichts und mit dem Wochenplanunterricht?

Die drei Jahre mit der Freiarbeit waren die drei schönsten Jahre in meinem Berufsleben. Sie waren für mich stressfrei und wenn ich die einzelnen Kinder betrachte, auch am erfolgreichsten.

Welche Empfehlungen würden Sie Anfängerinnen geben, die mit der Freiarbeit beginnen wollen?

Wenn dies jemand aus seinem tiefsten Inneren heraus wirklich will, soll er sofort damit anfangen. Er sollte viel Geduld mitbringen für sich und die Kinder. Man wird jeden Tag Freude empfinden und Bestätigung bekommen. Man sollte nicht anfangen, sich mit anderen zu vergleichen. Man sollte sich nicht verunsichern lassen durch Beurteilungen und Vorurteile, die andere einem entgegensetzen.

Wie haben sich die Kinder am letzten Schultag verhalten? Wie haben die Kinder den Abschied aus der vertrauten Umgebung empfunden?

In den letzten Schultagen vor den Ferien hatte ich den Kindern gesagt, dass sie nun die letzte Gelegenheit hätten, noch einmal die Arbeiten zu nehmen, die sie am liebsten getan hätten. Ich war dann ganz erstaunt, welche Dinge herausgekramt worden sind. Es waren Sachen aus der ersten Klasse: Sand, Wasser, Knete, die Anlauttabelle, Puzzles. Dinge, die sie in der ersten Klasse gern und intensiv genutzt haben.

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Worauf führen sie das erstaunliche Verhalten der Kinder zurück?

Ich denke, dass die Kinder einen sehr hohen emotionalen Bezug zu diesen Gegenständen gefunden haben. Zum Teil entsprechen diese Dinge wohl auch noch immer den spontanen Bedürfnissen der Kinder.

3.7 Sechs Jahre in einer Integrationsklasse.Ein Erfahrungsbericht

3.7.1 Die Rahmenbedingungen

Von Beginn der 1. Klasse an habe ich mich darum bemüht, nach einem ganzheitlichen, mit dem Leben verbundenen Konzept zu unterrichten, in dem das Kind im Zentrum des Unterrichts steht.

Die Montesssori-Pädagogik bildete die fachliche Grundlage für die Arbeit in der Klasse. Das Montessori-Material für die erste Klasse habe ich ergänzt durch das Material zum Lehrgang „Lesen durch Schreiben“ von Jürgen Reichen.

Im Lauf der Zeit haben fächerübergreifende, projektorientierte Themen mehr und mehr an Bedeutung gewonnen. Heute bildet die Kombination dieser Ansätze die Basis für meinen Unterricht, in dem das selbst gesteuerte und sozial orientierte Lernen des

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Kindes im Sinne der Prinzipien der Montessori-Pädagogik im Vordergrund steht.

Die Kinder wurden von Anfang an dazu angeregt, das Lernen in der Klasse im Sinn eines Miteinander- und Voneinanderlernens zu verstehen. Neben der Einzelarbeit ist die Gruppen- und die Partnerarbeit nicht nur in den Projekten, sondern auch in der Freiarbeit ein prägendes Element.

Weil sich in der Klasse vier Kinder mit einem so genannten sonderpädagogischem Förderbedarf befinden, wird ein großer Teil des Unterrichts von zwei Lehrkräften getragen.

Für das Lernen und das Zusammenleben in der Klasse gibt es fest verabredete Regeln, auf die konsequent geachtet wird.

Die Kinder wurden entsprechend den unterschiedlichen Lernvoraussetzungen von Anfang an nicht nur im kognitiven sondern auch im sozialen Bereich im Sinne eines zieldifferenzierten Lernens mit unterschiedlichen Anforderungen konfrontiert.

3.7.2 Die Entwicklung der Lerngruppe

Die Eltern der Lerngruppe haben sich bei der Schulanmeldung bewusst für einen Unterricht in einer Integrationsklasse entschieden. Den Kern der Klasse bildet eine Gruppe von Kindern aus einem Dorf, das nur mit dem Schulbus erreicht werden kann. Diese Kinder kannten sich zum größten Teil bereits aus dem Kindergarten. Fünf Kinder kommen aus der Kleinstadt, in der sich die Schule befindet.

Zwei Kinder wurden wegen eines besonderen Förderbedarfs als „Integrationskinder“ eingeschult. Für zwei weitere Kinder wurde im 1. Schuljahr wegen des Verdachts einer Lernbehinderung ein Förderausschussverfahren eingeleitet und zum Abschluss gebracht.

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Im 3. Schuljahr kam Rico (vgl. das Kapitel 3.9) als stark „verhaltensgestörtes“ Kind und als Wiederholer in die Klasse. Er wurde wegen seiner ungenügenden Leistungen im Fach Deutsch im dritten Schuljahr nicht versetzt.

Beim Wechsel der Klasse zeigten sich bei Rico Auffälligkeiten, die auf den Beginn einer Lernbehinderung hindeuteten. Aus allgemeinen pädagogischen Überlegungen wurde nach Absprache mit der Schulleitung auf die Beantragung eines Förderausschusses zunächst verzichtet.

Seit April 1997 gehört auch ein fünfzehnjähriger Aussiedlerjunge zur Lerngruppe.

In der Mitte des 5. Schuljahres wurde eine Schülerin nach einem Förderausschussverfahren aus einer sechsten Regelklasse in die Integrationsklasse umgesetzt.

Zu Beginn des sechsten Schuljahres wechselte ein geistig behindertes Kind auf Wunsch seiner Mutter zur Förderschule.

3.7.3 Die Lernumgebung der Integrationsklasse

Die Klasse ist wegen des überdurchschnittlichen Engagements der Eltern, der Schulleitung und den besonderen Bemühungen der beiden Lehrkräfte mit Räumen und Lernmitteln sehr gut ausgestattet. Die Etatmittel für Schulbücher und Verbrauchsmaterialien wurden immer zur Anschaffung von langfristig haltbaren Lernmitteln (Montessori-Material, Lernkarteien, Lernspiele, Bücher und Computer) verwendet.

Aus integrationspädagogischen und lernpsychologischen Überlegungen wurde in den ersten vier Schuljahren auf die einheitliche Ausstattung der Kinder mit Schulbüchern verzichtet.

Der Klassenraum ist in Funktionsecken (eine Anregung aus der Freinet-Pädagogik) aufgeteilt, so dass im Sinne einer Lernlandschaft jederzeit Einzel- oder Gruppenarbeiten,

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Kreisgespräche oder Werkstattarbeiten möglich sind. In der Schule befinden sich eine Lernwerkstatt für Lehrkräfte und Schüler, sowie eine Schülerbibliothek, die von den Kindern in der Freiarbeit genutzt werden können.

Von Anfang an wurden die Kinder ohne starre Bindung an Zeit- und Stundenpläne unterrichtet. In der Grundschule Brück wurde das Pausenklingelzeichen nach der ersten Stunde vor einigen Jahren abgeschafft. Dies ermöglichte ein individuelle Gestaltung des 1. Unterrichtsblockes und die flexible Organisation von Arbeits- und Erholungsphasen. Da auf den Fachunterricht in Musik, Sport und Kunst Rücksicht genommen werden muss, lässt sich dieses System aber nicht ganz durchhalten.

Der Flur vor dem Klassenzimmer wird von den Kindern während des Unterrichts zum Arbeiten genutzt, vor allem für Rollenspiele und Sketche.

Seit dem zweiten Schuljahr steht der Klasse ein Computer mit Lernprogrammen zur Verfügung.

Seit vier Jahren pflegt die Klasse auf Initiative eines Schülers im Klassenraum ein Terrarium mit einem Gecko.

Von der ersten bis zur vierten Klasse wurden die Leistungen der Kinder nicht benotet. Die Eltern der Lerngruppe stimmten nach einer längeren Diskussion der Möglichkeit zur verbalen Beurteilung ihrer Kinder zu.

Die Lehrkräfte der Klasse führen ein Beobachtungsbuch zur Dokumentation der Arbeitsergebnisse der Kinder und zur Aufzeichnung von Auffälligkeiten. Diese Notizen dienen als Grundlage für die Elterngespräche und zur Überarbeitung der Förderpläne.

Seit dem fünften Schuljahr bekommen die Kinder Noten. Grundlage für die Zensierung der Leistungen ist die Erarbeitung von Bewertungskriterien in der Klasse und das Gespräch mit den einzelnen Kindern über ihre Leistungsentwicklung.

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3.7.4 Die Schultage in den ersten Schuljahren

Ab 7.30 Uhr konnten die Kinder der Klasse das Schulgebäude betreten. Der Schultag begann entsprechend dem Wunsch der Kinder entweder im Vorraum der Klasse oder im Klassenraum. Einige Kinder suchten sich schon am frühen Morgen einen Gegenstand für eine Arbeit, einige führten Gespräche, andere haben gelesen oder geschrieben. Der Morgenkreis um 8.00 Uhr wurde dann zum verbindlichen Termin erklärt, nach und nach bekam er die Bedeutung eines Rituals. Die Kinder trafen sich dazu in der Leseecke. Wenn ein Kind zu dieser Zeit allerdings konzentriert arbeitete, konnte es bei seiner Tätigkeit bleiben.

Meist war das Bedürfnis nach dem gemeinsamen Beginn so groß, dass sich die Kinder ihre Früharbeit so einteilten, dass sie diese um 8.00 Uhr beendet hatten. Für den Morgenkreis gab es feste Verabredungen, so dass die Gespräche niemals ausuferten. Im Mittelpunkt der Gespräche standen häufig Berichte über besondere Vorkommnisse, zu denen die Kinder Fragen stellen konnten, vor allem aber Fragen, die sich aus den Erlebnissen der Kinder an den Nachmittagen ergeben hatten. Im vierten Schuljahr gab es eine längere Phase, in der sich die Kinder für philosophische Fragen interessierten. Aus den Fragen der Kinder entwickelten sich immer wieder die Themen für Vorhaben und Projekte.

An die Gespräche im Morgenkreis schloss sich in den ersten Jahren stets eine Arbeitsbesprechung an, in der die Zielsetzungen des weiteren Unterrichts geklärt wurden.

Nach dem Morgenkreis begann dann die Freiarbeit, die in der Regel bis zum Ende der zweiten Unterrichtsstunde dauerte. Auch für die Freiarbeit galten fest verabredete Regeln. In dieser Zeit arbeiteten die Lehrkräfte mit einzelnen Kindern, standen als Berater zur Verfügung und beobachteten die Kinder mit dem Ziel, Entwicklungsprozesse anzuregen, zu begleiten und zu dokumentieren.

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In der Freiarbeit setzten sich die Kinder in den ersten Schuljahren vor allem mit solchen Materialien auseinander, die eine reiz- und anspruchsvolle Tätigkeit erwarten ließen und die eine Selbstkontrolle der Arbeitsergebnisse ermöglichten.

Neben den Freiarbeiten und Gesprächsrunden gab es immer wieder auch Phasen direktiven Unterrichts. Diese Form des Unterrichts wurde gewählt für die gemeinsame Einführung neuer Sachgebiete und für die Zusammenfassung und Systematisierung komplexer Lerninhalte. Auch in diesem Rahmen wurde stets versucht, differenziert auf die Fragen der Kinder und auf besondere Probleme einzugehen.

3.7.5 Die Schultage im fünften und sechsten Schuljahr

Mit dem Beginn des fünften Schuljahres wurden organisatorische Veränderungen vorgenommen, die den Anforderungen an einen stärker gefächerten Unterricht genügen sollten. Seither findet der Unterricht im Anschluss an den Morgenkreis entsprechend den Vorgaben des detaillierten Stundenplanes statt. Bei der Planung der einzelnen Wochen wird darauf geachtet, dass fächerübergreifende und projektorientierte Formen des Lernens erhalten bleiben. Aus diesem Grund wurden alle Stunden der Klassenlehrerin (Deutsch, Geschichte, Kunst, Politische Bildung, Biologie, Sport) als Block in den Stundenplan eingegeben.

Die Mehrzahl der Fachlehrkräfte bezieht in ihren Unterricht ebenfalls differenzierte Arbeitsformen ein, so dass die Kinder ihre gewohnten Arbeitstechniken auch im Fachunterricht einsetzen und vervollkommnen können.

3.7.6 Die Rolle der Integrationskinder

Es ist das grundlegende Ziel meiner Arbeit mit den Integrationskindern der Klasse, diese so oft wie möglich im Klassenverband zu unterrichten und nicht zu isolieren. Hierzu wurden die erforderlichen organisatorischen und materiellen

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Möglichkeiten geschaffen. Bei Unterrichtsgesprächen fällt immer wieder auf, wie interessiert sich diese Kinder am Geschehen der Klasse auch mit eigenen Beiträgen beteiligen.

Bei projektähnlichen Themen sind alle Integrationskinder voll in die Lerngruppe integriert. Sie leisten ihren Beitrag zu den Arbeitsaufträgen, diskutieren mit, lernen Entscheidungen zu treffen und über ihre Arbeit zu berichten. Voraussetzung dafür ist die aktive Beobachtung durch die Lehrkräfte und die Bereitstellung differenzierter Hilfsangebote.

Wenn sich ein Integrationskind nur schlecht in eine Partner- oder Gruppenarbeit einbringen kann, dann wird mit ihm auf der Grundlage des Förderplans individuell gearbeitet. Dies betrifft auch die Zeiten, in denen in der Klasse schwerpunktmäßig schriftlich gearbeit wird.

Lebenspraktische Übungen werden den Integrationskindern zum Teil auch außerhalb des Klassenraumes und getrennt von den anderen Kindern der Lerngruppe angeboten.

Wenn im Unterricht Verhaltensprobleme auftreten, werden diese mit dem betreffenden Kind, bzw. den betreffenden Kindern nach Möglichkeit sofort bearbeitet. Die Hilfe bei der Bewältigung von Verhaltensproblemen hat, wenn dies erforderlich scheint, Vorrang vor den anderen Zielen des Unterrichts.

3.7.7 Die Lehrkräfte der Lerngruppe

Seit der ersten Klasse wird der größte Teil des Unterrichts von der Klassenlehrerin Heike Noll und der Sonderpädagogin Elke Hoffmann erteilt. Zwischen den Lehrerinnen hat sich im Lauf der Zeit eine hervorragende fachliche und menschliche Zusammenarbeit entwickelt. Zur Koordination der Kooperation im Unterricht reichen deshalb nonverbale Formen der Verständigung oft aus.

Bei der Planung der Zusammenarbeit für diese Klasse wurde abgesprochen, dass beide Lehrkräfte gemeinsam die

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Verantwortung für die gesamte Klasse übernehmen werden. Diese Vereinbarung hat sich aus meiner Sicht bis heute bewährt. Diese Absprache wurde von allen Kindern akzeptiert und lange Zeit als Selbstverständlichkeit betrachtet. Erst im dritten Schuljahr fragten die ersten Kinde, warum andere Klassen nur einen Lehrer hätten.

Die Lehrerinnen der Freiarbeit-Klasse haben sich durch die Teilnahme am Lehrgang „Lesen durch Schreiben“, an Veranstaltungen zum „Offenen Unterricht“ und an Fortbildungen zum gemeinsamen Unterricht in einer Integrationsklasse vorbereitet.

Die Klassenlehrerin hat eine abgeschlossene Montessori-Ausbildung und führt nach den ersten erfolgversprechenden Erfahrungen selbst Fortbildungen zu verschiedenen Elementen der Montessori-Pädagogik durch.

Seit dem dritten Schuljahr unterrichteten neben den Klassenlehrerinnen auch Fachlehrer in der Klasse. Zwischen allen Lehrerkräften gab es eine sehr gute Zusammenarbeit, die sich durch regelmäßige Absprachen, einheitliche Anforderungen und die Beachtung der gemeinsam vereinbarten Regeln gebildet hat.

3.7.8 Was wird bleiben?

In der Montessori-Pädagogik wird ein gleitender Übergang der Kinder vom Kinderhaus in die Schule angestrebt. Viele Kinder lernen in Montessori-Einrichtungen entsprechend ihren „sensiblen Phasen“ bereits im Kinderhaus Lesen, Schreiben und Rechnen.

Diese Voraussetzungen gab es für meine Lerngruppe nicht. Positiv ausgewirkt hat sich aber sicherlich, dass die meisten Kinder einen Kindergarten besucht hatten und dass die Eltern sich bewusst für die Integrationsklasse entschieden haben. Die Wahl der Eltern wirkte sich an vielen Stellen sehr positiv aus, so auch bei den gesetzlich vorgeschriebenen Abstimmungen im zweiten und dritten Schuljahr über die Einführung von Lernentwicklungsberichten.

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Die Ausstattung der Klasse, die Raumgröße und die Stundenplangestaltung trugen erheblich zum Erfolg der Arbeit bei. Vorteilhaft wirkte sich nach meiner Auffassung auch aus, dass beide Lehrkräfte die Klasse über sechs Jahre begleiten konnten und dass alle Fachlehrer freiwillig in der Klasse arbeiten. So gab es weder für die Kinder noch für die Lehrkräfte größere Probleme bei den Übergängen zwischen der Freiarbeit und dem gebundenen Unterricht.

