Hermann Broch. Ein Epiker auf Abwegen. - Bernd...

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Hermann Broch. Ein Epiker auf Abwegen. Theater und Film 1 BERND GALLOB (WIEN) Der „verkannte“ und „denunzierte“ Broch „Hermann Broch sei „noch immer ein weitgehend Verkannter“ steht in der Einladung zum Symposion über Hermann Broch, das von 8. bis 10 Mai 2003, Universitäts- campus Wien, Aula, stattfand. Das hält der Verfasser dieser Studie für nicht (mehr) richtig. Ein mit seinem Gesamtwerk bei Suhrkamp erschienener und edierter Autor ist kein Verkannter. Was ein bleibendes Verdienst des von Suhrkamp beauftragten Herausgebers Dr. Paul Michael Lützeler – und natürlich auch des Verlages selbst ist. Was gilt ist, dass Hermann Broch bisher noch nicht jene Popularität erlangt hat wie beispielsweise Thomas Mann oder Stefan Zweig. Wobei der Verfasser dieser Stu- die Zweifel hat, ob Mann bzw. Zweig heute tatsächlich (noch) so viel gelesen werden, wie das öffentliche Bewusstsein das suggeriert – nicht verkauft, tatsächlich gelesen. Jedoch: Wer sich etwa im Internet auf Google-Surfreise begibt, unter den Stich- worten „Broch, Hermann“, stößt dort auf ein relativ dichtes Netz von Hermann Broch Gesellschaften, von Symposien, Gedenkstätten etc. Und vielfach scheinen bei näherer Betrachtung dieselben Namen als InitiatorInnen auf. Manchmal hat den Verfasser das Gefühl beschlichen, dass eine „Insider-Gruppe“ von (einander auch nicht immer gut gesinnten) „Brochianern“ versucht, an einem Heiligenschein für den Meister zu basteln (und damit natürlich auch für sich selbst) und ihn damit mehr in eine weite und ideal gedachte Ferne entrücken als ihn zu popularisieren. Exegese statt Popularisierung. Zu dieser beinahe 1:1 reflexhaften Kontra-Spiegelung des für Hermann Broch so Verhängnishaften zeitlichen Kontextes, des politisch-klerikalen-kleinbürgerlichen Antisemitismus eines Karl Lueger und des mörderischen NS-Regimes mit allen da- mit verbundenen grauenvollen Konsequenzen für die jüdischen Menschen, fragt sich der Verfasser der Studie, ob die perpetuierte Distanzierung des Dichters zur breiten Leserschaft nicht Folge der erwähnten Brochexegese ist, was die Höchststrafe für Hermann Broch, diesen so widersprüchlichen und sinnlichen Menschen, wäre. 1 Die vorgelegte Studie wurde – auszugsweise – erstmals beim Hermann Broch-Symposion vom Autor referiert (10. Mai, Wien, Universitätscampus, Aula). Maske02/52_2006_004 23.11.2006 6:30 Uhr Seite 57

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  • Hermann Broch.Ein Epiker auf Abwegen.

    Theater und Film1

    BERND GALLOB (WIEN)

    Der „verkannte“ und „denunzierte“ Broch

    „Hermann Broch sei „noch immer ein weitgehend Verkannter“ steht in der Einladungzum Symposion über Hermann Broch, das von 8. bis 10 Mai 2003, Universitäts-campus Wien, Aula, stattfand. Das hält der Verfasser dieser Studie für nicht (mehr)richtig. Ein mit seinem Gesamtwerk bei Suhrkamp erschienener und edierter Autorist kein Verkannter. Was ein bleibendes Verdienst des von Suhrkamp beauftragtenHerausgebers Dr. Paul Michael Lützeler – und natürlich auch des Verlages selbst ist.

    Was gilt ist, dass Hermann Broch bisher noch nicht jene Popularität erlangt hatwie beispielsweise Thomas Mann oder Stefan Zweig. Wobei der Verfasser dieser Stu-die Zweifel hat, ob Mann bzw. Zweig heute tatsächlich (noch) so viel gelesen werden,wie das öffentliche Bewusstsein das suggeriert – nicht verkauft, tatsächlich gelesen.

    Jedoch: Wer sich etwa im Internet auf Google-Surfreise begibt, unter den Stich-worten „Broch, Hermann“, stößt dort auf ein relativ dichtes Netz von HermannBroch Gesellschaften, von Symposien, Gedenkstätten etc. Und vielfach scheinen beinäherer Betrachtung dieselben Namen als InitiatorInnen auf. Manchmal hat denVerfasser das Gefühl beschlichen, dass eine „Insider-Gruppe“ von (einander auchnicht immer gut gesinnten) „Brochianern“ versucht, an einem Heiligenschein für denMeister zu basteln (und damit natürlich auch für sich selbst) und ihn damit mehr ineine weite und ideal gedachte Ferne entrücken als ihn zu popularisieren. Exegese stattPopularisierung.

    Zu dieser beinahe 1:1 reflexhaften Kontra-Spiegelung des für Hermann Broch soVerhängnishaften zeitlichen Kontextes, des politisch-klerikalen-kleinbürgerlichenAntisemitismus eines Karl Lueger und des mörderischen NS-Regimes mit allen da-mit verbundenen grauenvollen Konsequenzen für die jüdischen Menschen, fragt sichder Verfasser der Studie, ob die perpetuierte Distanzierung des Dichters zur breitenLeserschaft nicht Folge der erwähnten Brochexegese ist, was die Höchststrafe fürHermann Broch, diesen so widersprüchlichen und sinnlichen Menschen, wäre.

    1 Die vorgelegte Studie wurde – auszugsweise – erstmals beim Hermann Broch-Symposion vom Autorreferiert (10. Mai, Wien, Universitätscampus, Aula).

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  • In diesem Kontext bedauert es der Verfasser als Initiator des Symposions, dass esnicht gelungen ist, die Thematik „Hermann Broch und das Wiener Kaffeehaus“ –oder besser gesagt „… und die Kaffeehäuser“ – das zu untersuchen schiene zur kom-petenten Bewertung der mentalen Wurzeln des Dichters eminent wichtig zu sein –mit diesem Symposion abzudecken.2 Der ins Auge gefasste Spezialist ist leider vomThema zurückgetreten.

    Mit Missbehagen erfüllt den Verfasser auch die Formulierung in der Einladung,dass das Vorhaben, Broch für den Nobelpreis zu nominieren, fehl schlug weil derDichterphilosoph, der aus England in die USA emigrieren musste, in einflussreichenUS-Kreisen als Austromarxist denunziert worden sei.

    Broch war auf Wunsch der Teesdorfer Arbeiter (auch als Widerpart gegen den Vater)Betriebsrat (!), stand vielen Mitgliedern der SDAP und dem Austromarxismus einezeitlich beachtlich lange Periode nahe. Wie viele jüdisch-liberale-altruistische Groß-bürger im Wien des „Fin de Siècle“. Da gab und gibt es nichts zu denunzieren. Daswaren Demokraten bzw. war es eine demokratische Bewegung3, vom Austrofaschis-mus und Nationalsozialismus verboten, verfolgt und geknechtet. Die Nachfolgerdieser politischen Bewegung haben die kommunistisch-stalinistische Machtergrei-fung in Österreich verhindert. Die zitierte Formulierung, er sei als Austromarxist„denunziert“ worden, schiebt damit unmerklich aber wirksam die Verantwortung ander verhängnisvollen McCarthy-Paranoia dem Opfer, eben dem angeblich denun-zierfähigen Austromarxismus und Austromarxisten, zu.

    So haben nach der Errichtung des Eisernen Vorhangs Denunzianten unter publi-zistischem Feuerschutz der Boulevardpresse ihre Denunziationen ausagieren können(Hilde Spiel hat das in ihren Lebenserinnerungen genau zitiert). Dem entgegenkonnte der vom politischen Katholiken zum realen Kommunisten (einige Zeit auchstalinistischer Prägung) mutierte Viktor Matejka als verantwortlicher Wiener Stadtratfür Kultur die Verleihung des Literaturpreises der Stadt Wien an Hermann Broch 1947ganz offensichtlich verhindern, ohne dafür kritisiert zu werden. Charakteristisch istes – im Kontext der von Broch mit gestalteten Allgemeinen Menschenrechte sogarabsurd – dass diese Marxismus-Kommunismus-Paranoia fast immer nur im Zusam-menhang mit Menschen/EmigrantInnen jüdischer Herkunft ausbricht.

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    2 Es fehlt eine Gesamtdarstellung des Wirkens von Broch im Kontext der struktur- und menta-litätsgeschichtlich relevanten Netzwerke jener KünstlerInnen, die sich in Cafés, Salons etc. trafen undsich besprachen, konkurrenzierten etc.

    3 Verbal radikal waren alle politischen Bewegungen der zur Diskussion stehenden Zeit. Die VerfassungÖsterreichs wurde jedoch von der SDAP weder dem Geist Kelsens nach gebeugt, noch realgebrochen.

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  • Das Kaffeehaus als Humus

    Die Welt der lebensnahen und lebensfrohen Schar von sich bewusst und unterschied-lich inszenierenden Künstlerinnen und Künstlern, Philosophen, Sonderlingen undNachtschwärmern war für Broch wohl der entscheidende „Humus“ für seine Ent-wicklung vom streng erzogenen (fast „gehaltenen“) jüdischen Fabrikantensohn zumBeobachter, Diskutierer, Frauenfreund, Genießer, Versteller und Künstler Broch.Auch zum Humanisten.4

    Zur Erläuterung dieses Hintergrunds sei die Zeitzeugin Gina Kaus, die WienerSalondame, die in der Emigration eine der ganz großen Drehbuchautorinnen gewor-den ist, zitiert: „Broch war verheiratet, brachte seine Frau aber niemals mit, und sieschien auch keine Lust zu haben, mitzukommen. Einmal – wir waren schließlich rechtbefreundet – erzählte er mir, wie diese Ehe zustande gekommen war: Er hatte ein jun-ges Mädchen geschwängert und sich verzweifelt an seinen Vater gewandt, um Geld fürdie Abtreibung lockerzumachen. Der Vater hatte herausgefunden, daß dieses Mädchendie Tochter sehr reicher Leute war und hatte zu ihm gesagt ‚Du wirst deine Schuldgutmachen, du wirst dieses Mädchen heiraten‘ … Bald nachdem ich ihn kennen ge-lernt hatte, begann er ein Verhältnis mit einer vierzigjährigen Witwe, die einen fünf-zehnjährigen Sohn hatte. Das Absonderliche daran war, daß er sich von ihr einredenließ, sie sei noch Jungfrau. Ob er es wirklich glaubte, weiß ich nicht, aber er glaubtejedenfalls, es zu glauben. Kurz darauf begann er ein Verhältnis mit Milena, ohne dieältliche Jungfrau aufzugeben. Er kam sehr oft zu mir. Jedes Mal waren seine erstenWorte ‚Ich muss telefonieren‘, er telefonierte mit seiner Frau, mit der Jungfrau odermit Milena und erzählte irgendwelche Lügen, warum er nicht bei ihnen sei. Nach unge-fähr einer Stunde pflegte er aufzuspringen und machte sich Vorwürfe, weil er längsthätte woanders sein sollen. Broch war der hintergründigste Mensch, den ich kannte.Nicht nur für mich – die Freunde bestätigen es –, im täglichen Verkehr ein witziger,ironischer und selbstironischer Mensch. Die vielen Vorwürfe, die er sich zu machenpflegte, klangen eher komisch, und es schien nicht, als nähme er sie ernst. Als er einenneuen Analytiker genommen hatte, schrieb er ungefähr fünfzig Seiten. Er zeigte mirdiese fünfzig Seiten. Es waren die läppischsten Kindheitserinnerungen und es war un-verständlich, dass ein Mann von Brochs Intelligenz jahrelang die trivialsten Dingewiederkäute … Wenn er aber an seinen Romanen arbeitete, tat er das unter entsetz-lichen Qualen, die sich mehr und mehr steigerten. Die Schlafwandler [geschrieben1928/1929, der Verfasser] brachten ihm einen ungeheuren Erfolg, vor allem inAmerika, bei den Superintellektuellen. Nach seinem Tod fanden sie in seinen Schub-laden sechs unvollendete Romane. In jedem steckte über ein Jahr Arbeit. Er war einsehr kranker Mann gewesen.“5

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    4 Klaus Amann (Klagenfurt) berichtete beim Symposion, dass Broch mehrmals seine Handschriftgeändert habe, was auf einen mehrmaligen Identitätswechsel hinweist und mentalitätsgeschichtlichbedeutsam ist. Es gibt eben nicht nur den „einen“ Broch. Panta Rhei.

