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19. Wahlperiode Plenarprotokoll 19/120 HESSISCHER LANDTAG 23. 11. 2017 120. Sitzung Wiesbaden, den 23. November 2017 Amtliche Mitteilungen .......................................... 8489 Entgegengenommen ................................................. 8489 Vizepräsident Frank Lortz ...................................... 8489 Vizepräsident Wolfgang Greilich ........................... 8532 66. Antrag der Fraktion der SPD betreffend eine Aktuelle Stunde (Wilhelm Leuschner hat sich in außergewöhnlicher Weise für Freiheit, De- mokratie und soziale Gerechtigkeit einge- setzt. Mit der geplanten Verleihung der Wil- helm-Leuschner-Medaille an den ehemaligen Hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch verletzt der Hessische Ministerpräsident Eh- re und Würde Wilhelm Leuschners.) – Drucks. 19/5429 ................................................ 8489 Abgehalten ............................................................... 8495 Günter Rudolph ............................................. 8489, 8495 Michael Boddenberg ............................................... 8490 Jürgen Lenders ........................................................ 8491 Janine Wissler ......................................................... 8492 Mürvet Öztürk ......................................................... 8493 Mathias Wagner (Taunus) ....................................... 8494 Minister Axel Wintermeyer .................................... 8495 78. Dringlicher Antrag der Fraktion der SPD be- treffend Verleihung der Wilhelm-Leuschner- Medaille – Drucks. 19/5448 ................................................ 8495 Abgelehnt ................................................................. 8495 Abstimmungsliste 1 .................................................. 8577 79. Dringlicher Entschließungsantrag der Frak- tionen der CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN betreffend Verleihung der Wilhelm- Leuschner-Medaille durch den Hessischen Ministerpräsidenten – Drucks. 19/5449 ................................................ 8495 Angenommen ........................................................... 8495 Abstimmungsliste 2 .................................................. 8579 67. Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend eine Aktuelle Stunde (Zukunft wird aus Mut gemacht und Demo- kratie aus Kompromissen – im Bund wie in Hessen) – Drucks. 19/5430 ................................................ 8495 Abgehalten ............................................................... 8520 Mathias Wagner (Taunus) ............................. 8496, 8516 René Rock ..................................................... 8496, 8513 Jan Schalauske ........................................................ 8497 Michael Boddenberg ..................................... 8499, 8510 Ministerpräsident Volker Bouffier ................ 8500, 8514 Thorsten Schäfer-Gümbel ....................................... 8504 Minister Tarek Al-Wazir ......................................... 8507 Janine Wissler ............................................... 8508, 8510, 8518 Daniel May .............................................................. 8509 Mürvet Öztürk ......................................................... 8515 Gerhard Merz .......................................................... 8520 68. Antrag der Fraktion der FDP betreffend eine Aktuelle Stunde (Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandorts Hessen leidet unter Schwarz-Grün – Standortschließung bei Sie- mens leider kein Einzelfall) – Drucks. 19/5431 ................................................ 8521 Abgehalten ............................................................... 8527 69. Antrag der Fraktion DIE LINKE betreffend eine Aktuelle Stunde (Massenentlassung trotz Milliardengewinn: Solidarität mit den Be- schäftigten bei Siemens in Offenbach und an den anderen Standorten) – Drucks. 19/5432 ................................................ 8521 Abgehalten ............................................................... 8527 Jürgen Lenders ........................................................ 8521 Janine Wissler ......................................................... 8522 Wolfgang Decker .................................................... 8523 Heiko Kasseckert .................................................... 8524 Kaya Kinkel ............................................................ 8525 Minister Tarek Al-Wazir ......................................... 8526 Ausgegeben am 24. Januar 2018 Hessischer Landtag, Postfach 3240, 65022 Wiesbaden

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19. Wahlperiode Plenarprotokoll 19/120

HESSISCHER LANDTAG 23. 11. 2017

120. SitzungWiesbaden, den 23. November 2017

Amtliche Mitteilungen .......................................... 8489

Entgegengenommen ................................................. 8489

Vizepräsident Frank Lortz ...................... ................ 8489Vizepräsident Wolfgang Greilich ........................... 8532

66. Antrag der Fraktion der SPD betreffend eineAktuelle Stunde (Wilhelm Leuschner hat sichin außergewöhnlicher Weise für Freiheit, De-mokratie und soziale Gerechtigkeit einge-setzt. Mit der geplanten Verleihung der Wil-helm-Leuschner-Medaille an den ehemaligenHessischen Ministerpräsidenten Roland Kochverletzt der Hessische Ministerpräsident Eh-re und Würde Wilhelm Leuschners.)– Drucks. 19/5429 – ................................................ 8489

Abgehalten ............................................................... 8495

Günter Rudolph ............................................. 8489, 8495Michael Boddenberg ............................................... 8490Jürgen Lenders ........................................................ 8491Janine Wissler ......................................................... 8492Mürvet Öztürk ......................................................... 8493Mathias Wagner (Taunus) ....................................... 8494Minister Axel Wintermeyer .................................... 8495

78. Dringlicher Antrag der Fraktion der SPD be-treffend Verleihung der Wilhelm-Leuschner-Medaille– Drucks. 19/5448 – ................................................ 8495

Abgelehnt ................................................................. 8495

Abstimmungsliste 1 .................................................. 8577

79. Dringlicher Entschließungsantrag der Frak-tionen der CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN betreffend Verleihung der Wilhelm-Leuschner-Medaille durch den HessischenMinisterpräsidenten– Drucks. 19/5449 – ................................................ 8495

Angenommen ........................................................... 8495

Abstimmungsliste 2 .................................................. 8579

67. Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN betreffend eine Aktuelle Stunde(Zukunft wird aus Mut gemacht und Demo-kratie aus Kompromissen – im Bund wie inHessen)– Drucks. 19/5430 – ................................................ 8495

Abgehalten ............................................................... 8520

Mathias Wagner (Taunus) ............................. 8496, 8516René Rock ..................................................... 8496, 8513Jan Schalauske ........................................................ 8497Michael Boddenberg ..................................... 8499, 8510Ministerpräsident Volker Bouffier ................ 8500, 8514Thorsten Schäfer-Gümbel ....................................... 8504Minister Tarek Al-Wazir ......................................... 8507Janine Wissler ............................................... 8508, 8510,

8518Daniel May .............................................................. 8509Mürvet Öztürk ......................................................... 8515Gerhard Merz .......................................................... 8520

68. Antrag der Fraktion der FDP betreffend eineAktuelle Stunde (Wettbewerbsfähigkeit desIndustriestandorts Hessen leidet unterSchwarz-Grün – Standortschließung bei Sie-mens leider kein Einzelfall)– Drucks. 19/5431 – ................................................ 8521

Abgehalten ............................................................... 8527

69. Antrag der Fraktion DIE LINKE betreffendeine Aktuelle Stunde (Massenentlassung trotzMilliardengewinn: Solidarität mit den Be-schäftigten bei Siemens in Offenbach und anden anderen Standorten)– Drucks. 19/5432 – ................................................ 8521

Abgehalten ............................................................... 8527

Jürgen Lenders ........................................................ 8521Janine Wissler ......................................................... 8522Wolfgang Decker .................................................... 8523Heiko Kasseckert .................................................... 8524Kaya Kinkel ............................................................ 8525Minister Tarek Al-Wazir ......................................... 8526

Ausgegeben am 24. Januar 2018Hessischer Landtag, Postfach 3240, 65022 Wiesbaden

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70. Antrag der Fraktion der CDU betreffend eineAktuelle Stunde (Opel-Beschäftigte in Hessenhaben Grund zu großer Zuversicht – Sanie-rungsprogramm „Pace“ ist eine gute Grund-lage für die Zukunft)– Drucks. 19/5433 – ................................................ 8527

Abgehalten .............................................................. 8532

Sabine Bächle-Scholz ............................................. 8527Wolfgang Decker ................................... ................ 8528Jürgen Lenders ....................................... ................ 8529Karin Müller (Kassel) ............................................. 8530Marjana Schott ....................................... ................ 8530Minister Tarek Al-Wazir ........................................ 8531

36. Antrag der Fraktion der FDP betreffendKonflikte bei verkaufsoffenen Sonn- und Fei-ertagen beenden – „Runden Tisch Ladenöff-nungszeiten“ einrichten– Drucks. 19/5147 – ............................................... 8533

Dem Sozial- und Integrationspolitischen Aus-schuss, federführend, und dem Ausschuss fürWirtschaft, Energie, Verkehr und Landesent-wicklung, beteiligt, überwiesen ............................... 8540

76. Dringlicher Entschließungsantrag der Frak-tionen der CDU und BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN betreffend verkaufsoffene Sonn-und Feiertage– Drucks. 19/5444 – ............................................... 8533

Dem Sozial- und Integrationspolitischen Aus-schuss, federführend, und dem Ausschuss fürWirtschaft, Energie, Verkehr und Landesent-wicklung, beteiligt, überwiesen ............................... 8540

Jürgen Lenders ....................................... ...... 8533, 8537Klaus Peter Möller .................................................. 8534Wolfgang Decker ................................... ................ 8535Kaya Kinkel .................................................. 8536, 8537Marjana Schott ....................................... ................ 8538Minister Stefan Grüttner ......................................... 8539Michael Boddenberg .............................................. 8540

56. Entschließungsantrag der Fraktionen derCDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN be-treffend Steuerhinterziehung bekämpfen, ag-gressive Steuervermeidungsstrategien ein-dämmen – „Paradise Papers“ belegen Not-wendigkeit weiterer nationaler und interna-tionaler Maßnahmen– Drucks. 19/5409 – ............................................... 8540

Dem Haushaltsausschuss überwiesen ................ .... 8551

60. Antrag der Fraktion DIE LINKE betreffend„Swiss Leaks“, „Lux Leaks“, „Panama Pa-pers“, „Paradise Papers“ – Steuerehrlichkeitund Steuergerechtigkeit herstellen– Drucks. 19/5414 – ............................................... 8540

Dem Haushaltsausschuss überwiesen ................ .... 8551

Sigrid Erfurth .......................................................... 8540Jan Schalauske ........................................................ 8542Norbert Schmitt ...................................................... 8544Lena Arnoldt ........................................................... 8546Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn .......................................... 8547Minister Dr. Thomas Schäfer ................................. 8549

15. Zweite Lesung des Gesetzentwurfs der Frak-tionen der CDU und BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN für ein Gesetz zur Änderung desLandtagswahlgesetzes– Drucks. 19/5439 zu Drucks. 19/5273 – ......... .... 8551

Änderungsantrag der Fraktionen der CDUund BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN– Drucks. 19/5450 – ............................................... 8551

Nach zweiter Lesung dem Innenausschuss zu-rücküberwiesen ....................................................... 8567

Vizepräsident Wolfgang Greilich ........................... 8527

Alexander Bauer ........................................... 8551, 8564Günter Rudolph ............................................ 8553, 8563Dr. Ulrich Wilken ......................................... 8555, 8566Wolfgang Greilich ........................................ 8556, 8558,

8564Dr. Walter Arnold ................................................... 8558Jürgen Frömmrich ........................................ 8558, 8565Minister Peter Beuth ............................................... 8561Alexander Bauer ........................................... 8551, 8564Günter Rudolph ............................................ 8553, 8563Dr. Ulrich Wilken ......................................... 8555, 8566Wolfgang Greilich ........................................ 8556, 8558,

8564Dr. Walter Arnold ................................................... 8558Jürgen Frömmrich ........................................ 8558, 8565Minister Peter Beuth ............................................... 8561

16. Zweite Lesung des Gesetzentwurfs der Frak-tionen der CDU und BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN für ein Gesetz über den Vollzugausländerrechtlicher Freiheitsentziehungs-maßnahmen (VaFG)– Drucks. 19/5440 zu Drucks. 19/5275 – ......... .... 8567

Nach zweiter Lesung dem Innenausschuss zu-rücküberwiesen ....................................................... 8575

50. Beschlussempfehlung und Bericht des Innen-ausschusses zu dem Antrag der Fraktion DIELINKE betreffend keine Abschiebeknäste inHessen – in Aufnahmestrukturen investieren,nicht in die Abschiebelogistik– Drucks. 19/5094 zu Drucks. 19/5083 – ......... .... 8567

Beschlussempfehlung angenommen ........................ 8575

Astrid Wallmann .................................................... 8567Nancy Faeser ................................................ 8568, 8571Dr. Frank Blechschmidt ......................... ................ 8569Jürgen Frömmrich ........................................ 8570, 8572,

8573Dr. Ulrich Wilken ......................................... 8572, 8573Minister Peter Beuth ............................................... 8574Günter Rudolph ...................................................... 8575

8486 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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Im Präsidium:Präsident Norbert KartmannVizepräsidentin Heike HabermannVizepräsident Frank LortzVizepräsident Dr. Ulrich WilkenVizepräsident Wolfgang Greilich

Auf der Regierungsbank:Ministerpräsident Volker BouffierMinister für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Landesentwicklung Tarek Al-WazirMinister und Chef der Staatskanzlei Axel WintermeyerMinister des Innern und für Sport Peter BeuthMinister der Finanzen Dr. Thomas SchäferMinisterin der Justiz Eva Kühne-HörmannKultusminister Prof. Dr. R. Alexander LorzMinister für Wissenschaft und Kunst Boris RheinMinisterin für Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Priska HinzMinister für Soziales und Integration Stefan GrüttnerStaatssekretär Michael BußerStaatssekretär Mark WeinmeisterStaatssekretär Mathias SamsonStaatssekretär Dr. Martin J. WormsStaatssekretär Thomas MetzStaatssekretär Dr. Manuel LöselStaatssekretärin Dr. Beatrix TappeserStaatssekretär Kai KloseStaatssekretär Dr. Wolfgang Dippel

Abwesende Abgeordnete:Lucia PuttrichHermann Schaus

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8487

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8488 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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(Beginn: 9:02 Uhr)

Vizepräsident Frank Lortz:

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, verehrte Gäste auf der Tribüne! Ich eröffne die Sit-zung mit einem fröhlichen Glückauf und stelle die Be-schlussfähigkeit des Hauses fest.

Zur Tagesordnung. Noch offen sind die Punkte 15, 16, 21bis 30, 32 bis 42, 44 bis 54, 56, 58, 60, 66 bis 70, 72, 73und 76. – Sie sehen, wir haben noch einiges zu tun.