Jedes einzelne Kind wird in dieser Klasse als Persönlichkeit gesehen und als Teil eines sozialen Prozesses, an dem alle Menschen der Klasse beteiligt sind. Ausgangspunkt für alle Formes des Unterrichts war von Anfang an immer das Leben der Kinder. Ausgehend von den Fragen der Kinder wurden in Absprache mit den Kindern die Unterrichtsthemen geplant und gestaltet.

Vom ersten Tag an gab es klare Strukturen und verbindliche Regeln. Vor diesem Hintergrund und in Verbindung mit einer flexiblen Zeitplanung war es möglich, die Freiarbeit so zu gestalten, dass ein differenziertes Lernen und Arbeiten in der Klasse möglich wurde, das nicht nur die kognitive Ebene umfasst, sondern auch die sozialen und emotionalen Dimensionen des Lernens.

Die Rituale der Klasse (Gesprächskreise, regelmäßiges gemeinsames Frühstück, Spiele, Geburtstagsfeiern, Mitbringsel, Lieder, Briefe) bilden dafür das Fundament.

Mit dem Montessori-Material und den anderen Arbeitsmaterialien war die Voraussetzung für komplexe und vielschichtige, selbsttätige Lernprozesse gegeben. Entsprechend der geistigen Entwicklung der Kinder verringerte sich im Lauf der Zeit die Bedeutung der Arbeit mit den Materialien. Das Interesse der Kinder richtete sich nach und nach stärker auf die Arbeit mit Fach- und Sachbüchern und auf Materialien für die Projektthemen. Kinder mit Lern- und Entwicklungsrückständen benutzen aber auch noch im 6. Schuljahr gerne die Montessori-Materialien.

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Die Kinder verfügten im Rahmen der Montessori-Freiarbeit stets über die Möglichkeit, eine frei gewählte Arbeit zu beginnen oder zu beenden. Deshalb gab es wohl auch für kein Kind besondere Probleme, als „Seiteneinsteiger“ in die Klassengemeinschaft zu kommen. Dies traf auch für Rico zu, der trotz denkbar schlechten Voraussetzungen rasch die Fülle der Möglichkeiten der Freiarbeit entdeckte. Überrascht hat mich dann aber, dass Kinder, die die Freiarbeit-Klasse wegen eines Umzuges oder aus anderen Gründen verlassen mussten, ohne größere Umstellungsprobleme in anderen Unterrichtsformen weiterlernen konnten.

Wenn man davon ausgeht, dass Maria Montessori ihr Konzept für die „freie Arbeit“ vor dem ersten Weltkrieg unter kulturellen und sozialen Bedingungen entwickelt hat, die mit den heutigen Lebensverhältnissen fast nichts gemeinsam haben, dann sollte man vorsichtig sein mit der Behauptung, dass es auch noch am Ende des 20. Jahrhunderts und im Rahmen der Schule so etwas wie die „Normalisation“ des Kindes geben könnte. Meine Beobachtungen über einen Zeitraum von sechs Jahre haben aber zumindestens ergeben, dass in einer normalen Grundschulklasse, die auf der Grundlage der Montessori-Pädagogik arbeitet, ein ruhiges, erfolgreiches, sinnvolles, sozial integratives Lernen möglich ist, an dem auch Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten und Lernstörungen teilhaben können, wenn dafür die erforderlichen sozialen, materiellen und personellen Voraussetzungen gegeben sind.

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„Kinder sind anders.“Maria Montessori

3.8 Jedes Kind ist anders! Maria und Rico

In der Montessori-Pädagogik wird gerne unterschieden zwischen Kindern, die von allein zu einer Arbeit kommen und anderen, die nicht spontan arbeiten können. Die Grenze ist sicherlich fließend. Es gibt Kinder, die nach einer langen Anlaufphase lernen, selbst bestimmt zu arbeiten, während andere Kinder während ihrer gesamten Schulzeit „an der Hand“ der Lehrerin gehen müssen.

Montessori kannte die Tücken und Risiken ihrer `allgemeinen Methode´ recht gut. Sie warnte unserer Auffassung nach völlig zu Recht vor der Erwartung, dass Kinder mit stärkeren Beeinträchtigungen problemlos in das System der Freiarbeit einbezogen werden könnten. (Vgl. hierzu auch Schieder 1996: 300)

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Professor Hellbrügge berichtete von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten, die nur in Kleinstklassen beschulbar waren, weil sie sich und andere Kinder bei der Arbeit ständig gestört hatten.

Ein Teil dieser Verhaltensauffälligkeiten wird sicher dadurch hervorgerufen, dass starke Erwachsene diese Kinder reglementieren oder in anderer Weise daran hindern, zu sich selbst zu kommen.

3.8.1 Verschiedene Wege

Wir wollen nun über zwei Jungen berichten, die über lange Zeiten viel Aufmerksamkeit und Kraft beansprucht haben. Wir hoffen, dass die Beschreibung der unterschiedlichen Wege dieser Kindern die konkreten Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der Montessori-Freiarbeit sichtbar werden lässt.

3.8.2 Rico, der Seiteneinsteiger

Im Laufe des dritten Schuljahres musste Rico zum dritten Mal die Schule wechseln.

Rico fiel mir zunächst bei den Aufsichten auf dem Pausenhof auf. Ich suchte Kontakt mit seiner Lehrerin und verabredete mit ihr, dass ich mich um Rico kümmern wollte. Im Laufe mehrerer Wochen gelang es mir nach weiteren Ausbrüchen von Rico, bei denen ich um Hilfe gebeten wurde, Strategien zu entwickeln, die dem Jungen geholfen haben, seine Aggressionen zu verringern.

Ich war überrascht vom Inhalt der Gespräche mit Rico, besonders aber von seiner Offenheit und seinem Humor. Nach und nach entspannte sich Rico immer schneller. Irgendwann war es dann soweit, dass er nach seinen Ausbrüchen weinen konnte. Anschließend öffnete er sich immer öfter zu längeren Gesprächen.

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Rico berichtete mir dann, dass er immer wieder große Schwierigkeiten hatte, mit anderen Menschen auszukommen. Ständig kam es zu Prügeleien auf den Schulhöfen und in den Klassenzimmern. Durch seine Schläge und Tritte wurden Kinder zum Teil so stark verletzt, dass sie im Krankenhaus behandelt werden mussten. Er erzählte mir auch, dass Lehrerinnen weinend den Klassenraum verließen, nachdem er sie beschimpft hatte.

Rico vermittelte mir den Eindruck, dass er sich ständig gekränkt und verachtet fühlte. An eine regelmäßige und erfogreiche Mitarbeit im Unterrcht war unter diesen Umständen nicht zu denken.

Am Ende des drittten Schuljahres erfüllte er nach den Ergebnissen seiner Klassenarbeiten die Rahmenplananforderungen im Fach Deutsch nicht im entferntesten. Er sollte deshalb nicht versetzt werden.

Der Wechsel in die Freiarbeit-Klasse

Ein Experiment begann. Am ersten Tag in der neuen Klasse vereinbarte ich mit Rico feste Regeln für unsere Zusammenarbeit. Seine Mitschüler erklärten ihm ihre Regeln auf ihre Weise. Ich war erstaunt, wie anschaulich die Kinder zu diesem Zeitpunkt erklären konnten, was in der Klasse erlaubt und was verboten war.

Bei einem Gespräch mit Ricos Eltern stellte sich heraus, dass die Eltern Rat suchten und Hilfe. Wir bemühten uns in dem Gespräch darum, konkrete Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. So hatten wir die Eltern dann gebeten, den Tageslauf von Rico besser zu strukturieren und ihn von bestimmten Pflichten gegenüber der jüngeren Schwester zu entlasten. Wir hatten die Eltern dann auch um Besuche im Unterricht gebeten. Sie kamen gerne und nahmen zu diesem Zweck sogar Urlaub.

Schon nach wenigen Tagen vermittelte Rico den Eindruck, dass er sich mit seiner neuen Lernumgebung vertraut machte. In der Freiarbeit übernahm er die Rolle eines aktiven und konzentrierten

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Beobachters. Es schien so, als ob er sein Bild vom Lernen und von der Schule neu ordnen wollte. Mit besonderer Aufmerksamkeit achtete er in der ersten Zeit auf die Konflikte zwischen den Kindern, bzw. das Verhalten der Lehrkräfte, wenn diese von den Kindern die Einhaltung bestimmter Vereinbarungen einforderten.

Es war noch keine Woche vergangen, als Rico im Morgenkreis von seinen Mitschülern aufgefordert wurde, mehr zu tun, denn er würde nach ihrer Auffassung nicht genug arbeiten. In diesem Augenblick hatte ich Angst, dass die alten Konflikte wieder aufflammen könnten. Die Kinder hatten die Situation aber besser im Griff als ich ahnte. Seine Mitschülerin Anna lud ihn zur gemeinsamen Arbeit mit dem „Heinevetter-Rechentrainer“ ein. Rico folgte bereitwillig diesem Vorschlag.

Immer häufiger konnte ich mich in der Folgezeit darauf beschränken, Rico mit meiner Körpersprache auf die Regeln der Klasse hinzuweisen. Es zeigte sich schnell, dass Rico mit großer Aufmerksamkeit den Material-Lektionen mit dem Freiarbeitsmaterial folgte.

Rico kam morgens als erster in den Klassenraum und arbeitete dann oft schon dreißig Minuten vor es zu Unterrichtsbeginn klingelte. Besonders gern wählte er in der ersten Zeit die Materialien zur Schulung der Sinne.

Rico arbeitete nach und nach immer selbstständiger und zielgerichteter. Es stellte sich dann heraus, dass er in Mathematik durchaus mit anderen Kinder der Klasse mithalten konnte. Er brauchte für seine Aufgaben viel Zeit, er bemühte sich aber immer darum, seine Arbeiten selbst zu kontrollieren und, wenn nötig, auch zu verbessern. Wenn er mit einer Arbeit fertig war, wirkte Rico zufrieden, voller Stolz, Freude und Erleichterung. Manchmal schien es, als ob er sich selbst wunderte über das, was er geschafft hatte.

Bei seinen schriftlichen Arbeiten zeigte er einen besonderen Sinn für Schönheit und Ordnung.

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Nach einigen Wochen in der neuen Klasse begann Rico damit, seine schriftlichen Arbeiten mit roten Herzen und Blumen zu verzieren. Seine Arbeitsblätter ließ er manchmal absichtlich auf seinem Platz liegen. Wir hatten den Eindruck, dass viele Kinder der Klasse den Sinn dieser Botschaften verstanden hatten.

Seit dem ersten Schuljahr gab es in unserer Klasse zu besonderen Anlässen ein gemeinsames Frühstück. Als es wieder einmal etwas zu feiern gab, aßen die Kinder frische Brötchen, selbst gemachte Marmelade und verschiedene Sorten Aufschnitt. Da sagte Rico, der an diesem Tag neben mir saß und gerade sein drittes Brötchen verzehrte: „Stimmt´s Frau Noll, so muss es im Himmel sein!“

Noch heute bewegen mich diese Worte, denn für mich war das gemeinsame Frühstück mit den Kindern zu dieser Zeit bereits zur Gewohnheit geworden. Mir wurde an diesem Tag wieder einmal bewusst, wie stark das Bedürfnis der Kinder nach Gemeinsamkeit, Geborgenheit und Gemütlichkeit wirklich ist.

Ricos Verhaltensauffälligkeiten traten im Unterricht nicht mehr auf. Er fand einen Platz in der Lerngruppe. Er arbeitet bis heute sehr langsam, doch stets konzentriert und im Rahmen seiner Möglichkeiten auch auf dem Niveau des Rahmenplanes. Auch unter schwierigen Bedingungen, wie sie bei Klassenfahrten und Ausflügen auftreten können, hielt sich Rico stets an die Regeln.

In den Pausen und im Hort kam es in dieser Zeit gelegentlich noch zu Ausbrüchen, bei denen Rico gewalttätig wurde. Er schaffte es aber immer besser, seine Aggressionen zu steuern, über sein Verhalten zu sprechen, die Unangemessenheit seiner Reaktionen zu deuten und auf die Meinungen anderer Kinder zu hören.

Rico bemühte sich im Lauf der sechsten Klasse dann sehr ernsthaft darum, die neu gelernten Verhaltensmuster konsequent anzuwenden. Ich konnte einmal sogar beobachten, wie Rico anderen Kindern seine neu erworbenen Verhaltensstrategien weitergeben wollte.

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3.8.3 Mario, ein Kind zwischen allen Stühlen

Mario lebt mit seinen Eltern und Geschwistern in einem Landstädtchen. Beide Eltern sind als Schichtarbeiter beschäftigt.

Die Eltern von Mario besitzen ein Haus und einen Garten.

An häusliche Pflichten wurde Mario bisher nicht herangeführt. Gemeinsame Tätigkeiten mit den Eltern beschränken sich nach meinen Beobachtungen aufs Einkaufen. Mit seinen Geschwistern unternimmt Mario wenig. In seiner Freizeit spielt er am Computer, sieht fern oder fährt mit dem Fahrrad umher.

Der übergewichtige Junge wurde ohne besondere Hinweise auf möglicherweise vorhandene Lern- oder Entwicklungsstörungen in die Grundschule aufgenommen. Bereits im ersten Schuljahr zeigten sich dann jedoch Auffälligkeiten in der Lernentwicklung und im sozialen Verhalten. Aus diesem Grund wurde ein Förderausschussverfahren beantragt. Es wurde ein sonderpädagogischer Förderbedarf ermittelt worden. Seit dem zweiten Schuljahr wurde Mario deshalb nach dem Rahmenplan der Allgemeinen Förderschule unterrichtet.

Beobachtungen zum Sozialverhalten

Marios Verhalten hängt stark von seinen aktuellen Stimmungen ab. Sein größer Wunsch ist es, mit anderen Kindern zusammen zu sein. Immer wieder versuchte er, mit Kindern in Kontakt zu kommen. Mario erwartet aber, dass alle Aktivitäten von ihm bestimmt werden und dass die anderen Kinder seinen spontanen Einfällen folgen. Nur selten waren Kinder seiner Klasse bereit, seinen Erwartungen zu folgen.

Im Umgang mit anderen Kindern ist Mario nur wenig zuverlässig. Gegenstände, die man ihm anvertraut, behandelt er wenig sorgfältig. Bemühten sich Mitschüler darum, Mario bei seinen Arbeiten zu helfen, nutzte er diese Helfer in der Regel gleich für sich aus. Er meint dann meist, er müsse sich nun gar nicht mehr

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anstrengen, weil ja andere Kinder für ihn die Arbeit machen würden.

Besonderes Einfühlungsvermögen in die emotionale und soziale Situation anderer Menschen zeigte Mario nur selten. Durch sein spontanes, oft nicht einschätzbares Verhalten und sein Dominanzstreben konnte er bisher keine festen sozialen Beziehungen entwickeln.

An gemeinsamen Vorhaben der Klasse oder von Gruppen der Klasse beteiligte er sich stets nur für kurze Zeit. Dies betraf auch die Gespräche in der Klassengemeinschaft, bei denen es um die unmittelbaren Probleme der Kinder seiner Lerngruppe gegangen ist.

Mario versuchte immer wieder, durch Geschenke, Kontakt zu anderen Kindern zu bekommen. Sobald er mit diesen Annäherungsversuchen scheiterte, wurde er zum Teil recht grob. Geriet er in solchen Situationen mit anderen Kindern aneinander, suchte er stets bei seinen Lehrerinnen Schutz und beschwerte sich über das Verhalten der anderen Kinder.

Trotzdem hatte Mario einen festen Platz in seiner Lerngruppe gefunden. Er wurde von den anderen Kindern immer wieder in die Plaung und Durchführung gemeinsamer Vorhaben einbezogen.

Beobachtungen zum Arbeitsverhalten

Nur sehr selten arbeitete Mario selbständig und konzentriert an Aufgaben, die er sich selbst ausgesucht hatte.

Wenn Lehrkräfte von Mario die Fertigstellung einer Arbeit verlangten, reagierte er häufig aggressiv, stieß Beschimpfungen aus oder er fiel in kleinkindhafte Verhaltensmuster zurück.

Um Mario bei einer Arbeit zu halten, benötigte er fasts immer die individuelle Unterstützung einer Lehrkraft und zusätzlich ein großes Maß an emotionaler Zuwendung. Für kleinste

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Arbeitsergebnisse erwartete er ein Lob. Bekam er die eingeforderte Bestätigung nicht, dann redete er manchmal vor sich hin: „Das hast du aber gut gemacht!“

Wurde Mario auf seine Pflicht zu arbeiten hingewiesen, dann hielt er sich bis ins sechste Schuljahr hinein oft nur für wenige Minuten an die getroffenen Absprachen.

Trotz des regelmäßigen Trainings, das mit ihm zur Organisation seines Arbeitsplatzes und zur Ordnung seiner Schulmappe durchgeführt wurde, ist es Mario bis zum Ende seiner Grundschulzeit nicht gelungen, seine Arbeitsmaterialien zusammenzuhalten.