    5 Gina Kaus, Von Wien nach Hollywood“, Frankfurt/ Main: Suhrkamp , erste Auflage 1990, S. 44 ff.

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  • Gina Kaus, sie wird aktuell in der Internet-Filmdatenbank http://german.imdb.commit 28 verfilmten Drehbüchern angeführt (ohne ihre eigenen Novellen etc., die an-dere Script-SchreiberInnen zu Drehbüchern umarbeiteten) beschreibt 100 Seitenspäter mit scharfem Beobachterinnenblick „Meine eigenen Beobachtungen zeigten,unter welch verschiedenen Bedingungen literarische Werke entstehen. Werfel arbei-tete, solange ich ihn beobachten konnte – und das war, ehe er seine Romane schrieb–, wie in Trance. Broch hingegen litt an jedem Satz, und manchmal bestand die sech-zehnstündige Arbeit eines Tages darin, durchzustreichen, was er am Vortag geschrie-ben hatte. Karl Kraus behauptete immer, daß er jeden Absatz unzählige Male über-arbeite und manchmal eine Nacht lang über ein Komma nachdenke.“6

    Die sehr persönliche Ebene der Beziehung zwischen Kaus und Broch beleuchteteLetzterer schlaglichtartig und ziemlich brutal in seiner Eintragung im TeesdorferTagebuch für Ea von Allesch „35. Donnerstag, 4. auf Freitag, 5. November 1920: DieSache mit meiner Ehe machte es mir nur noch schwerer, weil ich zu meiner eigenenUntreue die Deine in Parallele setzte. Die Sache mit Kaus, die dann als Schlußeffektkam, war für mich geradzu ein Glück. So schuldbewußt ich mich Dir gegenüberfühlte, so war sie mir – edel war das nicht – doch fast wie eine ‚ausgleichende Gerech-tigkeit‘. Ich hatte irgendwie die Befreiung, alles was in mir gegen Dich war, als erle-digt betrachten zu müssen, sozusagen ‚quitt‘ zu sein.“7

    Wichtig für das gewählte Thema ist der Blick durch das ‚Kunst- oder Künst-lerInnenfenster‘. Wobei die Empfindungen von Frauen und ihre Formulierungenüber Broch zeitlos gültig und zur Bewertung der Person Brochs interessant sind.8

    Milan Dubrovic hat seine Zeugenschaft über die Welt des „Literatencafés voneinst“9 in seinem Buch „Veruntreute Geschichte“ präzise und sensibel formuliert. ImCafé Herrenhof, so Dubrovic: „Wir diskutierten über Kunst, Literatur, Philosophie,über Einsteins Relativitätstheorie, die Psychoanalyse, die Individualpsychologie, überFranz Kafka und Karl Kraus, über Joyce und Robert Musil und selbstverständlichauch über Politik.“10 Und weiter : „Diese Atmosphäre zog debattierfreudige Per-sönlichkeiten an. Zu ihnen zählten Franz Werfel, Robert Musil, Hermann Broch,Alfred Polgar, Anton Kuh, Franz Blei, Heimito von Doderer, Leo Perutz, die her-

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    6 Ebda, 147.7 Hermann Broch, Das Teesdorfer Tagebuch für Ea von Allesch, Frankfurt/ Main: Suhrkamp, erste Auf-

    lage 1998, S. 138 f.8 „Frauen schreiben und lesen anders“ betonte Mag. Ester Saletta (Mailand) beim Symposion. Die

    zeitlose Gültigigkeit der emotionalen Eindrücke und Aussagen, insbesondere von Frauen über Broch,wird dadurch nicht gemindert, dass kleine Faktizitäten, biografische Details, die im Kontext völlignebensächlich sind, unrichtig sind. Etwa bei Gina Kaus: Ea von Allesch hatte z.B. keinen Sohn, son-dern eine Tochter, Romane wurden nach Brochs Ableben nicht gefunden. Auch Ea von Alleschseigene Reisetagebücher geben ebenso vielfach ihre Empfindungen über Broch wieder, diese sindgültig, auch wenn Details für eine „logische“ Begründung dieser Empfindungen nicht stimmen.

    9 Milan Dubrovic, Veruntreute Geschichte – Die Wiener Salons und Literatencafés, Wien: Zsolnay 1985, S. 31.10 Ebda, S. 32.

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  • vorstechenden Schüler Sigmund Freuds und Alfred Adlers, Mitglieder des „WienerKreises“ der positivistischen Schule wie Ludwig Wittgenstein, Moritz Schlick undandere.“11

    Spiritus rector des Herrenhofes12 war lange Zeit Ernst Polak. Seine Selbstcharak-terisierung „gescheit – gescheiter – gescheitert“ ist berühmt geworden. Der nach ihmbenannten „Polak-Loge gehörten Franz Werfel, Hermann Broch, Anton Kuh, derPhilosoph Gustav Grüner, Friedrich Torberg, der Feuilletonist Richard Wiener, derPsychoanalytiker Adolf Josef Storfer, Robert Musil, Alexander Lernet-Holenia undder Kunsthistoriker an.“13

    Polak, so Dubrovic, war ein widerspruchsvoller Mensch, der besonders amGegensatz seines souveränen Gesprächstalents zur Ohnmacht, selbst etwas zuschreiben, gelitten hat. Dazu registrierte er das erwähnte Bonmot „in seinem Notiz-buch: ‚gescheit, gescheiter, gescheitert‘. Unter ähnlichen Hemmungen litt auch seinFreund Hermann Broch, der sich nach langem Zögern einer psychoanalytischenBehandlung durch die Ärztin Dr. Hedwig Hoffer unterzog. Dr. Hoffers speziellesTalent im Umgang mit Intellektuellen hatte sich im ‚Herrenhof‘ herumgesprochen.Bei Broch, der unter komplizierten neurotischen Fixierungen gelitten hatte, war dieBehandlung besonders erfolgreich. Nach Erscheinen des dreibändigen Romans ‚DieSchlafwandler‘ überreichte er seiner Ärztin Dr. Hoffer als Geschenk ein Exemplardes Buches mit der eigenhändig geschriebenen Widmung: ‚Ohne Ihre Hilfe, liebeFrau Doktor, wäre dieses Buch nie geschrieben worden‘. Broch riet seinem FreundPolak zur gleichen Therapie, Polak jedoch beharrte auf seinen Vorbehalten gegen dieFreud’sche Lehre.“14

    Durch die schlechte Wirtschaftslage bedingt wurde Ernst Polak von der Länder-bank in eine kümmerliche Frühpension geschickt. Die neue Freiheit nutzte er rasch:„Unter dem Titel „Kritik der Phänomenologie durch die Logik“ schrieb er eineumfängliche Dissertation und errang damit den Doktortitel. Damit übertraf er denim Spätstadium mit ihm konkurrierenden Freund Hermann Broch, der bei derErgänzungsprüfung in Latein durchfiel und dann die Lust verlor, zur Nachprüfunganzutreten.“15 Dubrovic hat gemeinsam mit Friedrich Torberg über die Gäste undStammgäste des Cafés Herrenhof Buch geführt. Für das vom Verfasser bearbeitete

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    11 Ebda, S. 31.12 Viele der genannten Personen waren bis November 1918 Stammgäste des Cafés Central. 1918 erfolgte

    die Gründung des Cafés Herrenhof und alles, so Dubrovic, was politisch und erotisch revolutionärgesinnt war, wechselte ins Herrenhof. Es war eine Sezession. Totzdem besuchten vieleNachtschwärmerInnen beide oder noch mehr Cafés, waren auch in Salons Stammgäste (EugenieSchwarzwald, Berta Zuckerkandl etc.) und bildeten eine oft freundverfeindete Clique vonLebenskünstlerInnen.

    13 Milan Dubrovic, Veruntreute Geschichte – Die Wiener Salons und Literatencafés, Wien: Zsolnay 1985,S. 50.

    14 Ebda, S. 57.15 Ebda, S. 59 f.

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  • Thema sind noch von kontextualer Bedeutung: „Béla Balázs, Schriftsteller [Film-theoretiker, der Verfasser], Siegfried Bernfeld, Psychoanalytiker, Hugo Bettauer, EliasCanetti, Ernst Fischer [der spätere kommunistische Politiker, der Verfasser], HansFlesch-Brunningen, Fritz Kortner, Paul Lazarsfeld, Eugen Lenhoff, SomaMorgenstern, Otto Neurath, Hugo Sonnenschein (genannt Sonka), Philipp Zeska,Lou Jolesch, Greta Keller und viele andere.16

    Über den künstlerischen Menschen Hermann Broch, seine Ängste, Sensibilitäten,seine Diskurspartnerinnen und –partner, seine Triebkräfte, Verwundungen etc.erfährt man durch die Aussagen der Künstlerin Gina Kaus und des Chronisten MilanDubrovic wesentlich mehr, als durch fast alle emsigen Germanisten bzw. Literatur-wissenschafter in den letzten Jahrzehnten zusammengetragen worden ist. Vor allemauf das Thema bezogen auch deshalb, weil Broch bei seinen Versuchen zum Theateraber auch beim Script „Das unbekannte X“ seinen eigenen engeren biografischenLebensraum nie wirklich verlassen hat.17

    Kunstwissenschaftliche Annäherungen und Analysen können und dürfen nichtvorspiegeln, es handelte sich um eine exakte Wissenschaft. Fußnoten von der Quali-tät „Mozart, Wolfgang Amadeus, Komponist des 18. Jahrhunderts“ sind im Kontextder kunstwissenschaftlichen Perspektive und des sensiblen Fach-Diskurses zumThema Kunst entbehrlich, sie vermitteln in diesem Kontext gar nichts, außer viel-leicht, in Parenthese zum später definierten Unterschied des Epikers zum Dreh-buchautor gesagt, die Allwissenheit des Herausgebers. Kunstwissenschaften gehendeduktiv vor, die Mathematik, die Physik etc. basieren auf Modellen, verifizierenoder falsifizieren Experimente und sind methodisch induktiv.

    Kunstwissenschaftliche Kriterien sind nie beweisbar, daher radikal auf den künst-lerischen Wert und die künstlerische Qualität zu zentrieren. Sie sind immer ebensoradikal subjektiv. Kunstwissenschaftliche Kriterien sind primär erfahrbar, nie aberbeweisbar. Die Sprache des Kunstdiskurses und die Argumentationswahl sollten mitdiesen Realitäten sensibel korrespondieren.18 Die Freud’sche Lehre der Psycho-

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    16 Ebda, S. 165 ff.17 Die Darstellung dieser mental-emotional-irrealen Verwobenheiten von KünstlerInnen, Caféhaus-

    besucherInnen etc. und die Rückkoppelungen auf das Schaffen wurde noch nicht geschrieben. Innüchternen, nicht interpretierten Details ist sicher fast alles bekannt. Kunstschaffen aber ist nur durchInterpretation und Interpolation diskutierbar, das Faktengerüst allein sagt gar nichts aus.

    18 Dazu im Kontext Theater und Film: Theater- und Filmteams sprechen eine sehr offene Sprache, siedrücken sich so gut wie nie so distanziert und „vornehm“ aus wie es Linguisten und Literaturwissen-schafter tun. Sie hantieren mit den Emotionalitäten des Theater- oder Filmautors, den eigenen unddenen des Publikums. Für Theater- und Filmschaffende (Regisseure, Kameraleute inkl. AutorInnen)sind die geschriebenen Texte primär nicht Lese- sondern Spiel- bzw. Drehvorlagen. Sie denken bei derLektüre dieser Vorlagen in Szenen, Bildern, Auftritten, Gängen (der SchauspielerInnen), Pausen,Motiven, Studios, Animationen, Kosten, Besetzungen etc.

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  • analyse, naturwissenschaftliche Zugänge zum Thema, die Linguistik, die Literatur-wissenschaft etc. sind für den Kunstwissenschafter (einmal für Theater, Film gespro-chen) Hilfswissenschaften, wichtige, unentbehrliche, aber das gilt im Grunde für jedeHilfswissenschaft.

    Hermann Broch hat wenige Jahre, zwischen 1932 und 1935, seines Schaffensaktiv versucht, für Theater und Film als Autor zu reüssieren. Lange Zeit hatte keinerseiner Versuche einen nachhaltigen Erfolg.19 Der Beitrag des Verfassers ist aus der Per-spektive des empirisch und mental nachvollziehbaren Theater- bzw. Filmschaffenskonzipiert und geschrieben. Der Verfasser war 35 Jahre seines Lebens im Theater-und Filmwesen an fast allen Positionen aktiv und beobachtend-reflexiv tätig. Ermöchte Broch in keiner Phase denunzieren, seine Hochachtung für den Epiker,Humanisten und Menschenrechtler Broch ist ungeteilt. Andererseits kann er nichtverschweigen, dass im Kontext zum Thema Theater und Film das Aufzeigen vonmanchmal leicht skurrilen Positionen nicht vermeidbar ist.

    Beispielsweise bezogen auf die Uraufführung seines ersten Dramas Die Ent-sühnung ist zu lesen: „Brochs erstes Drama ‚Die Entsühnung‘ wird am 15. März imSchauspielhaus Zürich (unter dem nicht vom Autor stammenden Titel ‚Denn siewissen nicht, was sie tun …‘) mit Erfolg uraufgeführt, die Regie führt Gustav Har-tung. Trotzdem kommt es nur zu wenigen Aufführungen.“20

    Der Widerspruch von angeblichem Erfolg und dem Verschwinden des Stücksnach wenigen Aufführungen aus dem Spielplan kennzeichnet den Verlust der kriti-schen Distanz, vorsichtig ausgedrückt. Denn Erfolge am Theater schauen ausnahms-los anders aus.