Noch eingegangen und an Ihren Plätzen verteilt ist einDringlicher Antrag der Fraktion der SPD betreffend Ver-leihung der Wilhelm-Leuschner-Medaille, Drucks.19/5448. Wird die Dringlichkeit bejaht? – Das ist der Fall.Dann wird dieser Tagesordnungspunkt 78 und kann, wenndem nicht widersprochen wird, nach Tagesordnungspunkt66, der Aktuellen Stunde zu diesem Thema, aufgerufenund ohne Aussprache abgestimmt werden.

Außerdem eingegangen und an Ihren Plätzen verteilt ist einDringlicher Entschließungsantrag der Fraktionen der CDUund BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend Verleihungder Wilhelm-Leuschner-Medaille durch den HessischenMinisterpräsidenten, Drucks. 19/5449. Wird die Dringlich-keit bejaht? – Das ist auch hier der Fall. Dann wird dieserTagesordnungspunkt 79 und kann, wenn dem nicht wider-sprochen wird, ebenfalls nach Tagesordnungspunkt 66, derAktuellen Stunde zu diesem Thema, aufgerufen und ohneAussprache abgestimmt werden.

Vereinbarungsgemäß tagen wir heute bis 19 Uhr bei einerMittagspause von einer Stunde. Wir beginnen mit den An-trägen für eine Aktuelle Stunde. Die Tagesordnungspunkte68 und 69 werden gemeinsam aufgerufen, d. h., sie habeneine Redezeit von 7,5 Minuten.

Entschuldigt fehlen Herr Ministerpräsident Volker Bouf-fier ab 14 Uhr, Frau Staatsministerin Lucia Puttrich ganztä-gig – –

(Anhaltende Unruhe – Glockenzeichen des Präsiden-ten)

– Meine Damen und Herren, ich bitte um etwas mehr Auf-merksamkeit, sonst verstehen wir selbst nicht, was wirwollen. – Herr Staatsminister Tarek Al-Wazir fehlt ent-schuldigt ab 13:30 Uhr, Frau Staatsministerin Priska Hinzab 16 Uhr und Frau Ursula Hammann ab 10 Uhr. Gibt essonst noch Entschuldigungen?

(Zuruf)

– Der Kollege Schaus ist noch entschuldigt. – Der KollegeErnst-Ewald Roth ist wieder da, ich freue mich, dass erwieder gesund und munter ist und es ihm besser geht.

Dann starten wir mit der Tagesordnung. Ich rufe Tages-ordnungspunkt 66 auf:

Antrag der Fraktion der SPD betreffend eine AktuelleStunde (Wilhelm Leuschner hat sich in außergewöhnli-cher Weise für Freiheit, Demokratie und soziale Ge-rechtigkeit eingesetzt. Mit der geplanten Verleihungder Wilhelm-Leuschner-Medaille an den ehemaligenHessischen Ministerpräsidenten Roland Koch verletztder Hessische Ministerpräsident Ehre und Würde Wil-helm Leuschners.) – Drucks. 19/5429 –

Anschließend folgen die beiden Anträge. – Es beginnt derKollege Günter Rudolph, SPD-Fraktion. Bitte sehr.

Günter Rudolph (SPD):

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren!Die beabsichtigte Verleihung der Wilhelm-Leuschner-Me-daille am Hessischen Verfassungstag, dem 1. Dezember ei-nes jedes Jahres, an den ehemaligen Hessischen Minister-präsidenten Roland Koch hat heftige öffentliche Protesteausgelöst, wie es sie bei keiner Preisverleihung und keinerAuszeichnung in diesem Maße gegeben hat. Das ist in derTat ein einzigartiger Vorgang. Allein das sollte schonGrund sein, über diese Verleihung an Herrn Koch nachzu-denken.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der LIN-KEN)

Wilhelm Leuschner war ein engagierter Gewerkschafterund Sozialdemokrat, einer, der sich in außergewöhnlicherWeise für Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeiteingesetzt hat. Er war einer der Widerstandskämpfer gegendie Nazidiktatur. Er war einer von vielen – es waren christ-liche Menschen wie Dietrich Bonhoeffer, es waren Kom-munisten, es waren aber auch ganz normale Bürger, die ge-gen die Nazidiktatur aufgestanden sind, so wie WilhelmLeuschner, der am 29. September 1944 durch die Nazishingerichtet wurde. Er war jemand, der für uns wohl auchim Jahr 2017 noch Vorbild für unser politisches Wirkensein sollte, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Die diesjährige Verleihung an Herrn Koch entspricht ge-nau diesem Geist nicht. Wir haben gelegentlich lesen kön-nen, man ehre damit auch die Lebensleistung eines Men-schen. Das ist unbestritten, das kann man tun. Aber wer dieWilhelm-Leuschner-Medaille verleiht, bezieht sich auf dasLebenswerk von Wilhelm Leuschner, und deswegen mussdas Lebenswerk der zu ehrenden Person im Einklang mitdem Lebenswerk Wilhelm Leuschners stehen.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Genau das ist nach unserer Auffassung bei Herrn Kocheben nicht der Fall. Herr Koch hat insbesondere im Land-tagswahlkampf 1999 mit seiner zum Teil schwarzgeldfi-nanzierten ausländerfeindlichen Unterschriftenkampagnegegen die doppelte Staatsbürgerschaft die Gesellschafteben nicht zusammengeführt, sondern gespalten.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Hier im Saal sitzen viele, die das erlebt haben: „Wo kannich gegen Ausländer unterschreiben?“

Dabei ist insbesondere auch die Verschleierung desSchwarzgeldes als angebliche jüdische Vermächtnisse einbis heute nicht zu akzeptierender Tabubruch, meine sehrverehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Wir haben eine große Welle öffentlicher Proteste erlebt. Soverwundert es nicht, dass die grüne Oberbürgermeisterkan-didatin in Frankfurt die Würdigung von Herrn Koch mitden Worten kommentiert hat, dies sei an Zynismus kaumzu überbieten, er werde dem Wirken und Andenken Wil-helm Leuschners in keiner Weise gerecht, er stehe in seinerZeit als Ministerpräsident für Skandale und Spaltungen. –

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8489

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Meine Damen und Herren, das hat die Mitgliederversamm-lung der GRÜNEN am vergangenen Samstag augenschein-lich und nach Medienberichten mit einer überwältigendenMehrheit beschlossen, darunter wohl auch einige Land-tagsabgeordnete – sie haben recht.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Deswegen ist der Antrag der Koalition schon abenteuer-lich: Wir reden nicht darüber, weil es der Ministerpräsidententscheidet.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Genau!)

Entweder sind Sie nicht sprachfähig oder nicht sprachwil-lig – beides ist gleichermaßen schlimm bei einem solchmarkanten Vorgang.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Ihr Antrag zeigt, dass es an der Zeit ist, die Kriterien fürdie Verleihung der Wilhelm-Leuschner-Medaille auf eineneue Grundlage zu stellen. Das alleinige Privileg des Hes-sischen Ministerpräsidenten, Personen für die Auszeich-nung vorzuschlagen, ist nicht mehr zeitgemäß – das zeigtder Vorgang von diesem Jahr.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ähnlich wie bei der Verleihung des Friedenspreises könnteman ein unabhängiges Kuratorium einsetzen, welches ent-sprechende Personalvorschläge macht. Ich glaube, beimHessischen Friedenspreis funktioniert das in ausgezeichne-ter Art und Weise.

Die Würdigung einer Person wie im Fall Koch kann manvornehmen. Da werden Sie Gelegenheiten finden, und dasind Sie auch durchaus ideenreich mit Auszeichnungen,der Schaffung neuer Orden und Ähnlichem. Aber das giltnicht für die Verleihung der Wilhelm-Leuschner-Medaille.

Zum Schluss: Im Wirken der Verleihung der Wilhelm-Leuschner-Medaille muss der Geist Wilhelm Leuschnersstecken. Er steht stellvertretend für die, die im Widerstandihr Leben ließen.

Herr Ministerpräsident Bouffier, deshalb fordern wir Sieauf: Nehmen Sie die geplante Verleihung der Wilhelm-Leuschner-Medaille an Herrn Koch zurück. – Vielen Dank.

(Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD und derLINKEN)

Vizepräsident Frank Lortz:

Vielen Dank, Kollege Rudolph. – Das Wort hat Herr Abg.Michael Boddenberg, Fraktionsvorsitzender der CDU.

Michael Boddenberg (CDU):

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren!Ich muss sagen, diese Aktuelle Stunde und der Antrag derSPD machen mich sehr betroffen. Herr Kollege Schäfer-Gümbel, ich will ausdrücklich sagen: Ich bedauere sehr,dass Sie in diesen politisch sehr bewegten Zeiten, in denendie Menschen erwarten, dass wir auf die großen FragenAntworten geben,

(Lachen bei der SPD)

hier im Hessischen Landtag aus gekränkter Eitelkeit undpersönlicher Gekränktheit in den Debatten, die wir hier ge-führt haben,

(Unruhe bei der SPD und der LINKEN – Glocken-zeichen des Präsidenten)

eine persönliche Diffamierung eines der erfolgreichstenMinisterpräsidenten

(Janine Wissler (DIE LINKE): Was?)

unseres Landes betreiben.

(Beifall bei der CDU)

Sie wollen damit Roland Koch und/oder Volker Bouffierschaden.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Natürlich!)

Aber nach meiner Überzeugung schaden Sie damit dieserhohen Auszeichnung, der höchsten Auszeichnung unseresLandes, und damit dem Ansehen von Politik und Demo-kratie.

(Beifall bei der CDU)

Ich habe als Generalsekretär Roland Koch in seiner Zeiteng begleitet. Das wissen Sie. Wir haben hier häufig auchüber die Form der Auseinandersetzung gestritten. Ich willausdrücklich sagen, dass es über diese Frage durchaus un-terschiedliche Auffassungen gibt und, wie Sie wissen, auchunterschiedliche Auffassungen zwischen CDU und GRÜ-NEN. Wir haben aber in dieser Koalition gelernt, auch mitdieser Frage umzugehen und wechselseitig die unter-schiedlichen Auffassungen zu respektieren.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, worüber redenwir? Wir reden nicht wie die Vorsitzende des DGB Hessendarüber, dass wir eine solche Ehrung in Verbindung brin-gen mit tagespolitischen Entscheidungen wie der Frage, obwir der Tarifgemeinschaft der Länder angehören.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Das ist eine tagespo-litische Entscheidung?)

Wir reden darüber – Herr Rudolph, das haben Sie selbstgesagt –, dass diese Auszeichnung eine Lebensleistungwürdigen soll,

(Janine Wissler (DIE LINKE): Die Lebensleistungist ja noch schlimmer!)

in dem Fall die Lebensleistung Roland Kochs, der diesesLand elf Jahre verantwortlich und sehr erfolgreich regierthat.

(Beifall bei der CDU)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich brauche dasnur an einigen wenigen Punkten festzumachen. DiesesLand ist in der Regierungszeit Roland Kochs, unter seinerVerantwortung, wirtschaftlich erfolgreich gewesen.

(Zuruf des Abg. Norbert Schmitt (SPD))

Das hat vielen Hunderttausend Menschen mehr Arbeit ge-geben. Wir haben eine erfolgreiche Bildungspolitik erlebt,übrigens auch mit der Neben- und Begleiterscheinung,dass es uns gelungen ist, die Schulabbrecherquote – um einanderes Thema aufzurufen, wenn wir über Bildung reden,über das Sie häufig auch diskutieren – auf den niedrigstenStand in allen Ländern zu bringen.

Wir haben seinerzeit schwierige Entscheidungen zu treffengehabt. Ich erinnere an Opel, 15.000 Beschäftigte. Übri-gens hat Roland Koch teilweise gegen den Wunsch undden Willen in den eigenen Reihen durchgesetzt, eine Lan-desbürgschaft zu geben. Wenn ich schon dabei bin, will ich

8490 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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daran erinnern, dass es Roland Koch war, dem die Mei-nungs- und Medienvielfalt in unserem Land so wichtig ist,

(Janine Wissler (DIE LINKE): Dass er Herrn Bren-der geschasst hat!)

dass er eine Frankfurter Tageszeitung – Sie alle wissen,worum es geht: die „Frankfurter Rundschau“ – gerettet hat.

(Beifall bei der CDU)

All diese Fragen zeigen, dass Roland Kochs Lebensleis-tung für dieses Land mehr ist als nur die Frage der wirt-schaftlichen Entwicklung dieses Landes.

(Unruhe bei der SPD und der LINKEN – Glocken-zeichen des Präsidenten)

Das betrifft auch schwierige Fragen. Ich nenne die Integra-tionspolitik. Ja, darüber haben wir gestritten. Unter RolandKoch hat es den ersten Integrationsbeirat der Bundesrepu-blik Deutschland gegeben, interkulturelle Erziehung imKindergarten, Integrationskompass, Sprach- und Integrati-onskurse für Erwachsene und ein damals heftig umstritte-nes Thema – Sie erinnern sich –: die Vorlaufkurse für denErwerb deutscher Sprachkenntnisse. Das wurde damals als„Zwangsgermanisierung“ beschimpft, heute ist es allge-mein und parteiübergreifend anerkannt.

(Beifall bei der CDU)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, all diese Fragenzeigen, dass Roland Koch ein streitbarer Demokrat war mitglasklaren und kantigen politischen Formulierungen undeiner Politik, an der man sich reiben konnte.

Herr Schäfer-Gümbel, genau das haben Sie noch vor weni-gen Tagen gefordert: dass wir eine Politik haben, die unter-scheidbar ist, wo sich Parteien voneinander unterscheiden,damit die Wählerinnen und Wähler eine Chance haben,diesen Unterschied wahrzunehmen, und in ihrem Wähler-votum zum Ausdruck bringen können, wohin es denn ge-hen soll.

Insofern glaube ich, dass das, was Roland Koch gemachthat, an vielen Stellen streitbar war. Noch einmal ausdrück-lich: Man kann über die Form der Auseinandersetzungauch in Wahlkämpfen streiten. Dafür war ich häufig mit-verantwortlich. Aber worüber man nicht streiten kann, ist,dass er unserer Demokratie einen unschätzbaren Dienst da-durch erwiesen hat, dass wir klare Positionen hatten unddamit Politikverdrossenheit entgegengewirkt werden konn-te.

(Beifall bei der CDU)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will zumSchluss kommen. Wenn es um rustikale Sprache geht,dann erinnere ich an jemanden, der ebenfalls ausgezeichnetworden ist: Holger Börner. Er wollte die GRÜNEN einmalmit der Dachlatte aus dem Hessischen Landtag treiben.Manche erinnern sich noch.