In den ersten beiden Schuljahren fühlte sich Mario von der Arbeit am Computer und von den Montessori-Materialien zur Schulung der Sinne, vor allem aber von den Gieß- und Schüttübungen, angezogen. Mit diesen Gegenständen aus der Montessori-Freiarbeit beschäftigte er sich konzentriert und ausdauernd.

In der Freiarbeit nutzte Mario gerne die Möglichkeiten, sich im Klassenraum frei zu bewegen. So setzte er sich zum Lesen lange Zeit auf einen Arbeitsteppich.

Als im dritten und vierten Schuljahr die Anforderungen an die Schüler gesteigert wurden, und die Phasen des lehrerzentrierten Unterrichts dann manchmal auch etwas länger dauerten, zeigte es sich, dass es Mario nicht möglich war, über einen Zeitraum von fünfzehn oder zwanzig Minuten hinweg konzentriert zu arbeiten.

Hausaufgaben erledigte er nur selten und wenn, dann meist nur mit Unterstützung seiner Familienangehörigen.

3.8.4 Ein Interview mit Mario und Rico

Als ich Mario und Rico gefragt hatte, ob ich mit ihnen ein Interview machen könnte, waren sie sofort einverstanden. Sie stimmten einer Aufzeichnung des Gesprächs zu. Der folgende Text folgt der Tonbandaufzeichnung des Gespräches, das in der Mitte des sechsten Schuljahres geführt wurde.

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Rico, erinnerst du dich noch an deine alte Klasse in M.?

Rico:In M. wollte ich eigentlich gleich wieder weg, da haben sie mich laufend verhauen. Wo wir dann umgezogen sind, da bin ich dann nicht mitgekommen in der ersten Klasse. Der Lehrstoff war schon weiter als ich war, dann wurde ich ein Jahr zurückgestuft. Dann bin ich in die andere Klasse gekommen. Da ist der Lehrstoff so, wie ich ihn haben will und so, wie ich ihn brauche. Der Lehrstoff, den ich hier habe, war immer genau da, wo ich auch war, also in der gleichen Zeit in der ich auch war.

Wenn du an die Kinder denkst in deiner neuen Klasse, gab es Unterschiede zu den anderen Klassen? Wie haben dich die Kinder aufgenommen, wie haben sie dich behandelt?

Rico:Die Kinder haben mich zuerst so behandelt, wie ich sie behandelt habe. Zuerst war ich frech und dann und als ich netter zu ihnen wurde, waren sich auch zu mir nett. Also, dann haben sie mich besser kennen gelernt und dann habe ich auch verstanden, warum sie mich geärgert haben, weil ich sie auch geärgert habe.

Wie hast du dich denn in der neuen ersten Klasse so gefühlt? Wenn man neu in eine Klasse kommt, dann ist doch erst einmal alles komisch. Kannst du mir darüber etwas erzählen?

Rico:In der ersten Klasse, die ich in der neuen Schule besuchte, waren alle Kinder zu mir frech. Die Kinder haben zu mir einfach gesagt, der gefällt uns nicht, der ist anders als wir und deswegen wollten sie nicht mein Freund sein. Als ich in meine (jetzige) Klasse gekommen bin, da wurde ich nach ein paar Tagen als Freund angenommen. Da habe ich dann den ersten Freund kennen gelernt.

In unserer Klasse gibt es einen Morgenkreis und Freiarbeit. Kanntest du das schon vorher?

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Rico:Nein, das kannte ich nicht. Deswegen habe ich mich zuerst gewundert, worum es in diesem Morgenkreis da geht. Ich habe zuerst nicht verstanden, was da so los ist. Dass man da jeden Tag erzählt, von sich und so.

Hast du dich dabei wohl gefühlt? Oder war das komisch für dich mit dem Morgenkreis?

Rico:Am ersten Tag war das komisch, aber als ich dann jeden Tag hingekommen bin, dann fand ich das nicht mehr so komisch. Dann fand ich das irgendwie gut.

Und was fandest du daran gut?

Rico:Da kann man den anderen Kindern mitteilen, was man am vorigen Tag erlebt hat.

Ging es in der ersten Zeit in der neuen Klasse nicht auch hart zur Sache? Da haben dir die Kinder doch auch erzählt, welche Regeln es in unserer Klasse gibt. Du hast nach meiner Erinnerung dann freiwillig erzählt, wo du Schwierigkeiten hast.

Rico:Als ich hierher gezogen war, hat wohl jamand erzählt, wie frech ich da war und deswegen haben mich die großen Kinder nur verprügelt. Und deshalb wollte ich das an den kleinen Kindern auslassen. Und dann habe ich aber begriffen, dass ich das nicht mehr machen soll.

Der Unterricht mit der Freiarbeit war ja für dich neu. Kannst du dazu etwas sagen?

Rico: Ich dachte, wir müssen in der Schule lernen und dann habe ich begriffen, dass ich Lernspiele machen kann, die für mich auch gut gewesen sind, die für mein Lernen gut gewesen sind. Die haben mir geholfen weiterzukommen.

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Hast du eher mit anderen Kindern oder alleine gearbeitet?

Rico:Meistens habe ich alleine gearbeitet. Und dann konnte ich manchmal auch mit anderen Kindern arbeiten.

Du warst ja neu und kanntest gar nicht die ganzen Materialien. Woher wusstest du denn, wie man damit arbeitet?

Rico:Das haben mir andere Kinder gesagt.

Mario, wenn du an die Freiarbeit in den ersten vier Schuljahren zurückdenkst, woran denkst du dann? Was fällt dir dann ein?

Mario:Wir haben da viele Arbeitsmaterialien benutzt und haben viele Übungen miteinander gemacht, auch Gehirntraining. Manchmal haben wir mit ein paar Kindern irgendwie Fragen beantwortet.

Was hast du in der Freiarbeit besonders gerne gemacht?

Mario:Das Hunderterbrett habe ich gerne gemacht und den Würfel. Dann habe ich noch das Mal-Brett... und dann habe ich gerne gezeichnet.

Kannst du dich auch noch an Situationen erinneren, wo dich etwas gestört oder geärgert hat in der Freiarbeit?

Mario:Ich hab es nicht so gemocht, wenn die anderen Kinder laut waren, weil die einen Kinder arbeiten wollten und die anderen waren laut, die nichts gemacht haben.

Kannst du dich noch an die erste Zeit mit dem großen Tablett erinnern?

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Mario:Ich habe mit dem Wasser versucht, ohne dass ein Tropfen danebengeht.

Rico, kennst du denn die Gründe, weshalb du in unsere Klasse und nicht in eine andere vierte Klasse gekommen bist?

Rico:Ich bin jeden Nachmittag, wenn wir Hausaufgaben hatten, zu Frau K. gegangen und habe da die Hausaufgaben gemacht und da hat es mir immer so gut gefallen, weil da war nicht alles so laut und ich wurde nicht so gehänselt. Dann hat es Herr L. (der Schulleiter) und deswegen bin ich dann gekommen.

Rico, ich habe den Eindruck bekommen, dass es dir in deiner alten Klasse nicht so gut gegangen ist, weil du gehänselt worden bist. Fallen dir noch irgendwelche anderen Gründe ein, weshalb es dort nicht so klappte?

Rico:Ich wollte ja mit denen Freundschaft schließen, aber die haben mich nicht als Freund angenommen und deswegen haben sie mich immer gehänselt.

Ging das Hänseln weiter, nachdem du in unsere Klasse gekommen bist?

Rico:Meistens haben sie mich noch gehänselt, aber dann haben wir uns aus den Augen verloren.

Mario, hattest du in den letzten Jahren besonderen Ärger mit Kindern oder Lehrern

Mario:Meistens auf dem Schulhof. Wenn es geschneit hat und ich Eisrutschen wollte, dann haben sie mich immer hingeschubst.

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Hattest du denn in der Klasse auch Ärger mit den anderen Kindern?

Mario:Manchmal, ja.

Und worum ging es da?

Mario:Da haben sie mich auch manchmal gehänselt. Als ich noch lange Haare hatte und so. Langlocke und so...

Gab es noch andere Gründe, warum die Kinder manchmal komisch zu dir waren?

Mario:Ja bestimmt, weil ich da noch nicht so nett war. Jetzt bin ich ja schon etwas ruhiger geworden.

Ruhiger geworden? Was meinst du damit?

Mario:Da war ich schon etwas sauer und so. Da war ich ganz schön frech. Jetzt bin ich nicht mehr so frech.

Was heißt denn frech für dich?

Mario:Also, freche Wörter zu den anderen Kindern...

Und das fanden die nicht gut?Und im Unterricht? War da mit den anderen Kindern alles o.k.?

Mario:Det hat mir Spaß gemacht, wo ich mit den anderen Kindern Spiele gemacht habe und das Malbrett und so.

Wie hast du denn reagiert, wenn die anderen Kinder nicht nett zu dir waren?

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Mario:Ich bin dann immer weggegangen und habe einfach nicht drauf gehört. Und dann sind sie beleidigt gewesen.

Ich kann mich aber auch noch an andere Situationen erinnern!

Mario:Dass ich dann och manchmal zugehauen hab und so.

Gab es denn in den Situationen, in denen du Ärger hattest, irgend jemanden, der dir geholfen hat? Hattest du dir Hilfe gesucht?

Mario:Wenn ich manchmal von den Großen geärgert wurde, dann bin ich immer rüber zu meiner Schwester gegangen und hab es ihr gesagt. Und jetzt ist sie ja nicht mehr an dieser Schule und jetzt muss ich, wenn ich von Großen geärgert werde, zu meinem Bruder gehen.

Und wenn du mit Kindern in der Klasse Ärger hattest?

Mario:Manchmal bei Schneeballschlachten ...

Gab es denn auch Ärger mit Lehrern?

Mario:Ein paar Mal, als ich auf dem Schulhof Wasserbomben dabei hatte und andere Kinder vollgespritzt habe.

Und im Unterricht?

Mario:Im Unterricht (lange Pause) manchmal, wo ich was verkehrt hatte, wo es dann nicht hinpasste, da waren Sie sauer!

Sauer?

Mario:

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Na ja, so rumgemeckert ham se dann gleich, wenn ich was falsch gemacht habe.

Mario, wie war das mit den Arbeitsmaterialien?

Mario:Ja, das ging eigentlich. Schlimm war es ja noch nicht!Ab und zu habe ich mal eine Hausaufgabe vergessen und viel habe ich noch nicht vergessen gehabt.

Rico:Ne, du vergisst ziemlich oft die Hausaufgabe! Also (räuspert sich vernehmlich), wenn ich nicht dabei bin, dann vergisst er die ziemlich oft. Aber sonst arbeitet er eigentlich ziemlich gut mit, wenn er Lust hat.

Bekommst du Hilfe? Ich glaube nicht, dass du nicht arbeiten willst. Manchmal fällt dir das Arbeiten schwer!

Mario:Wenn ich etwas nicht weiß, dann frage ich meine Mama oder meine Schwester und dann erklären sie es mir. Und dann versuche ich es noch einmal, ob ich es schaff...

Rico, ich habe den Eindruck, dein Verhalten hat sich nach dem Wechsel in unsere Klasse verändert. Ich sehe deine Wutausbrüche noch vor mir, wie du gar nicht mehr ansprechbar warst und nur mit den Fäusten auf andere Kinder losgegangen bist. Das kommt eigentlich kaum noch vor. Welche Gründe gibt es dafür?

Rico:Jetzt gehe ich vorbei, wenn die Großen mich hänseln. Früher bin ich ja immer zu den Großen hingegangen und wollte, dass die damit aufhören. Und dann haben sie mir gesagt: „Det kannste vergessen!“ Und jetze gehe ich nicht mehr hin und gehe einfach vorbei.

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Woher weißt du, dass du so reagieren sollst?

Rico:Ich sage mir einfach, lass die links liegen und dann gehe ich vorbei.

Kannst du dich noch an Gespräche im Morgenkreis erinnern? Was haben dir da die Kinder gesagt und vielleicht auch deine Lehrerin?

Rico:Wenn jemand zu mir etwas sagt und ich dann ausraste, soll ich zuerst bis zehn zählen und dann soll ich vorbeigehen und nicht hingehen und den ... verhauen.

Helfen dir die Kinder aus der Klasse, wenn du auf dem Schulhof wütend wirst?

Rico:Ja, die meisten!

Mario, bei Rico habe ich den Eindruck, dass er sich in vielen Dingen, die sein Verhalten betreffen, verändert hat. Mir fällt auf, dass es dir immer noch sehr schwer fällt, deine Sachen mitzubringen, im Unterricht aufzupassen und mitzuarbeiten. Hast du Vorstellungen, warum dir das so schwer fällt?

Mario (antwortet sofort!): Ja, ich habe Angst, dass ich was verkehrt mache und mich die Kinder auslachen oder irgendwas sagen, wenn ich was verkehrt machen sollte.

Und wie erklärst du dir, dass ab und zu deine Arbeitsmaterialien fehlen?

Mario (nun sehr gedehnt!): Ja, wenn ich manchmal abends keine Zeit habe zum Packen, weil wir noch wegfahren oder irgendwas machen müssen...Und morgens haben wir keine Zeit. Da müssen wir ja uns waschen, anziehen, dann noch die Wäsche raussuchen und dann können wir noch unsere Mappe packen.

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Mario, wir waren nun fast sechs Jahre zusammen, hast du denn nicht manchmal das Gefühl, dass ich als deine Lehrerin auch manches nicht richtig gemacht habe? Oder hättest du dir manchmal etwas anderes von mir gewünscht?

Mario:Eigentlich nicht. Du hast das eigentlich schon richtig gemacht. Ich weiß auch nicht. Irgendwie waren manchmal ein bisschen wenig Arbeitsblätter da.

War ich gerecht zu dir?

Mario:Eigentlich schon, war eigentlich richtig. Es war immer ein bisschen doof mit den Zensuren. Da hatte ich immer Angst gekriegt.

Ohne Noten ging es dir besser?Warst du denn auch einmal richtig sauer auf mich?

Mario:Ja, eigentlich schon, als ich den mündlichen Verweis gekriegt habe.

Wofür war der denn?

Mario:Weil ich was gemacht hab. Was, weiß ich nicht mehr.

Wenn du an die nächste Zeit denkst, welche Wünsche hast du da?

Mario:Dass ich dann besser mitarbeiten kann. Dass ich nicht soviel Probleme mit den Zensuren hab.Und dass meine Eltern vielleicht mehr Zeit für mich haben.

Rico, du gehst in wenigen Tagen, mitten im Schuljahr, in eine andere Schule. Welche Hoffnungen, welche Wünsche, welche Ängste hast du?

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Rico:Ich würde mir wünschen, wenn ich in die nächste Klasse komme, dass ich da Freunde kriege und dass da auch nette Lehrer bei sind, nicht so ne strengen. Und ich finde es schade, dass ich von hier wegziehen muss. Und ich finde es schade, dass ich und Mario so weit voneinander weg sind.

3.8.5 Der Kommentar zum Interview

1) Zur Beschreibung der Lernentwicklung:

Mario berichtete auf der konkreten Ebene. Er erinnerte sich an einzelne Materialien, mit denen er gearbeitet hatte und kannte deren Namen. Rico konnte mit wenigen Worten das Problem des herkömmlichen Unterrichts beschreiben, der den Gleichschritt der Kinder voraussetzt: „Der Lehrstoff war schon weiter als ich war!“ Die Lernorganisation der Freiarbeit kam Ricos Bedürfnissen offensichtlich sehr entgegen.

2) Zur Situation der Lerngruppe:

Mario konnte die Situation in der Klasse sehr anschaulich beschreiben. Seine Rolle bei den Streitereien mit anderen Kindern war ihm nicht präsent, erst auf meine Nachfrage hin äußerte er sich zu seinem Anteil an den körperlichen Ausandersetzungen. Im Gegensatz zu seinem tatsächlichen Verhalten in der Schule stellte Mario in dem Interview ein besonderes Bedürfnis nach Ruhe und entspannten Situationen im Unterricht heraus.

Rico überspielte die Konflikte der Vergangenheit ein wenig. Seine Rolle in der neuen Klasse hat er dagegen sehr anschaulich beschrieben. Dass er von anderen Kindern Hilfe bekommen konnte, war für ihn offensichtlich eine ganz neue Erfahrung.

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3) Die Beziehung zu den Lehrkräften:

Es fällt auf, dass Mario auch hier von seinen Ängsten gesprochen hat, obwohl die Lehrkräfte davon ausgehen, dass in der Klasse eine angstfreie Atmosphäre gegeben war.

4) Eine Gesamteinschätzung:

Ich staunte über die große Bereitschaft der Jungen, über ihre Situation zu sprechen, ich wunderte mich über die Breite der Akzeptanz gegenüber den Lehrkräften der Klasse und darüber, wie verantwortungsbewusst und „erwachsen“ die beiden Schüler auch die schwierigeren Themen ihres Lebens darstellen konnten.