    Gestreift werden auch die zwei weiteren Theaterstücke aus dem Jahr 1934, dieKomödie Aus der Luft gegriffen oder die Geschäfte des Baron Laborde und der SchwankEs bleibt alles beim Alten (in Zusammenarbeit mit Brochs Sohn H. F. Broch deRothermann). Und das Script aus dem Jahr 1935 Das unbekannte X, Der Film einerphysikalischen Theorie (Unter Anlehnung an den Roman Die unbekannte Größe),den Broch im Jahr 1933 geschrieben und bei S. Fischer Berlin herausgebracht hat.21

    Das Populäre ist Broch, der sich im Laufe seines Lebens (man denke an GinaKaus’ scharfzüngige Erinnerungen), allmählich zum ernsthaften Puristen22 ent-

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    19 Was sich beim Sonderfall der „Magd Zerline“ bereits völlig und beim „Laborde“ schon teilweisegeändert hat, wird sich nach Ansicht des Verfassers auch beim „Laborde“ ebenfalls völlig ändern.

    20 Marbacher Magazin 94/2001, „Hermann Broch 1886 – 1951 Eine Chronik“ Bearbeitet von PaulMichael Lützeler, 2001 Deutsche Schillergesellschaft Marbach, 44

    21 Siehe: „Broch Die Unbekannte Größe“, in Hermann Broch: Kommentierte Werkausgabe, herausgege-ben von Paul Michael Lützeler, Frankfurt/ Main: Suhrkamp, Band 2, S. 257

    22 Die Entwicklung von Hermann Broch vom Lebemann zum Puristen hat sich, wie oben erwähnt, auchin seinen wechselnden Schriftbildern ausgedrückt. Sie war auch die Resultante seiner zunehmenden,teils selbst gewählten Vereinsamung, der radikalen Vereinzelung seiner Arbeits- und Lebensweise, derimmer drückenderen monetären Verarmung, des immer brutaleren Rassismus – auch in der Sommer-frische und in den Kurorten. Über die jüdische Sommerfrische der Zwischenkriegszeit (ab1938 wurde

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  • wickelte, immer entschiedener zum Gräuel geworden. Und gemäß dieser Indi-viduation handelte Hermann Broch 1935: „Im Oktober zieht er die Bilanz der beidenletzten Jahre und entschließt sich, die Zeit der Kompromisse und die Zugeständnisseans Populäre zu beenden.“23

    Dieser Beitrag wurde nicht als kompilatorische Zusammenfassung bzw. chronikal-lexikalische Auflistung schon bekannter und publizierter Daten um Brochs Geh-versuche bei Theater und Film konzipiert. Das wäre auch gar nicht möglich gewesen,da es zum Thema „Broch als Theater- und Filmautor“ (den kurzen Beitrag Durzaks aus1966 ausgenommen) bisher keine spezifische und kompetente Literatur gibt.

    Ohne – wie schon festgehalten – Brochs Bedeutung als Epiker und Humanistdiminuieren zu wollen, werden mit diesem Beitrag viele Grundlagen erstmals präsen-tiert und sein Bemühen bzw. sein Scheitern in den ihm fremden Genres erstmalsplausibel gemacht.24

    Voraussetzung dazu ist es, die Genres in ihrer Unterschiedlichkeit kurz zu de-finieren.

    Literatur- Theater – Film/Kino

    Zum Verständnis für die unterschiedlichen Welten der drei untersuchten Kunst-formen werden nach den vorangegangen Ausführungen über die Ziele Brochs dieRahmenbedingungen von Literatur, Theater und Film in Form einer vergleichendenAnalyse dieser Kulturtechniken analysiert. Vieles ist dadurch leichter verständlich.

    1. Buch – Literatur – Print

    Ein Buch wird individuell geschrieben, fast immer von einer Einzelperson. Die Kettevom Autor zum Leser/zur Leserin verläuft klassisch (das ändert sich im Moment

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    es Juden u. a. sofort verboten, Trachten zu tragen), hat Robert Kriechbaumer 2002 ein bemerkens-wertes Buch herausgegeben: „Der Geschmack der Vergänglichkeit“; Böhlau. Für den SprachkünstlerBroch war die Vertreibung in ein anderssprachiges Land noch eine zusätzliche Tragödie. DieMuttersprache war, so drückte es Hans Weigel einmal aus, der letzte Rest von Heimat.

    23 Marbacher Magazin 94/2001, S. 47.24 Ein „apropos“ vorweg. Dr. Marianne Gruber, Vorsitzende der Österreichischen Gesellschaft für Lite-

    ratur, thematisierte während ihrer Moderation beim Sympsion die immer wieder ins Gespräch ge-brachte Behauptung, Broch sei im Grunde ein Dilettant, ein Autodidakt und ein systemloserEklektiker gewesen. Was beim Epiker Broch allenfalls bei den Anfängen eine Halbwahrheit ist.Gerade beim Theaterautor Broch zeigt sich, dass er als Dilettant begonnen hat und nach der Teil-nahme bei den Proben zu seinem ersten Stück (sein zweites beweist es) bereits absolut professionellfür das Theater schreiben konnte. Beim Film hatte und suchte er die Gelegenheit sich zu professio-nalisieren nicht, nur war er so begabt und intelligent, dass er fast unheimlich schnell dazulernte.

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  • dynamisch – Stichwort „Desktop-Publishing“ – was aber für den Vergleich wenigBedeutung hat) vom

    A) Autor-Manuskript überB) den Verleger – Verlag, in dieC) Druckerei und dann in den D) Buchhandel

    Über den Buchhandel landen Bücher beim Leser/der Leserin, in Bibliotheken etc.Wenige LeserInnen, (im Vergleich zu einer größeren Verkaufszahl) haben in derRegel Kontakt mit dem Autor/der Autorin, schon gar nicht haben sie eine Mög-lichkeit zur Veränderung des Textes. Der Autor/die Autorin ist in einer Art Verkün-digungsposition, der/die auf das jeweilige Buch bezogen alleinige „Allwissende“Manche Autoren/ Autorinnen erweitern diese literarische Verkündigungs-Positionauf das gesamte politische Leben.

    Bücher sind beliebig oft reproduzierbar und die Texte sind (ausgenommen heuteim Internet) nicht änderbar, sie sind zwischen den Buchdeckeln hermetisch ver-schlossen. Das Rezipieren, das Lesen, von Büchern bzw. Zeitungen geschieht imStandardfall individuell, auch in Bibliotheken bzw. Kaffeehäusern. Bücher sind„Freunde der Einsamkeit“. Sinneserlebnisse der Leserinnen und Leser mutieren vomText her direkt zu imaginierten eigenen Erlebnisqualitäten.

    2. Theater

    Bei der Erarbeitung einer Theatervorstellung ist ein Team unterschiedlichsterMenschen nötig. Ein Theater benötigt im „Standardfall“:

    A) Ein Haus mit Bühne, Technik und Zuschauerraum.B) Ein Theaterstück eines/r Autors/Autorin, meist über einen Verlag

    zeitlich/örtlich limitiert erworben.C) Darstellende KünstlerInnen, SchauspielerInnen, SängerInnen, TänzerInnen,

    MusikerInnen.D) KunsthandwerkerInnen (Bühnenbildner/Innen, KostümbildnerInnen,

    SchneiderInnen, Light-DesignerInnen, TontechnikerInnen etc.).E) Arbeiter (Dekorationsbau, Umbau etc.).F) Eine Besucherorganisation (Verkauf-Vertrieb).

    Üblicherweise kann eine Live-Vorstellung pro Tag gespielt werden. Jede Vorstellungist – da live – anders. Die Reaktionen der Zuschauer verändern zusätzlich jede Vor-stellung (simples Beispiel : Applaus oder Störungen führen an Vorstellungsweiseunterschiedlichen Stellen zu Unterbrechungen des Ablaufs). Jede einzelne Vor-

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  • stellung hängt von vielen einzelnen Menschen und dem organisierten Zusammen-wirken im Moment der Vorstellung ab. Live-Vorstellungen sind nicht beliebigreproduzierbar, der Einzelabend als solcher ist unwiederholbar, da dasselbe Stück mitden selben SchauspielerInnen in derselben Inszenierung bei jeder neuen Vorstellungneu gespielt und neu rezipiert wird.

    Die Sinne des Schauens, Sehens und des Hörens werden beim Publikum durchsimultan vorproduzierte und durch KünstlerInnen vorinterpretierte Qualitätenaktiviert. Der Text ist eine mehr oder weniger disponible Rohfassung für die Insze-nierung. Beim Regietheater mehr, bei so genannten werkgetreuen Aufführungenetwas weniger (aber eben auch). Bei der Erarbeitung der Inszenierung sind vielePersonen bei den vielen Modifikationen des Textes (Streichen, Umstellungen, Ab-änderungen etc.) aktiv und als Letztentscheider am Werk. – DramaturgInnen, Schau-spielerinnen und Schauspieler, Regisseure, Theaterdirektoren etc.). Der Autor liefertRohmaterial für die Inszenierung der Textvorlage, die gestaltende Interpretation undAkzentuierung ist ihm entzogen.

    Theater ist eine Vorform der populären Massenkultur, es ist vielen Menschenzugänglich, aber es ist eben nicht beliebig oft reproduzierbar, wie etwa Bücher undFilmkopien. Teil der Rezeption ist das gemeinsame Erleben. Die Menge der Theater-besucher, ursprünglich nach streng gesellschaftshierarchischen Sitzplatz-Regelnunterteilt, wird im Idealfall zu einer zusammengehörigen Gruppe von emotionalgemeinschaftlich bewegten Menschen.

    3. Film – Kino

    Der Film ist die wohl komplexeste Vereinigung und Weiterentwicklung der „tech-nischen Techniken“ Fotografie und – seit dem Ende des Stummfilms – der Tonträgermit den Kulturtechniken Literatur (Drehbuch), Schauspielkunst und Musik.

    Die Filmproduktion ist nur durch Teamarbeit in komplexer Form möglich, wobeidas gestalterische Kernstück des Films, die Montage – der Schnitt – wieder sehr in-dividuell geplant und umgesetzt wird. Der/die Script-Autor/in im Studio schreibt inder Regel täglich seine Szenen nach den Wünschen des Regisseurs/der Produktionum und neu. Tut er/sie das nicht, wird er/sie ausgewechselt. Der Drehbuchautor oderdie -autorin entwerfen für den Regisseur Drehvorlagen nach relativ strikt vorgege-benen Regeln. Er/sie komponiert in Bildern und den Hauptunterschied zum litera-rischen Autor drückt eine grundlegende Regel für DrehbuchschreiberInnen aus: Die„Allwissenheit des Epikers“ als Erzählmethode steht ihnen nicht zur Verfügungsteht.

    Film ist ein technisches Produkt, faktisch ohne Einschränkung beliebig oft repro-duzierbar. Filmvorstellungen im Kino waren und sind im Standardfall für alle Men-schen ohne hierarchisch-ständisch festgelegte Sitzplatzordnung „konsumierbar“.Film im Kino wird in Gruppen erlebt, die Rezeption des Films durch das Publikum

    Bernd Gallob66

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  • verändert den Film aber im Unterschied zum Theater nicht. Die zu erwartendeReaktion der KinogeherInnen wird bewusst bereits bei der Konzeption des Filmsund des Scripts berücksichtigt.

    Es werden Geschichten mit optischen Konnotationen erzählt. Bis 1929/1930wurden diese optisch dominierten Geschichten ohne Ton erzählt, vielfach durchLive-Musik (Orchester oder Klavier) untermalt. Zwischentexte ergänzten dort, wodas Bild allein nicht genug ausdrücken konnte. Die (denotative) Konzentration, etwaauf Symbole, müsste den Freudianer, C. G. Jung-Leser und Kerényi-Freund Broch25

    fasziniert haben.

    Zur Herstellung eines Kinofilms benötigt man:

    � Einen Stoff – einen Plot – oft aus der Literatur genommen� Eine/n DrehbuchautorIn� Das Produktionsteam samt technischem Equipment (ProduzentIn, RegisseurIn,

    Kameraleute, Aufnahmetechnik wie Kamera, Ton, Licht, Bauten etc.)� FilmkomponistInnen/MusikerInnen/Soundtracker� SchauspielerInnen/StatistInnen� Drehorte – Studios – Motive� Produktion und Postproduktion mit technischem Fachpersonal� Kopierwerke (diese werden durch die Digitalisierung teilweise überflüssig werden)� Verleih – Vertrieb� Abspielstätten (Kinos, heute vielfach – sagen wir „ergänzt“ – durch TV-Stationen,

    Video-Wiedergabe-Techniken, Flugzeug-, Hotel-, Schiffs- und Kabel- bzw. Satelli-tennetze etc.

    Resümee

    Alle aufgezeigten Elemente der Kulturtechniken Literatur (Epik), Theater und Filmhaben zur Beurteilung der Broch’schen Versuche, für Theater und Film zu schreiben,eine elementare und bislang nicht reflektierte Bedeutung.