(Unruhe – Glockenzeichen des Präsidenten)

Niemand wäre auf die Idee gekommen, Holger Börner, derauch ein Mann mit Ecken und Kanten war, diese Auszeich-nung abzusprechen.

(Norbert Schmitt (SPD): Ich weiß auch, was er zudieser Debatte hier gesagt hätte!)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, das alles kannman wollen, aber ich glaube, es ist ein viel zu schmaler

Blick auf das Wirken von politischen Persönlichkeiten, wieich sie eben auch am Beispiel Holger Börners genannt ha-be.

Eine letzte Bemerkung. Roland Koch ist mehrfach wieder-gewählt worden, 2003 mit absoluter Mehrheit. Insofern istIhr heutiger Antrag, Herr Kollege Schäfer-Gümbel, aucheine Missachtung des Wählervotums.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Was?)

Ich freue mich über diese Auszeichnung, und ich dankedem Hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier fürdiesen Vorschlag. Es ist auch eine Auszeichnung für einelebendige und streitbare Demokratie. – Herzlichen Dankfürs Zuhören.

(Lebhafter Beifall bei der CDU)

Vizepräsident Frank Lortz:

Vielen Dank, Kollege Boddenberg. – Das Wort hat HerrAbg. Jürgen Lenders, FDP-Fraktion.

Jürgen Lenders (FDP):

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren!Worum geht es in dieser Debatte? Geht es darum, dass beider höchsten Auszeichnung, die dieses Land zu vergebenhat, die Entscheidung, wer der Preisträger sein soll, vomMinisterpräsidenten getroffen wird, wie es seit vielen Jah-ren vorgesehen ist? Oder geht es darum, dass ein Kuratori-um, wie es die SPD einfordert, eingesetzt wird?

Ich glaube, man kann sicherlich über vieles diskutieren. Eshat auch seit dem Bestehen der Medaille Veränderungengegeben. 2008 wurde ein Erlass geändert, weil der ur-sprüngliche Sinn war, vor allem die Freiheitskämpfer undWiderstandskämpfer auszuzeichnen. Nach so vielen Jahrengab es aber nicht mehr so viele Menschen, die man hätteauszeichnen können. So hat es 2008 eben eine Änderunggegeben. Man kann vernünftig darüber diskutieren, ohnedass man das politisch instrumentalisieren muss.

(Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren, worum geht es? Geht es darum,wer der Preisträger ist, ob das amtierende Politiker seinsollen, oder Politiker, die nicht mehr im Amt sind? Sollenes überhaupt Politiker sein? Geht es nur darum, dass manin irgendeiner Art und Weise einen Bezug zu Hessen hat?Hier kann man über vieles diskutieren. Aber ich habe denEindruck, dass es hier vor allem um die Person RolandKoch als Preisträger geht.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Ja, das täuscht nicht!– Zurufe von der SPD: Ja!)

Meine Damen und Herren, dann muss man der Fairnesshalber sagen: Wenn ich an Roland Koch denke, dann den-ke ich z. B. auch an die rechtliche Gleichstellung von ho-mosexuellen Beamten in diesem Land. Das war mit RolandKoch machbar. Wenn ich an Roland Koch denke, denkeich sofort daran, was er für die Kulturlandschaft in Frank-furt gemacht hat, wie er sich sozusagen auf der letzten Bie-ge noch für die Erweiterung des Städel Museums einge-setzt hat. Ich erinnere an die Neue Verwaltungssteuerung.Die kann man gut oder schlecht finden. Aber dass hiermoderne Kriterien einbezogen worden sind, das geht aufRoland Koch zurück.

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8491

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(Beifall bei der FDP und der CDU – Zurufe von derSPD – Glockenzeichen des Präsidenten – JanineWissler (DIE LINKE): Die Neue Verwaltungssteue-rung ist im Sinne Wilhelm Leuschners?)

Roland Koch ist eine Person, an der man sich reiben kann.Aber wir haben z. B. auch den Ausbau des FrankfurterFlughafens, der Herzkammer der Wirtschaft in Hessen.Der Ausbau des Frankfurter Flughafens geht vor allem aufRoland Koch zurück, auch der Börsengang.

(Beifall bei der FDP und der CDU)

Meine Damen und Herren, die „House of“-Strategie,

(Norbert Schmitt (SPD): Er hat das Schloss Erbachgekauft! – Unruhe – Glockenzeichen des Präsiden-ten)

die, sage ich einmal, die Wirtschaftsdynamik Hessens teil-weise wirklich in Stein meißelt, geht auf Roland Koch zu-rück.

Die Unterstützung der Jüdischen Gemeinde war für RolandKoch ein Schwerpunkt dieser Hessischen Landesregierung.

(Beifall bei der FDP und der CDU)

Nicht zuletzt geht es darum, Freiheit, Demokratie und so-ziale Gerechtigkeit umzusetzen. Wenn es um die Men-schenrechte in Tibet geht, kann man feststellen, dass kaumein Politiker in Deutschland so viele Verdienste um die Be-lange in Tibet und des Dalai Lama hat wie Roland Koch.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und bei derCDU)

Meine Damen und Herren, alle Ministerpräsidenten bis aufHans Eichel haben diese Auszeichnung bekommen. Ichglaube, es gibt sehr viele gute Gründe dafür, dass auch Ro-land Koch diese Auszeichnung erhalten sollte. – VielenDank.

(Beifall bei der FDP und der CDU)

Vizepräsident Frank Lortz:

Vielen Dank, Kollege Lenders. – Das Wort hat Frau Abg.Wissler, Fraktion DIE LINKE.

Janine Wissler (DIE LINKE):

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Verleihungder Wilhelm-Leuschner-Medaille an Roland Koch ist einSkandal und stößt völlig zu Recht auf derart breite öffentli-che Kritik.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten derSPD)

In der Pressemitteilung der Staatskanzlei heißt es zur Be-gründung, die Auszeichnung gehe „an Menschen, die sichbeispielhaft und nachhaltig für Demokratie, Freiheit undsoziale Gerechtigkeit eingesetzt haben“.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von derLINKEN: Ach!)

Roland Koch sei eine der „herausragenden Persönlichkei-ten, die sich im Geiste Wilhelm Leuschners große Ver-dienste um Freiheit und Demokratie erworben haben“. Erhabe „sich für das demokratische Zusammenleben … en-gagiert“ und stehe für „persönlichen Mut, politische Cou-

rage, Kampf für Demokratie und Freiheit“ – so Minister-präsident Bouffier. Ich sage: Nein, nein und nochmalsnein. Gerade dafür steht Roland Koch nicht, meine Damenund Herren.

(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie derAbg. Mürvet Öztürk (fraktionslos) – Widerspruchdes Abg. Norbert Kartmann (CDU))

Roland Koch steht mitnichten für Courage, für Verdiensteim Geiste Leuschners oder für soziale Gerechtigkeit. Dassausgerechnet er diesen Preis bekommt, ist eine Verhöh-nung des Erbes Wilhelm Leuschners.

(Beifall bei der LINKEN und der SPD)

Wilhelm Leuschner war Gewerkschafter. Er war antifa-schistischer Widerstandskämpfer. Roland Koch hingegensteht für schwarze Kassen, ausländerfeindliche Wahlkämp-fe und Sozialabbau.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und derSPD)

Er ist die Gewerkschaften angegangen. Er hat einen massi-ven Personalabbau durchgesetzt. Mit der „Operation düste-re Zukunft“ hat er den brutalstmöglichen Sozialabbau inder Landesgeschichte zu verantworten. Er hat die Arbeits-zeit erhöht und ist aus der Tarifgemeinschaft der Länderausgetreten.

Der DGB und die Einzelgewerkschaften haben in ihren of-fenen Briefen an den Ministerpräsidenten zu Recht deut-lich gemacht, was sie von dieser Auszeichnung halten, undrufen anlässlich dieser Verleihung zu Protesten auf.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und derSPD sowie der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Zur Erinnerung: Koch hat dem ver.di-Vorsitzenden Bsirskein der Debatte um die Vermögensteuer vorgeworfen, diessei „eine neue Form von Stern an der Brust“ und „eineschlimme Parallele zu anderen Zeiten“. Der Zentralrat derJuden in Deutschland nannte diese Äußerung „eine uner-trägliche Beleidigung“ aller Opfer des Naziregimes. Esdürfe nicht sein, dass Politiker durch fahrlässige Verglei-che „zur Banalisierung und Relativierung der unmenschli-chen Vorgänge im Dritten Reich beitragen“.

(Zuruf von der SPD: Hört, hört!)

Die GRÜNEN haben Roland Koch damals zum sofortigenRücktritt aufgefordert, da er die Millionen Opfer des Holo-caust verhöhne.

(Dr. Ulrich Wilken (DIE LINKE), zu BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN gewandt: Damals hatten Sierecht!)

Ausgerechnet dieser Roland Koch soll jetzt die Auszeich-nung bekommen, mit der Persönlichkeiten wie der Holo-caust-Überlebende Marcel Reich-Ranicki und die Wider-standskämpferin Trude Simonsohn geehrt wurden. MeineDamen und Herren, das kann und darf nicht sein.

(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie derAbg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Koch machte Wahlkampf mit einer „Wo kann man hier ge-gen Ausländer unterschreiben?“-Kampagne. Die JüdischeGemeinde warf ihm vor, dass sich sein Wahlkampf kaumvon dem der NPD unterscheide. Koch deklarierte schwarzeKassen als „jüdische Vermächtnisse“. Jetzt soll er mit einerMedaille ausgezeichnet werden, die das Andenken eines

8492 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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Widerstandskämpfers gegen die Nazis ehrt? Das kannnicht Ihr Ernst sein, dass Sie das wirklich beschlossen ha-ben, Herr Ministerpräsident.

Hinzu kommen die Verscherbelung öffentlichen Eigen-tums, z. B. das Uniklinikum Gießen-Marburg, zwangspen-sionierte Steuerfahnder, die Sternsingerlüge, die Schlie-ßung von Frauenhäusern, der Ausbau des Frankfurter Flug-hafens, unzählige Affären und Skandale. Koch hat so vielSchaden angerichtet, dass man ihn in Regress nehmen soll-te, aber ihm nicht auch noch eine Medaille dafür verleihen.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten derSPD sowie der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Für sein Wirken hat er vielleicht die Alfred-Dregger-Me-daille verdient, aber doch nicht die höchste Auszeichnungdes Landes.

Meine Damen und Herren, dass Herr Bouffier auf die Ideekommt, seinem Tankstellen-Connection-Kumpel diesehöchste Auszeichnung des Landes zu verleihen, ist schonschlimm. Dass aber die Landtagsfraktion der GRÜNENund der stellvertretende Ministerpräsident Al-Wazir dazuüberhaupt keine klaren Worte finden, das finde ich erbärm-lich.

(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie derAbg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Roland Koch hat 2008 im Wahlkampf ein Plakat mit derAufschrift drucken lassen: „Ypsilanti, Al-Wazir und dieKommunisten stoppen!“ Tarek Al-Wazir hat ihm deshalbzu Beginn einer Fernsehdebatte öffentlich den Handschlagverweigert. Und jetzt? Kein kritisches Wort dazu? LiebeGRÜNE, wer sein Rückgrat so verbiegt, der bekommt ir-gendwann einen Haltungsschaden. Ich erwarte, dass Siedeutliche Worte dazu finden.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten derSPD sowie der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Deutliche Worte kamen von der langjährigen FrankfurterIntegrationsdezernentin der GRÜNEN, Eskandari-Grün-berg, die gesagt hat, Koch habe sein Amt als Regierungs-chef einst erlangt, „indem er schamlos in rassistischer undmenschenverachtender Weise gegen Menschen mit doppel-ter Staatsbürgerschaft gehetzt“ habe.

Wenn man denkt, es geht nicht schlimmer, dann kommtnoch Ihr Antrag hinzu. Es kann doch nicht Ihr Ernst sein,dass Sie hier beschließen wollen, dass dies die alleinigeEntscheidung des Ministerpräsidenten sei und dass derLandtag das nicht zu kommentieren habe. Wo sind wirdenn hier? Wir sind immer noch im Parlament und keineMonarchie.

(Beifall bei der LINKEN und der SPD)

Vizepräsident Frank Lortz:

Frau Kollegin Wissler, wir sind im Landtag. Sie müssenzum Ende kommen.

Janine Wissler (DIE LINKE):

Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Die Entschei-dung ist zu Recht auf breite Kritik gestoßen, gerade auchbei Menschen mit Migrationshintergrund, die durch Ro-land Koch diffamiert und beleidigt wurden. Deswegen for-

dern wir den Ministerpräsidenten auf, die Entscheidung zu-rückzunehmen.

Natürlich wird meine Fraktion an der Feier nicht teilneh-men. Wir unterstützen die Proteste der Gewerkschaften am1. Dezember ab 10 Uhr vor dem Kurhaus. Denn diesenProtest hat sich Roland Koch wirklich verdient – im Ge-gensatz zur Wilhelm-Leuschner-Medaille. – Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN und der SPD)

Vizepräsident Frank Lortz:

Vielen Dank, Frau Kollegin Wissler. – Das Wort hat FrauAbg. Öztürk. Zweieinhalb Minuten, bitte.

Mürvet Öztürk (fraktionslos):

Das ist mir bewusst, sehr verehrter Herr Präsident. – Vorabmöchte ich mich erst einmal bei der SPD-Fraktion dafürbedanken, dass sie diesen Antrag gestellt und das Themaheute in die Aktuelle Stunde gebracht hat. Ich danke auchfür das Engagement der LINKEN, die im Vorfeld ganzfleißig eine Presseerklärung herausgegeben und klar Hal-tung bezogen hat.

Roland Koch ist nicht die Person, die die Wilhelm-Leusch-ner-Medaille, die höchste Auszeichnung des Landes Hes-sen, verdient. Diesen Umstand hat er sich selbst zuzu-schreiben, weil er dieses Land gespalten hat in einer Zeit,in der es hätte zusammengehalten werden müssen.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Roland Koch hat mit seiner Wahlkampagne „Ypsilanti, Al-Wazir und die Kommunisten stoppen!“ dieses Land sehrtief gespalten. Ich fand es auch richtig, dass der stellvertre-tende Ministerpräsident Al-Wazir ihm damals die Handverweigert hat, um zu zeigen: mit mir nicht, mit uns nicht.