3.8.6 Ergebnisse

Eine kritische Betrachtung des Lernweges von Mario hat ergeben, dass sich in Klassen, die in Anlehnung an die Montessori-Pädagogik unterrichtet werden, auch Kinder befinden können, die sich innerhalb von sechs Schuljahren nicht „normalisieren“.

Zu diesen Kindern gehört Mario. Er benötigte bis zum Ende des sechsten Schuljahres in jeder Phase der Freiarbeit eine konsequente Betreuung, Überwachung und Kontrolle seiner Tätigkeiten. Maria Montessori würde Mario sicherlich als Kind bezeichnen, das „kein spontanes Interesse“ zeigt.

Mit dieser Zuordnung bin ich aber nicht ganz einverstanden, denn Mario zeigte im Lauf der Zeit für bestimmte Tätigkeiten durchaus ein spontanes Interesse, aber in der Regel eben nicht für solche Tätigkeiten, die die Schule glaubte, erwarten zu müssen.

Hier wird ein Stück weit sichtbar, in welchem Spannungsverhältnis sich Lehrkräfte bewegen, die versuchen, Elemente der Montessori-Pädagogik in das System der traditionellen Schule aufzunehmen, denn es muss von jeder Lehrkraft ganz allein entschieden und verantwortet werden, welche Handlungsmöglichkeiten einem Kind gegeben werden sollen,

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damit es im Rahmen seiner individuellen Entwicklungsmöglichkeiten tätig werden kann.

Rico dagegen konnte in der Freiarbeit-Klasse seine Lern- und Verhaltensauffälligkeiten ein Stück weit abbauen. Dabei spielten die Rahmenbedingungen der Freiarbeit-Klasse sicherlich eine bedeutende Rolle.

Beide Jungen waren in ihrer Lerngruppe sozial integriert. Es kam nie zu Bummeleien oder bewusst herbeigeführten Schulversäumnissen.

Rico und Mario lernten, anderen Menschen mit Vertrauen und Offenheit zu begegnen. Im Lauf der Zeit konnten sie zu den anderen Kindern der Klasse zum Teil entspannte, zum Teil freundschaftliche Beziehungen aufbauen.

Ich führe diese erfreuliche Entwicklung unter anderem auch darauf zurück, dass die Klärung von Verhaltensproblemen in meiner Klasse stets Vorrang hatte vor anderen Angelegenheiten. Diese pädagogische Grundsatzentscheidung hat sicherlich ein Stück weit dazu beigetragen, dass es in dieser Klasse von den ersten Wochen an immer ein entspanntes Arbeitsklima gegeben hat.

Am Beispiel von Rico kann weiter gezeigt werden, dass Beziehungsstörungen zu dauerhaften Lern- und Verhaltensstörungen führen können, aber keineswegs immer führen müssen, wenn es andere Einflüsse gibt, die eine ausgleichende Wirkung haben könnten.

Wir sollten aber immer daran denken, dass es der Schule nicht in jedem Fall gelingt, Lern- und Verhaltensstörungen zu kompensieren. Nach allen Erfahrungen wird es wohl immer Kinder geben, die mit den Anforderungen der Schule nicht zurechtkommen werden. Es wäre deshalb sicherlich lebensfemd, wenn man der Schule prinzipiell eine „heilende Wirkung“ unterstellen würde.

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Rico hat aus den ersten Schuljahren eine Reihe seelischer Verletzungen in die neue Klasse mitgebracht. Niemand konnte vorhersagen, ob sich Ricos Verhalten in einer Freiarbeitklasse verändern würde. Wenn es dann geschehen ist, hat dies sicherlich auch damit zu tun, dass er Vergleichsmöglichkeiten hatte, die ihm geholfen haben, die Situation in der neuen Klasse einzuschätzen und dann auch zu achten.

Wir wollen als weiteres wichtiges Ergebnis der Geschichte von Mario und Rico festhalten, dass die beiden Jungen bis zum Ende des sechsten Schuljahres keine Lernblockaden aufgebaut hatten, dass sie vielmehr bis zum Ende ihrer Grundschulzeit bereit waren, die Hilfsangebote ihrer Lehrerinnen und ihrer Mitschüler anzunehmen. Und wenn es Rico im Laufe weniger Wochen sogar gelungen ist, sein Lernen in die eigenen Hände zu nehmen, dann führen wir dies auch darauf zurück, dass sich in ihrer Freiarbeit-Klasse im Lauf der Zeit tatsächlich besondere soziale und emotionale Strukturen herausgebildet haben, die auch Kindern mit größeren Problemen helfen konnten, im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu lernen und ein Stück weit über sich hinauszuwachsen.

3.9 Ein kleiner Rückblick

Beim Abschlussfest der sechsten Klasse, über die wir in diesem Kapitel (3.7) ausführlicher berichtet haben, hatten wir die Eltern dieser Klasse gebeten, für uns aufzuschreiben, woran sie sich erinnern, wenn sie an das erste Schuljahr ihres Kindes zurückdenken. Einige Eltern hatten uns in den Ferien ihren Antworten geschickt.

Können Sie sich noch an das erste Schuljahr ihres Kindes erinnern?

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A) Es war eine ganz neue Erfahrung für uns. Die Meinungen über Integration gingen am Anfang weit auseinander. Ich erinnere mich noch an die Briefe, die sich die Kinder schrieben, die waren ganz süß. Toll war auch, dass sich alle Kinder untereinander respektierten.

B) Ich dachte oft: Lernt mein Kind jemals schreiben oder lesen? Manchmal waren große und kleine Druck- und Schreibschriftbuchstaben in einem Wort durcheinander. Die Kinder hatten keine Fibel. Sie lasen in Büchern, die sie sich selber aussuchen durften. Die Bedenken unserer Verwandten und Bekannten zu diesem Lernen waren groß. Die Kinder fühlten sich jedoch wohl, jeder erkannte die Leistungen der anderen an. Es waren einfach tolle Arbeitsmaterialien vorhanden.

C) Es war sehr ungewöhnlich, keine Noten und keine Hausaufgaben. Die Oma meines Kindes fand das Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern sehr komisch, denn bei der Weihnachtsfeier saß mein Kind auf dem Schoß der Lehrerin.

Ihr Kind hatte in seiner Klasse viel Freiheit über seine Tätigkeiten selbst zu entscheiden. Wie beurteilen Sie diese Möglichkeiten heute?

C) Die Freiheit wurde von den Kindern nicht ausgenutzt. Ich hätte nicht gedacht, dass die Kinder damit so gut umgehen können.

D) Anfangs war ich misstrauischer als heute. Trotzdem denke ich, es würde nicht in jeder Klasse funktionieren. Unsere Klasse war eine gute Gemeinschaft. Es ging ein guter Einfluss von den Lehrerinnen aus und das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern war toll. Nicht jeder Lehrer würde es verstehen so zu lenken, dass jedes Kind sich Arbeiten nach seinem Stand wählt.

E) Prima! Weil sich unser Sohn dadurch sehr gut entwickelt hat. Er war in der ersten Klasse ein ruhiger schüchterner Junge, aber seine spätere Entwicklung war einfach super. Ich bedanke mich dafür.

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Erinnern Sie sich noch an die Diskussion über die Rolle der Noten für das Lernen der Kinder ? Wie beurteilen Sie heute einen Unterricht, der auf Noten verzichtet?

F) Einem Unterricht ohne Noten würde ich jederzeit wieder zustimmen. Unser Kind hatte stets Angst vor schlechten Zensuren. Mit zunehmendem Alter konnte er damit schon besser umgehen.

G) Ganz deutlich sind schriftliche Beurteilungen aussagekräftiger, aber dann müsste in allen Klassen ohne Zensuren unterrichtet werden. Ich selbst war für Zensuren, da der Unterschied zu den anderen Kindern zu groß wurde. Außerdem hat mein Kind bei den Zensuren gelernt, dass man nicht immer alles nur gut kann. Mein Kind wurde dadurch ehrgeiziger. Ich bin immer noch der Meinung, dass es ohne Zensuren geht, aber dann sollte das für alle Kinder gelten.

H) Die Noten wirkten sich nicht auf die Lerneinstellung der Kinder aus.

Welche Tipps würden Sie Eltern geben, die ein Kind in einer Freiarbeitsklasse haben?

I) Die Eltern brauchen nicht skeptisch zu sein, Kinder können damit gut umgehen.

K) Einfach mal am Unterricht teilnehmen, um zu erkennen wie unterrichtet wird, die Arbeitsmaterialien anschauen.

L) Stets an den Elternabenden teilnehmen, unbedingt mal in den Unterricht gehen, vielleicht mit anderen Eltern sprechen, um auch andere Meinungen zu hören. Wir würden unser Kind jederzeit wieder in so eine Klasse geben.

Und zum Schluss ein Auszug aus einem Brief an die Lehrerinnen dieser Klasse:

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... Ich kann mich noch erinnern, als wir vor 6 Jahren im Kindergarten saßen und über das Modell einer Freiarbeitsklasse an unserer Schule informiert wurden. Wir waren nicht gleich begeistert und die zukünftige Klassenlehrerin und der Schulleiter mussten sich ganz schön anstrengen, um uns zu überzeugen.

Auch während der dann folgenden 6 Jahren gab es immer wieder anregende Diskussionen zwischen den Eltern und den Lehrern, z. B. um Zensuren, um die Freiarbeit aber auch zum Thema Hausaufgaben.

Viele Eltern haben sich selbst während des Unterrichts über die etwas andere Methode des Unterrichtens ein Bild gemacht.

Die Lehrerinnen der Klasse sind einen erfolgreichen Weg gegangen. Sie haben unseren Kindern ein umfangreiches und vor allem zusammenhängendes Wissen vermittelt. Sie haben einen wesentlichen Anteil daran, dass Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein bei den Kindern weiterentwickelt wurden. Auch die Organisation von gemeinsamen Veranstaltungen mit behinderten Kindern war für die Persönlichkeitsentwicklung und für den rücksichtsvollen Umgang miteinander sehr wertvoll ...

„Ich habe Kinder kennen gelernt, welche die Schulzeit den Ferien vorgezogen haben.“

Albert Einstein

4. Möglichkeiten

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Wir hatten nach Möglichkeiten gesucht, Kindern mit unterschiedlichen Voraussetzungen, unterschiedlichen Erwartungen, unterschiedlichen Hoffnungen und unterschiedlichen Wünschen besser helfen zu können bei ihren Versuchen, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen.

Wenn wir auf die Zeit zurückschauen, in der wir uns und unsere Arbeit mit den Kindern verändert haben, dann kommen wir zu dem Ergebnis, dass es sich gelohnt hat, dieses Risiko zu wagen und zu tragen. Wir wollen nicht verschweigen, dass wir aus eigenen Erfahrungen die Selbstzweifel und Krisen kennen, die solche Veränderungen mit sich bringen.

Wenn wir nicht wussten, wie unsere Arbeit weitergehen wird, gab es immer Menschen, die uns geholfen haben, das Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Oft waren es Kinder, die uns mit ihrer Zuversicht und ihrer Lebenskraft Mut machten, den begonnenen Weg weiterzugehen. So meldete sich nach einer verunglückten Freiarbeit einmal ein Junge, der sich selten äußerte. Als er dran war, sagte er die vier Worte: „Und morgen ist Donnerstag!“ Alle wunderten sich. Ja, es war Mittwoch und morgen ist Donnerstag! Der Tag ging zu Ende. Der Satz blieb haften. Dann kam der Donnerstag. Und tatsächlich! Es kam ein anderer Tag! Und die Kinder arbeiteten so intensiv und konzentriert, wie sie es lange nicht getan hatten.

Aus solchen Erlebnissen ziehen wir den Schluss, dass die Kinder in unseren Klassen im Lauf der Zeit lernen, für sich und für andere Kinder Verantwortung zu übernehmen. Dies erstaunt uns deshalb, weil sich diese Kinder ganz anders verhalten, als wir es in unserer Schulzeit gewöhnt waren. Wie oft warteten wir sehnsüchtig auf das Klingeln zur Pause? Wie oft freuten wir uns über das Klopfen an der Tür des Klassenzimmers?

Für die Kinder in unseren Klassen hat die Klingel praktisch keine Bedeutung. Die Kinder haben gelernt, die Glocke zu ignorieren. Oft arbeiten sie nach dem Klingeln weiter, die Pausen durch und

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ist dann Mittag, dann fragen sie manchmal erstaunt: „Was, ist schon Schluss? Schade!“ Dies ist für uns ein Zeichen dafür, dass sich diese Kinder wohl fühlen, dass sie bei sich sind, wenn sie arbeiten: „Der Stoff war immer da, wo ich gerade war!“, sagte Rico in seinem Interview. (Vgl. Kapitel 3.9) Für uns enthüllt dieser Satz eines der Geheimnisse der Montessori-Freiarbeit.

Im Lauf der Zeit haben wir uns daran gewöhnen müssen, dass nicht jeder mit diesem Satz etwas anfangen kann. Es ist nicht einfach zu ertragen, wenn von Menschen, denen wir verpflichtet sind, behauptet wird, dass Kinder in einem Unterricht ohne Zwang nichts lernen würden. Wenn gefragt wird: „Geht dein Kind denn etwa auch in die Spielklasse?“, verletzen uns solche Äußerungen, obwohl wir nachweisen können, dass die Kinder in unseren Klasen heute mit mehr Konzentration, mehr Freude, mehr Neugier und teilweise auch mit besseren Lernerfolgen arbeiten als die Kinder, die wir früher nach den alten Rezepten unterrichtet hatten. Wir fühlen uns aber nicht nur verletzt, sondern auch ein Stück weit wehrlos, denn wir spüren in unserem Inneren, dass wir mit jeder neuen Klasse etwas aufbauen, was im Verborgenen wachsen muss, bevor es herauskommen kann.

Wir sind sehr froh, dass es in unseren Klassen bisher immer Eltern gab, die unsere Arbeit mit Vertrauen, Kraft und Zuversicht unterstützt haben. Wir haben aber lernen müssen, dass es unmöglich ist, alle Eltern vom Sinn und Zweck der Freiarbeit zu überzeugen. Manchmal fragen wir uns auch, warum wir uns für unsere Art der Arbeit rechtfertigen müssen, obwohl wir nur das tun, was in den Schulgesetzen und Rahmenplänen gefordert wird.

Wir haben lernen müssen, dass die Vorstellungen über Erziehung und Bildung in unserem Land weit auseinander gehen. Wir glauben, dass es unmöglich ist, diese Vorstellungen auf einen Nenner zu bringen.

Unser Optimismus war nie so groß, dass wir geglaubt hätten, wir würden offene Türen einrennen können. Wir waren gezwungen, mit den Vorbehalten der Eltern zu leben. Und heute fällt es uns manchmal leichter, mit Eltern zu sprechen, die Skepsis gegenüber unserer Arbeit äußern, als mit Eltern, die sich zunächst als

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„Montessori-Fans“ vorgestellt hatten, mit diesem Bekenntnis aber Erwartungen verbunden haben, die uns überfordert hätten.

Wir sind in unterschiedlichen Gesellschaftssystemen aufgewachsen und haben deshalb lange Zeit ganz unterschiedlich gelebt, gelernt und unterrichtet. Unsere unterschiedlichen Erfahrungen regen uns immer wieder dazu an, uns über unsere unterschiedlichen Arbeitsweisen, Beobachtungen, und Erfahrungen auszutauschen.

Manchmal besuchen wir uns gegenseitig in unseren Klassen. Dabei haben wir festgestellt, dass es in unseren Lerngruppen eine Menge Gemeinsamkeiten gibt. Wir haben in unseren Klassen eine vergleichbare Intensität der Arbeit und einen sorgsamen Umgang mit dem Montessori-Material gefunden. Mit Sorge beobachten wir die wachsende Heterogenität unserer Lerngruppen und die Zunahme der Verhaltensauffälligkeiten, die wir auf emotionale und soziale Störungen, aber auch auf Defizite im Bereich der Sensomotorik und der Sprache zurückführen.

Manchmal wird behauptet, dass Freiarbeit-Klassen überall auf der Welt gleich aussehen würden. Mit unseren Klassen können wir dieses Vorurteil widerlegen. Wir betonen die Unterschiede und legen Wert auf eine „persönliche Note“ bei der Gestaltung des Tages und der Woche, bei den Ritualen und den großen Rhythmen des Jahres. Wir bemühen uns darum, auf die Bedingungen einzugehen, unter denen die Kinder unserer Klassen leben. Wir setzen daher ganz bewusst persönliche Akzente, mit denen wir Angebote verbinden, die von den Kindern in unterschiedlicher Weise aufgenommen und verarbeitet werden.

Wir hatten nie die Absicht, die Kinder unserer Klassen in irgendein pädagogisches System „einzugleisen“, schon gar nicht in das „System“ der Montessori-Pädagogik oder in das „System“ der Montessori-Materialien. Wir waren immer darum bemüht, uns im Rahmen unserer Schulen die notwendige innere Freiheit zu erhalten, um unsere pädagogischen Entscheidungen nach unseren eigenen Vorstellungen und in eigener Verantwortung treffen zu können.