    Der Literatur-Leser ist über den geschriebenen Text mit dem Autor direkt„verbunden“, bei Theater und Film nur über ein ganzes Bündel von vorgegebenen

    Hermann Broch. Ein Epiker auf Abwegen. Theater und Film 67

    25 Broch hat durch seine (bis zum Lebensende währende) Arbeit mit PsychoanaltikerInnen faktisch einein Fachkreisen so genannte „Lehranalyse“ absolviert. Sein Zugang zur Symbolik, Analytik etc. ist ge-prägt von dieser Freud’schen Gratwanderung zwischen der Heilkunst (Medizin) und den Kultur-,Natur- bzw. Geisteswissenschaften. Freud hatte seinen Studien vorangestellt, dass er erwarte, dassseine Hypothesen von den nächsten Forschergenerationen medizinisch-naturwissenschaftlich unter-mauert würden. Brochs universitäre Studien in Mathematik, Physik etc. sind im Licht dieser damalsrevolutionären Grenzüberschreitungen zwischen den Disziplinen (bei ihm noch ergänzt durch dieTechnik) zu verstehen.

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  • Interpretationen (von der Ausstattung bzw. dem Motiv bis zur Besetzung mitbestimmten Typen oder Typologien). Mit damit sinkenden Ansprüchen auf eigeneImaginations- und Übersetzungsleistungen.

    So ziemlich alles, was über Hermann Broch bekannt ist, belegt, dass es von seinengrundlegenden Zielsetzungen her eine fast völlige – strukturelle – Inkompatibilitätzwischen ihm und den Theater- bzw. Filmproduktionsbedingungen gegeben habenmuss. Hermann Broch „litt an jedem Satz, und manchmal bestand die sechzehn-stündige Arbeit eines Tages darin, durchzustreichen, was er am Vortag geschrieben“hatte Gina Kaus scharf beobachtet (siehe Fußnote 2). Diese Arbeitstechnik, die auseiner autonomen künstlerischen Weltanschauung resultiert, ist nicht kompatibel mitden teamorientierten Kulturtechniken Theater und Film.

    Da standen einander Welten gegenüber, die letztendlich nicht miteinanderkorrespondieren wollten und konnten. Der extreme Individualist und EinzelkämpferBroch26 stand den gruppenorientierten Arbeitsbedingungen des Films und desTheaters fremd gegenüber. Das hatte ein Bündel von nachvollziehbaren Gründen.Vor allem wollte Broch nur die von ihm imaginierte Welt, welche immer es war,akzeptieren. Regeln akzeptierte er nur, wenn er diese selbst aufstellen oder verändernkonnte. Auch dort, wo er sich zuerst handwerkliche Fähigkeiten hätte aneignensollen. Das wollte Broch nicht – obzwar er es gekonnt hätte – wie sein durch dieTeilnahme an den Züricher Proben erfolgter Lernprozess (siehe die Ausführungenzu „Laborde“ weiter unten) belegt.

    Es ist eine der Paradoxien in Brochs Werk, dass (Film und Theater betreffend)für beinahe jede Position (und auch ihr Gegenteil) irgend eine Bemerkung in seinenSchriften bzw. Briefen die eine Hypothese zu belegen scheint, und dann wieder einanderes Zitat die gegenteilige.

    Das kann daran liegen, dass Broch seine Analysen und seine subjektivenPositionen manchmal trennt, manchmal aber auch nicht, je nach emotionalerBetroffenheit. So analysiert er in seinem 1942 verfassten Beitrag: Berthold Viertel :Fürchte dich nicht! nüchtern, und gesteht dem Theater den Primat des Regisseursund der Schauspielkunst über die Dichtung als Faktum zu und führt dann aus „Nochweitaus gültiger ist dies für den Film, da hier der Regisseur als produktiver Autor zuwirken hat.“27 Sein Agieren in den Jahren 1932 bis 1935 hat in weiten Teilen diesenEinsichten noch nicht entsprochen.

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    26 Herbert Maurer, selbst Autor, hat beim Symposion den Begriff „Autismus“ zur pointiertenCharakterisierung der einsamen Arbeit des Dichters verwendet.

    27 „Hermann Broch Schriften zur Literatur 1 Kritik“, in Kommentierte Werkausgabe, Band 9/1, heraus-gegeben von Paul Michael Lützeler, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983, S. 389.

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  • Hermann Broch – Theater

    Wer das (dürftige) vorhandene Material zum Theater aus Brochs zahlreichen Selbst-zeugnissen – sprich Briefen – zu filtern und bewerten versucht (sie werden nichteinzeln angeführt und sind in der Werkausgabe, Band 13/1, Briefe 1 1913-193828

    einzeln nachzulesen), der kommt zu einem charakeristischen Ablaufschema:

    � Broch nähert sich der neuen Herausforderung� Broch versucht, diese neue Herausforderung allein zu bewältigen� Biografische Details und persönliche Befindlichkeiten spielen oft eine große Rolle� Broch sieht sich als Reformer � Broch ist über die Widerstände und den Misserfolg wütend� Broch macht für Misserfolge unverständige Menschen verantwortlich� Broch professionalisiert seinen Zugang, oder/und er lässt das Projekt fallen� Broch macht seine persönliche Wut und seine Trauer zum Gegenstand seiner

    Arbeit, manchmal auch ziemlich unverblümt denunziatorisch (Das Script „Dasunbekannte X“ ist ein Beispiel dafür)

    � Broch beginnt an sich selbst zu zweifeln� Broch denunziert seine Motive, warum er sich (z.B. auf das Theater ) überhaupt

    eingelassen hat� Broch – schlussendlich – findet, dass er schlecht gearbeitet habe, er denunziert sich

    selbst

    Dazu seien vier Beispiele zitiert: „164. An Daniel Brody, Wien, 13. Juli 1934: Aberhier galt es – allem Weltgeschehen zum Trotz – Stücke fertig zu machen, erschwertüberdies durch den Ekel, der mich vor dieser Brotarbeit erfüllt hat, verschärftüberdies durch eine sehr heftige Zahnbeinhautentzündung.“29

    „171. An Daisy Brody: Wien, 16. Oktober 1934: Wäre es wirklich ein seriöses Dramaoder sonst etwas, wofür ich mich selber voll einsetzen könnte, so wüßte ich natürlich,daß die Zeit – sofern es eine solche überhaupt noch geben wird – für das Werk werdekommen müssen, aber da es sich, wie gesagt, um einen Schmarrn handelt, den ich mitGewalt unter meinem eigenen Niveau gehalten habe (eine fürchterliche undaufreibende Arbeit!), so sehe ich nur mehr wenige Chancen.“30

    Zwei Jahre vorher hat das so geklungen: „126. An Willa und Edwin Muir, Wien, 18.Dezember 1932: Denn es ist natürlich nicht einzusehen, daß die englischenTheaterdirektoren von anderer Geistesbeschaffenheit als ihre Kritik sein sollen. Im

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    28 „Hermann Broch Briefe 1 1913–1938“, Kommentierte Werkausgabe, Band 13/1, Frankfurt/Main:Suhrkamp, S. 1981.

    29 Ebda, S. 287.30 Ebda, S. 296.

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  • Gegenteil : so viel Dummheit und Sachunkenntnis wie beim Theater habe ich über-haupt noch nirgends angetroffen. Was ich mit dem Drama beim deutschen Theatererlebe, spottet jeder Beschreibung, ungeachtet dessen, daß ich jedesmal meinen bestenAnzug angelegt habe“.31

    „127. An Willa und Edwin Muir, Wien, 7. Februar 1933: … die Wiener Theater da-gegen sind mit Ausnahme des Staatstheaters, das aber wieder politische Rücksichtenzu nehmen hat und bloße Harmlosigkeiten aufführt, völlig fertig . Das DeutscheVolkstheater, das schon zur Aufführung bereit war, steht vor der Schließung usw.“32

    Ein Epiker auf Abwegen

    Der hintergründigste ihr bekannte Mensch sei Hermann Broch gewesen, hat GinaKaus geschrieben (siehe den Text zur Fußnote 1). Das ist ein Zeitzeuginnenbefund.Registrieren lässt sich heute, dass Hermann Broch sehr viele persönliche Doku-mente, vor allem Briefe, geschrieben hat und dass diese dennoch herzlich wenig überihn als Persönlichkeit, Menschen und Künstler preisgeben.

    Aus Brochs (sehr) vielen Briefen und Reflexionen geht nicht klar hervor, wie erTheater und Film tatsächlich bis zu seinen Arbeiten für diese Genres rezipiert hat.Der erhaltene Bestand der Klagenfurter Broch-Bibliothek33 gibt keinen Hinweis,dass und wie sich Broch mit den konkreten Dramen der Theaterliteratur beschäftigthaben könnte. Aus seinen Briefen und Schriften geht hervor, dass er sich z.B. mitGoethe oder auch Brecht (doch eher mit dem Lyriker B. B.) beschäftigt hat, dass ermit Berthold Viertel bekannt war, mit Max Reinhardt Kontakt suchte; aber eineernsthafte Auseinandersetzung mit Fragen der Dramaturgie, der Entwicklung desmodernen Dramas, mit dem Phänomen Film (analog etwa Walter Benjamin) ist nichtnachvollziehbar. Und auch wenig wahrscheinlich.34

    Aber: 1897 bis 1900 war der später als Volksbildner in Sachen Theater und Musikberühmt gewordene Josef David Bach (1874–1947, ein markanter altruistisch-humanitärer, gebildeter und jüdischer Austromarxist) Hermann Brochs privaterHauslehrer. Ihre Wege haben sich in Wien wohl zwangsläufig immer wieder gekreuztund es ist wahrscheinlich, dass Broch von Bach auch zu Theater und Musik zumin-dest Impulse erhielt. Bach war eng mit Arnold Schönberg und dessen Kreis ver-

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    31 Ebda, S. 227.32 Ebda, S. 232.33 Klaus Amann und Helmut Grote, Die Wiener Bibliothek Hermann Brochs; Kommentiertes Verzeichnis

    des rekonstruierten Bestandes, Wien: Böhlau 1990.34 Wie Klaus Amann ausführte, ist die so genannte Literarische Bibliothek Hermann Brochs, die zum

    Thema aussagekräftig wäre, zur Gänze verschwunden. Die in Brochs Briefen erwähnten Namen vonAutorInnen geben null Hinweise darauf, ob er sich mit diesen Bühnen-Dichtern auch dramaturgischauseinander gesetzt hat. Seine Briefe etc. während des Schreibens seiner Stücke und sein erstes Drama„Die Entsühnung“, deuten darauf hin, dass das nicht wahrscheinlich ist.

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  • bunden. Von Broch ist bekannt, dass er mit Alban Berg befreundet war. Das-Café-Herrenhof-Netzwerk wurde ja schon zitiert. Ob er häufiger Theaterbesucher war, istnicht nachvollziehbar. Kaum einmal, dass er in den seinen Briefen etc. so etwas er-wähnte. Aber sein Anspruch an sich selbst war ernorm hoch.

    Gleich seinen ersten Gehversuch am Theater als Autor, das Drama Die Ent-sühnung ursprünglich auch Die Totenklage genannt, definierte er ursprünglich so:

    „119. An Willa und Edwin Muir, z.Zt. München, Königinstraße 35, 12. Oktober 1932:Ich habe den Eindruck, daß es auf der Bühne ein Erfolg werden könnte, denn eserscheint mir nicht nur irgendwie ‚großes Theater‘ sondern auch als Ansatz zu jenemneuen Stil, der unbedingt gefunden werden muß, wenn das Theater überhaupt weiterbestehen soll. Bisher haben wir einerseits das bürgerliche Theater, im alten Sinn natura-listisch und brav und langweilig, andererseits das abstrakte Versuchstheater, wie es dieRussen oder in Deutschland Bert Brecht aufgestellt haben. Ich bin nun überzeugt, daßdie Ziele des Theaters nach wie vor in der griechischen Abstraktheit liegen, daß aberder Nährboden, in dem es allein ruht, immer nur im Naturalistischen zu sehen ist.Diese Verbindung zwischen Naturalismus und Abstraktismus habe ich gesucht.“35

    Diese Sätze aus dem Jahr 1932 klingen in den Ohren von Theaterhistorikern seltsam.Strindberg, Materlinck, Schnitzler, Horvath, Pirandello, Wilde, Shaw, O’Neill,O’Casey und viele andere mehr sind einfach ausgeblendet. Vor allem, wenn manheute Brochs erstes Bühnenwerk liest, dann kommt man am Ende dieser stilistischziemlich deutlich an Ibsen angelehnte Tragödie zum selben Schluss, wie er selbst„161. An Willa Muir, Wien, 12. Mai 1934: In Zürich wurde die Sache derart gekürzt,daß der ganze Epilog weggelassen worden ist, es war aber miserabel, denn nachdemdie Leute bis zum Schluß unausgesetzt applaudiert haben, sind sie am Ende auf-gestanden und haben nicht gewusst, was eigentlich geschehen ist.36

    Genau so ist es. Nicht eine Figur ist wirklich durchkomponiert, nicht eine einzigerealpolitische Situation stimmt. Aus welcher Perspektive auch immer betrachtet. Dahätte auch der Epilog nichts geändert. Und es ist ein fundamentales Missverständnisvon Theaterdramaturgie, ein Bühnenstück erst durch einen Epilog verständlichmachen zu wollen.37 Die einzelnen Abläufe auf der Bühne sind nicht durch Hand-lungsfäden verwoben. Fast alle Handlungsstränge und Figuren versanden unbemerktwährend des Stücks, es hat den Anschein, als hätte der Autor während der Arbeit dasInteresse an seinen Figuren und an der Handlung verloren, oder er hat sie nicht ineine Form bringen können. Wahrscheinlich stimmt beides.