Schlimm fand ich auch, dass Koch 1999 in diesem Landmit seiner Kampagne gegen die doppelte Staatsbürger-schaft quasi den Nährboden für die Kontroverse geschaffenhat,

(Janine Wissler (DIE LINKE): Ja!)

wer hierher gehöre und wer nicht hierher gehöre, wen manausgrenzen und ausweisen dürfe und wen man als dazuge-hörig zählen könne. Diese tiefe Wunde innerhalb der Mi-grantengesellschaft, speziell innerhalb der türkischen Com-munity, ist in Deutschland und in Hessen immer noch vor-handen. Im Namen dieser Menschen können und dürfenSie Herrn Koch diese Medaille nicht verleihen, meine Da-men und Herren.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Herr Ministerpräsident, Sie sind in diesem Landesparla-ment von uns, die damals diese Regierungsmehrheit getra-gen haben und tragen wollten, gewählt worden. AberMehrheit ist in diesem Lande nicht automatisch Wahrheit.Es kann nicht sein, dass Sie diese Entscheidung eigen-mächtig treffen und dass sich ein Parlament selbst dasWort verbietet. Es kann nicht sein, dass gefordert wird, dasParlament solle dies nicht kommentieren. Das verbitte ichmir. Wir im Landtag werden das kommentieren.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Wir werden das als Landtag kommentieren. Wir werdendie Stimmen der Menschen, die nicht hier sitzen, hörbar

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8493

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machen. Sie haben einen sogenannten Migrationshinter-grund. Sie wollten Hessen sein und sind heute Hessen. Da-mals hat Roland Koch ihnen untersagt, Hessen zu sein. Siewurden mit der Kampagne gegen die doppelte Staatsbür-gerschaft auf polemische und niedrigste Art und Weise in-strumentalisiert. Diese Menschen wurden ausgegrenzt. ImNamen dieser Menschen reden wir heute hier. Im Namendieser Menschen rede ich heute hier. Das maße ich mir an.Denn Sie meinen, sich den Willen der restlichen Hessenanmaßen zu dürfen.

Diese Menschen wollen definitiv nicht, dass Roland Kochausgewählt wird. Ich bitte die Mitglieder der GRÜNEN-Fraktion um Haltung, diesen Dringlichen Entschließungs-antrag nicht zu beschließen. Vielmehr sollten sie am 1. De-zember 2017 vor dem Kurhaus mit demonstrieren. Sie soll-ten Fahne zeigen, so wie sie damals in diesem Landtag ge-genüber Roland Kochs Diskriminierung Fahne gezeigt ha-ben. Das ist es, was den GRÜNEN gut stünde. Heute sindsie Teil der Regierungsmehrheit. Morgen sind sie es viel-leicht nicht mehr. Man muss auch an die Zukunft denkenund nicht nur an das Jetzt. Zeigt deshalb Haltung.

Ziehen Sie diese Medaillenehrung zurück. Damals hat Ro-land Koch kein Problem damit gehabt, zu untersagen, dassein angesehener Mensch wie Navid Kermani den Kultur-preis erhält. Wir haben das alle gemeinsam kommentiertund dagegen protestiert. Wir haben dafür gesorgt, dass Na-vid Kermani diesen Preis doch bekam. Roland Koch ver-dient diesen Preis heute definitiv nicht. Wilhelm Leuschnerwar jemand anderes. Er war ein Widerstandskämpfer. Ro-land Koch ist ein Spalter. – Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Vizepräsident Frank Lortz:

Frau Kollegin Öztürk, vielen Dank. – Das Wort erhält HerrAbg. Wagner, Vorsitzender der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Soll der Landtagnicht auf eine Kommentierung verzichten?)

Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Manfred Köhlerschrieb in seinem Kommentar in der „Frankfurter Allge-meinen Zeitung“ vom vergangenen Montag zur Verleihungder Wilhelm-Leuschner-Medaille an Roland Koch – ich zi-tiere –:

In einer Zeit, in der alle Gewissheiten über die Zu-kunft der politischen Landschaft schwinden undauch die Konturen der Parteien zunehmend verwi-schen, ist es für alle schön, wenn sich noch hin undwieder die alte Schlachtordnung aufstellen lässt.

Ich sehe, wie recht er doch hat, wenn ich mir die Debattender vergangenen Tage anschaue.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei Abgeordneten der CDU – Günter Rudolph(SPD): Ach du lieber Gott!)

Es ist einladend und geradezu verlockend, sich einmalmehr in diesem Landtag über die Politik Roland Kochs zustreiten. Wir GRÜNE haben da nach vielen Jahren derAuseinandersetzung mit Roland Koch einiges zu bieten.

Um es klar zu sagen: Die Debatten von einst waren richtig,und sie waren nötig. Wir bleiben bei unserer Kritik an derPolitik Roland Kochs. Wir haben nichts vergessen, wederdie Kampagne zur doppelten Staatsbürgerschaft noch an-dere Wahlkämpfe.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb wird es niemanden verwundern, dass RolandKoch uns GRÜNEN als Preisträger nicht eingefallen wäre.Ebenso richtig ist aber auch, dass seit MinisterpräsidentGeorg August Zinn die Auszeichnung mit der Wilhelm-Leuschner-Medaille in der alleinigen Kompetenz des Hes-sischen Ministerpräsidenten liegt. Das akzeptieren wir.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei Abgeordneten der CDU)

Damit komme ich wieder auf den Kommentar von Man-fred Köhler zurück. Ja, es ist für alle schön, wenn sich hinund wieder die alte Schlachtordnung aufstellen lässt. DieSehnsucht nach dem alten Landtag, mit seinen polarisie-renden und manchmal krawalligen Debatten ist heute mitHänden zu greifen. Das ist aber eine Sehnsucht nach ver-gangener Zeit.

(Unruhe – Glockenzeichen des Präsidenten)

Roland Koch ist seit sieben Jahren nicht mehr im Amt. DerLandtag von heute ist nicht mehr der Landtag von damals.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei Abgeordneten der CDU)

Vor sieben Jahren galt in Hessen eine Koalition aus CDUund GRÜNEN als unvorstellbar.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Ja, allerdings!)

Seit 2014 haben wir die erste schwarz-grüne Koalition ineinem Flächenland, und das überaus erfolgreich. Diese Ko-alition arbeitet auch deshalb erfolgreich für Hessen, weilwir die Vergangenheit nicht vergessen haben und dennochdie Gegenwart und die Zukunft gestalten wollen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU – Günter Rudolph (SPD): So einfach istdas!)

Sie ist erfolgreich, weil wir alte Gräben nicht zuschütten,aber neue Brücken bauen. Sie ist erfolgreich, weil wir nichtdie alte Schlachtordnung immer wieder aufstellen, sondernunseren Blick nach vorne gerichtet haben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei Abgeordneten der CDU)

Wir haben in den vergangenen Tagen die Wiederkehr desalten Landtags erlebt. Ich glaube, wir alle sollten uns ihnnicht zurückwünschen. Wir haben 2014 mit einer lager-übergreifenden Koalition mit Volker Bouffier und TarekAl-Wazir an der Spitze etwas Neues begonnen. Wie richtiges war, etwas Neues zu beginnen, hat diese Debatte ge-zeigt. – Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN und der CDU)

Vizepräsident Frank Lortz:

Herr Kollege Wagner, vielen Dank. – Das Wort erhält HerrStaatsminister Wintermeyer.

8494 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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Axel Wintermeyer, Minister und Chef der Staatskanz-lei:

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Wilhelm-Leuschner-Medaille wurde 1964 anlässlich des 20. Todes-tages von Wilhelm Leuschner von Ministerpräsident GeorgAugust Zinn gestiftet. Der Erlass vom 29. September 1964regelt, dass die höchste hessische Landesauszeichnung al-lein vom Hessischen Ministerpräsidenten verliehen wird.

Im Laufe der Jahre ist es zu einem guten Brauch geworden,dass der Ministerpräsident, nachdem er seine Entscheidunggetroffen hat, die Fraktionsvorsitzenden der im Landtagvertretenen demokratischen Parteien über seinen Ent-schluss informiert. Das geschah in diesem Jahr am 17. Ok-tober. Er wird Sie und auch die Bevölkerung über seineEntscheidung anlässlich der Preisverleihung am 1. Dezem-ber 2017 durch eine Laudatio entsprechend informieren.

Es gibt mehr als 220 Preisträger aus allen politischen undgesellschaftlichen Bereichen, die für ihre jeweiligen Über-zeugungen eingetreten sind. Alle Ministerpräsidenten,gleich welcher Partei, haben sich – das ist unbestritten –mit ganzer Kraft für das Wohl unseres Landes Hessen, fürunsere Demokratie und für stabile Freiheit eingesetzt.

Neben Ministerpräsident Roland Koch waren ChristianStock 1966, Georg August Zinn 1971, Albert Osswald1989, Holger Börner 1993 und Walter Wallmann 1996Preisträger. Nach Georg August Zinn hat Roland Kochwährend elfeinhalb Amtsjahren als Ministerpräsident alsam zweitlängsten amtierender Ministerpräsident, übrigensdem Willen der Wählerinnen und Wähler folgend, die Ge-schicke unseres Landes gelenkt. Er war sicherlich einstreitbarer Demokrat, aber auch ein Ministerpräsident, deran dem Tag seines selbst gewählten Ausscheidens Hessenals erfolgreiches, zukunftsfähiges Bundesland übergebenhat.

Es geht bei der Auszeichnung nicht um einzelne Maßnah-men der Politik. Es geht auch nicht um die Person. Es gehtum die Leistungen eines Menschen, des Preisträgers, fürunser Land. Das möchte ich auch hinzufügen: Heute gehtes um Respekt und Achtung vor der Auszeichnung und ih-rer Verleihung.

(Zurufe von der SPD: Genau! – So ist es!)

Herr Kollege Rudolph, ob Sie mit dieser Aktuellen Stundeder SPD-Fraktion und Ihrem Redebeitrag der Ehre undWürde Wilhelm Leuschners

(Günter Rudolph (SPD): Allemal!)

und der Intention des Stifters, Ihres ehemaligen Landesvor-sitzenden Georg August Zinn, gerecht geworden sind, mö-gen andere beurteilen.

(Unruhe – Glockenzeichen des Präsidenten – Zurufvon der SPD: Das tun auch andere beurteilen!)

Mich jedenfalls erfüllen Teile dieser Aktuellen Stunde unddas offensichtlich politisch motivierte Nachtreten mit Sor-ge um unsere demokratische Kultur.

(Beifall bei der CDU – Lachen bei Abgeordnetender SPD)

Vizepräsident Frank Lortz:

Herr Minister, vielen Dank. – Es gibt keine weiteren Wort-meldungen.

Herr Kollege Günter Rudolph hat sich zur Geschäftsord-nung gemeldet. Bitte sehr.

Günter Rudolph (SPD):

Herr Präsident, wir beantragen zu unserem Antrag nament-liche Abstimmung.

Vizepräsident Frank Lortz:

Jawohl, namentliche Abstimmung – schaut bitte einmalnach der Liste.

Meine Damen und Herren, ich rufe die namentliche Ab-stimmung zum Dringlichen Antrag der SPD zur Verlei-hung der Wilhelm-Leuschner-Medaille, Drucks. 19/5448, auf. Wir werden mit dem Namensaufruf beginnen.Bitte sehr.

(Namensaufruf – Abstimmungsliste siehe Anlage 1)

Meine Damen und Herren, haben alle abgestimmt? – Dasist der Fall. Dann bitte ich auszuzählen.

Meine Damen und Herren, ich gebe Ihnen das Ergebnis be-kannt.

(Unruhe – Glockenzeichen des Präsidenten)

Mit Ja haben gestimmt 43, mit Nein haben gestimmt 60,enthalten haben sich fünf Kolleginnen und Kollegen. Da-mit ist der Antrag in namentlicher Abstimmung abgelehnt.

Ich rufe jetzt den Dringlichen Entschließungsantrag derFraktionen der CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,Drucks. 19/5449, auf. Auch hierzu ist namentliche Ab-stimmung beantragt.

(Allgemeine Unruhe)

– Meine Damen und Herren, seien Sie doch ruhig. KollegeRudolph hat für die SPD-Fraktion die namentliche Abstim-mung beantragt. Das ist doch gar nicht schlimm; dabraucht man doch gar nicht erregt zu sein. Ich bin es zu-mindest auch nicht.

Deshalb werden wir jetzt auch in die namentliche Abstim-mung eintreten. Ismail fängt mit dem Namensaufruf an;auf gehts.

(Namensaufruf – Abstimmungsliste siehe Anlage 2)

Meine Damen und Herren, sind alle aufgerufen worden? –Das ist der Fall. Dann bitte ich auszuzählen.

Meine Damen und Herren, ich gebe Ihnen das Ergebnis derAbstimmung bekannt. Mit Ja gestimmt haben 59 Kollegin-nen und Kollegen. Mit Nein gestimmt haben 43 Kollegin-nen und Kollegen. Enthalten haben sich sechs Kolleginnenund Kollegen. Damit ist der Dringliche Entschließungsan-trag, Drucks. 19/5449, angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 67 auf:

Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN be-treffend eine Aktuelle Stunde (Zukunft wird aus Mutgemacht und Demokratie aus Kompromissen – imBund wie in Hessen) – Drucks. 19/5430 –

Es beginnt der Kollege Wagner, Fraktionsvorsitzender vonBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Bitte sehr.

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8495

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Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Das Ergebnisder Bundestagswahl und die Ereignisse danach müssen unsallen zu denken geben. Bereits vor der Wahl haben zweiParteien gesagt, dass sie auf jeden Fall in die Oppositiongehen werden. Sie haben sich um die Stimmen der Wähle-rinnen und Wähler beworben, obwohl sie nicht bereit sind,ihre Inhalte auch tatsächlich in Regierungsverantwortungumzusetzen. Diese beiden Parteien haben zusammen 22 %der Stimmen erhalten.

Eine Sekunde nach Schließung der Wahllokale hat eineweitere Partei erklärt, dass sie für eine Regierungsbildungnicht zur Verfügung steht. Seit Montagfrüh wissen wir,dass noch eine Partei mit der Bildung einer Regierungnichts mehr zu tun haben will. Mittlerweile hat also dieMehrheit der Parteien im Deutschen Bundestag erklärt,dass sie für eine Regierungsbildung nicht zur Verfügungsteht.