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Diese innere Freiheit war die Voraussetzung für Erfahrungen, in denen wir gelernt haben, dass die Möglichkeiten der Montessori-Freiarbeit weit über die Möglichkeiten des traditionellen Unterrichts, aber auch weit über das traditionelle Verständnis der Montessori-Freiarbeit hinausgehen können. Wir versuchen, dies am Beispiel der Geschichte eines kleinen Stephan zu zeigen:

Stephan kam schon am ersten Schultag mit einem gebeugtem Rücken in die Schule. Er sprach nur selten, malte nicht, sang nicht, spielte nicht. Manchmal sammelte er Hölzchen oder Steine auf dem Schulhof. Bei kleinsten Konflikten rannte er aus der Schule. Er musste jede Woche mehrmals eingefangen und huckepack in das Klassenzimmer zurückgetragen werden.

Weil Stephan immer wieder weglief, suchten wir nach einem Platz, an dem Stephan Geborgenheit erfahren könnte. Wir haben Stephans Mutter dann gebeten, ein Papphaus von Ikea zu kaufen. Stephan malte dieses Papphaus mit seiner Mutter und einigen Kindern der Klasse bunt an. Als das Haus fertig war, bezog Stephan das Spielhaus. Wochenlang wohnte der Junge nun in seiner Hütte. Manchmal schaute er ein paar Minuten aus dem Fenster und beobachtete Kinder bei ihrer Arbeit. Dann verschwand er wieder.

Nach drei Monaten brachte Stephan ein Spielzeugauto mit. Er ließ das Auto zu meinem Ärger laut über die Wände des Klassenzimmers sausen. Plötzlich entdeckte er die blau-roten Montessori-Stangen. Er baute damit Brücken, ließ sein Auto darüber rollen und summte fröhlich vor sich hin. Kurz vor Weihnachten bekam Stephan eine große Kiste mit Sand, Löffeln, Sieben und Trichtern. Er schüttete fast bis zum Frühjahr den Sand.

Eines Tages bat er um ein sehr großes Blatt Papier, er wollte malen. Alle Bögen, die ihm angeboten wurden, waren ihm zu klein. Richtig zurieden war er erst, als er zwei zusammengeklebten Tapetenbahnen bekommen hatte. Ein Mädchen, das hin und wieder für kurze Zeit mit ihm spielte, holte Farben und nach zwei Stunden war ein riesiger Baum mit dicken

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Ästen entstanden. Und kurz vor Schulschluss leuchteten über dem Baum, den die Kinder gemalt hatten, zwei riesige Sonnen.

Konflikte hatte Stephan aber nicht nur in der Schule. Wenn er zuhause Probleme mit seiner Mutter hatte, ging er ins Bad und zertrümmerte er die Einrichtung des Badezimmers. Als diese Vorfälle immer häufiger wurden, bemühte sich die Mutter um eine Familientherapie. Diese hat sicherlich dazu beigetragen, dass die beiden nach vielen Monaten wieder miteinander reden konnten.

Solche Beobachtungen haben uns Mut gemacht, unsere Erfahrungen mit Kindern in der Montessori-Freiarbeit aus einem größeren Zusammenhang heraus zu interpretieren.

Das Ergebnis unsere Überlegungen zu den Möglichkeiten der Montessori-Freiarbeit haben wir in zwölf Thesen zusammengefasst:

1) Die Montessori-Pädagogik betrachtet den Menschen und seine Umwelt als Einheit. Ihr Anliegen ist die Gestaltung einer „vorbereiteten Umgebung, in der das Kind ein „Baumeister seiner selbst“, ein „Baumeister des Menschen“ und ein „Baumeister der Gesellschaft“ sein kann.

2) Wir leben in einer Welt, in der sich alle sozialen und kulturellen Zusammenhänge auflösen. Wir glauben, dass es deshalb nötig ist, den Kindern die Gelegenheit zu geben, selbständig und selbsttätig zu arbeiten, damit sie die Möglichkeit haben, eigenständige und eigenverantwortliche Persönlichkeiten zu werden. Die Montessori-Pädagogik bietet nach unseren Erfahrungen eine Fülle von Möglichkeiten, die jedem Kind dabei helfen können, zu sich zu kommen und zur Welt.

3) Die Montessori-Pädagogik betrachtet das Kind nicht als kleines, mit Mängeln behafteten Wesen, das Stufe für Stufe in die Welt der Erwachsenen hinaufgeführt werden muss. Aus der Sicht der Montessori-Pädagogik hat das Kind keinerlei Defizite gegenüber den Erwachsenen. Das Kind ist also ein Mensch, der mit allem ausgestattet ist für seine Aufgabe geboren zu werden,

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zu wachsen und den erwachsenen Menschen aufzubauen. Dieses grundlegende Wissen der Menschheit droht verloren zu gehen.

4) Maria Montessori hat herausgefunden, dass Kinder ohne größere Mühen lesen, schreiben, rechnen und denken lernen, wenn man ihnen in Zeiten besonderer Sensibilitäten die Möglichkeit gibt, die entsprechenden Kompetenzen zu erwerben. In unseren Schulen erhalten die Kinder diese Möglichkeit nicht, weil im System der Schule bis heute geglaubt wird, dass die biologischen Funktionen erst gereift sein müssen, bevor mit Aussicht auf Erfolg gelernt werden kann.

5) Bis heute wird in unseren Schulen versucht, die Kinder „auf den gleichen Stand“ des Wissens zu bringen, damit sie in vorausberechneten Zeiteinheiten zu den gleichen „Lernzielen“ geführt werden könnten. Selbst wenn es diese Möglichkeit gäbe, wäre die Einheitlichkeit des Lehrens und Lernens nach unserer Auffassung nicht gesichert, weil jeder Mensch anders ist, anders lebt und anders lernt. Wir gehen deshalb in unserer Arbeit mit den Kindern von der Unterschiedlichkeit der Menschen aus. Wir betrachten die Unterschiedlichkeit der Kinder auch nicht als Belastung, sondern als Chance für das Leben und Lernen in einer Gemeinschaft.

6) Wir verstehen das Lernen des Menschen als komplexen, vielschichtigen, beeinflussbaren, aber prinzipiell nicht vorher bestimmbaren Prozess. Wir versuchen deshalb im Sinne des Prinzips der „indirekten Methode“ der Maria Montessori, für die uns anvertrauten Kinder eine vorbereitete Umgebung zu gestalten, in der sie sich auf individuellen Wegen ein Höchstmaß an kognitiven, sozialen und emotionalen Kompetenzen aufbauen können.

7) Nach unseren Beobachtungen bietet die Montessori-Freiarbeit jedem Kind, also auch Kindern mit Behinderungen, eine Fülle von Möglichkeiten, eigenständig zu arbeiten. Damit gibt sie jedem dem Kind die Chance zu lernen, das eigene Leben zu meistern. Kinder, die diese Möglichkeit nicht nutzen, benötigen die individuelle Hilfe ihrer Lehrkräfte.

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8) Die Montessori-Pädagogik kennt keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Lehren und Lernen. Sie ersetzt die lineare Beziehung zwischen dem Lehren und Lernen durch ein komplexes System, in dem die Zeit, der Raum, die Gegenstände, die Kinder und die Lehrkräfte in unterschiedlichen Funktionen zusammen wirken.

9) Die vorbereitete Umgebung als Voraussetzung für die freie Arbeit der Kinder gibt den Lehrkräften die Möglichkeit, die Kinder bei ihren Tätigkeiten zu beobachten. In anderen Formen des Unterrichts besteht kaum die Möglichkeit, dass Lehrkräfte die Prozesse des Lernens der Kinder verfolgen können. In der Montessori-Freiarbeit ist die Beobachtung der Kinder die wichtigste Aufgabe der Lehrkräfte. Die systematische Beobachtung vor dem Hintergrund entwicklungspsychologischer, didaktischer und methodischer Einschätzungen ist die Voraussetzung für die angemessene Gestaltung einer „vorbereiteten Umgebung“.

10) Die entwicklungsökologischen Voraussetzungen der vorbereiteten Umgebung tragen dazu bei, dass die Kinder in ihrer selbst gewählten Tätigkeit emotionale, soziale und kognitive Kompetenzen erwerben, die ihnen nicht nur helfen, ihre Personalität aufzubauen, sondern auch mit anderen Menschen zu kommunizieren und zu kooperieren.

11) In der Montessori-Freiarbeit gibt es eine Einheit der Bildungs- und Erziehungsaufgaben. In der selbstgewählten Tätigkeit des Kindes entstehen stets kognitive Fähigkeiten und besondere Verhaltensweisen, die dem Kind helfen, mit sich und mit anderen Menschen in angemessener Weise umzugehen.

12) Die Ethik und die Erkenntnistheorie der Montessori-Pädagogik stecken in dem Satz „Hilf mir es selbst zu tun!“Wir können in der Montessori-Freiarbeit beobachten, wie Kinder sich bemühen, zu sich und zur Welt zur kommen, das heißt, ihre Wirklichkeit aufzubauen. Die Kinder wissen, dass sie bei dieser Arbeit nicht gestört werden dürfen. Die Kinder wissen, dass sie in der Freiarbeit die Möglichkeit haben zu arbeiten. Die Montessori-

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Pädagogik ersetzt die Moral des „Du musst!“ und des „Folge mir!“ der alten Pädagogik durch ethische Verpflichtungen für die Lehrkräfte und für die Kinder.

„Da es dem König aber wenig gefiel, dass sein Sohn, die kontrollierten Straßen verlassend, sich querfeldein herumtrieb, um sich selbst ein Urteil über die Welt zu bilden, schenkte er ihm Wagen und Pferd. `Nun brauchst du nicht mehr zu Fuß zu gehen´, waren seine Worte. `Nun darfst du es nicht mehr´, war deren Sinn. `Nun kannst du es nicht mehr´, deren Wirkung.“

Günter Anders, Kindergeschichten

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5. Grenzen

Wenn wir nach den Grenzen der Montessori-Freiarbeit im Alltag öffentlicher Schulen fragen, dann müssen wir klären, welche Grenzen wir meinen. Wir sehen erstens die Grenzen, die das Schulsystem sich selbst gegeben hat, zweitens die Grenzen, die wir im „System“ der Montessori-Freiarbeit finden und drittens die persönlichen Grenzen der Lehrerinnen und Lehrer, die versuchen, auf der Grundlage der Montessori-Pädagogik mit Kindern zu arbeiten.

5.1 Die Grenzen im System der öffentlichen Schule

In den Broschüren der Schulbehörden finden sich immer häufiger Hinweise auf die Montessori-Pädagogik:

„Diese Pädagogik steht für `Freiarbeit und entspannte Lernatmosphäre´. Schüler können gemäß ihren Interessen und ihrem individuellen Lerntempo arbeiten, Konkurrenzverhalten soll gemindert, Zusammenarbeit gestärkt und Konzentrationsfähigkeit erhöht werden. Alle Schüler werden in ihrer Selbständigkeit und Hilfsbereitschaft gefördert.“ (Sommerlatte: 30)

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Wir freuen uns über das Vertrauen, das der Montessori-Pädagogik heute entgegengebracht wird. Wir fragen uns aber, ob hier nicht große Erwartungen geweckt werden, die im System der öffentlichen Schulen nur unter besonders günstigen Bedingungen erfüllt werden können.

Die Rahmbedingungen für die Montessori-Freiarbeit werden in den öffentlichen Schulen festgelegt durch die Gesetze, Verordnungen und internen Regelungen, nach denen die einzelnen Schulen zu arbeiten haben. Gern wird in diesem Zusammenhang von der Sicherstellung der Vergleichbarkeit der Schulen gesprochen. Wenn mit dem Begriff „Vergleichbarkeit“ die Gleichheit der Bildungschancen der Kinder und Jugendlichen in unserem Land gemeint ist, dann gibt es da Zweifel. Wir haben große Unterschiede gefunden zwischen den Schulen. Und das, was in der einen Schule erwartet wird oder möglich ist, kann in einer anderen Schule derselben Region auch verboten sein.

Es gibt durchaus Spielräume im System der öffentlichen Schulen, auch wenn überall die gleichen Rahmenbedingungen gelten und im Hintergrund ein „Betriebssystem“ die Gesetze des Alltags der Schulen regelt, ohne dass dies den Lehrerinnen und Lehrern bewusst sein müsste.

Zu diesem „Betriebssystem“ gehört, dass von Lehrerinnen und Lehrern erwartet wird, dass sie die Lernprozesse der Schüler steuern könnten. Wie das im Einzelnen geschieht, bleibt der Entscheidung des einzelnen überlassen. Übersehen wird, dass hier Ansprüche gestellt werden, die, wie wir zeigen konnten, nicht erfüllt werden können, weil kein Mensch einen direkten Zugang zum Denken und Fühlen eines anderen Menschen besitzt. Der Aberglaube, dass Lehrer einen exklusiven Zugang zum Denken eines anderen Menschen haben, ersetzt bis heute fast überall die kritische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit des Lehrens und Lernens, die nach unseren Beobachtungen oft so aussieht, wie es der Erziehungswissenschaftler und Lehrer Rainer Winkel einmal beschrieben hat:

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„Frau D. erteilt Biologieunterricht: „Reflexe und Reize“ sind dran, und diese Siebtklässler sind gut drauf. Die Lehrerin kämpft einen verzweifelten Kampf um Aufmerksamkeit und Lernbereitschaft: „Woran erkennst du angeborene Verhaltensweisen?“ „Welche Aufgaben haben Reflexe?“ „Was sind Schlüsselreize?“ „Durch welche Attrappen wird das Kampf und Balzverhalten von Stichlingen ausgelöst?“ - Ich bin inmitten von Gekicher, Gegacker, Gejohle und Gebalge. Plötzlich schlägt Hassan auf Patrick ein, der seinerseits sofort zurück haut und in die Klasse schreit: „Der hat mich angemacht!“ Kurz darauf schieben Saliber und Markus ihren Tisch immer weiter an den nächststehenden Mädchentisch heran, klemmen ihn ein, und als die beiden Mädchen fröhlich aufschreien, setzt sich Markus, theatralisch protestierend, woanders hin; die Lehrerin kommt und meint erregt zu Saliber: „Du bist ein Stänkerfritze!“

Solche Unterrichtsstunden folgen einem Muster, das in internationalen Untersuchungen als typisch deutsches Unterrichtsmodell bezeichnet wird:

Die Stunde beginnt mit der Durchsicht und Besprechung der Hausarbeiten. Es folgt eine kurze Widerholungsphase. Der neue Stoff wird im fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch, das auf eine einzige Lösung hinführt, relativ kurzschrittig erarbeitet und vom Lehrer an der Tafel dokumentiert. Anschließend werden in einer Stillarbeit ähnliche Aufgaben zur Einübung des Verfahrens gelöst. (Baumert u.a.: 226)

Der inhaltliche und organisatorische Rahmen des Unterrichts ist vorgegeben. Über die Art des Unterrichts können die Lehrkräfte im Rahmen der „Methodenfreiheit“ des Grundgesetzes frei entscheiden. Warum nutzen sie ihre vom Grundgesetz garantierte Freiheit, den Unterricht zu verändern, dann aber so selten? Liegt es vielleicht daran, dass die Rahmenbedingungen der öffentlichen Schulen die pädagogischen Möglichkeiten der „Methodenfreiheit“ des Lehrers so stark einschränken, dass diese Freiheit in vielen Schulen gar nicht zum Zuge kommen kann? Wir glauben, dass eine Diskussion über diese Frage geführt werden müsste, vor allem aber über die Interdependenzen zwischen den

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verschiedenen Ebenen, auf denen die Rahmenbedingungen der Schule festgelegt werden.

Es gibt Schulgesetze. Sie regeln die Grundsätze der Notengebung, die Gestaltung der Zeugnisse und die Frage der Versetzung in die nächsthöhere Klassse.

Es gibt Rahmenpläne, die für Lehrkräfte verbindlich sind. Sie bestimmen die Inhalte des Unterrichts, seinen Schwierigkeitsgrad, teilweise sogar den zeitlichen Rahmen für die einzelnen Themen.

Die Schule erarbeiten interne Pläne, z.B. Stundenpläne. Die einzelne Schule regelt auf diese Weise die Verteilung der Lehrerstunden, die Bildung von Teams, von Kooperationsmöglichkeiten usw.

Hinter allen Regelungen steht die Erwartung, dass damit die „Chancengleichheit“ der Schüler, die Vergleichbarkeit der Arbeit der Lehrkräfte der einzelnen Schulen und die Vergleichbarkeit der Schulen sichergestellt werden könnte.

In manchen Köpfen hat sich die Auffassung festgesetzt, dass durch den gezielten Einsatz pädagogischer Mittel nicht nur die Vergleichbarkeit, sondern auch die Gleichheit der Schülerinnen und Schüler hergestellt werden könnte.