    Hermann Broch. Ein Epiker auf Abwegen. Theater und Film 71

    35 „Briefe 1“, S. 21636 Ebda, S. 28437 Die Kodas, etwa bei Verdis Shakespeare-Vertonung Falstaff oder bei Mozart-Da Pontes Don Gio-

    vanni, sind Stilmittel, aus unterschiedlichen Motiven heraus geschrieben. Zur Besänftigung derreligiösen Fundamentalisten beim „Giovanni“, als lächelnd-resignatives Resümee des 80-jährigen Verdibeim Falstaff. Für das Verständnis der Opern wäre keine der Kodas nötig gewesen.

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  • Fiktiv ist die Handlung38 in eine größere südwestdeutsche Industriestadt 1930verlegt (die verschiedenen Fassungen wurden zwischen 1932 bis 1934 geschrieben).Es spielt, wie die beiden anderen Stücke auch, im Unternehmermilieu.

    Thema der Entsühnung ist der Kampf um die Filsmannwerke. Im diesem Stückwird auch das Milieu der Arbeiterinnen und Arbeiter der Fabriken einbezogen. ZweiMorde und zwei Selbstmorde sollen die tragischen Höhepunkte der Handlung mar-kieren. Der erste Mord ist der eines kommunistischen Arbeitslosen an einem sozial-demokratischen Betriebrat, der zweite der von streikenden und rebellierenden Arbei-tern, die Steine werfen und das Kind eines Managers unabsichtlich-grauenvoll töten.

    Der eine Selbstmord wird von einem von Broch als ziemlich beklopft charakte-risierten deutschnationalistischen Freiherrn, Liebhaber der Gattin des JuniorchefsFilsmann, der wahrscheinlich doch wieder kein Freiherr ist, so klar wird das nicht,begangen. Den anderen Selbstmord begeht der Juniorchef Filsmann, weil er dieAktienmehrheit seines Unternehmens verloren hat (was seine Existenzgrundlagegesichert und verbessert hätte). Dazu gibt es eine unklare Liebesgeschichte zwischeneiner entlassenen Direktionssekretärin (wegen dieses Verhältnisses) mit einembuckeligen Redakteur und fanatisch-theorie-lastigen Gewerkschaftsfunktionär, einKommerzienrat Dr. h.c. rer. pol. zieht einige den Aktienmarkt manipulierende Fädenund am Ende verbröselt die Handlung des Stückes, ohne dass man weiß, was derAutor eigentlich damit ausdrücken wollte.

    Die vier Morde bzw. Selbstmorde vertreiben zwar diese vier Personen von der Bühneund aus dem Stück, dramaturgisch ist diese Handlungsführung aber nicht plausibel.Und gestimmt hat ohnehin so gut wie nichts in dem Stück. 1934 (aus diesem Jahrstammt die Bühnenfassung) in Deutschland (dort spielt das Stück) war es nicht dasProblem, dass streikende Arbeiter Kleinkinder umbringen, dass deutschnationalisti-sche Wirrköpfe sich aus Gram über die Lage entleiben, dass kommunistische Arbeits-lose Betriebsräte morden oder fanatische sozialdemokratische und bucklige Journa-listen sich in der Theorie verlieren.39 Die Buckelszene zwischen dem Journalisten undseiner doch nicht Geliebten ist eine ziemlich rohe Peinlichkeit. Und wohl auch als per-sönliche Abrechnung und Rache mit bzw. an Ernst Polak – „Er war klein, von schmäch-tigem Wuchs, ging leicht gebückt mit müden Schritten, als problembeladener intellek-tueller Jude leicht agnoszierbar“40 – aus dem Café Herrenhof gedacht, seinem Rivalenund dem ursprünglichen Gatten seiner bei Gina Kaus erwähnten Liebschaft Milena.

    Bernd Gallob72

    38 Text und editorische Angaben aus „Hermann Broch; Dramen“ in Kommentierte Werkausgabe wieoben angeführt, Band 7, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986.

    39 Ein Verweis darauf, dass Broch das Stück in einer größeren südwestdeutschen Industriestadt im Jahr1930 spielen lässt, ginge an den realen Rezeptionsgegebenheiten in formalistischer Weise völlig vorbei.Die „Entsühnung“ ist kein Dokumentarspiel mit Rollen, sondern Broch möchte die politischenProbleme der Zeit aufzeigen. Das ist ihm schon für 1930 missglückt (wie er 1949 und 1950 brieflichselbst anmerkte – siehe Fußnote 33). Noch schmerzlicher ist dieser Mangel nur zwei Jahre späterspürbar gewesen, dem Jahr, in dem das Drama uraufgeführt wurde.

    40 Dubrovic, a. a. O., S. 52.

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  • Penibel werden im Personenverzeichnis (das gilt für alle Stücke) alle adeligen,bürgerlichen, akademischen und sonstigen Titeln angeführt und im Stück immerwieder ausgewalzt. Nicht als Milieuschilderung zugespitzt oder ironisch gebrochen. Wie Broch, aber auch die Brochrezeption mit dem ursprünglich wahrscheinlich vielkonkreter und politischer gemeinten Personenfundus umgegangen sind, belegt dasVerschwinden des „Wilhelm Dolfuss, Aufsichtsrat der Filsmannwerke (etwa 50Jahre)“. In der bei Suhrkamp so genannten „Buchfassung“ tritt ein als reaktionärerSchwätzer gekennzeichnete Figur „Wilhelm Dolfuss“, Dolfuss mit einem „l“ undzwei runden „s“ geschrieben, auf.

    Wenn in Betracht gezogen wird, dass Broch, angeblich nur den 3. Akt des Stückesam 1. Dezember 1932 in der Volkshochschule Ottakring gelesen hat, dann weiß derZeithistoriker um die große politische Brisanz im Kontext um den geradeaufstrebenden christlichsozialen Politiker Engelbert Dollfuß (mit 2 „l“ und einemscharfen „ß“). Schon in der Buchfassung verschwindet diese Figur ansatzlos nachdem 1. Akt, in der Bühnenfassung von 1934 ist sie völlig verschwunden.

    Eine editorische Randbemerkung: Die Lesung am 1. Dezember 1932 fand nichtin der Wiener Volkshochschule, Ottakring, statt, sondern in deren ZweigstelleLeopoldstadt41.

    Nach diesen Anmerkungen zur dramaturgischen Fehlkonstruktion des Stückes,sei nun eine für die Theaterpraxis viel gravierendere, eine szenisch strukturelleangefügt. Sie belegt, dass sich Broch als Epiker auf theatralische Abwege begeben hat.

    Die szenische Konstruktion

    Die Entsühnung

    Die EntsühnungTrauerspiel in drei Akten und einem EpilogBühnenfassung

    Dekorationen laut Hermann Broch

    1. AktFabrikskantineWohnzimmer im Stadthaus FilsmannsVorderbühne, abgeschlossen durch Fabrikmauer, Gaslaterne, Bühne leerWohnzimmer im Stadthaus FilsmannsKleiner Bühnenausschnitt, ein Stück nächtlicher Straße darstellend

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    41 Wilhelm Filla, Wissenschaft für alle – ein Widerspruch; Bevölkerungsnaher Wissenstransfer in der WienerModerne. Ein historisches Volkshochschulmodell; Studienverlag: 2001, S. 590.

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  • Kleiner Bühnenausschnitt, Schlafzimmer GladysKleiner Bühnenauschnitt, ProstituiertenzimmerInneres eines Cafés

    2. AktBüro MencksKleiner Bühnenausschnitt, kleines Wohnzimmer bei Thea WoltauVorderbühne, Fabrikmauer, LaternenpfahlBüro MencksArbeitszimmer HasselsWohnzimmer bei FilsmannsKleiner Bühnenausschnitt, Schalterraum eines BahnhofesWohnküche bei Rychner

    3. AktWohnzimmer bei FilsmannsKleiner Bühnenausschnitt, HotelzimmerWohnzimmer bei FilsmannsKleiner Bühnenausschnitt, Zimmer Eva GrönersVorderbühne, Fabrikmauer, LaternenpfahlKleiner Bühnenausschnitt, Zimmer bei HügliBüro MencksKleiner Bühnenausschnitt, Wohnzimmer TheasWohnzimmer bei FilsmannsVorderbühne oder Bühnenausschnitt, Freie Gegend

    EpilogSitzungszimmer (Wohnzimmer Filsmanns ??)Abstrakter Raum

    Broch hat für drei Akte, bei zwei Pausen, 28 Szenen geschrieben. Bei Befolgungseines Konzepts wären dafür 16 Dekorationen und 28 Umbauten benötigt worden.Dazu 28 Schauspieler (10 weibliche, 18 männliche Rollen und 12 Komparsen).

    Die Szenen sind, wie die gesamte Handlung, in eindimensionaler Weise geschrie-ben. In keine einzige Szene hinein tritt eine Person auf, die nicht schon am Beginndieser Szene anwesend ist. Dadurch verlaufen die Handlungsfäden parallel und wederHandlung noch Personen werden zu einem Geflecht verwoben. Wie zu lesen seinwird, steht das ganz im Gegensatz etwa zur Personenführung bei Shakespeare.

    Die technischen Anforderungen an die Bühne sind theaterfremd und unerfüllbar.Allein seine szenischen Anweisungen zur Bespielung der Vorderbühne lassen jedenTheaterkundigen erschaudern. Ganz offensichtlich hat Broch geglaubt, damit eineArt zweiter, frei disponibler Bühne, völlig abgekoppelt vom Bühnenraum hinter demVorhang, schaffen zu können.

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  • Doch weiß und bedenkt er aus Mangel an Erfahrung nicht, dass die Dekora-tionen und Möbel auf der Vorderbühne auf- und abgebaut werden müssen, damitdann die Normalbühne bespielt werden kann. Das sind standardmäßige Anfänger-fehler. Beispiel : Architekten, die erstmals ein Theater bauen, unterlassen es alsStandardmängel meist, den Bühnenraum und die Tore für die Anlieferung von Deko-rationen ausreichend zu dimensionieren.

    Dazu hat Broch eine Reihe von „Tonintroduktionen“ vorgesehen. Der Einsatzvon Ton aus der Konserve am Sprechtheater als stücktragendes Element einer Insze-nierung zu konzipieren ist, wie die Bespielung der Vorderbühne in der von Brocherdachten Form, die typische Vorstellungen eines Theaterlaien. Tonelemente (selbstbeim akustisch dominierten Musiktheater) sind keine dramaturgisch-tragende Säu-len. Diese werden höchstens in der Hörspieldramaturgie eingesetzt.42

    Noch viel theaterfremder sind die von Broch erdachten Filmintroduktionen zurKennzeichnung des Milieus oder der Spielorte. Die Problematik von Projektionenam Theater war 1934 weit davon entfernt, technisch gelöst zu sein. Erst in den Jahrenum 1960 hat der Bühnenbildner Günther Schneider-Siemssen Mal- und Projektions-techniken entwickelt, die zu einer vertretbaren Projektionsqualität geführt haben.

    Das Abspielen von Filmen war noch problematischer (und ist es teils heute noch).Immer kämpften die Bühnen – auch noch heute – (und die Technik hat sich rasantweiter entwickelt) mit der Frage, von wo worauf in welcher Bildqualität projiziertwird. 1934 hat es noch ausschließlich den Schwarz-Weiß-Film gegeben. Der Kontrastder mit Farbe ausgeführten Dekorationen zum Schwarz-Weiß-Film hätte 1934zusätzlich ein ästhetisches Problem ergeben.

    Bühnentechnisch hätte die Filmprojektion (wegen der zu errichtenden Lein-wand) zwangsweise zu weiteren Umbauten geführt. Die Finanzierung und Herstel-lung der Filme waren nicht theaterüblich. Insgesamt kam es zu einer nicht umsetz-baren Kumulation von Theater-unmöglichem.43

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    42 Der Verfasser hat es als Regieassistent selbst erlebt, wie ein berühmter Musiktheaterregisseur im Jahr1966 bei der Inszenierung von Webers „Freischütz“ vergeblich versuchte, diese Regel zu brechen.Jeder „Kaspar“ musste für das Freikugelgießen die berühmten Echotöne „Eins, zwei, drei“ etc. selbstim Tonstudio aufnehmen. Es sollte damit das irreale Echo als Selbstimagination des Kaspar erkennbargemacht werden. Niemand im Publikum hat das jemals registriert. Über Jahrzehnte nicht.