Meine Damen und Herren, eine Demokratie, in der Partei-en um jeden Preis regieren wollen, hat ein Problem. EineDemokratie, in der die Mehrheit der Parteien des Deut-schen Bundestages nicht regieren will, hat aber auch einProblem.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU)

Wie soll diese Situation aufgelöst werden? Kann es richtigsein, dass zwar alle Parteien um das Votum der Wählerin-nen und Wähler bitten, aber am Ende nur noch eine Min-derheit der Parteien bereit ist, den Wählerwillen auch inRegierungsverantwortung umzusetzen? Meine Damen undHerren, was soll durch eine mögliche Neuwahl an der Si-tuation eigentlich besser werden? Wie soll ein nächsterWahlkampf gestaltet sein? Wie werden die Slogans derParteien denn lauten, die nicht regieren wollen:

(Gerhard Merz (SPD): Das lassen Sie mal unsereSorge sein!)

„Wählt uns, damit auch im nächsten Deutschen Bundestagkeine Regierung zustande kommt“? „Wählt uns; aber nur,wenn eine uns genehme Koalition die Mehrheit bekommt,werden wir das Wählervotum auch akzeptieren“? „Wähltuns, damit sich weiter nichts verändert“? Soll das die Aus-einandersetzung des nächsten Bundestagswahlkampfssein? Ich glaube, damit wird deutlich: Durch ein solchesVorgehen hat eine Demokratie ein Problem, meine Damenund Herren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU)

Das ist aber nicht nur ein Problem der Parteien.

(Stephan Grüger (SPD): Wer hat sich denn vor vierJahren in die Büsche geschlagen?)

Das geht tiefer, meine Damen und Herren. Das ist auch eingesellschaftliches Problem. Warum glaubt denn die Mehr-heit der Parteien im Deutschen Bundestag, dass es besserist, nicht zu regieren, statt Verantwortung zu übernehmen?Sie tun das, weil sie glauben, dass das starre Festhalten ander eigenen Position auf mehr Zustimmung stößt als diemühsame Suche nach Kompromissen.

(Stephan Grüger (SPD): So wie bei den GRÜNENvor vier Jahren!)

Der Zusammenhalt einer vielfältigen und komplexen Ge-sellschaft kann aber nur funktionieren, wenn nicht immermehr Menschen nur noch um sich und ihre Überzeugungkreisen, wenn sie nicht nur in ihrer Meinungsblase lebenund wenn ein Brückenschlag zu Andersdenkenden nichtnur nicht gewollt, sondern teilweise sogar aggressiv be-kämpft wird. Eine solche Gesellschaft werden wir nicht zu-sammenhalten können, meine Damen und Herren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU)

Wozu eine solche Verhärtung der politischen Debatte unddes gesellschaftlichen Klimas führt, sehen wir gerade inden USA. Das führt in ein tief gespaltenes Land. Das kannaber nicht die Perspektive für Deutschland sein.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU)

Deshalb gilt es, zu widersprechen, wenn immer mehr Men-schen sagen, es sei nur dann Demokratie, wenn sie rechtbekämen, wenn ihren Anliegen stattgegeben werde, wennsich ihre Meinung durchsetze. Vielmehr ist es dann Demo-kratie, wenn wir uns ernsthaft um den Ausgleich von Inter-essen bemühen. Dafür braucht es Kompromisse, keine fau-len Kompromisse, sondern faire Kompromisse in der Sa-che. Dafür braucht es Mut, mehr Mut zum Kompromiss,mehr Mut zur Demokratie. Zukunft wird aus Mut gemachtund Demokratie aus Kompromissen. – Vielen Dank für dieAufmerksamkeit.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU)

Vizepräsident Frank Lortz:

Vielen Dank, Kollege Wagner. – Meine Damen und Her-ren, ich nehme nicht an, dass Sie sich der Debatte verwei-gern wollen. Ich habe keine weiteren Wortmeldungen. –Kollege René Rock, zum Ersten, zum Zweiten, zum Drit-ten. Bitte sehr.

René Rock (FDP):

Herr Präsident, meine sehr geehrte Damen und Herren!Wir haben jetzt die Sichtweise der GRÜNEN auf Politikerlebt.

(Zuruf von der SPD)

Ich stimme in einem Punkt Kollegen Wagner natürlich zu:Man wird dafür gewählt, dass man versucht, etwas umzu-setzen. Aber es ist nicht so, dass man einfach nur um desRegierens willen gewählt wird, sondern man wird fürÜberzeugungen und Inhalte gewählt.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Wir haben heute schon einmal in einer vorhergehendenDebatte den Ausspruch gehört: Wer mit dem Finger aufandere deutet, muss immer daran denken, dass eine AnzahlFinger auf einen selbst deutet.

(Holger Bellino (CDU): Drei!)

Darum bin ich auch der Meinung, Neuwahlen sind eineAusnahmesituation in einer Demokratie, aber sie sind auchimmer eine Option. Aus meiner Sicht kann eine Neuwahlin unserem Land auch eine veränderte Mehrheit oder einverändertes Ergebnis hervorbringen. Dazu müssen viel-

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leicht noch ein paar Personalentscheidungen getroffen wer-den, und es ist auch eine andere Situation, ob man aus ei-ner Regierungskoalition in einen Wahlkampf einsteigt.

(Zuruf der Abg. Angela Dorn (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN) – Unruhe bei der CDU – Glockenzei-chen des Präsidenten)

Wenn ich mich jetzt zurückerinnere an den Wahlkampf,den wir in Deutschland erlebt haben, dann war das einSchlafwagenwahlkampf, den wir da erlebt haben und dererst auf den letzten Metern ein bisschen Fahrt aufgenom-men hat.

(Zuruf des Abg. Holger Bellino (CDU))

Ich kann mir einen viel engagierteren Wahlkampf bei Neu-wahlen vorstellen, als es der letzte war. Dann können dieBürgerinnen und Bürger – sie haben ja erkennen können,wie man in den Verhandlungen aufgetreten ist, wie manfür Kompromisse eingetreten ist – darüber entscheiden, obman Parteien, die erklärt haben, sie sind an ihre Schmerz-grenze gegangen und noch darüber hinaus, vertraut, dasssie Politik umsetzen, oder denen, die sagen: Uns war einFinanzministerium und eine Vizekanzlerschaft nicht aus-reichend, um unsere Inhalte über Bord zu werfen. – Dar-über können dann die Wählerinnen und Wähler entschei-den.

(Beifall bei der FDP)

Man kann hinter der staatsbürgerlichen Pflicht nicht verste-cken, dass eine Demokratie auch von Unterschieden lebtund dass man Bürgerinnen und Bürgern eben auch ein An-gebot machen muss.

Ich glaube auch, mit diesem immer wieder aufgeführtemThema – man muss auf die womöglich besseren Wahler-gebnisse von Parteien am rechten Rand achten – wird über-sehen, dass es ein Konjunkturprogramm für Parteien ampolitischen Rand ist, wenn die Mitte bis zur Unkenntlich-keit verschwommen ist. Ich glaube, das ist deutlich gefähr-licher für unsere Demokratie, als wenn man für Inhalte ein-tritt, für die wirbt und dann kämpft und sich dann auch zurWahl stellt. Davor haben wir Freie Demokraten keineAngst.

(Beifall bei der FDP)

Aber das ist ein Schritt, vor dem wir vielleicht erst nächs-tes Jahr stehen, über den die Fraktionen und Parteiennächstes Jahr irgendwann entscheiden müssen.

Momentan ist es sicherlich so, dass der Bundespräsidentüberlegt – und das zu Recht –, wie er denn aus diesemWahlergebnis mit einem Einwirken auf die Parteien unddie Fraktionen noch eine Regierungsbildung – vielleichtauch eine Minderheitsregierung – auf den Weg bringt. Un-ser demokratisches System ermöglicht auch das. Wir alsHessen haben es doch auch schon einmal erlebt. Wir habendoch schon einmal ein Jahr ohne Regierungsmehrheit hierin Hessen – ja – Parlament und Regierung zusammenge-bracht. Hat die hessische Demokratie durch dieses JahrSchaden genommen?

(Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Hat sie nicht.

(Beifall bei der FDP)

Darum sage ich: Ich habe Vertrauen zum Deutschen Bun-destag, dass er kluge Entscheidungen trifft, und ich habe

auch Vertrauen zu den Fraktionen und Parteien, dass sieversuchen werden, aus diesem Wahlergebnis eine hand-lungsfähige Regierung herbeizuführen.

(Angela Dorn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dassagen Sie? – Weitere Zurufe – Glockenzeichen desPräsidenten)

Wir haben es probiert in Berlin, und jeder konnte vier oderfünf Wochen lang live im Fernsehen verfolgen, wie Ver-trauen zerstört worden ist, wie Inhalte nach außen getragengeworden sind, wie Dinge durchgestochen worden sind.Wer Trittin mit in solch eine Verhandlungsdelegationnimmt und glaubt, er kann mit uns etwas Gemeinsames aufden Weg bringen, den kann man auch fragen, ob dies einekluge Personalauswahl gewesen ist. Wir haben es erlebt.Wir haben es probiert. Wir sind enttäuscht von der Art undWeise, wie man mit uns umgegangen ist. Wir haben amEnde Deutschland vor einer – so glaube ich – nicht gutenRegierung bewahrt. Das haben wir mit uns auszumachen.Das haben wir vor unseren Wählerinnen und Wählern zuvertreten. Das werden wir tun. Wir haben keine Angst vorNeuwahlen, und das ist auch sicher so.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Frank Lortz:

Vielen Dank, Kollege Rock. – Das Wort hat der Abg.Schalauske, Fraktion DIE LINKE.

Jan Schalauske (DIE LINKE):

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wenn diese Ak-tuelle Stunde und die vorherigen Beiträge mir eines gezeigthaben, dann nur dies: dass ich froh bin, dass das Theaterum die schwarze Ampel in Berlin endlich ein Ende hat.

(Beifall der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Mir ist auch egal, wer in dem Schwarzer-Peter-Spiel ge-winnen wird, das Sie hier veranstalten, in dem Kampf umdie Deutungshoheit, wer letztlich für das Scheitern der als„Jamaika“ beschönigten Zusammenarbeit von FDP, GRÜ-NEN, CDU und CSU verantwortlich ist. Das ist mir ziem-lich egal. Ich glaube im Übrigen auch, dass das vielenMenschen in diesem Land egal ist. Was mir allerdingsnicht egal ist, ist das, was in diesem Land für eine Politikgemacht wird.

Da sind wir bei den Inhalten, und da sind Ihre mehr oderweniger staatstragenden Reden voll an der Sache vorbeige-gangen. Reden wir doch einmal darüber, was die genann-ten Parteien in Berlin so lange verhandelt haben. Ich glau-be, da können einem ein bisschen die Haare zu Berge ste-hen.

Reden wir über die Inhalte. Reden wir darüber, dass dieGRÜNEN mit der Forderung nach einem Kohleausstiegbis 2030 in die Verhandlungen gegangen sind.

(Angela Dorn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehrgern!)

Reden wir darüber, was davon übrig geblieben ist: das Ab-schalten von Kohlekraftwerken mit einer Gesamtleistungvon lediglich 8 bis 10 GW. Sie mussten von der NGOCampact darauf hingewiesen werden, dass das weniger alsdie Hälfte dessen ist, was zur Erreichung des Klimaschutz-zieles 2020 nötig sei.

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(Angela Dorn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Waswar Ihr Beitrag, Herr Schalauske? – Gegenruf derAbg. Janine Wissler (DIE LINKE): Wir waren beiEnde Gelände! – Glockenzeichen des Präsidenten)

Zehntausende Menschen sind in Bonn gegen die Klimaka-tastrophe und gegen die Zerstörung unseres Planeten aufdie Straße gegangen. Was haben Sie gemacht? – Sie sindzugunsten der Lobby und zugunsten der Interessen dergroßen Energiekonzerne eingeknickt. In der Frage des Kli-mawandels kann es doch keine Kompromisse geben.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Was verändern Ihre Sprüche in der rea-len Welt?)

Vizepräsident Frank Lortz:

Meine Damen und Herren, einen Moment, bitte. – HerrKollege Schalauske, schnaufen Sie einmal durch. – Den-ken Sie an mich, dann werden Sie wieder friedlich. Kolle-ge Schalauske hat das Wort. Bitte.

Jan Schalauske (DIE LINKE):

Ich bin der festen Auffassung, in dieser Frage kann es dochkeine Kompromisse geben. Entweder wir steuern jetzt um,oder wir setzen die Existenz unseres Planeten aufs Spiel.

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Mürvet Öz-türk (fraktionslos))

Die Globalisierungskritikerin Naomi Klein hat es doch aufden Punkt gebracht. Wir alle müssen uns entscheiden:Wollen wir den Kapitalismus oder das Klima retten? – Siehaben sich leider längst dafür entschieden, den Kapitalis-mus retten zu wollen. Wir kämpfen lieber für das Klima.

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Mürvet Öz-türk (fraktionslos) – Mathias Wagner (Taunus)(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nein, Sie kämpfenfür gar nichts, Sie kämpfen fürs Rechthaben! –Glockenzeichen des Präsidenten)

Aber auch in der Flüchtlingspolitik haben Sie sich dochvon CDU, CSU und FDP vor sich hertreiben lassen. Egal,wie Sie es nennen – nennen Sie es atmenden Deckel oderatmenden Rahmen –, die Zahl von 200.000 Geflüchtetenpro Jahr ist nichts anderes als eine Obergrenze light. Dassagt nicht DIE LINKE, sondern das sagt Ihre Jugendorga-nisation, die Grüne Jugend.

Dann die CDU, die in diesen Verhandlungen volle Kraftgegeben hat, gemeinsam mit der CSU und der FDP den Fa-miliennachzug für subsidiär Geschützte zu verhindern –das ist doch ein Trauerspiel für eine Partei, die ihr christli-ches Familienbild zumindest in Sonntagsreden immer imMunde führt. Nehmen Sie sich einmal die Worte Ihres frü-heren Ministers Norbert Blüm zu Herzen. Der hat gesagt,das Verbot von Familiennachzug ist wie „staatlich erzwun-gene Scheidung“.

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Mürvet Öz-türk (fraktionslos))

Aber zurück zu den GRÜNEN. Das Tragische ist doch: Ih-nen ist keine Kröte zu groß, um sie auf dem Weg nach Ja-maika zu schlucken. Sie konnten gar nicht schnell genug indie Karibik rudern, um endlich auf den RegierungsbänkenPlatz zu nehmen.

(Zurufe von dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Glockenzeichen des Präsidenten)

Cem Özdemir begründet das sogar noch mit Patriotismus –was für eine grüne Partei, die das mit Patriotismus begrün-det.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Was für eine Partei ist die LINKE, dienichts verändern will? Nur Sprüche!)