Diese Vorstellung ist uns immer fremd gewesen. Wir sind immer von der Unterschiedlichkeit der Kinder und der Unterschiedlichkeit der Wirkung der pädagogischen Mittel ausgegangen. Inzwischen sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass es auch zwischen Lehrerinnen und Lehrern, die nach denselben pädagogischen Konzepten arbeiten, erhebliche Unterschiede gibt. Wir können uns hier auf die Ergebnisse der Schulforschung stützen, denn Schulforscher berichten, dass es auch zwischen Schulen, die nach ähnlichen Konzepten arbeiten, erhebliche Unterschiede gibt, dass die Ergebnisse einer Schule also letztlich nicht von ihren Konzepten, sondern von den Personen bestimmt werden, die in einer Schule arbeiten:

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„In unterschiedlichen System gibt es vergleichbare Ergebnisse. In gleichen Systemen unterschiedliche Ergebnisse. Die Lösung dieses Rätsels ist der Mensch, sind die Erzieherinnen und Erzieher und die Art des Zugangs zum Kind. (Laurien: 29)

Bemüht sich ein solcher Mensch dann, die Grundlagen seines Unterrichts zu verändern, muss er sich ständig mit den ungeschriebenen Gesetzen des alten „Betriebssystems“ auseinandersetzen, das für die Unterschiedlichkeit der Menschen innerhalb des Systems blind ist. Dieser Mensch ist mit seiner ganzen Person gefordert, denn er riskiert, dass er als Außenseiter abgestempelt wird. Dies gilt in besonderer Weise für Lehrerinnen und Lehrer, die sich im System der öffentlichen Schule an der Montessori-Pädagogik orientieren, denn die Montessori-Pädagogik besitzt kein „Betriebssystem“. das mit dem System der klassischen Schule kompatibel ist. Sie kennt keine Rahmenpläne, keine Schulbücher, keine Stundenpläne, keine Klassenbücher, keine Pausenklingel, keine Noten, keine Zeugnisse, keine Strafen und keine Belohnungen.

Wer versucht, Elemente der Montesori-Pädagogik in den Alltag der öffentlichen Schule zu implementieren, muss damit rechnen, dass er in grundlegenden pädagogischen Fragen zu Kompromissen gezwungen ist, die das Grundverständnis der Montessori-Pädagogik betreffen. Er sollte auch darauf vorbereitet sein, dass er immer wieder gefragt werden wird, ob Kinder in der Freiarbeit überhaupt etwas lernen würden.

In den ersten Jahren der Grundschule ist es noch relativ einfach, einen Ausgleich zu finden zwischen den unterschiedlichen Auffassungen vom Lernen, die es in unserem Land gibt. Viele Eltern kennen Formen der „freien Arbeit“ aus den Kindergärten ihrer Kinder. Da inzwischen in vielen Bundesländern in den unteren Klassen der Grundschule auf Noten verzichtet wird, kommt es hier nicht zu Konflikten. Wir haben uns gewundert, dass es in einigen Bundesländern Grundschulordnungen gibt, die den besonderen Lern- und Spielbedürfnis der Kinder in den ersten Klassen Raum geben. (Vgl. z.B. MBJS Brandenburg)

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In den höheren Klassen der Grundschule wird es dann aber immer schwieriger, akzeptable tragfähige Kompromisse zu finden. Ein Teil der Eltern in „Montessori-Klassen“ glaubt, auf Noten für ihre Kinder nicht verzichten zu können. Andere Eltern wollen auf keinen Fall Noten haben. Die Diskussion über die Bedeutung der Noten führt häufig zu lang anhaltenden Auseinandersetzungen, die das Gespräch über andere Fragen des Schullebens überlagern und belasten können.

Ob die Montessori-Freiarbeit in einer Schule Fuß fassen kann, hängt zu einem Teil auch davon ab, ob die Leitung einer Schule die Freiarbeit unterstützt und kritisch begleitet. Dies zeigt sich bei der Regelung der kleinen Probleme des Schulalltags, vor allem aber bei der Gestaltung der Stundenpläne. Hier sollte darauf geachtet werden, dass die beiden ersten Stunden des Schultages nach Möglichkeit für die freie Arbeit freigehalten werden.

In Grundschulklassen, die auf den Übergang in die Oberschulen vorbereitet werden müssen, werden die Spielräume für die Montessori-Pädagogik immer enger. Die alten Auffassungen vom Lernen werden dort zum Teil mit Macht durchgesetzt. Vielen Lehrerinnen und Lehrern fehlt die Kraft, sich diesen Vorgaben zu widersetzen und die prinzipiell vorhandenen Rahmenbedingungen für ein Lernen ohne äußeren Druck auszuschöpfen.

In einigen Bundesländern, so in Berlin und Brandenburg gibt es öffentliche Schulen, in denen Kinder in Anlehnung an die Montessori-Pädagogik in altersgemischten Klassen lernen. In den unteren Klassen der Grundschule hat sich dieses klassische Modell der Freiarbeit nach unserer Auffassung überall bewährt. In den Klassen, in denen Kinder aus der vierten, fünften und sechsten Jahrgangsstufe lernen, wird die Freiarbeit aus administrativen und organisatorischen Gründen ergänzt durch Formen des gebundenen Unterrichts, durch einen projektähnlichen Unterricht oder einen Unterricht auf der Grundlage von Wochenplänen.

Hier zeigen sich die Grenzen der Gestaltungsfreiheit der Schulen, die ihren Unterricht stärker auf das Lernen des einzelnen Kindes einstellen wollen.

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Wenn heute für einen Unterricht auf der Grundlage der Montessori-Pädagogik geworben wird, dann sollte immer gesagt werden, dass die schulorganisatorischen und rechtlichen Voraussetzungen in der Orientierungsstufe und in den vierten , fünften und sechsten Klassen der Grundschule dafür kaum gegeben sind.

„Wo Montessori draufsteht, muss auch Montessori drin sein!“

Aus einer Montessori-Zeitschrift

5.2 Die Grenzen im System der Montessori-Freiarbeit

Wo enden die Möglichkeiten der Montessori-Freiarbeit im System der öffentlichen Schulen?

Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir einen Blick werfen auf das „Montessori-System“. Vieles, was Kinder in der Schule nur mit Mühe lernen, lernen Kinder im Montessori-Kinderhaus früher und deshalb ohne größere Anstrengungen. Das gilt vor allem für das Lesen und Schreiben. Hier besteht ein organisatorischer Bruch zwischen dem „Montessori-System“ und dem System der öffentlichen Schulen.

Die Erwartungen der Öffentlichkeit an die Montessori-Pädagogik ist hoch. Diese Erwartungen können schnell in Enttäuschungen umschlagen, weil die Kinder in der Montessori-Freiarbeit die Freiheit haben, ihren inneren Impulsen zu folgen und nicht den Erwartungen ihrer Eltern.

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Dies gilt vor allem für Kinder, die ohne Kinderhauserfahrungen in eine Freiarbeit-Klasse kommen. Diese Kinder stürzen sie sich häufig eben nicht gleich auf die Lese-, Schreib- und Rechenmaterialien. Sie nutzen gerne die Fülle der Möglichkeiten, zu elementaren sensorischen, motorischen, kognitiven und sozialen Erfahrungen zu kommen. Eltern und Lehrer wundern sich dann darüber, dass Erstklässler mit Sand schütten, Reis mit einer Pinzette von einem Schälchen zu einem anderen transportieren oder Metallteller putzen, statt zu schreiben oder zu rechnen.

Schnell entsteht dann die Angst, dass ein Kind nicht genug lernt. Diese Angst überträgt sich auf das Kind. Das Kind blockiert, verliert seine Spontaneität und wird dann tatsächlich handlungsunfähig. Lehrer und Eltern tragen in einer Freiarbeitklasse eine besondere Verantwortung für die harmonische Entwicklung der Kinder, die sich häufig ganz anders verhalten, als es von ihnen erwartet wird.

Wir haben viel Verständnis dafür, dass das elementare Wissen über die Voraussetzungen des schulischen Lernens in unserem Land in Vergessenheit geraten ist. Wir geben gerne zu, dass es auch für uns nicht immer einfach ist, die langen Phasen auszuhalten, in denen Kinder scheinbar nur spielen. Wir haben aber festgestellt, dass unsere Geduld mit diesen Kindern immer belohnt wurde, denn diese Kinder erarbeiten sich das nötige Selbstvertrauen, die Zuversicht, die Geduld und die grundlegenden sensomotorischen Kompetenzen für die so genannten höheren Tätigkeiten des Menschen.

Kinder unterscheiden nicht zwischen „höheren“ und „niederen“ Tätigkeiten. Sie haben aber fast immer ein sicheres Gespür für die Handlungsmöglichkeiten, die zum aktuellen Stand ihrer Entwicklung passen, wenn wir ihnen die Wahl ihrer Tätigkeiten überlassen.

Oft werden wir gefragt, wie lange es dauert, bis sich Kinder in einer Freiarbeit-Klasse einleben. Nach unseren Erfahrungen finden sich Kinder in Freiarbeitklassen sehr schnell zurecht, wenn sie bereits am ersten Tag der ersten Klasse die besonderen

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Möglichkeiten der Freiarbeit kennen lernen konnten. Wir staunen immer wieder darüber, wie schnell die Mehrzahl der Kinder die Regeln der Freiarbeit verinnerlicht. Schon nach wenigen Tagen haben die meisten Kinder dann Arbeitsmöglichkeiten gefunden, die dem Stand ihrer inneren Entwicklung entsprechen.

Wir können uns in der Regel darauf verlassen, dass sich die Kinder im Rahmen der Freiarbeit die kognitiven Strukturen für das Lesen, Schreiben und Rechnen aneignen. Da das spontane Interesse der sechs- und siebenjährigen Kinder aber nicht so sehr auf das Lesen und Schreiben ausgerichtet ist, haben wir darauf zu achten, dass wir die Kinder immer wieder zum Schreiben und Lesen anregen. Hier gibt es ein Problem, das im organisatorischen Rahmen einer öffentlichen Schule nicht befriedigend gelöst werden kann, weil es dabei um unterschiedliche Menschenbilder und unterschiedliche Vorstellungen vom Lernen geht.

Da wir in der Freiarbeit die Lernwege der Kinder beobachten können, haben wir immer wieder Grund zum Staunen über die großen Unterschiede zwischen den Kindern. Ein Teil der Kinder konnte lange vor der Einschulung lesen, schreiben und rechnen. Ein Teil der Kinder arbeitet regelmäßig mit dem Montessori-Material, ein anderer Teil beschäftigt sich eher sporadisch mit den Materialien. Wieder andere Kinder kommen ohne die Arbeit mit dem Montessori-Material zu ihrem Wissen.

Wir erleben immer wieder, dass die Lernmöglichkeiten der Kinder auf der Grundlage des Montessori-Materials zum Teil weit über die Anforderungen der Grundschule hinausgehen. Viele Kinder arbeiten an sprachlichen oder mathematischen Aufgaben, für die sie eigentlich noch „zu jung“ sind.

Man sollte sich hier aber nicht täuschen lassen. Zwischen der Arbeit mit dem Material und dem formal ausgerichteten Anspruchsniveau der Regelschule gibt es durchaus Unterschiede. Hier bilden die Kinder Stück für Stück immer komplexere kognitive Strukturen, dort geht es in der Regel um das Training ganz bestimmter Aufgabentypen.

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Unabhängig vom Leistungsstand des einzelnen Kindes bemühen wir uns in unseren Klassen darum, dass die Anforderungen der Rahmenpläne erfüllt werden. Hier sind wir in der öffentlichen Schule zu Balanceakten gezwungen, um die sich eine freie Montessori-Schule nicht kümmern muss.

Kinder, die nicht zu einer konzentrierten Arbeit finden, sind nach der Auffassung Maria Montessori ungeeignet für eine Freiarbeit-Klasse. In einer öffentlichen Schule, aber sicherlich nicht nur dort, haben Lehrerinnen und Lehrer die Pflicht, mit diesen Kindern nach Wegen zu suchen, auf denen sie das vorgeschriebene Pensum der Schule erfüllen können. (Vgl. Schieder: Tätigkeit und Entwicklung) Wir schränken in solchen Fällen die Handlungsmöglichkeiten des Kindes ein und geben ihm Aufgaben, die es in der Zeit der Freiarbeit erfüllen müssen. Dies ist für uns keine einfache Sache, weil wir von diesem Augenblick an in der Klasse auf zwei Ebenen zu handeln haben.

Viele Eltern, Ärzte, Psychologen, Therapeuten und ein Teil der Schulen gehen inzwischen davon aus, dass die Montessori-Pädagogik eine besondere Pädagogik für Kinder mit besonderen Problemen ist. Wir wollen hier entschieden widersprechen.

Die Montessori-Pädagogik ist nach unserer Auffassung keine besondere Pädagogik, sondern eine allgemeine Pädagogik mit einem Menschenbild, das im Widerspruch steht zum herrschenden Menschenbild unseres technologisch geprägten Zeitalters.

Die Montessori-Pädagogik bietet nach unseren Erfahrungen durchaus die Grundlage für einen integrativen Unterricht, in dem auch Kinder mit einem besonderen Förderbedarf angemessen betreut und unterrichtet werden können (vgl. Noll). Aus Verantwortung für die uns anvertrauten Kinder bemühen wir uns aber darum, keine Erwartungen zu wecken, die enttäuscht werden könnten.

Die konzeptionellen Grundlagen einer Pädagogik sind das eine, die organisatorischen und materiellen Bedingungen der Schule und die Persönlichkeit der Lehrerin oder des Lehrers das andere.

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Nur wenn die Beziehungen zwischen den verschiedenen Komponenten des pädagogischen Handelns optimal sind, können die Möglichkeiten einer Pädagogik im Alltag mit den Kindern ausgeschöpft werden.

Der Ruf nach einer „Pädagogik für alle“ macht deshalb nach unserer Auffassung keinen Sinn, vor allem dann nicht, wenn diese Pädagogik technologisch interpretiert und mechanisch praktiziert wird.

„Unser bester Lehrer war ein großer, erstaunlich hässlicher Mann, der in seiner Jugend, wie es hieß, eine Professur angestrebt hatte, mit diesem Versuch aber gescheitert war. Diese Enttäuschung brachte alle

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in ihm schlummernden Kräfte zu voller Entfaltung.“

Bertolt Brecht

5.3 Die Grenzen der Lehrkräfte

Die Montessori-Freiarbeit steht und fällt mit der Gestaltung der vorbereiteten Umgebung. Lehrkräfte gehören nach dem Verständnis der Montessori-Pädagogik zu dieser Umgebung. Sie haben diese zu pflegen, zu gestalten und zu verändern, wann immer es nötig ist.

Wer in einer „Montessori-Klasse“ unterrichtet, hat sein Handwerkszeug in der Regel einer besonderen Ausbildung gelernt, die von Akademien, Verbänden, Vereinen und privaten Ausbildungsinstituten angeboten wird.

Die Ausbildungsangebote unterscheiden sich in ihren inhaltlichen und methodischen Schwerpunkten sehr stark. In einigen Ausbildungskursen wird heute noch versucht, die Form jener Kurse nachzuahmen, die Maria Montessori vor vielen Jahrzehnten durchgeführt hat. Andere Kurse orientieren sich stärker an den neuen Formen der Erwachsenenbildung.

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In unseren Kursen stehen die Freiarbeit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer und die Auswertung der Hospitationen im Mittelpunkt. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass die eigene Erfahrung mit dem Lernen in der Freiarbeit die Grundlage bildet für die Vorbereitung der Freiarbeit im Alltag einer Klasse.

Ein Kurs kann zur Veränderung der eigenen Einstellung anregen, er kann Wissen vermitteln und die Zusammenarbeit unter den Lehrerinnen und Lehrern fördern. Ein Kurs setzt Impulse. Letzten Endes liegt es aber immer in der Verantwortung des einzelnen Menschen, was er daraus macht. Und so gilt für die Kurse wie für die Schule: einen direkten Zusammenhang zwischen dem Lehren des Lehrers und dem Lernen des Schülers gibt es nicht.

Oft wird geglaubt, die genaue Kenntnis des besonderen Montessori-Materials bilde die Grundlage für den Erfolg der Freiarbeit. Dies ist zu einem Teil sicherlich richtig. Wir haben in den Jahren der Umstellung unseres Unterrichts aber erleben müssen, dass die beste Materialkenntnis nicht weiterhilft, wenn das eigene Denken blockiert ist und die Möglichkeiten der freien Arbeit deshalb nicht ausgeschöpft werden können.

Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass nicht die Kinder, sondern die Erwachsenen die Probleme mit der Freiarbeit haben, denn die Freiheit der freien Arbeit mit den Kindern zwingt jede Lehrerin und jeden Lehrer dazu, die eigene Rolle zu überprüfen und zu verändern.

Wer glaubt, die Montessori-Pädagogik könne wie eine neue Karosserie auf ein altes Fahrgestell geschraubt werden, scheitert. Er sollte dafür aber weder das Fahrgestell noch die Karosserie verantwortlich machen.

Die Montessori-Pädagogik regt zur Veränderung des eigenen Denkens und Handelns an. Doch wer sein eigenes Handeln vor dem Hintergrund dieser Pädagogik tatsächlich verändern will, lässt sich auf einen mühsamen und langwierigen Prozess ein, der viele Jahre dauern kann.