    43 Die Versuche etwa Erwin Piscators im Berlin der 20er Jahre, Film als Stilmittel auf dem Theatereinzusetzen, waren an den herkömmllichen Bühnen weder technisch umsetzbar, noch hatten sie inweiterer Folge theaterästhetisch eine nachhaltige Wirkung. Die Flächigkeit des Films hat sich mit derDreidimensionalität der Bühne nie wirklich verbinden können. Es sind unterschiedliche Medien.Theater wird immer ein analoges System bleiben, jede Vorstellung ist live, der Film ist – wie angeführt– ein reproduzierbares technisches Medium, nicht live, und bereits auf dem Weg zur Digitalität. Beim16mm-Film war in den 30-ern die Größe der Projektionsfläche sehr beschränkt, bei 35 mm waren dieProjektoren mit Lichtbogen ausgestattet, die eine große Hitze entwickelten. Die Filmprojektion wardurch das leicht brennbare Filmmaterial (Nitrofilm) äußerst brandgefährdet und sie war behördlichdeswegen streng geregelt.

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  • Kaum ein Theater hatte in den 30ern eine Kinokonzession, die entsprechendenAbspielgeräte sowie die dafür nötigen Räume. Auch im technisch fortgeschrittenenausgehenden 20. Jahrhundert hat man Filmprojektionsmöglichkeiten auf Rund-horizonten aus vielerlei Gründen nur sehr selten und wenn, meist nur bei En-suite-Produktionen eingesetzt.

    Der Vergleich mit Hamlet, einem besonders schwierigen Stück des TheatergeniesWilliam Shakespeare, sagt mehr aus als weitere theoretisch-analytische Hinweise desVerfassers. Der Hamlet wurde ausgewählt, weil Broch sich mit seinen „Konnota-tionen zu Hamlet“ und seiner „Ophelia“ mit diesem Stoff dichterisch auseinandergesetzt hat.

    HamletFünf Akte

    1. AktHelsingör, eine Terasse vor dem Schlosse (Deko 1)Ein Staatszimmer im Schlosse (Deko 2, Umbau 1)Ein Zimmer in Polonius Haus (Deko 3, Umbau 2)Die Terasse (Deko wie 1, Umbau 3)Ein abgelegener Teil der Terasse (Requisiten-Möbelwechsel, sonst wie Deko1)

    2. AktEin Zimmer in Polonius Haus (Wie Deko 3, Umbau 4)Ein Zimmer im Schlosse (wie Deko 2, Möbelwechsel)

    3. AktEin Zimmer im Schlosse (wie Deko 2, Möbelwechsel)Ein Saal im Schlosse (Möbel weg)Ein Zimmer im Schlosse (Möbel wieder her)Zimmer der Königin (Möbelwechsel)

    4. AktEin Zimmer im Schlosse (Möbelwechsel)Ein anderes Zimmer im Schlosse (Möbelwechsel)Ein anderes Zimmer im Schlosse (weiterer Möbelwechsel)Eine Ebene in Dänemark (Deko 4, Umbau 5)Helsingör, ein Zimmer im Schlosse (wie Deko 2, andere Möbel, Umbau 6)Ein anderes Zimmer im Schlosse (Möbelwechsel)ein anderes Zimmer im Schlosse (Möbelwechsel)

    5. AktEin Kirchhof (Deko 5, Umbau 7)Ein Saal im Schlosse (wie Deko 2, andere Möbel, Umbau 8)

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  • Shakespeare schreibt viele Auftritte in eine gerade ablaufende Szene. Er verwebt mitdieser Schreibtechnik die einzelnen Personen, Charaktere und Handlungen genial zueinem großartigen Ganzen. Das Stück erhält damit seinen theatralischen Rhythmus,viele Szenen dauern sehr lange, wodurch auch die bühnenadäquate Einheit des Ortesgewahrt wird.

    Hamlet hat fünf Akte, vier Pausen und neunzehn Szenen. Dafür benötigt dasTheater fünf Dekorationen bei acht Umbauten. Mit den im Rollenverzeichnis Shake-speares angeführten „mehreren Schauspielern“ etwa 25 Schauspieler, davon zweiweibliche Rollen.

    Spielplankonsequenzen

    Brochs zweites Theaterstück Aus der Luft gegriffen oder die Geschäfte des BaronLaborde, ist eine Hochstaplerkomödie. Es ist, wie auch sein drittes Stück, dem ent-behrlichen Schwank mit Musik „Es bleibt alles beim Alten“, wieder im Milieu vonUnternehmerInnen, d.h. Bourgeois, Citoyens und Gamblern angesiedelt.

    Beim Schreiben des Baron Laborde berücksichtigt Broch ganz offensichtlichseine Probenerfahrungen, die er anlässlich der Züricher Uraufführung der „Ent-sühnung“, dort unter dem Titel „… denn sie wissen nicht, was sie tun“ gespielt(Regie: der Brecht-Spezialist Gustav Hartung), gemacht hat. Hätte Broch kon-sequent für das Theater in einem Team von erstrangigen Künstlerinnen und Künst-lern weiter gearbeitet, er hätte zweifellos ein wichtiger Bühnenautor werden können.Auch wenn festzustellen ist, dass sein letztes Stück, der erwähnte Schwank mitMusik, zu Recht noch nie und nirgends gespielt worden ist. Das passiert auch denbesten Autoren.

    Baron Laborde schnurrt ab wie ein guter Feydeau.44 Das Stück hat Witz, Ironie,Kraft, gute Rollen und wird noch seinen Weg machen. Für den Laborde benötigtman 12 Personen und er spielt in einem Hotel mit wenigen kleinen Umbauten. Dochhat sich Broch mit seiner Entsühnung und den wohl damit verknüpften verbalenBegleitumständen sichtlich aus den Wiener Dramaturgie- und Direktionsetagenhinauskatapultiert. Ab 1933 stand er bei der Deutschen Reichstheaterkammer desNaziregimes zweifellos auf deren Index.

    Aber auf Wien bezogen: keineswegs stand das Deutsche Volkstheater 1932 vorder Schließung (siehe Zitat zur Fußnote 19) , auch wenn es das Broch-Drama DieEntsühnung weder spielen konnte noch wollte. 1932 war45 Dr. Rudolf Beer Direktor.

    Hermann Broch. Ein Epiker auf Abwegen. Theater und Film 77

    44 Der Verfasser korrespondierte und diskutierte zur Frage der Genrebezeichnung des „Laborde“ mitdem in Paris lebenden Theaterstückeübersetzer Heinz Schwarzinger und übernimmt dessenkompetente Aussage, dass es sich – da deutschsprachig geschrieben – um eine „Groteske“ handelt.

    45 Die Angaben stammen aus Deutsches Bühnenjahrbuch 1932, Berlin: Genossenschaft der DeutschenBühnenangehörigen, 1932 bzw. aus Deutsches Bühnenjahrbuch 1934, Berlin 1934. [In diesen

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  • 1934 nahmen Rolf Jahn und Hans Josef Jarno diese Position ein. Chefdramaturg warin beiden angeführten Jahren der große Humanist und Mitstreiter des Friedens-nobelpreisträgers Erich Fried, Heinrich Glücksmann. 1932 waren 41 Herren (1934noch immer 24) und 24 Damen (1934: 13) engagiert. Neben dieser Erwähnung desVolkstheaters (er muss es wohl dort angeboten haben) schreibt Broch auch imFebruar 1934, also vor der Züricher Aufführung46, dass „Die Entsühnung“ imRaimundtheater aufgeführt werden solle. Broch scheint, sein 1933 verfasster (obenschon erwähnter) Brief die angeblich bevorstehende Schließung des DeutschenVolkstheaters deutet darauf hin, die beiden Bühnen zu verwechseln. Was nicht soverwunderlich ist, wie es auf den ersten Blick erscheint.

    Im Deutschen Bühnenjahrbuch von 1934 steht (es werden in diesen Jahrbüchernimmer die Verhältnisse des Vorjahres, diesfalls bis 30. September 1933, wieder gege-ben) unter „Raimundtheater“ vermerkt: „Personalverzeichnis bis zur Drucklegungnicht eingegangen.“47 Die Direktoren Rudolf Beer und Rolf Jarno waren gleicher-maßen Leiter des Deutschen Volkstheaters und des Raimundtheaters. „Ende Mai1933 legte Rolf Jahn seinen Posten zurück, das Theater mußte gesperrt werden.“48

    1934 versuchte der eben erwähnte Dramaturg des Volkstheaters, Glücksmann,dem Raimundtheater zur Wiedereröffnung zu verhelfen. Broch hatte es also mitGesprächspartnern zu tun, die in der zur Frage stehenden Zeit e Doppelfunktionenim Volks- und im Raimundtheater innehatten.

    Direktoren des Wiener Theaters in der Josefstadt waren 1932 Max Reinhardt,1934 Max Reinhardt zusammen mit Otto Preminger. Beide lehnten es ab, den„Laborde“ auf den Spielplan zu nehmen.49 Burgtheaterdirektor war 1932 AntonWildgans, 1934 Hermann Röbbeling. Über Bemühungen, dort seine Stücke zuplatzieren, ist nichts dokumentarisch nachweisbar.

    Die Münchner Kammerspiele leitete in beiden angeführten Jahren der berühmteOtto Falckenberg. Hermann Röbbeling war 1932 Direktor der Vereinigten Schau-spielbühnen in Hamburg (ehe er 1933 nach Wien abwanderte), das Deutsche Schau-spielhaus in Hamburg wurde 1934 von Karl Wüstenhagen geleitet, Intendant derPreußischen Staatstheater Berlin war Heinz Tietjen, dessen ständige Grabenkriegegegen die Nazibonzen und ihre Einmischungen (insbesondere bei den BayreutherFestspielen) Brigitte Hamann sehr detailliert dokumentiert hat.50

    Politische oder gar rassistische Gründe für die Ablehnung Hermann Bochs sindin Wien sowohl 1932 wie auch 1934 auszuschließen. Das gilt nicht für Deutschland

    Bernd Gallob78

    Bühnenjahrbüchern wurden und sind die wichtigsten Informationen über alle Theater in Deutsch-land, Österreich und der Schweiz zusammengefasst. Der Verfasser]

    46 „Briefe 1“, S. 280 f.47 Deutsches Bühnenjahrbuch 1934, S. 575.48 Maria Kinz, Raimundtheater, Wien: Jugend und Volk, 1985, S. 57.49 Broch scheint das bis an ein Lebensende nicht wirklich verwunden zu haben. Seine Studie

    „Hofmannsthal und seine Zeit“ von 1947/48 ist auch eine grimmige Abrechnung mit Max Reinhardt. 50 Brigitte Haman, Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth, München: Piper, 2002.

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  • nach 1933, dem Jahr der Machtergreifung durch die NSDAP. Max Reinhardt, OttoPreminger, die Brochs „Laborde“ für die Josefstadt abgelehnt hatten, und HeinrichGlücksmann mussten, wie Broch auch, emigrieren, um nicht ermordet zu werden,Rudolf Beer nahm sich 1938 nach Misshandlungen durch die SA das Leben.51

    Der Theaterabteilung des Suhrkamp Verlags, Frau Müller, verdankt der Verfassereinen Überblick über Zahl und Orte der Bühneninszenierungen von Brochs Werken,wobei Ernst Schönwieses Hörspielfassung und -inszenierung nicht angeführt ist,auch nicht die Burgtheatermatinee vom 11. März 1979 „Hermann Broch, ,… dennsie wissen nicht, was sie tun“. Prosa, Briefe und Szenen aus den 30er Jahren.Szenische Gestaltung: Georg Soulek, M: Kurt Werner mit Bißmeier, Pluhar, Muliar,Gasser, P. Hoffmann, Schossmann, Wagener, Gabriele Schuchter, Zeller, Meyer.“52

    Wie dem auch sei: Neben der Uraufführung der „Entsühnung“ unter dem Titel„… denn sie wissen nicht, was sie tun“ vom 15. März 1934 in Zürich gab es noch am3. Juni 1982 die DEA im Stadttheater Osnabrück und eine zweite Inszenierung amZüricher Schauspielhaus am 9. April 1994.

    Die Geschäfte des Baron Laborde wurden am 6. Oktober 1981 an den StädtischenBühnen Osnabrück uraufgeführt. Weitere Inszenierungen: Burgtheater/Akademie-theater in der Saison 1982/83, 1984/85 Tournee des Tourneetheaters Landgraf,1984/85 Bonn, Kammerspiele, 1986/87 Berlin, Schiller Theater, 1989/90 Bern, Stadt-theater, Oktober 1999 Wien, Spielraum. Diese Groteske wird noch ihren Wegmachen.

    Brochs Schwank mit Musik Es bleibt alles beim Alten wurde nie aufgeführt. Was derVerfasser nicht noch einmal kommentieren wird.

    Wie eine kontinuierliche Hermann Broch Pflege auf dem Theater aussehen könn-te, deutet die nur auf den ersten Blick erstaunliche Tatsache an, dass Suhrkamp fürdie Bearbeitung von Die Erzählung der Magd Zerline inklusive Verlängerungen ab1982 rund 65 Aufführungsverträge allein in Deutschland, Österreich und derSchweiz abgeschlossen hat. Darüber hinaus ist die Magd Zerline in andere Sprachenübersetzt und prominent präsentiert worden. z. B. bei einer Tournee des TheatreNational Populaire 1987 mit Jeanne Moreau.