Was hat aber in den Gesprächen überhaupt keine Rolle ge-spielt? – Dass Millionen Menschen zu Niedriglöhnenschuften müssen, weil der Mindestlohn nicht zum Lebenreicht; dass Millionen Menschen von Altersarmut bedrohtsind, weil die gesetzliche Rente gekürzt wird; dass in denBallungsräumen und Universitätsstädten eine Wohnungs-not droht;

(Angela Dorn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): DasWahre und Gute ist so schön! Jammern, jammern,aber nichts machen wollen!)

dass die öffentliche Infrastruktur, unsere Schulen, Kitas,Krankenhäuser, immer weiter dem Verfall preisgegebenwerden.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Was sind Sie so froh, nichts ändern zuwollen! – Gegenruf der Abg. Janine Wissler (DIELINKE): Jetzt hört doch einmal zu! – Glockenzei-chen des Präsidenten)

Der ländliche Raum droht abgehängt zu werden. Die Para-dise Papers, über die wir heute noch sprechen werden, ha-ben erneut aufgedeckt, dass Superreiche ihr Vermögen amFiskus vorbei in Steueroasen parken.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Wie gut, dass DIE LINKE daran nichtsändern will! – Glockenzeichen des Präsidenten)

Wir leben in einem Land, das tief geprägt ist von sozialerSpaltung. Während einige wenige immer reicher werden,werden immer mehr Menschen abgehängt.

(Michael Boddenberg (CDU): Ach du liebe Zeit!)

Aber zu all diesen Problemen haben wir von den an denSondierungen beteiligten Parteien überhaupt nichts gehört.

Für uns ist klar: Wir fürchten weder Neuwahlen noch eineMinderheitsregierung.

(Angela Dorn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Siesind auch in der Opposition!)

Mit einer Minderheitsregierung haben wir in Hessen guteErfahrungen gemacht. Da gab es eine Mehrheit von SPD,GRÜNEN und LINKEN. Die hat z. B., getragen von einerbreiten gesellschaftlichen Bewegung, die Studiengebührenabgeschafft.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten derSPD)

Das Problem ist nur: Eine solche Mehrheit gibt es in Berlinnicht mehr. Wir hatten sie in der letzten Legislaturperiode,wir hätten sie mal öfter nutzen können. Wir haben zwar ge-meinsam die Ehe für alle durchgesetzt, aber wir hättenauch an anderer Stelle ordentliche Beschlüsse fassen müs-sen.

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Aber natürlich warne ich auch vor der Begeisterung fürNeuwahlen. Das ist ein schwieriger Weg, darauf ist hinge-wiesen worden.

(Anhaltende Unruhe – Glockenzeichen des Präsiden-ten)

Es kann doch nicht das Prinzip gelten: Es wird hier so lan-ge gewählt, bis am Ende das Ergebnis passt.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Wie regieren Sie denn gerade? Das wol-len Sie doch gar nicht! – Glockenzeichen des Präsi-denten)

Ich bin der Auffassung, ja, Zukunft wird aus Mut gemacht.Zukunft wird aus Mut gemacht für einen sozialen Auf-bruch, für eine Politik, die sich den Problemen unsererWelt, wachsender sozialer Ungleichheit, Klimakatastrophe,Kriegen und Krisen, stellt.

Vizepräsident Frank Lortz:

Herr Kollege Schalauske, Sie müssen zum Schluss kom-men.

Jan Schalauske (DIE LINKE):

Zukunft wird aus Mut gemacht, aber nicht aus faulenKompromissen, weder in Hessen noch in Berlin. – VielenDank.

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Mürvet Öz-türk (fraktionslos))

Vizepräsident Frank Lortz:

Vielen Dank, Herr Kollege Schalauske. – Bevor es weiter-geht, begrüße ich auf der Tribüne unseren ehemaligen Kol-legen Peter Stephan. Er ist schon den dritten Tag hier – alleAchtung.

(Heiterkeit und Beifall – Thorsten Schäfer-Gümbel(SPD): Dann hätte er auch hier unten bleiben kön-nen!)

Das Wort hat Herr Kollege Michael Boddenberg, Frakti-onsvorsitzender der CDU.

Michael Boddenberg (CDU):

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren!Lassen Sie mich eine Vorbemerkung machen: Ich glaube,wir alle haben in den letzten Wochen sehr intensiv beob-achtet, was in den Sondierungsverhandlungen in Berlinpassiert. Ich will vorweg sagen: Ich ziehe vor all denen, diedort vier Wochen lang, nächtelang und tagelang, verhan-delt haben, zunächst einmal meinen Hut.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Ich will ausdrücklich sagen: Das gilt ganz besonders fürunseren Ministerpräsidenten, der eines der schwierigstenThemen zu verantworten hatte, nämlich das Thema Asyl-recht, Flüchtlinge und Migrationspolitik. Lieber Herr Mi-nisterpräsident, alle Achtung. Ich glaube, wir haben allegemerkt, auch Sie sind bis an Ihre Grenzen gegangen, andie Grenzen dessen, was man einem Menschen zumuten

kann. Herzlichen Dank dafür vonseiten der Regierungs-fraktionen.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN – Norbert Schmitt (SPD): Er kriegt dieWilhelm-Leuschner-Medaille dafür!)

Herr Schmitt, ich glaube aber, so bedauerlich das Ergebnisist: Wir sind nicht in einer Staatskrise, und es ist auch keinWeltuntergang. Wir haben ein politisches System, das sehrstabil ist. Wir haben eine Verfassung, die auch für diesenFall klare Regeln vorsieht, auch wenn das seit 70 Jahrenzum ersten Mal passiert, was zurzeit passiert. Wir habeneinen sehr besonnenen Bundespräsidenten, das will ichausdrücklich sagen. Wir haben eine geschäftsführendeBundesregierung und eine Bundeskanzlerin, die mit großerErfahrung und Verantwortung ihre Aufgaben wahrnehmen.Wir haben ein arbeitsfähiges Parlament und nicht zuletzteinen funktionierenden Föderalismus.

Aber Mathias Wagner hat es zu Recht gesagt: Wir müssenauch darüber reden, wie wir denn zu dieser Situation ge-kommen sind. Ich will ausdrücklich nicht kritisieren, wiesich Sozialdemokraten und Liberale verhalten haben, auchwenn ich es falsch finde. Ich will darüber reden, was es indieser Gesellschaft zum Hintergrund hat, dass wir ein sol-ches Klima haben: ein Klima, in dem der Kompromiss so-fort zum Verrat erklärt wird – dafür haben wir gerade vonlinker Seite einige Beispiele gehört –, ein Klima, in demdas Aufeinander-Zugehen zum Abrücken von Grundprinzi-pien als Schuldvorwurf formuliert wird.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn wir diesfortsetzen, dann haben wir ein Klima, in dem viele Parteienversucht sein werden, Kompromisse zu scheuen. Wir allewissen, dass Kompromisse in Koalitionen nun einmal not-wendig sind. Dann haben wir eine Situation, wie sie ebenbeschrieben worden ist, dass von sieben Parteien im Deut-schen Bundestag vier Parteien erklären, dass sie lieber beiihren Prinzipien bleiben, aber darauf verzichten, sie in ei-ner Regierungsverantwortung umzusetzen. Wenn es vielenwichtiger ist, den eigenen Wählern zu erklären, dass manprinzipientreu ist, als den Menschen zu sagen: „Ja, wirübernehmen am Ende auch Verantwortung“, dann ist dasschon eine schädliche Situation und ein schwieriges Klimain unserer Gesellschaft.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Begleitungdurch die Medien – die ich nicht kritisieren will, denn dasist ihr Job – tut ein Übriges, dass dieses Klima verschärftwird. Wenn in einer „Hart aber fair“-Sendung danach ge-fragt werden kann und auch gefragt wird: „Wie konntenSie nur Ihre Prinzipien aufgeben?“ – ich nenne als Beispieldie GRÜNEN, die dort mit dem Vorwurf konfrontiert wur-den, dass sie ihre Haltung zur Frage der sicheren Her-kunftsländer als Grundprinzip grüner Asylpolitik aufgege-ben haben –, wenn die Union mit dem Vorwurf konfron-tiert wird, dass wir die Vorratsdatenspeicherung als Ziel ineiner Regierungsverantwortung aufgegeben haben, ja,wenn wir diese Begleitung haben, dann dürfen wir unsnicht wundern, dass viele Parteien dazu geneigt sind, demKompromiss und auch dem Konflikt in den eigenen Rei-hen aus dem Weg zu gehen. Das schadet unserer Demokra-tie.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8499

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Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich sage aus-drücklich: Die Union ist nicht entkernt und profillos, nurweil sie sich seinerzeit in der Großen Koalition auch demThema Mindestlohn genähert hat. In einer Jamaikakoaliti-on ist es auch in Ordnung, dass man einen Kompromissfindet, wenn es um den Ausstieg aus der Kohleenergiegeht. Ich akzeptiere und respektiere ausdrücklich die Hal-tung der GRÜNEN, aber ich achte und respektiere auch dieBewegungsfähigkeit der GRÜNEN. Ich könnte viele wei-tere Beispiele aller Beteiligten nennen, von denen ich sage:Ja, diese Bewegung und diese Kompromissbereitschaftsind nun einmal notwendig.

Meine sehr geehrten Kollegen von der FDP, Sie wärenauch kein Umfaller in den Augen Ihrer Wähler, wenn Sieerklären würden, dass der Soli nicht von heute auf morgen,sondern in Schritten abgeschafft wird.

(Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn (FDP): Das haben wir voracht Jahren schon gehört!)

Ich glaube, all das sollten wir uns einmal vornehmen, undwir alle sollten das verteidigen, was in solchen tage- undnächtelangen Verhandlungen am Ende als Kompromiss er-zielt wird.

(Unruhe – Glockenzeichen des Präsidenten)

Das ist aller Anstrengung wert. Wir als Union wollen unsdieser Anstrengung stellen.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Unser herzlicher Appell ist, dass wir im Hessischen Land-tag gemeinsam – in den hessischen Parteien, aber natürlicherst recht in den Parteien auf Bundesebene – genau überdiese Frage nachdenken und vielleicht am Ende doch nochzu einem Fenster der Kompromissbereitschaft, zumindestder Gesprächsbereitschaft, zurückkehren.

Wenn ich das sagen darf: Die SPD wird sich sehr wahr-scheinlich dazu äußern, aber heute ist in den Zeitungen zulesen – wie ich finde, nicht ganz zu Unrecht –, dass es auchin der SPD eine Diskussion über genau diese grundsätzli-chen Fragen gibt. Der Landesvorsitzende und stellvertre-tende Bundesvorsitzende Thorsten Schäfer-Gümbel lässterkennen, dass es eine gewisse Bewegung, auch bei ihmselbst, gibt.

Ich akzeptiere es ausdrücklich, dass das eine schwierigePhase für die Sozialdemokraten ist. Aber ich glaube, dasses das wert ist, dass wir uns dieser Mühe unterziehen. Ichglaube, dass es das wert ist, dass wir uns dieser Verantwor-tung, diesen Aufgaben stellen, so wie es die Haltung desBundespräsidenten ist, der sehr besonnen agiert – das wie-derhole ich ausdrücklich. So kann am Ende immer noch et-was Gutes für unser Land, für unsere Zukunft herauskom-men.

Auf der Besuchertribüne sitzen einige Schülerinnen undSchüler, die bei einer sehr spannenden Phase der Politik li-ve dabei sein können. All das, was ich gesagt habe – ichappelliere an die Bereitschaft zur Verantwortungsübernah-me –, ist der Mühen wert und dient unserem Land und derZukunft unserer Kinder. – Herzlichen Dank fürs Zuhören.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Vizepräsident Frank Lortz:

Vielen Dank. – Das Wort hat der Ministerpräsident.

Volker Bouffier, Ministerpräsident:

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich bin ein we-nig darüber verwundert, dass die Sozialdemokratische Par-tei in dieser, alle Menschen und Parteien bewegenden, Fra-ge offenkundig nichts zu sagen hat.

(Zurufe von der SPD)

Das verstehe ich nicht, aber ich will diese Gelegenheit nut-zen, um ein paar Bemerkungen zu machen.

Meine Damen und Herren, ich hatte die Freude und die Eh-re – wahrscheinlich als Einziger dieses Landtags, wenn ichdas richtig sehe –, die Jamaikaverhandlungen von Anfangan zu verfolgen und sie mitzugestalten. Bis auf zwei Ge-spräche war ich bei allen Gesprächen dabei. Ich kann miralso ein Urteil erlauben.

Ich möchte zunächst sagen, dass wir gelegentlich eine pa-radoxe Situation haben. Man hat im Bundestagswahlkampfz. B. die Diagnose gehört: Irgendwie sind sich die Parteienalle ähnlich. Der Bürger kann kaum mehr unterscheiden.Es bedarf klarer Konturen. – Dann kommen vier Parteienzusammen, die höchst unterschiedliche Positionen undauch beachtliche unterschiedliche Kulturen haben. Dieeinen oder anderen Themen haben wir auch in diesemHaus miteinander besprochen. Ich darf Ihnen sagen – meinRespekt gilt uneingeschränkt allen Kolleginnen und Kolle-gen –: Wir haben teilweise 20 Stunden am Stück verhan-delt.

(Zurufe: Wow!)

Machen Sie sich für einen Moment klar, wenn Sie ernst-haft miteinander reden: Die einen wollen die Mütterrenteund eine Reform des Rentenrechts, und die anderen sagen,dass eine Reform des Rentenrechts zwar richtig ist, manaber zuerst über die Fragen reden muss, wie man mit denenumgeht, die berufsunfähig sind, und was man mit der Min-destrente macht. Dann kommt sofort die Frage: Machenwir eine Bürgerversicherung, oder nicht? – Das alles habenwir auch in diesem Haus diskutiert. Das sind höchst unter-schiedliche Fragen, die man nicht in zwei Minuten abräu-men kann.

Reden wir über unser Steuersystem und darüber, was dasfür das Land Hessen bedeutet. Hessen ist stolz und erfolg-reich, aber natürlich auch in die Bundesrepublik eingebet-tet. Uns muss es doch interessieren, wie es in dem Landweitergeht. Wenn wir über Steuern, von Soli bis Einkom-mensteuerreform, über energetische Sanierung, über For-schungsförderung und über die Frage, wie es mit demHochschulpakt weitergeht – zwölf hessische Hochschulenstellen sich darauf ein, dass das weitergeht –, reden, dannhaben wir Ausgaben in Höhe von Milliarden Euro. Ganznebenbei: Wie würde der Hessische Landtag entscheiden,wenn wir über diese Steuern reden würden, wenn am Endein aller Regel die Länder die Hälfte der Steuerausfälle zutragen haben? Wer von 15 Milliarden € Einkommensteuer-reduzierung spricht, muss wissen, die Hälfte kommt hieran. Wir hätten dann darüber zu diskutieren, wie wir damitumgehen.