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Lehrerinnen und Lehrer, die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit ihre Arbeit verändern und mit der Freiarbeit beginnen wollen, benötigen deshalb nach unserer Erfahrung eine sorgfältig vorbereitetes Umfeld, in dem sie sich nach und nach auf ihre neue Aufgabe vorbereiten können.

Aus den unterschiedlichen Bedingungen in der Lehrerausbildung und den individuellen Erfahrungen im Beruf ergeben sich ganz unterschiedlichen Ausgangsbedingungen für die Freiarbeit. Jüngere Lehrerinnen, die gelernt haben, in einem Team zu arbeiten, haben es nach unseren Beobachtungen sehr viel leichter, sich auf die Freiarbeit einzulassen als erfolgreiche Einzelkämpferinnen mit langen Berufserfahrungen, die ihre alten Auffassungen über das Lernen der Kinder erst einmal über Bord werfen müssen.

Jeder, der sich ein Stück weit auf das Denken der Montessori-Pädagogik einlässt, stellt irgendwann fest, dass es in dieser Pädagogik nicht so sehr darum geht, Neues zu lernen, sondern eher darum, Altes zu verlernen.

Es geht damit um die Grundlagen unserer Persönlichkeit und um das Problem, die gewohnten Verhaltensmuster des Lehrerberufes aufzugeben. Und wer sich darauf dann tatsächlich einlässt, kann nicht verhindern, dass er sich verändert, denn jeder Versuch der Befreiung „von der Knechtschaft der Gewohnheit“ führt, wenn er gelingt, zu einer „tiefgreifenden Neubestimmung des Selbst“. (Bateson)

Gregory Bateson, der sich sein ganzes Leben mit diesen Prozessen der Veränderung der Persönlichkeit beschäftigt hat, hat uns den Hinweis gegeben, dass es dabei manchmal zu einer „Offenbarung der Einfachheit“ kommen kann, „in der der Hunger direkt zum Essen führt“, manchmal auch zu einer neuen Beziehung des Menschen zur Welt, in der sich „die Gegensätze der Welt auflösen“ und in einer „umfassenden Ökologie oder Ästhetik der kosmischen Interaktion“ aufgehen. Bateson: Ökologie des Geistes: 395)

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Es gibt viele Hinweise darauf, dass sich Maria Montessori mit solchen und ähnlichen Fragen auseinandergesetzt hat. Wir glauben deshalb, dass die Bedeutung ihres pädagogischen Denkens und Handelns in ihren Tiefen überhaupt nur erfasst werden kann, wenn man versucht, ihre Pädagogik aus der „kosmischen Perspektive“ (Holtz) heraus zu verstehen, die mit den mystischen Traditionen der Menschheitsgeschichte verbunden ist.

Die Auseinandersetzung mit den tieferen Schichten der Montessori-Pädagogik hilft nach unseren Erfahrungen nicht nur in den Krisenzeiten des Anfangs, sondern in vielen Situationen, weil sie den Blick öffnet für die Fundamente des Denkens, das dieser Pädagogik zugrunde liegt. Wer den anderen Horizont dieses Denkens im Blick nimmt, hat nach unserer Beobachtung dann auch günstiger Möglichkeiten, mit Geduld und Beharrlichkeit die Grundlagen seiner Arbeit zu verändern.

Die neue Arbeit beginnt, für uns immer noch überraschend, mit der Beobachtung der Kinder, nicht mit dem Unterrichten. Wenn man so will, ist dies das A und O der Montessori-Freiarbeit. Wie lernt man aber beobachten. Beobachten kann man nur lernen durch Beobachten. Wie sollen wir aber beobachten? Montessori gibt uns hier eine einfache Antwort: Indem wir uns von unseren alten Vorurteilen freimachen. In dieser Aufgabe sehen wir die schwierigste Hürde der Montessori-Freiarbeit.

Im Lauf der Zeit entwickelt sich in der Freiarbeit ein spezieller Blick für die Besonderheiten der Kinder. Auf der Grundlage immer präziserer Beobachtungen erweitern sich nach und nach die Möglichkeiten der Lehrerinnen und Lehrer, mit den Kindern in einen intensiven Dialog zu kommen und die Lektionen mit den Freiarbeit-Materialien individueller zu gestalten.

Der regelmäßige Beobachtung der Kinder bei ihrer Arbeit führt dazu, das Lehrerinnen und Lehrer in Freiarbeit-Klassen bestimmte Auffälligkeiten der Kinder in ihren Klassen früher erkennen als in Klassen, die in anderen Formen unterrichtet werden. Bestimmte Probleme der Kinder im Bereich des Verhaltens und der Sensomotorik können deshalb bearbeitet

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werden, bevor das Kind „in den Brunnen gefallen“ ist. Wir können sagen, dass die Montessori-Freiarbeit ein „Frühwarnsystem“ für die Diagnostik von Lern- und Verhaltensproblemen darstellt.

In der Freiarbeit ergeben sich intensivere soziale und emotionale Beziehungen als im herkömmlichen Unterricht. Dies führt häufig dazu, dass sich Kinder stärker öffnen als es sonst üblich ist. Hier wird von den Lehrkräften der Freiarbeitklassen viel Fingerspitzengefühl verlangt.

Wegen der Fülle der neuen Eindrücke, der neuen Aufgaben und der neuen Probleme empfehlen wir den Kolleginnen und Kollegen aus Montessori-Klassen die Organisation regelmäßiger Team-Sitzungen, die Teilnahme an Supervisionen und die ständige Reflexion der eigenen Arbeit.

Bei vielen Fragen, die in der Freiarbeit auftauchen hilft „der Blick in die Bücher“ nicht weiter. Die Welt verändert sich heute so schnell, dass kaum Zeit bleibt, die neuen Eindrücke zu ordnen und zu verarbeiten. Die Kinder verändern sich, wir verändern uns. Dies zwingt uns dazu, unser pädagogisches Handeln ständig zu überprüfen und neu bestimmen. Nach unserer Auffassung gibt die Montessori-Pädagogik der Schule einen Rahmen, der nicht nur den Kindern, sondern auch den Lehrkräften hilft, in Zeiten unübersehbarer Veränderungen flexibel auf neue Anforderungen zu reagieren.

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„Ich kannte mal einen kleinen Jungen in England, der seinen Vater fragte: `Wissen Väter immer mehr als Söhne?´ und der Vater sagte: `Ja´. Die nächste Frage war: `Pappi, wer hat die Dampfmaschine erfunden?´, und der Vater sagte: `James Watt´. Darauf der Sohn: `- aber warum hat sie dann nicht James Watts Vater erfunden?´“

Gregory Bateson

6. Perspektiven

In der Technik mag es so etwas wie „Fortschritt“ geben, aber in der Kunst, in der Liebe, im Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen, gar zwischen Schülern und Lehrern?

Wir fragen uns manchmal, ob alles besser wird , wenn es auf andere Weise getan wird? Geht es heute überhaupt noch um diese Frage?

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Wir können die Geschichte der Pädagogik lesen als Geschichte der Versuche, die Probleme der Pädagogik zu lösen durch Zwang, Drill, Dressur, Kniffe, Tricks und immer wieder neue Methoden. Warum hat sich die Pädagogik nicht damit abgefunden, dass es offensichtlich nicht möglich ist, den Menschen zu verbessern? Warum hat das Scheitern der pädagogischen Großversuche im Europa des zwanzigsten Jahrhunderts nicht dazu geführt, denGrößenwahn der Pädagogik zu überwinden?

Seit vielen Generationen wird darüber geklagt, dass die jungen Leute dumm, faul und frech sind. Bis heute hat sich daran nichts geändert, wie wir auf einer babylonischen Tontafel lesen könnten, deren Alter auf mindestens dreitausend Jahre geschätzt wird: „Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul. Sie wird niemals so sein wie die Jugend vorher, und es wird ihr niemals gelingen unsere Kultur zu erhalten.“ (Zit. nach Watzlawick: 53)

Seit es Menschen gibt, die Geld dafür nehmen, dass sie andere Menschen zu erziehen versuchen, bemühen sich Pädagogen darum, die Probleme der Erziehung zu lösen.

Das Volk wusste stets, was es von seinen professionellen Erziehern zu halten hatte: „Pfarrers Kinder, Lehrers Vieh gedeihen selten oder nie!“ Montaigne erzählt, dass das Wort „Lehrer“ bereits im alten Rom ein Schimpfwort war.

Warum kümmern sich nicht mehr Pädagogen auf das, was in der Pädagogik machbar sein könnte unterhalb des Anspruchsniveaus, auf dem das Scheitern ihrer Bemühungen immer und überall garantiert ist?

Wir gehen heute davon aus, dass der Beruf des Lehrers zu den Berufszweigen gehört, in denen Menschen für eine Arbeit bezahlt werden, die sie nicht tun und auch nicht tun können, denn kein Arzt kann heilen, kein Politiker kann die Probleme eines Staates lösen, kein Lehrer Wissen weitergeben oder gar einen anderen Menschen formen.

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Wenn wir uns trotzdem weiter mit Fragen der Pädagogik beschäftigen wollen, brauchen wir einen anderen Begriff für den Vorgang der Erziehung. Wir verstehen unter „Erziehung“ die Summe der Bemühungen einer Gesellschaft, ihren Kindern ihre Spielregeln und ihr Wissen zu vermitteln. Wenn es denn unmöglich ist, die Probleme der Erziehung zu lösen, weil es dafür weder die passende Technologie noch die geeigneten Menschen gibt, brauchen wir neben dem neuen Begriff für „Erziehung“ auch ein anderes Bild für den Erziehungsprozess. Hier hilft uns Siegfried Bernfeld, ein Wissenschaftler, der im Umfeld der Wiener Reformpädagogik der zwanziger Jahre lehrte und forschte.

In seinen Studien über „die Grenzen der Erziehung“ wählte er für den Lehrer das Bild des Sisyphus, der immer und immer wieder versucht, einen Stein den Berg hinaufzurollen.

Die Weisheit des Pädagogen liegt für Bernfeld dann in der Erkenntnis, dass es in der Erziehung nicht darum geht, ein Werk zu vollenden, sondern darum, sich immer wieder aufs Neue den Grundfragen der Gestaltung der Beziehung zwischen den Kindern und den Erwachsenen zu stellen.

Wovon können wir dann aber ausgehen, wenn wir dieses Bild ernst nehmen? Zunächst einmal von der Differenz zwischen den Kindern und den Erwachsenen. Kinder sind uns körperlich unterlegen, wir sind deshalb in der Lage, ihnen zeitweise unseren Willen aufzuzwingen.

Wir bringen hier ganz bewusst die körperliche Seite der Erziehung ins Spiel, denn nur wenn wir die Kindheit als Ausdruck körperlicher und geistiger Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen betrachten, behalten wir den Menschen in seiner ganzen Komplexität im Blick. Und erst wenn wir uns von der Vorstellung lösen, das Kinder und Erwachsene in der Welt dieselben Aufgaben zu erfüllen haben, dann bekommen wir die besondere Lebenstüchtigkeit der Kinder in den Blick.

Diese Lebenstüchtigkeit entsteht allerdings nicht von allein, sondern im ständigen Wechselspiel der inneren Impulse des

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kindlichen Organismus mit den Anforderungen der Umwelt an das Kind.

Alle höher entwickelten Organismen sind in der Phase der Ausbildung ihrer kognitiven Funktionen auf die Interaktion mit der Umwelt angewiesen. Erst durch diese „aktivitätsabhängigen Selektionsprozesse“ kann der Organismus potentielle Eigenschaften realisieren, die mit den genetischen Anweisungen allein nicht verwirklicht werden können. (Singer: 64)

Zum Aufbau seines Verhaltensrepertoires braucht der kleine Mensch also außergenetische Informationen aus der Umwelt. Die Möglichkeiten zur Interaktion mit der Umwelt müssen den Bedürfnissen des jungen Gehirns in seinen jeweiligen Entwicklungsphasen entsprechen und ihm, wenn kritische Phasen der Entwicklung existieren, „zu ganz bestimmten Zeiten und ungestört verfügbar sein“. (Ebenda)

Aus der Perspektive der Neurobiologie heißt dies: der Mensch baut Nervennetze auf, indem er die Menge der Nervenzellen reduziert zugunsten von Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen:

„Der Mensch kommt auf die Welt mit einem Überangebot möglicher synaptischer Kontakte, das Gehirn ist in diesem Stadium zu vergleichen mit einer undefinierten Hardware. Im Prägungsprozess werden Strukturen definiert durch Nutzung der synaptischen Kontakte.“ (Pöppel)

Erfahrungen sind notwendig, damit es zu Festlegungen im Nervennetz kommt. Die Art und die Stabilität dieser Verknüpfungen hängt ab von der Interaktion des Kindes mit seiner Umwelt, denn eine zentrale Hypothese der Neurobiologen besagt, dass alle Entwicklungsschritte genetisch vorgesehen sind, dass die Ausdifferenzierung des Nervensystems aber auf einer unreifen Stufe stehen bleibt, wenn nicht gleichzeitig ein Anstoß von außen kommt, der die entsprechende Leistung abruft. (Singer: 55)

Die biologischen Faktoren des menschlichen Werdens sind über mehrere Hunderttausend Jahre relativ konstant geblieben. (vgl.

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Cramer: 39ff.) Variabel, das heißt beeinflussbar und gestaltungsfähig waren dagegen immer die Beziehungen des werdenden Menschen mit seiner Umwelt. Und schon aus entwicklungsbiologischen Gründen müssen bestimmte Umweltbedingungen vorhanden sein, damit das kindliche Gehirn genügend Anregungen für seine Ausreifung bekommt.

Da Kinder heute nur noch selten die Möglichkeit haben, ihre Umwelt entsprechend ihren spontanen Entwicklungsbedürfnissen zu gestalten, sind sie darauf angewiesen, dass Erwachsene für sie eine Umwelt schaffen, die den genetisch vorgegebenen Programmen entsprechen könnte. Kindergärten und Schulen stehen hier vor neuen Aufgaben. Es genügt dann eben nicht, die Kinder mit Spielzeug oder mit Lernmaterialien zu überschütten.

„Wenn wir allerdings wissen wollen, welche Umweltbedingungen für die Entwicklung des Nesthockers Mensch optimal sind, müssen wir erst einmal herausfinden, welches Verhältnis zwischen Vielfalt und Ordnung den verschiedenen Entwicklungsphasen jeweils am besten entspricht.“ (Singer: 65)

Da dieses besondere Verhältnis von einer Fülle von Faktoren abhängt, die im einzelnen aus prinzipiellen Gründen nicht vorhergesagt werden können, sind wir als Lehrerinnen und Lehrer darauf angewiesen, immer wieder neu nach Annäherungen an ein fiktives Optimum zu suchen. Die „vorbereitete Umgebung“ der Montessori-Freiarbeit gibt für eine bestimmte Etappe der kindlichen Entwicklung dafür einen geeigneten Rahmen, auch deshalb, weil sie den Menschen als ganzen Menschen sieht und nicht abwechselnd als Besitzer eines Geistes oder eines Körpers.

Das Menschenbild der Montessori-Pädagogik unterscheidet sich deutlich von jenem Menschenbild, das den „Körper“ und den „Geist“ als getrennte Substanzen betrachtet. Dieses Menschenbild setzt auf die Selbstorganisation und Selbstverantwortung des Menschen und versucht, alle Prozesse im Kosmos in einen einheitlichen Zusammenhang zu bringen. (Vgl. Holtz)

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In der Pädagogik dominiert seit vielen hundert Jahren ein dualistisches Menschenbild. Vermutlich deshalb, weil es den Glauben an die Formbarkeit des Menschen unterstützt.

So sprach Erasmus von Rotterdam vom Lehm, der geformt werden müsse, solange dieser noch weich sei. Comenius wollte die Schulkinder in ein System einpassen, das dem Modell eines Uhrwerkes gleichen sollte. Andere versuchten, die Kinder in den Schulen zu dressieren wie Hunde, Pferde oder Tauben.

Da keine Pädagogik halten konnte, was sie versprochen hatte, dreht sich seit Jahrhunderten ein Karussell, auf dem die jeweils neuesten Ideen der Pädagogik vorgestellt werden. In den letzten Jahrzehnten drehte sich dieses Karussell immer schneller. Wir erinnern uns an die Versuche mit „programmiertem Untericht“, mit den Sprachlabors, mit der sogenannten Mengenlehre in der Grundschule und mit den Fernsehapparaten in den Klassenzimmern. Eine Zeit lang richteten sich die Erwartungen auf die Computerisierung der Schule. Kritische Wissenschaftler hatten die Grenzen dieser Technologie schnell aufgedeckt, deshalb dreht sich das Karusell gleich weiter. Nun konzentrieren sich viele Erwartungen auf die Möglichkeiten der Gentechnologie und der pharmazeutischen Industrie. Wir fragen uns manchmal, ob es nicht sinnvoller wäre, den Lehrerberuf an den Nagel zu hängen um Psychopharmaka zu vertreiben:

„Das Kind wird ausgeglichener, umgänglicher, hilfsbereiter, weniger mürrisch. Es packt freiwillig Dinge an, die getan werden müssen, seien es Hausaufgaben, seien es außerschulische Tätigkeiten. Es räumt plötzlich ohne Verlangen sein Zimmer auf ... Kurz: Das Medikament ermöglich es dem Kind, seine Impule besser zu steuern, es kann besser und länger aufpassen, es verhält sich im sozialen Bereich angemessener, und auch die Überaktivität wird etwas reduziert.“ (Eichlseder nach Voß: 13)

Die Erwartungen an die Pädagogik werden immer größer, die Hilflosigkeit der Menschen, die mit Kindern zu tun haben, ebenfalls. Immer häufiger begegnen wir Eltern, die glauben, es könnte Rezepte geben zur Herstellung perfekter Kinder.