    Das Erfolgsprinzip der Bearbeitung von Broch-Stoffen durch speziell für dasTheater bzw. den Film/TV prädestinierte Autoren wäre ausbaufähig. Als Vorgriff aufdas Kapitel Film nur so viel : Thomas Zeipelt vom Suhrkamp Verlag verdankt derVerfasser sachgerechte Informationen die Filmrechte betreffend. Wiederum: DieMagd Zerline wurde 1991 vom Bayrischen Fernsehen produziert, 1994 vom Schwedi-schen Fernsehen als Produktion des Königlichen Theaters, 1999 vom Polnischen TV,auch als Übertragung aus dem Theater, mit dem britischen Fernsehen laufen Ver-

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    51 Siehe: Handbuch des deutschsprachigen Exiltheaters, Band 2: Biographisches Lexikon der Theater-künstler, München: Saur, 1999.

    52 Burgtheater Wien 1776–1986, Österreichischer Bundestheaterverband, 1986, S. 247.

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  • handlungen, es ist (Mai 2003) noch nicht klar, ob diese Verhandlungen zu einemErgebnis führen werden. 1979 wurde die Co-Produktion von ARD und ORF Eschoder die Anarchie erstmals ausgestrahlt. Und damit erstmals eine rein filmischeBearbeitung eines Broch-Stoffes.53

    Resümee

    Brochs Gesamtwerk wäre für Bühne, Film und TV interessant, wenn es von sensiblenDramaturgInnen oder AutorInnen bearbeitet würde. Wie das Beispiel der MagdZerline belegt. Auch „Die Entsühnung“ könnte bei konsequenter Rekonkretisierung(sprich: Repolitisierung) für TV, Film oder die Bühne interessant gemacht werden.54

    Dies entspräche dem Willen Hermann Brochs, wie das folgende Zitat zur „Ent-sühnung“ belegt: „Schönwiese hat dieses Stück später bearbeitet, die Szenenfolgeverändert, gekürzt und gelegentlich auch in den Text eingegriffen und es am 30. Mai1961 in Wien als Hörspiel zur Uraufführung gebracht. Diese Fassung wurde mit demTitel Die Entsühnung veröffentlicht. Beides geschah zweifelsohne gegen den WillenBrochs, der später die Schwächen des Stücks einsah. 1949 schrieb er: ‚Was das Stückanlangt, so müssen Sie mir glauben: es ist ein weicher Schmarrn und man kann aucheinfach Dreck sagen … Wollte man die ‚Entsühnung‘ heute wieder hervorholen, ichmüßte sie von Grund auf umarbeiten‘. Auch als sich kurz vor seinem Tod die Mög-lichkeit bot, das Stück erneut aufzuführen, blieb er unerbittlich. ‚An der Verschwei-gung des Dramas möchte ich aber festhalten. Technische Geschicklichkeit ist nochkeine Kunst, und ein Drama, das dem Publikum keine neue Botschaft vermittelt, istCliché, also ein Schmarrn. Zwei deutsche Bühnen wollten es jetzt bringen, ich habedie Aufführung inhibiert. (Br 18. 1.49, uv und Br. 14.10.50, uv).“55

    Bemerkenswert ist, dass er sich bei aller Selbstdenunziation für sein erstes Stückdoch technische Geschicklichkeit attestiert hat.

    Bernd Gallob80

    53 Broch ist daran nicht ganz unschuldig, hat er es doch verabsäumt, sich – wie beim Theater – auch beimFilm zu professionalisieren. Hätte er das getan und gewollt (!), wäre aus ihm mit einer an Sicherheitgrenzender Wahrscheinlichkeit ein guter Script-Schreiber geworden.

    54 Peter Turrini hat mit seinem „Tollsten Tag“ bewiesen, dass auch drastische Eingriffe in eine Vorlageerfolgreich sein können, wobei es sich zugegebenermaßen beim Original Beaumarchais’ um einebrillante Vorlage handelt.

    55 Manfred Durzak, Broch, Reinbeck: Rowohlt, 1966, 91 f.

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  • Hermann Broch – Film

    Die dürftige theaterrelevante Quellenlage hat schon bei der Bewertung des Theater-autors Broch aufwendige Recherchen bedingt. Noch aufwendiger war die Recherchefür eine halbwegs fundierte Beurteilung Brochs als Drehbuchautor bzw. seinesZugangs zu Film und Kino.

    Aus dem umfangreichen Literaturfundus der Arbeiten über Hermann Broch hatder Verfasser einzig Manfred Durzaks Aufsatz „Hermann Broch und der Film56

    gefunden, wo diese Fragestellung explizit thematisiert wurde. Vieles in Durzaks Arbeit ist Spekulation. „Die erste filmische Arbeit scheint aus

    dem Jahr 1917/18 zu stammen … Aus Brochs Frühzeit stammt offensichtlich[Unterstreichungen vom Verfasser] auch eine andere Drehbuchskizze: ‚Der Stei-nerne Gast (Ein Don-Juan-Film)‘. Ausgeführt sind nur zwei Szenen.

    Völlig unklar bleibt im Grund auch, ob und wie häufig Broch Kinogeher war. Ausseinen Briefen geht für die Zeit von 1932 bis 1935 darüber nichts hervor. SeinLebensrhythmus und sein häufig beschriebenes Arbeitsleid beim nächtelangenSchreiben sprechen nicht für häufigen Kinobesuch in Teesdorf oder Wien. Obzwarin Teesdorf seit 1919 ein Kino am Hauptplatz existiert hat.57

    Dass die Warner Bros. 1932 mit Broch über eine Verfilmung der Schlafwandlerverhandelt hat, ist vielfach dokumentiert, auch von Broch selbst in seinen Briefen.Vicky Baum, die ehemalige Harfenistin aus dem Deutschen Volkstheater und Mit-glied der Café-Herrenhof-Runden, hatte der MGM die Filmrechte ihres Romans„Menschen im Hotel“ gegen ein gutes Honorar verkaufen können. Der Film wurdebekanntlich zu einem Sensationswelterfolg, und Gina Kaus wiederum hat derParamount (auch 1932) die Rechte für ihre „Überfahrt“ um die damals riesigeSumme von 15.000 Dollar verkauft.58

    Das musste Broch elektrisieren und motivieren, um es neutral auszudrücken.Durzak beschreibt Brochs Versuche, mit Hilfe des Reinhardt- und Stanislawsky-Schü-lers Alexander Granowsky59 nicht nur als Filmstoff-Lieferant (den zitierten Schlaf-wandler), sondern auch als Drehbuchautor „mitzuspielen“ sowie auch als Film-Bearbei-ter von Joyce’ „Ulysses“. Alle Pläne zerschlugen sich, wie es sein Verleger Brody Brochprophezeite, sollte er (Broch) auch nur ein einziges eigenes Filmexposé machen.60 UndBroch schrieb hingegen gleich ein ganzes Drehbuch, ohne es gelernt zu haben.

    Ende 1933/Anfang 1934, so seine Mitteilung an Berthold Viertel, Broch61 arbei-tete er mit dem „Photografen Husnik“62 an einem großen englisch-österreichischen

    Hermann Broch. Ein Epiker auf Abwegen. Theater und Film 81

    56 Manfred Durzak, „Hermann Broch und der Film“ in Der Monat, Heft 212, Mai 1966, Berlin, S. 68 ff.57 Harry Nestor, Österreichischer Film-Almanach, Wien, 1956, S. 174.58 Gina Kaus, a.a.O., S. 149.59 Manfred Durzak, in Der Monat, S. 71.60 Ebda, S. 71.61 Broch-Briefe 1, S. 270 ff.62 Dieser Brief vom 10. Jänner 1934 und die editorische Fußnote dazu, Broch hätte Kurt Husnik „durch

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  • Filmprojekt und schrieb 193563 das Drehbuch (= Script)64 zum wissenschaftlichenFilm „Das unbekannte X – Der Film einer physikalischen Theorie (unter Anlehnungan den Roman Die unbekannte Größe“, das die Paramount sehr rasch ablehnte.65 DieParamount war aus ihrer damaligen Produktionsgeschichte sicher ein Hoffnungs-träger für Broch gewesen „In den 30er Jahren war Paramount besonders für seineneuropäischen Stil bekannt – durch Filme von Sternberg und Lubitsch. Der Star, derdie luxuriösen Inszenierungen der Paramount verkörperte, war Marlene Dietrich –die Metropolitan Lady des klassischen Kinos.“66

    Doch Broch verkannte das amerikanische Filmbusiness wohl völlig. Im Grundewollte er mit der Verfilmung primär den Romanerfolg verstärken und – wiedereinmal als Anfänger – die Filmwelt aus den Angeln heben: „ Broch hat seinerseitsversucht – schon um der finanziellen Misere zu entgehen – den Erfolg der ‚Unbe-kannten Größe‘ auszuwerten und hat im Frühjahr 1934 ein Drehbuch nach einemRoman geschrieben: ‚Das unbekannte X‘. Bereits mit seinem ersten Drama hatteBroch ein neues Theater gründen wollen und ähnlich hochgespannte Erwartungenverband er auch mit diesem geplanten Film. In einer ‚Vorbemerkung‘ zu dem Dreh-buch heißt es : Dieser Film sei paradigmatisch gewertet : er kann und soll zumAusgangspunkt einer ganzen Serie wissenschaftlicher Filme werden.67

    Broch führt in seinen Briefen an, dass ihn René Fülöp-Miller beim Drehbuch alsMitarbeiter und Stefan Zweig gesprächsweise unterstützt hätten. Beide werden als„Argumente“ beim Verleger der Viking Press, B. W. Huebsch, angeführt (der 1940Brochs „Vergil“ ablehnte68).

    Nur: Fülöp-Miller hat sich intensiv mit Russischer Literatur auseinander gesetzt,als Drehbuchautor ist er ein unbeschriebenes Blatt – und ob Stefan Zweig seinenKonkurrenten Broch so reinen Herzens unterstützte, wie Broch das sichtlichglaubte, fragt sich der kritische Beobachter, wenn Stefan Zweigs allseits bekanntgewesener Zusatzname „Erwerbszweig“ in die Überlegungen einbezogen wird. Oderwenn bedacht wird, dass Stefan Zweigs Filmografie 39 verfilmte Stoffe von ihmausweist, bis 1935 bereits 1069, zu denen er niemals das Drehbuch selbst geschriebenhat. Welche Philosophie sollte es auch haben, für amerikanische Produktionen inDeutscher Sprache Drehbücher zu schreiben.

    Bernd Gallob82

    seinen Sohn kennengelernt“ (eine Quelle dieser editorischen Fußnote wird nicht zitiert), waren dieeinzigen bisher bekannt gewesenen Hinweise auf Kurt Husnik.

    63 Broch-Briefe 1, S. 341 ff.64 Drehbuch und Script sind Synonyma. 65 Broch „Die Unbekannte Größe“, a.a.O., S. 25966 Reclams Sachlexikon des Films, Stuttgart: Reclam, 2002, S. 438.67 Manfred Durzak „Broch“, a.a.O., S. 96; Die unbekannte Größe, S. 250 f.68 Manfred Durzak, Manfred „Hermann Broch – Dichtung und Erkenntnis“, W. Kohlhammer, Stuttgart,

    1978, S. 85.69 Zitiert aus der Internet-Filmdatenbank: „german.imdb.com/Name?Zweig,+Stefan“

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  • Was bewegte also den intelligenten und gebildeten Menschen-Künstler Broch, anden Erfolg wissenschaftlicher Filme und an eine Realisierung durch die Paramountzu glauben? Alle bekannten Informationen und Daten sprechen gegen diesen Traum,gegen diese Hoffnung. Die Gründung der Gemeinde-Wien-eigenen KIBA im Jahr1932 erfolgte – um den zeitlichen Kontext auch für Wien zu beleuchten – deshalb,weil der volksbildnerisch als wertvoll erachtete, teils Wissenschaftsthemen abhan-delnde Film, kommerziell völlig erfolglos blieb. Nach der Umstellung auf Tonfilm inden Jahren 1929 und 1930 schon überhaupt. Der Wiener Finanzstadtrat Hugo Breit-ner verdiente, wie viele humanitäre Organisationen auch, mit kommerziellen Spiel-filmen in diesen Jahren viel Geld, gegen den wütenden Protest der Lehrer undBildungsbeflissenen in allen Parteien.

    Als Drehbuch ist die vorliegende Fassung Brochs eine – wie die Drehbuchauto-ren sagen würden, überaus geschwätzige (manche Monologe ziehen sich überSeiten), optisch nicht aufgelöste, mäßig witzige Abrechnung mit dem aggressiven,teils deutschnationalistischen, idiotischen und biersaufenden Klein- und Spieß-bürgertum. Dabei nimmt er besonders den so genannten „gesunden Menschen-verstand“ und die Universität Wien mit ihren Lehrern, dem administrativen Personalund den Studierenden aufs Korn. Vermittelt werden soll die Richtigkeit derEinstein’schen Relativitätstheorie, boshaft und dümmlich von einer Reihe bornierterund hinterhältiger Wiener Professoren der Universität und der Akademie derWissenschaften verunglimpft.