Meine Damen und Herren, weil das so ist, breche ich dieLanze: Es ist nicht wahr. Es gibt zwei Welten. Es gibt die

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Welt, die man öffentlich wahrnimmt, und es gibt die Welt,die man nicht wahrnimmt, z. B. wie es bei den Verhand-lungsgesprächen aussah. Wir haben hart, intensiv und sehrerfolgreich miteinander gerungen. Dass die Freien Demo-kraten am Ende erklärt haben: „Für uns reicht das nicht“,ist zu respektieren. Wir haben immer gesagt – das gilt fürjede Partei –: Geeint ist erst dann alles, wenn alles geeintist. Das ist bei jeder Koalitionsverhandlung so. In der Zwi-schenzeit schauen wir, wie weit wir kommen können.

Ich bin anderer Auffassung als die Freien Demokraten.Noch in dieser Nacht um 23 Uhr – ich selbst saß in demsehr kleinen Kreis dabei – hätten wir zum Ziel kommenkönnen. Das ist meine feste Überzeugung. Wir waren prak-tisch durch. Die Freien Demokraten haben sich anders ent-schieden. Ich sage bewusst, dass das zu respektieren ist.Ich teile die Meinung ausdrücklich nicht, dass wir nicht er-folgreich gewesen wären. Ich füge auch hinzu: Ich bedaue-re, dass das nicht gelungen ist.

Ich bedauere es aus mehreren Gründen. Ich will mich ausZeitgründen auf einige Punkte konzentrieren. Ich hatte dieEhre und die Freude – wenn Sie wollen, auch das Pech –,die Arbeitsgruppe zu leiten, die sich mit dem ThemaFlüchtlinge, Asyl und anderem, was mit dem Thema zu tunhat, befasst hat – mit vielen Persönlichkeiten, die Sie ken-nen, und vielen Leidenschaften. Wenn einem dann jedermit dem Hinweis begegnet: „Wir haben auf dem Parteitagbeschlossen, …“, kommen Sie zu genau dem Problem, dasKollege Boddenberg und Kollege Wagner angesprochenhaben.

Wie gehen wir mit der Monstranz „Wir haben beschlossen,…“ um, die jeder vor sich herträgt? Dann kann man eigent-lich sagen: Sparen wir uns die Zeit. Wenn wir nur zusam-menkommen, um uns wechselweise zu erklären, dass derandere unrecht hat, dann sollten wir nach Hause gehen. –Die hessische Koalition von CDU und BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN gründet auf einer Grundüberlegung. Wir habendamals gesagt, dass wir nur in der Überlegung zueinander-kommen: Es könnte sein, dass ihr recht habt. Was wir voneuch erwarten, ist, dass ihr die gleiche Überlegung anstellt.Nur so kommen wir weiter.

Es gibt eine Seuche. Diese Seuche heißt Twitter und ande-res mehr. Die Verhandlungen sind dadurch extrem belastetworden, dass ununterbrochen irgendeiner irgendetwas her-ausgegeben hat – mal vor Fernsehkameras, noch viel häufi-ger über Twitter. Einen Großteil unserer Zeit haben wir da-mit verbracht, dass immer einer gesagt hat: Ich lese geradeFolgendes. – So kann man nicht vertrauensvoll arbeiten.Ich sage Ihnen: Ja, ich habe mich bodenlos geärgert. Siewerden von mir niemals eine einzige Äußerung dieser Artgehört haben.

Wie soll man denn zusammenkommen, wenn draußen je-der erklärt – zur Befriedigung seines eigenen Anhangs –,was er gerade wieder kraftvoll gemacht hat, um wiederhereinzukommen und zu sagen: Jetzt müssen wir uns dochverständigen. – Wenn A erklärt „Unerträglich“, muss Bauch vor die Kameras treten und sagen „Jetzt erst recht“.

Dann sitzen noch zwei da und sagen: „Na ja, wenn die alleso etwas sagen“; und dann fragen unsere eigenen Leute:„Habt ihr keine Meinung?“ Dann heißt es: Was sagt denndie CDU dazu? Habt ihr mehr in petto als die Wahl derKanzlerin? – Das ist doch irre. Meine Damen und Herren,die Kanzlerin hat einen super Job gemacht. Sie hat sich be-müht.

(Beifall bei der CDU)

Die Union ist die mit Abstand stärkste Kraft in Deutsch-land. Sie ist der stabile Faktor. Wenn jetzt jemand kommt,der die Verhandlungen führt und der mehr als jede anderePerson in der ganzen Welt für Deutschland steht, zualler-erst vor die Kameras tritt und erklärt: „Ich fordere Folgen-des“, was sollen denn dann die anderen machen? Das istdoch barer Unsinn.

Deshalb will ich einmal als Zwischenfazit festhalten: Mankann nicht auf der einen Seite jammern und beklagen, mansei nicht mehr unterscheidbar, und der Bürger könne nichtmehr auswählen, dann aber, wenn vier Parteien sehr inten-siv ringen, rufen: „Was machen die denn, außer vom Bal-kon zu grüßen?“ – Ganz nebenbei bemerkt: Nach acht,zehn oder 15 Stunden sei es jedem gegönnt, dass er aucheinmal zehn Minuten lang auf den Balkon gehen kann. –Daher müssen wir uns in diesem Land wieder mit den de-mokratischen Riten und Spielregeln auseinandersetzen;und wir müssen uns mit Respekt begegnen. Es hat keinenSinn, dem anderen jeweils immer einen überzuprügeln.Man sieht sich im Leben gelegentlich zweimal.

Meine Damen und Herren, weil das, gerade in dem vonmir besonders zu verantwortenden Bereich, so ist, bedaue-re ich, dass es nicht gelungen ist, Antworten auf die Fragenzu geben: Wie wird das werden? Wird unser Land nichtüberfordert werden durch die Menschen, die alle zu unsgekommen sind? Bleibt das noch unser Land? – Ich hättemich gefreut, wenn es gelungen wäre, auf diese Fragen, diedie Menschen in unserer Gesellschaft bewegen, Antwortenzu geben.

Wenn ich Briefe bekomme mit dem Inhalt: „Herr Minister-präsident, wir haben Angst“, „Wann sind Sie das letzteMal abends mit der S-Bahn gefahren?“, wenn ich aus mei-ner Heimatstadt Briefe bekomme, dem größten StandortDeutschlands, und gefragt werde: „Wissen Sie eigentlich,was hier los ist?“, dann kann ich nicht jedem persönlichschreiben, aber dann nehme ich das sehr ernst. Diese Ver-bindung hätte die Chance gehabt, den Menschen lagerüber-greifend eine Antwort zu geben.

In den klassischen Methoden von Rot und Grün hätte dieandere Seite gerufen: Aber ihr vernachlässigt doch dieGrenzsicherung, die Abschiebung, die Kriminalität. –Schwarz-Gelb in klassischer Manier hätte uns immer denVorwurf eingebracht: Die armen Menschen; das ist unsen-sibel; Humanität hat bei euch keine Adresse. – Das ist dochdie Wahrheit. Es ist aus meiner Sicht für den Zusammen-halt dieser Gesellschaft, mit Verlaub, nicht so entschei-dend, ob wir den Soli linksherum oder rechtsherum ma-chen. Es ist auch nicht so spannend, ob wir den Dieselmo-tor bis 2032, 2034 oder gar nicht begrenzen.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Gar nicht!)

Es ist aber sehr entscheidend, verehrte Frau Kollegin, ob esuns gelingt, auf diese Fragen, die die Menschen emotionalbewegen und wo wir vor großen Herausforderungen ste-hen, Antworten zu geben.

Die meisten von denen haben noch keine Arbeit; die meis-ten von denen sind in diesem Land noch nicht angekom-men. Sie werden uns fordern. Wir haben uns entschieden,diese Forderung anzunehmen, durch Fördern und Fordern.Aber es wird uns fordern. Es hat auch keinen Sinn, sichwegzuducken, sonst werden wir erleben, dass die Ränderimmer stärker werden. Das, was jetzt passiert, ist auch kei-

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ne Einladung. Ich bedauere das, aber ich respektiere dieEntscheidungen der Einzelnen, klar. Ich habe, vielleichtsteht das demnächst auch in der Zeitung, in einem Ge-spräch mit den jeweiligen Verhandlungsführern am ver-gangenen Samstag gesagt: Ich sage Ihnen, wir werden unsdieses Wochenende noch einmal herbeiwünschen. Dennwas wird denn besser?

Herr Kollege Schäfer-Gümbel, die Sozialdemokraten ha-ben für sich entschieden: Nach der Wahl geht mit uns garnichts. – Das kann man für richtig oder falsch halten; dasist nicht mein Thema. Seit Wochen hören wir von der SPDeigentlich nur: „Wir machen nicht mit“, oder wie sie ihrenVorstand gestalten wollen. Das ist okay.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Na ja, es ging unsums Wahlergebnis!)

Dann passierte Folgendes, dass Herr Schulz sagte: Wir ste-hen für nichts, für keine Große Koalition zur Verfügung.

(Anhaltende Unruhe – Glockenzeichen des Präsiden-ten)

Nach einiger Zeit, nachdem man gemerkt hat, Jamaika istnicht einfach, hat der Vorsitzende der Sozialdemokrati-schen Partei gesagt: Wenn Jamaika scheitert, dann muss esNeuwahlen geben. Dann muss der Wähler sprechen. – Ichkönnte Ihnen die Zitate alle vorlesen. Jetzt ist Jamaika ge-scheitert, und das wurde natürlich in der Erwartung gesagt,dass Jamaika nicht scheitern würde, klar. Aber dann ist esgescheitert, und jetzt merkt die Sozialdemokratie, dass sievon vielen Leuten gefragt wird: Sagt einmal, was ist denneigentlich mit euch? – Und ich komme nicht mit dem klei-nen Thema, nach dem Motto: „Da haben Leute Angst umihr Mandat“; ich finde das menschlich verständlich; das istnicht das Entscheidende.

Die SPD hat dann gemerkt, dass das eine unschöne Lageist. Denn wie soll man erklären, dass man den Wähler zwarum Vertrauen bittet, anschließend aber sagt: „Aber ich ma-che damit nichts“? – Das ist für die SPD ja auch das Di-lemma einer jeden Neuwahl. Und plötzlich, sozusagen alsdie Nummer schlechthin, hören wir: Minderheitsregierung.Meine Damen und Herren, ich halte davon gar nichts. Ichwerde auch dafür eintreten, dass wir dafür nicht zur Verfü-gung stehen. Ich will Ihnen auch sagen, warum das der Fallist. Sie haben das Jahr 2008 als Beispiel angeführt; da habeich mich echt gewundert. Ich habe mich gefragt: Wiekommt der ausgerechnet auf 2008? – Sie haben lobend her-vorgehoben, dass dem Parlament damals der Beschluss ge-glückt sei, die Studiengebühren abzuschaffen.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Ja!)

Das war heftig umstritten; das stimmt. Was ist in Hessenim Jahr 2008 noch gelungen? – Nichts.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Das stimmt doch garnicht! Wir haben das G 8 entschärft!)

Wir hatten ein Jahr, in dem das Land Hessen politischenStillstand erlebte.

(Anhaltende Unruhe – Glockenzeichen des Präsiden-ten)

– Langsam, ich war damals Zeitzeuge.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Sie haben sich nurnicht an die Beschlüsse gehalten, Herr Bouffier! Daswar das Problem!)

Wir hatten eine Wahl, die sehr knapp ausging; und es gabkeine klassischen Mehrheiten. Wir hatten eine Wahl, in diewir gezogen sind, in der die Sozialdemokratie mit ihrerSpitzenkandidatin erklärt hatte: Mit der Linkspartei nie! –Nach der Wahl war es anders. Sie haben seinerzeit keineMinderheitsregierung unterstützt – ich war damals Innen-minister –,

(Norbert Schmitt (SPD): Das ist der Unterschied!)

sondern nach wenigen Wochen haben Sie sich ausschließ-lich mit der Frage beschäftigt, wie man diese Regierungaus dem Amt bringen könnte.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Das war auch drin-gend nötig!)

Die Sache ist nur deshalb gescheitert, weil vier sozialde-mokratische Abgeordnete am Ende ihre Hand nicht zu die-sem Wortbruch gereicht haben.

(Holger Bellino (CDU): So ist es!)

Herr Kollege Schäfer-Gümbel, das war kein gutes Jahr fürHessen; und es war ganz sicherlich ein Tiefpunkt für diehessische Sozialdemokratie.

(Beifall bei der CDU)

Lassen Sie mich zum Abschluss noch zwei Bemerkungenmachen:

Selbst dann, wenn man der Auffassung wäre, das sei dochirgendwie machbar, und man sich anschaut, wie das in denLändern ist, stellt sich die Frage: Glauben Sie im Ernst,man könnte in Deutschland eine Minderheitsregierung ma-chen, dem wichtigsten und größten Land Europas, indemman bei 700 Abgeordneten im Deutschen Bundestag dieAfD, die Linkspartei und alle dazwischen bei jeder Fragefragt: Macht ihr mit, und zu welchen Bedingungen? – Werdavon ein bisschen versteht – ich empfehle Ihnen, sich ein-mal die Tagesordnung des Deutschen Bundestages anzuse-hen –, weiß, dass dort Hunderte Entscheidungen pro Jahrgefällt werden.

Dann geht Frau Merkel, Herr Altmaier oder wer auch im-mer hin und sagt: Wir müssen jetzt einmal mit der oder je-ner Fraktion reden. – Und dann kommt zurück: Ja, dannmuss ich mit meiner Fraktion reden; dazu haben wir ver-schiedene Arbeitskreise.

(Anhaltende Unruhe – Glockenzeichen des Präsiden-ten)

Und dann sagt die SPD: vielleicht.

(Norbert Schmitt (SPD): Das ist Parlamentarismus!)

Und dann sagen wir, weil wir allein mit der SPD auch kei-ne Mehrheit haben: Dann müssen wir aber auch die FreienDemokraten fragen. – Dann sagen die: Da würden wir viel-leicht mitmachen, aber da haben wir auch noch etwas zubedenken. – So machen es auch die GRÜNEN oder werauch immer. Es wäre ein beständiger Verhandlungsaus-schuss.