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In unseren Klassen gibt es inzwischen Kinder, die sich zur gleichen Zeit in zwei oder gar drei Therapien befinden. Lehrer und Therapeuten müssen immer häufiger ausgleichen, was in den Familien versäumt wurde. Zugleich treibt die Sehnsucht nach dem „vollkommenen Menschen“ immer seltsamere Blüten. Den Schulen gelingt es bisher nur selten, sich von solchen Erwartungen zu distanzieren, zum Teil sicherlich auch deshalb, weil sie im Laufe ihrer Geschichte selbst zur Entstehung solcher Erwartungen beigetragen haben.

Statt sich mit diesen existentiellen Fragen auseinanderzusetzen, geben heute immer mehr Schulen ihre Handlungsfreiheit auf und versuchen, den fiktiven Anforderungen einer Gesellschaft zu entsprechen, die sich in einer tiefen Umbruchphase befindet und selbst im Grunde nicht weiß, was sie eigentlich will.

Dies hat dazu geführt, dass Kinder und Jugendliche in immer stärkerem Masse den gerade aktuellen Anforderungen der Arbeitswelt angepasst werden. Nach unserem Verständnis zerstört die Schule dabei ihre Brückenfunktion zwischen den Generationen.

Wir haben den Eindruck, dass das Schulsystem, das den Kindern immer weniger Raum und Zeit bietet, im Hier und Heute zu leben und zu lernen, seine Legitimation als soziales System in einer demokratisch verfassten Gesellschaft bereits verloren hat. Die Entscheidungen der Parlamente, das Bildungssystem haushaltstechnisch auszubluten zu lassen, gewinnen erst aus dieser Perspektive ihre politische Legitimation.

Die Schule bekommt nach unserer Auffassung nur dann eine zweite Chance, wenn sie sich orientiert am EigenSinn des Kindes und am EigenSinn der Kindheit. Dieses Wort ist aus unserem Sprachschatz fast schon verschwunden, es wird höchstens noch als Adjektiv im Sinne von „bockig“ verwendet. Was ist damit gemeint?

Der eigenSinnige Mensch ist ein Mensch, der über seine Sinne, seine Wahrnehmung, seinen Körper, seine Sexualität, seine Gefühle und seine innere Uhr selbst verfügt. Nur ein

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eigenSinniger Mensch kann seinem Leben einen Sinn geben. Es könnte sich lohnen, diesen Mensch wieder zu entdecken in einer Zeit, in der der EigenSinn des Kindes immer mehr in Frage gestellt wird, in der der EigenSinn der Kindheit vor unseren Augen verschwindet zeitgleich mit dem Verschwinden der Kindheit. Könnte es so etwas geben wie einen EigenSinn der Schule?

Wir können die Geschichte der Pädagogik lesen als eine Geschichte des Vergessens dieses EigenSinns, das heißt der spontanen Bedürfnisse des Kindes, die als Grundlage für die Entstehung des EigenSinns dienen:

„Wir machen den Verstand sklavisch und feig, weil wir ihm nie die Freiheit lassen, etwas aus eigener Kraft zu tun. Man strebt, den Verstand aufzuklären, ohne ihn je in Tätigkeit zu setzen. Man lehrt das Kind, ein Pferd, eine Waffe, eine Laute handhaben, indem es sich darin übt! Aber man will die Kinder denken und sprechen lehren, ohne dass man sie denken oder sprechen lässt.“ (Montaigne)

Wer solches versucht, muss sich bis heute darauf gefasst machen, dass er als „eigensinnig“ gilt und dass seine beruflichen Fähigkeiten in Bezug auf die Disziplin und die Organisation des Unterrichts auch von hoch angesehenen Wissenschaftlern in Zweifel gezogen werden, denn

„die wirkungsvollste Form des Lehrens ist die direkte Instruktion. Ein guter Lehrer verfügt über eine geschickte Fragetechnik und hohe Leistungserwartungen. Er hält einen wohlgeplanten und streng organisierten Unterricht, der das aufgabenbezogene Verhalten der Schüler sicherstellt und das zielerreichende Lernen betont.“ (Prof. Weinert, Direktor des Max-Planck-Instituts für psychologische Forschung in München, in einem Aufsatz für die FAZ, 1997)

Wer sich also darum bemüht, im Alltag der Schule dem Anspruch an einen zeitgemäßen Unterricht zu entsprechen, tut dies nach unseren Erfahrungen bisher immer noch auf eigenes Risiko. Wir sind deshalb froh, dass es inzwischen in einer Reihe von Ländern

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staatliche Rahmenregelungen gibt, die unser Verständnis vom Lehren und Lernen stützen könnten:

„Die Grundschule, als die für alle Kinder gemeinsame Grundstufe des Bildungswesens, hat die Aufgabe, alle Schülerinnen und Schüler unter Berücksichtigung ihrer individuellen Voraussetzungen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung, in ihren sozialen Verhaltensweisen sowie in ihren musischen und praktischen Fähigkeiten gleichermaßen umfassend zu fördern, grundlegende Fähigkeiten, Kenntnisse und Fertigkeiten in Inhalt und Form so zu vermitteln, das sie den individuellen Lernmöglichkeiten und Erfahrungen der Kinder angepasst sind, durch fördernde und ermutigende Hilfe von den spielerischen zu den schulischen Formen des Lernens allmählich hinzuführen und damit die Grundlagen für die weitere Schullaufbahn zu schaffen.“ (MBJS: AO-GS im Land Brandenburg)

Wir fragen uns aber, warum für diesen Entwurf einer Schule des Kindes nicht gekämpft wird? Warum sollen solche Prinzipien nur für die Grundschule gelten und nicht für alle Kinder und Jugendlichen in unserem Land? Warum gibt es in den höheren Klassen aller Schularten Noten, obwohl bekannt ist, dass Kinder keine Noten brauchen um erfolgreich zu lernen? Und warum spielen die individuellen Voraussetzungen der Jugendlichen in unseren Gymnasien nur dann eine Rolle, wenn über die „Schnellläuferklassen“ diskutiert wird? Warum sinkt das Ansehen der „praktischen Fähigkeiten“ in unseren Schulen von Schuljahr zu Schuljahr?

Wir verlassen mit diesen Fragen den Bereich des pädagogischen Denkens und Handelns, in dem versucht wird das Lernen der Kinder „in den Griff“ zu bekommen.

Wenn wir uns also von der Vorstellung freimachen, dass das Lernen eines anderen Menschen planbar sein könnte, befreien wir uns damit zugleich von dem Glauben, dass es eine Technik geben könnte, mit der einer beliebigen Gruppe von Menschen ein beliebiger „Stoff“ „rasch, angenehm und gründlich“ (Comenius) beigebracht werden könnte.

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Während sich in der Mehrzahl unserer Schulen der Unterricht bis heute um die Lehrkraft dreht, kehren wir zurück zu dem gedanklichen Modell des Thomas von Aquin, der den Prozess des Lehrens und Lernens als geistigen Prozess interpretiert hat, in dem kein Wissen weitergegeben wird, sondern neues Wissen entsteht in der Auseinandersetzungen des lernenden Subjekts mit den ihm zur Verfügung stehenden Zeichen, Bildern und Gegenständen. Jeder Lehrende wird innerhalb dieses Modells zum Mittler für den Lernenden, er wird damit also zu einem Teil des ökologischen Systems des Lernenden.

Wir sehen die Möglichkeiten und Grenzen der Pädagogik vor diesem Hintergrund und dem Hintergrund unserer eigenen Erfahrungen sehr viel nüchterner als die Pädagogen, die als Vertreter der „Reformpädagogik“ in die Geschichte der Erziehung eingezogen sind. Wir versuchen uns zu orientieren an dem, was wir in unserer Arbeit mit den Kindern beobachten können und an dem, was wir über die kulturelle und ökologische Situation unseres Planeten wissen.

Wir glauben, dass es heute keinen Sinn mehr macht, mit einem ungeheuren Aufwand immer größere und spektakulärere gesellschaftliche Ziel zu verfolgen. Wir denken, dass es höchste Zeit ist zurückzukehren zu einem Leben, das die Achtung der Grenzen der Möglichkeiten des Menschen und der Menschheit zur Grundlage nimmt für Versuche, das Leben der Menschen auf der Erde zu erhalten. Von diesem Standpunkt aus ergeben sich dann Perspektiven für eine ökologische Orientierung der Pädagogik, die in alle Bereiche des Lebens und Lernens Fuß fassen könnte.

In der Wiederentdeckung der Kreisläufe des Lebens und Lernens sehen wir einen Schlüssel, der zu einem besseren Verständnis der Welt führen kann. Es ist nach unserer Auffassung an der Zeit, die zerstörte Einheit des Lebens wieder herzustellen, den Körper mit dem Geist und den Geist mit der Natur zu versöhnen, nachdem die Menschheit mit ihren Versuchen gescheitert ist, sich die Natur zu unterwerfen.

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Gregory Bateson hat „Geist und Natur“ „eine notwendige Einheit“ allen Lebens genannt. Auf der Grundlage der Achtung aller Aspekte des Lebendigen sehen wir eine Chance dafür, dass nach und nach ein neues Verständnis der Erwachsenen für die Kinder entstehen könnte. Denn die Erhaltung des Lebens auf der Erde hängt nach unserer Auffassung nicht davon ab, auf wie viele Stellen nach dem Komma die Größe der Ozonlöcher gemessen werden kann, sondern von der Entstehung einer Ethik des Lebens, die als Richtschnur für das Überleben der Menschheit gelten könnte.

Der Montessori-Pädagoge Axel Holtz arbeitet seit vielen Jahren zu diesen Fragen. Wir sehen Möglichkeiten, seine Überlegungen zu einer „kosmischen Ethik“ zu verbinden mit unseren Überlegungen zu einer Ethik der freien Arbeit, die wir in Anlehnung an Heinz von Foerster formuliert haben:

1) Entscheide dich so, dass du nachher mehr Möglichkeiten hast als vorher!

2) Was ich nicht will, dass man mir tu, füg ich auch keinem andern zu!

Die Montessori-Freiarbeit kann Teil einer Pädagogik werden, in der die Fragen der Ökologie und der Ethik des kindlichen Lebens und Lernens ins Zentrum gestellt werden.

Dies setzt allerdings voraus, dass die Montessori-Pädagogik nicht auf eine Methode reduziert wird und dass die Montessori-Materialien von den Kindern nicht als Ersatz für die Welt, sondern als Schlüssel zum Verständnis der Welt genutzt werden können.

Wer das Montessori-Material als Unterrichtsmittel, als Ersatz für Schulbücher, vielleicht sogar als Lehrmittel verwendet, verbaut den Kindern nach unseren Beobachtungen damit eine Fülle von Möglichkeiten, die ihnen helfen könnten, die Welt des Geistes auf eigene Faust zu erobern.

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Nach unseren Erfahrungen kann die Montessori-Freiarbeit den Kindern beim Aufbau ihrer inneren Organisation helfen. Dies gilt in besonderer Weise für die Bereiche

Sensomotorik, Sprache und Schriftsprache Mathematik, sowie für die Herausbildung von Handlungsstrukturen, sozialen Strukturen und kognitiven Mustern.

Wir betrachten die Montessori-Materialien vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen deshalb als vielschichtiges Netzwerk, das den Kindern eine Fülle unterschiedlicher Möglichkeiten gibt, ihr Denken und Handeln eigenverantwortlich und selbsttätig herzustellen.

Die Interessen der Kinder gehen weit über den Rahmen dessen hinaus, was in der Freiarbeit erarbeitet werden kann. Wir denken, dass es neben der Freiarbeit Unterrichtsstunden geben muss, in denen mit Bedacht auf die Vielfalt der unterschiedlichen Interessen der Kinder eingegangen werden kann.

Im Rahmen unserer Untersuchungen sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass es aus unterrichtsorganisatorischen, sozialen und kognitiven Gründen wichtig ist, dass Kinder aus Freiarbeitklassen auch andere Formen des Unterrichts kennen lernen und auch lernen, den dort gestellten Anforderungen zu genügen.

Wir leben in einer Zeit, in der niemand mehr darauf vertrauen kann, dass alles so weitergeht wie bisher. Im Kern geht es aber immer um die Frage, wie Lehrerinnen und Lehrer den Kindern helfen können, ihren Platz im Leben und in der Welt zu finden.

Wir befinden uns mitten in Veränderungsprozessen, die von den einen als Weg in die ewige Glückseligkeit, von den anderen als massive Bedrohung der Grundlagen des Lebens auf der Erde gesehen werden. Wir glauben, dass es vor diesem Hintergrund mehr denn je darauf ankommt, dass sich die Schule darauf

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einlässt, den Kindern bei der Herstellung und Pflege geistiger, sozialer und emotionaler Beziehungen zu helfen.

Viel wird davon abhängen, welche Weltbilder, welche Menschenbilder und welche Muster des sozialen Lebens sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten durchsetzen. Die Schule in einer demokratisch verfassten Gesellschaft ist hier in besonderer Weise gefordert. Sie muss nicht alles neu erfinden. Sie kann, wenn sie will, auch auf die Gedanken der Montessori-Pädagogik zurückgreifen.

Wir hatten nach Möglichkeiten gesucht, wie wir dem einzelnen Kind als eigenständiger Persönlichkeit in der Schule besser gerecht werden könnten. Wir sind nach und nach zu dem Ergebnis gekommen, dass es dafür keine Methode gibt und auch nicht geben kann. Das Wort „Methode“ hatte ursprünglich die Bedeutung von „nachgehen“, „hinterher gehen“, „verfolgen“, „nachforschen“, später dann „nach festen Regeln verfahren“.

Wie sollte es aber einen vorgegebenen Weg zum Wissen und einheitliche Regeln für alle Kinder geben, wenn jedes Kind anders ist?

Wir haben viele Wege kennen gelernt, auf denen die Kinder in unseren Klassen gelernt haben. Aus diesen Beobachtungen haben wir den Schluss gezogen, dass die Montessori-Pädagogik keine Methode des Lehrens und Lernens enthält, sondern Standpunkte, Perspektiven und Horizonte für neue Formen des pädagogischen Denkens und Handelns.

Unsere Erfahrungen mit den Kindern haben uns gezeigt, dass es nicht sinnvoll ist, immer neue Methoden des Lehrens und Lernens zu erfinden. Wir haben uns deshalb darum bemüht, den Kindern in unseren Klassen verlässliche Rahmenbedingungen zu geben, in denen sie auf ganz unterschiedliche Weise lernen können, was sie für sich und ihr Leben brauchen. Wir sehen in der Arbeit der Kinder in unseren Klassen ein ernsthaftes Bemühen, den hohen Erwartungen der Gesellschaft gerecht zu werden.

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Wir glauben aber, dass es dringend nötig ist, dieses öffentlich zu sagen. Wir denken, dass Lehrerinnen und Lehrer als Anwälte der Kinderrechte auftreten sollten und die Möglichkeiten und Grenzen der Schule im Umgang mit den Kindern stärker ins Blickfeld der Öffentlichkeit rücken.

Die Auseinandersetzung mit der Montessori-Pädagogik hat uns sehr geholfen, unsere Arbeit zu verändern. Wir haben dabei mehr gefunden als wir gesucht haben, dazu gehört auch der neue Zugang zum Verständnis unseres Berufes.

Die Zufriedenheit in der Arbeit schlägt sich nieder im körperlichen und seelischen Befinden. Wir spüren, dass wir den physischen und psychischen Anforderungen der Schule trotz aller Widrigkeiten heute besser gewachsen sind als in früheren Phasen unseres Lehrerlebens.

Übertragbar auf andere Menschen, andere Schulen und andere Situationen sind unsere Erfahrungen sicherlich nicht. Die persönlichen Voraussetzungen und die Bedingungen, unter denen in den Schulen gelehrt und gelernt wird, sind so unterschiedlich, dass jeder, der dort zu tun hat, seinen eigenen Weg finden muss. Dieser Weg entsteht nicht im Kopf, sondern beim Gehen. Wir wünschen allen, die sich darauf einlassen, neue Wege zu gehen, Mut, Kraft, Zuversicht, Augenmaß, Geduld und Fantasie.

„Man kann Menschen nichts lehren, man kann ihnen nur

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helfen, es in sich selbst zu entdecken.“

Galileo Galilei

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