    Broch hat in den Jahren zwischen 1925 und 1930 an der Universität Wien Philo-sophie, Physik und Mathematik studiert und ist (siehe das Dubrovic-Zitat zur Fuß-note 9) beim Latinum durchgefallen, was ihn sichtlich so empört, aufgebracht undverwundet hat, dass er zur Wiederholungsprüfung nicht antrat. Er hörte u. a. beiMoritz Schlick, Rudolf Carnap, Hans Thirring, Hans Hahn und war mit Karl Bühlerbefreundet.70

    Viele Entwicklungen an der Universität Wien in diesen Jahren wären es wert,ernsthaft kritisiert zu werden. Die Mathematik, Philosophie und Physik – diegenannten Personen sind ein starkes Indiz dafür – waren für die von Broch gewählteForm der Verblödelung nicht geeignet. Da war wohl noch die Emotion wegen desnicht bestandenen Latinums eher Motiv für den Rundumschlag als die historischeRichtigkeit. Den kosmischen Spießer („Das unbekannte X“) hat es unter dengenannten Personen und deren persönlichem Umfeld wohl nicht gegeben.

    Hermann Broch. Ein Epiker auf Abwegen. Theater und Film 83

    70 Paul Michael Lützeler, Hermann Broch – Eine Biographie, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1985, S. 388.

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  • Wider den „gesunden Menschenverstand“

    „Das unbekannte X“

    Broch hat mit seinem Drehbuch eine wirre Mischung von Fiktion, wissenschaftlicherZielsetzung, dokumentarisch gemeinten Elementen, scharfem Sarkasmus, Hohn,Spott und Verachtung zusammengeschrieben. Bestenfalls sind die Themen in der vonBroch gewählten Form der Verblödelung, wie auch bei seinem 3. Theaterstück, demSchwank, für Wiener Insider von gewissem Tratsch-Interesse gewesen. Broch hieltdas offensichtlich für den Inbegriff des Populären, ein Irrtum, den er offensichtlicheinsah als er im Oktober 1935 den Zugeständnissen ans Populäre abschwor.

    Die Thematisierung und Verhöhnung des „gesunden Menschenverstandes“gerade im Kontext von Physik und Mathematik, so genannten exakten Wissenschaf-ten, ist als tragendes Handlungselement nicht logisch oder einsichtig. Broch begehtdamit eine branchenwidrige „Drehbuch-Todsünde“. Weil weder die Handlung nochdie handelnden Personen im Kontext exakte Wissenschaft (Mathematik, Physik) undPhilosophie „glaubwürdig“ sind. Auch was Broch als Popularisierungsstrategie fürein wissenschaftliches Thema angelegt hat, die zitierte Verblödelung, entzog derHandlung noch zusätzlich die Glaubwürdigkeit.71

    Die Verhöhnung des „gesunden Menschenverstandes“ ist geistesgeschichtlichaufschlussreich. Friedrich Heer zitiert in seinem bemerkenswerten Buch „DerKampf um die österreichische Identität“ Franz Grillparzer „Wir haben bewahrt, wasunsere Nachbarn durch falsche Gründlichkeit zum Teil verloren: ein warmes Herz,einen offen Sinn und Natürlichkeit“.72 Friedrich Heer führt weiter aus: „DieseBürgerkultur, diese Volkskultur ist nicht intellektualistisch, sie scheut vor allemIdeologischen zurück: vor den jungdeutschen Schwärmern, vor den deutschenKonvertiten, die in Wien römisch-katholisch missionieren. Diese Biedermeierkulturist gemäßigt josephinisch, sie hält sehr viel von ihrem ‚gesunden Menschenverstand‘,sie besitzt psychologisches Wissen um die immer gefährliche Neigung desMenschen, in Maßlosigkeit, Wahnsinn und Brutalität zu verfallen. Sie weiß um ‚dieNachtseiten der Natur‘, des Menschen, will diese aber nicht im Wort artikulieren;deshalb die überwältigende Bedeutung der Musik.“73

    Heer analysiert die Situation bestechend und stringent: Als Kunstformen undKünstler zur seelischen Bewältigung dieser dunklen Seiten des Menschen bezeichneter – wie gerade zitiert – die Musik und auch das Wiener Volkstheater, von Stranitzky

    Bernd Gallob84

    71 William Goldman, der Doyen der Oscar-gekrönten Drehbuchautoren, hat in seinem Buch „Wer hatda gelogen“ sehr schlüssig darauf verwiesen, dass es beim Drehbuch zum Spielfilm gar nicht um diereale Wahrheit der Story geht, sie muss aber glaubhaft erscheinen. Anders ist die Situation beimDokumentarfilm.

    72 Friedrich Heer, Der Kampf um die österreichische Identität, Wien: Böhlau, 1981, S. 187.73 Ebda, S. 187.

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  • bis Raimund. Schubert ist nach Heers Analyse ein paradigmatischer Fall, ein„dunkles, seelisch bedrängtes Genie.“74 Für die moderne Schubert-Rezeption und–Interpretation sind diese dunklen Seiten des Komponisten der „Unvollendeten“oder des genialen Liederzyklus’ Die Winterreise ein künstlerisches Allgemeingut.

    Broch, wie sein Lehrer David Bach, wie Viktor Adler und viele jüdische Huma-nisten bzw. Altruisten dieser Zeit, war Wagnerianer. Schubert verkennt er aus der-selben geisteswissenschaftlich ableitbaren Logik heraus wie „den gesunden Men-schenverstand“, noch dazu mit auffälliger Häme: „Nach dem Nachtmahl hat meinBruder Schubert gespielt, um ihn auf Foxtrotts [sic!] umzuarbeiten. Er verdient esnicht besser: die ganze Wiener Operettenmusik ist bereits in ihm enthalten. Ich weißauch, was schlecht an Schubert ist … Überhaupt ist Musikalität eine prekäre Sache –Musik ist die einzige Kunst, in der Rezeptivität einen positiven Wert darstellen soll,was es natürlich nicht ist.“75

    Die Geschichte der Familie Wagner, Bayreuths in ihrer Verstrickung mit AdolfHitler und dem Nationalsozialismus, Brigitte Hamann (siehe oben) und eben erstGottfried Wagner haben ausführlich dazu publiziert, decouvrieren den tragischen Irr-tum der vielen jüdischen Wagnerianer, auch Hermann Brochs. Künstlerisch kommtdie zitierte Denunziation Schuberts einer Selbstbeschädigung schon sehr nahe.

    Es fehlte Broch bei der Musik die Wissenschaftlichkeit, das drückte er imzitierten Brief zusätzlich aus. Was ihn als Musik-Laien decouvriert. Joseph Haydnhat Leopold Mozart gegenüber von Wolfgang Amadeus’ Perfektion in der Kom-positionswissenschaft geschwärmt und Arnold Schönbergs 12-Ton-Musik baut aufein mathematisches Modell auf. Mathematisch-wissenschaftlich ist schon dieKontrapunktik im spätmittelalterlichen Gregorianischen Gesang, nebenbei gesagt,wie auch die klassische Harmonielehre.

    Aber all diese Wege und Irrwege eines genialen Epikers und Humanisten erklärennicht, was ihn bewog, an den Erfolg von wissenschaftlichen Spielfilmen zu glauben.Das konnte bisher auch nicht ansatzweise entschlüsselt werden.

    Kurt Husnik

    Einer Intuition folgend forschte der Verfasser nach der einzigen von Broch imKontext Film erwähnten und in der Literaturgeschichte bisher nicht entschlüsseltenPersönlichkeit, nach jenem Partner, den Broch 1934 bei der geplanten englisch-österreichischen Großproduktion gegenüber Berthold Viertel als Regisseur er-wähnte: den „jungen und sehr begabten Regisseur und Photografen Husnik.“76(sieheauch die Endnote 30 und die Fußnote V) Die Suche nach Unterlagen über ihn glich

    Hermann Broch. Ein Epiker auf Abwegen. Theater und Film 85

    74 Ebda, S. 187.75 Briefe 1, S. 47. 76 Briefe 1, S. 275.

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  • einer historiografischen Odyssee. Und sie endete, um es vorweg zu nehmen, miteiner nicht nur im Kontext zu Hermann Broch sensationellen Neuentdeckung.

    Kurt Husnik ist im deutschen Kulturrraum eine fast zu 100 % getilgte Persön-lichkeit. Dieses Schicksal teilt er mit sehr vielen KünstlerInnen und DenkerInnen,die zur Emigration gezwungen wurden. Von Kurt Husnik existiert (seit April 2003)einzig in der neuen Fotosammlung der Albertina ein Foto. Jedoch steht dort beimNationalitätenverweis „Österreicher?“ mit Fragezeichen.77 Nach vielen aufwändigenund vergeblichen Versuchen, Daten und Informationen über Husnik zu erhalten,verdankt der Verfasser die entscheidenden Hinweise Mag. Christa Bader-Reim vonder ÖNB und Thomas Zeipelt von Suhrkamp.

    Thomas Zeipelt spürte Husnik über eine Homepage, auf der eine im März 2003laufende Ausstellung der „Fondazione Diamante Lugano“ über ihn vermerkt war,auf. Dadurch konnte der Lenbenslauf rekonstruiert werden. Von der Fondazioneerhielt der Verfasser zwei Lebensläufe, den des Kunstkritikers Paolo Bledinger undeinen „Dalla biografia di L. Todaro“. Kurt Husnik ist demnach 1908 in Wien geborenund 1994 in Cadro, dem Luftkurort über Lugano, gestorben. Er hatte ein bewegtesLeben geführt/führen müssen und ist in Italien und der italienischen Schweiz alsMaler nach dem 2. Weltkrieg eine bekannte Größe gewesen. In den Tessin ist Husnik1942 aus Frankreich bzw. der Fremdenlegion geflüchtet. Ursprünglich ist er 1933studienhalber aus Wien nach Paris gegangen, um sich als Fotograf zu perfektionieren. Dank des neuen EDV-Bibliotheks-Verbundsystems konnte die ÖNB Kurt Husnikals Herausgeber eines 1967 in Basel erschienenen Buchs über „Bauten-Buildings“,Basilius-Presse und als Autor einer 1933 verfassten Dissertation an der TechnischenHochschule Wien (heute TU) orten. Titel der Dissertation „Das Lichtspieltheaterals Ausdruck neuer Filmkultur.“78

    Husnik hat mit dieser Dissertation79 sein Architektur-Studium abgeschlossen.Als Prüfungstermin ist der 17. III. 1934 handschriftlich vermerkt. In dieser Disser-tation stehen die Grundsätze, die Broch, seinen Partner, bewogen haben, dasKonzept des wissenschaftlichen Films zu verfolgen.

    Hauptthema der Dissertation ist die als Zukunftslösung gedachte Errichtungeines „Hauses des Kinos“ 80, eines „Lichtspieltheaters als Zentralbau.“81 Das Konzeptist architektonisch und kinogeschichtlich betrachtet so kühn und modern, dass esdem Verfasser den Atem verschlagen hat.

    Husnik entwickelte im ersten Teil seiner Dissertation seine dann im 2. Teilkonkretisierten Kinobaupläne aus einer kompetenten Bestandsaufnahme der Film-

    Bernd Gallob86

    77 Siehe im Internet unter: www.albertina.at/fotografie.78 Kurt Husnik, Das Lichspieltheater als Ausdruck neuer Filmkultur, Dissertation,Technische Hochschule

    in Wien.79 Ganz offensichtlich wurde Husniks Dissertation vom Verfasser der Studie zum ersten Mal seit ihrer

    Abgabe im Jahr 1933 eingesehen und entlehnt.80 Ebda, S. 35.81 Ebda, S. 39.

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  • und Kinogeschichte heraus, aus der er eine Zukunftsschau zu Film und Kinoentwickelte. Im Literaturverzeichnis der Dissertation tauchen die aus HermannBrochs Biografie bekannten Bezugspersonen zum Film wie z.B. Béla Bálasz, RenéFülöp-Miller oder W. Pudowkin auf.82

    Die wunderbaren, der Dissertation beigelegten 9 Architektur-Entwurfblätterlassen erkennen, dass Husnik mit seinem Kinobau stilistisch die architektonischeKlarheit eines Adolf Loos83 weiter entwickelten wollte. Das als Rundbau konzipierteKino enthält in Husniks Planung 8 Kinosäle und zwei Freiluftkinos in dreiStockwerken. Vier Hauptsäle mit je 708 Plätzen, vier kleinere Säle mit 2 x 222 und 2x 208 Plätzen, sowie die zwei Freiluftkinos mit je 380 Plätzen, zusammen also 4.428Plätze. Man bedenke: Im Jahr 1933!

    Es ist nicht Aufgabe dieses Beitrags, eine ausführliche Husnik-Würdigung zuschreiben, aber das vor allem qualitativ weit über die heutigen Multiplex-Monster,die in irgend welchen Ra