Und, ganz nebenbei bemerkt, das hatten wir hier nie zu be-handeln, aber darauf will ich nur einmal hinweisen: In die-ser Welt ist eine Menge los.

Wir mussten uns hier nicht um Entscheidungen in Europakümmern. Wir hatten keine Entscheidungen in der NATOzu treffen. Wir mussten keine Entscheidung treffen, wiewir mit dem Krieg in Syrien umgehen. Wir mussten keine

8502 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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Entscheidung treffen, was wir mit der Türkei machen. Wirmussten keine Entscheidung treffen, wie wir mit dem Bre-xit umgehen. Wir mussten keine Entscheidung treffen, wiewir die Angebote von Macron aus Frankreich beantworten.Wir mussten keine Entscheidung treffen, ob die Europäi-sche Gemeinschaft das CETA-Abkommen mit Kanada be-schließt oder nicht.

Wir konnten uns entspannt zurücklehnen und mussten auchkeine Antwort auf die Krise in Afrika geben. Wir musstenuns nicht mit Frontex beschäftigen und damit, wie Europairgendwie zusammengehalten wird. Wir konnten uns aufunser Feld beschränken, das war schon anstrengend genug.

Ich habe eben ein paar Punkte genannt. Glauben Sie imErnst, dass wir in einer solchen Lage, in der unsere Interes-sen im Mittelpunkt stehen – die deutschen Interessen sindaber auch europäische Interessen und umgekehrt, wir kön-nen uns nicht hinter anderen verstecken –, ein permanentes– wie soll ich es nennen? – Koalitionsausschussgebildebauen, nach dem Motto: „Sieben Parteien verhandeln“?Vielleicht haben Sie es mitbekommen, die AfD hat sichmittlerweile bitter darüber beschwert, dass der Bundesprä-sident nicht auch sie zum Gespräch gebeten hat, sie seienschließlich vom Volk gewählt, es sei verfassungsrechtlichgeboten, sie seien auch eine Fraktion. – Dann glauben Sie,dass Deutschland seine Aufgabe mit so einem Zauber er-füllen kann? Das kann man doch nur glauben, wenn manentweder von der Sache keine Ahnung hat oder wenn manversucht, irgendwie aus einem Dilemma herauszukommen.

Herr Kollege Schäfer-Gümbel, weil ich sicher bin, dass Siedas auch so sehen: Man kann nicht permanent bei allenwichtigen Fragen irgendwie versuchen, eine Mehrheit zubekommen. Was soll denn jemand in Brüssel sagen, wasDeutschland macht? Soll er jedes Mal sagen: „Wir sindnoch am Verhandeln, und zwar ziemlich lang“?

Man braucht eine stabile Regierung. Eine stabile Regie-rung kann es nur geben, wenn es stabile Absprachen zwi-schen denjenigen gibt, die diese Politik tragen. Deshalb ha-ben wir sondiert, und deshalb konnten wir nach erfolgrei-cher Sondierung in eine Koalition gehen.

(Zuruf des Abg. Norbert Schmitt (SPD))

Herr Kollege Schmitt, Sie sind ein erfahrener Kollege, Siewissen auch, wenn man sich entscheidet, eine Politik zuunterstützen – ohne Willkür, und ohne zu wissen, ob diesemitmachen oder jene; das ist doch irre –, dann muss mansich verständigen und die Grundlinien festlegen.

(Norbert Schmitt (SPD): Ja!)

Wenn Sie dazu bereit sind, dann frage ich Sie: Was unter-scheidet das eigentlich noch von der Großen Koalition?

(Norbert Schmitt (SPD): Ich will das Wahlergebnisrespektieren!)

Sie haben doch Angst davor, den Weg zu vollziehen, denjedermann nachvollziehen kann. Herr Kollege Schäfer-Gümbel, ich habe viele Interviews von Ihnen gelesen; dareden Sie immer davon, die SPD brauche eine Pause, siemüsse sich neu aufstellen, sie müsse dieses und jenes ma-chen. – Geschenkt, ist in Ordnung.

Ich rede jetzt einmal davon, dass wir mehr oder weniger al-le gefragt sind. Ich bin auch Parteivorsitzender. Es genügtaber nicht, nur von der eigenen Partei zu reden. Reden wirüber unser Land. Deswegen möchte ich eine letzte Bemer-kung machen. Ich habe mit der Aussage begonnen: Wenn

alle zusammenkommen, um dem anderen zu erklären, dasser unrecht hat, können sie zu Hause bleiben.

(Norbert Schmitt (SPD): Ja, eben!)

Vielleicht können wir uns darauf verständigen – es wäremeine Bitte, dass diejenigen, die unsere Arbeit begleiten,das auch mitnehmen, also die öffentliche Meinung –: Wassoll ein Politiker machen, wenn er immer vor dem Schafottsteht, um gekreuzigt zu werden, weil er das, wofür er ein-gestanden ist, nicht zu 100 % nach Hause bringt,

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Wenn er vor demSchafott steht, wird er nicht gekreuzigt!)

und als Umfaller oder als prinzipienlos bezeichnet wird?Ist er bereit, sich auf Kompromisse einzulassen, dann ist erkonturenlos, dann hat er keine klare Kante, dann steht ernicht für seine Überzeugungen und ist am Ende nur nochan – igittigitt – Posten und Dienstwagen interessiert.

Diese Melodie ist ein Teil des Grundes für die Abwehroder, besser gesagt, die Abkehr vieler Bürgerinnen undBürger von diesem System. Deswegen geht es mir darum:Der Sinn von Demokratie ist nicht Schwarz oder Weiß –entweder haben wir recht, dann schmeißen wir alle anderenaus dem Saal, oder die anderen machen es.

Der Sinn von Demokratie ist auch nicht der Konsens. Dasist ein großes Missverständnis. Wenn wir alle nur im Kon-sens auftreten würden, dann wären wir nicht mehr unter-scheidbar. Der Sinn von Demokratie in einer Parteienland-schaft, wie wir sie haben, muss der Kompromiss sein, nichtder Konsens. Es geht um den Kompromiss, der hart erar-beitet ist, um den wir gerungen haben, der aber tragfähigist.

Jetzt setze ich mir einen anderen Hut auf, den des Partei-vorsitzenden, und sage zu dem Kompromiss: Wenn ich dashätte alleine lösen können, dann hätten wir das so gemacht.Jetzt kann ich es aber nicht alleine lösen und muss anderenzugestehen, die es auch nicht alleine lösen können, dasswir eine gemeinsame Lösung finden. Dabei ist doch dieSchnittmenge entscheidend. Finden wir etwas, was in derSache hilft?

Damit das nicht zu theoretisch ist, hier ein Beispiel. Ichfand 80 % Entlastung für die Steuerzahler vom Soli einsehr gutes Ergebnis. Da kann man sagen: 100 % sind bes-ser. – Ich fand, 7 GW aus der klimaschädlichen Kohle-stromerzeugung herauszunehmen, eine gute Sache. Mankann sich auch mehr vorstellen. Ich fand die Erhöhung desKindergeldes für Familien gut. Ich hätte mir gewünscht,wir wären auch noch in eine Steuerreform eingetreten.

Gerade in meiner Funktion habe ich sehr darauf geachtet,dass wir eine Fortführung der Hochschulförderung be-schließen. Das ist wichtig für unser Land.

(Beifall des Abg. Daniel May (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN))

Ich bin dafür eingetreten, dass wir uns auf eine steuerlicheUnterstützung der Forschungsförderung einigen. Wir wa-ren uns in allem einig. Ich hätte auch noch ein paar Ideenmehr gehabt, die gerade für unser Land wichtig gewesenwären.

Am Ende geht es darum: Finden wir eine Gemeinsamkeit,in der wir für das Land etwas Gescheites hinbekommen, zudem wir sagen können: „Da haben wir auch unseren Anteileingebracht, und wir können uns wiedererkennen“?

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8503

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Es kommt noch eines hinzu. Wenn das nicht nur Show seinsoll, dann muss man auch die Kraft haben, vor die eigenenLeute zu treten und zu sagen: Ihr habt mir ein Mandat mit-gegeben, ich habe mich nach besten Kräften bemüht, eingutes Ergebnis zu erzielen, und ich bin auch bereit, für die-ses Ergebnis in meiner eigenen Partei zu fechten.

Meine Damen und Herren, wenn wir diese Grundsätzenicht gemeinsam hochhalten, dann werden Sie erleben,dass die Dinge nicht besser, sondern schwieriger werden.Das trifft dann auch unser Hessenland. Insofern bin ichfroh, dass wir heute Morgen einmal darüber sprechen.

Jede Partei hat ihre Interessen, das ist auch in Ordnung so.Am Ende sollten wir es aber nicht übertreiben.

Ich will mich ausdrücklich beim Bundespräsidenten bedan-ken. Ich hoffe, dass seine Bemühungen erfolgreich sind.Ich sage aber auch: Wenn es denn nicht so ist – da bitte ichjetzt um Verständnis, dass ich mich nicht noch einmal mel-den muss –, sind wir als Union jederzeit in der Lage, einenerfolgreichen Wahlkampf zu führen.

Bevor wir das tun, sollten wir doch einmal schauen, ob dieFragen, die wir eben miteinander diskutiert haben, es nichtwert sind, sich zusammenzutun. Die Bürgerinnen und Bür-ger, davon bin ich überzeugt, werden es uns danken. –Herzlichen Dank.

(Lang anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU unddem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Frank Lortz:

Vielen Dank, Herr Ministerpräsident. – Meine Damen undHerren, Sie kennen die Geschäftsordnung des Hauses. DerHerr Ministerpräsident hat

(Günter Rudolph (SPD): 24 Minuten und 20 Sekun-den!)

19 Minuten über die Redezeit gesprochen, deswegenwachsen jeder Fraktion in der Aktuellen Stunde diese 19Minuten zu. Ich weise auch darauf hin, dass in der Aktuel-len Stunde jeder Redner nur einmal das Wort ergreifenkann.

(Günter Rudolph (SPD): Wir haben uns auf eine an-dere Regelung geeinigt!)

– Ihr habt euch anders geeinigt. Die Fraktionsvorsitzendendürfen mehrfach reden. – Das Wort hat der Fraktionsvor-sitzende der SPD-Fraktion, Thorsten Schäfer-Gümbel.

Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD):

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren!„Wir können unserer Partei keine Aufnahme von Koaliti-onsverhandlungen mit der Union empfehlen“, so ClaudiaRoth im Oktober 2013.

Angela Merkel vor wenigen Wochen: „Auf absehbare Zeitist die SPD auf Bundesebene nicht regierungsfähig.“

(Zuruf des Ministerpräsidenten Volker Bouffier)

– Der Ministerpräsident ruft von hinten zu: „Das stimmt“,damit auch das im Protokoll steht.

(Günter Rudolph (SPD): Genau! – Anhaltende Un-ruhe – Glockenzeichen des Präsidenten)

In den Wochen des Respekts und nach seinen Ausführun-gen, die sich zu einem Drittel mit der Sozialdemokratie be-schäftigten und wobei er am Ende wieder so tat, als gingees doch um ein großes Gemeinsames, zeigte es sich einbisschen – ich sage es einmal freundlich, um kein rügens-wertes Wort zu verwenden – widersprüchlich zu dem,

(Günter Rudolph (SPD): Mindestens!)

was ich gelegentlich in den Sonntagsreden einiger Vertre-ter auch aus dem Hessischen Landtag höre.

(Beifall bei der SPD)

Die deutsche Sozialdemokratie war nicht daran beteiligt,dass Jamaika gescheitert ist. Dass Sie das hier miteinanderdiskutieren, ist Ihr gutes Recht; machen Sie das, das gehtuns nichts an. Wir haben natürlich ein paar politischePunkte mit zu bewerten, keine Frage.

Ich habe beispielsweise aufmerksam zur Kenntnis genom-men, dass die FDP im Anschluss an die Verhandlungen er-klärt hat, dass die Verhandlungen durch die Bundeskanzle-rin chaotisch und wenig zielführend organisiert waren.

(Zuruf von der SPD: Hört, hört!)

Ich habe zur Kenntnis genommen, dass diese Einschätzungvon Robert Habeck, dem Landesvorsitzenden von BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN aus Schleswig-Holstein, in denletzten 48 Stunden ausdrücklich geteilt wurde. Das habeich zur Kenntnis genommen. Das spricht ein bisschen da-für, dass auch die Botschaften anderer, denen zufolge dieBundeskanzlerin mit ihrem Politikstil und ihrer Art, Ver-handlungen zu führen – das ist auch nicht ganz neu, es gibtauch auf unserer Seite Erfahrungen damit –, nicht immerganz zielführend ist und dass das große Lob, das eben ver-sucht wurde, vielleicht nicht ganz richtig ist.

(Beifall bei der SPD)

Es könnte auch sein, dass Frau Merkel am Wochenendenicht nur an ihre Grenzen geraten, sondern sehr wohl ge-scheitert ist mit dem, was sie dort in Berlin versucht hat.

(Beifall bei der SPD – Widerspruch der Abg. KarinWolff (CDU))

Ich stelle das an den Anfang, weil die Oberflächlichkeitder Debatte in den letzten 20 Minuten wie auch in man-chem Beitrag zuvor ein Teil des Problems ist. Deswegenwürde ich gerne einige grundsätzliche Bemerkungen ma-chen.

Vor der Bundestagswahl und auch danach – ich habe esgestern mehrfach wiederholt, auch öffentlich – gab es sehrviele, die auch mit Blick auf die Große Koalition gesagthaben, der Vorrat sei verbraucht, diese Koalition sei einSchaden für das Land, diese Koalition stärke die Ränder –insbesondere den Rechtspopulismus – in diesem Land, unddeswegen dürfe es keine österreichischen Verhältnisse ge-ben.

Wir hatten gehofft, die Große Koalition in Berlin abzulö-sen, durch eine von der Sozialdemokratie geführte Regie-rung. Wir haben zur Kenntnis nehmen müssen, dass am24. September die deutsche Sozialdemokratie eine bittereNiederlage – die schwerste in der Nachkriegszeit – einge-fahren hat und unser Wunsch, eine eigene Bundesregie-rung anzuführen, keine Mehrheit gefunden hat. Sind damitautomatisch die Argumente, die von so vielen Beobachternund von so vielen politisch Beteiligten gegen eine GroßeKoalition formuliert wurden, null und nichtig? – Nein, sie

8504 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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sind es nicht, meine sehr verehrten Damen und Herren. Siesind es nicht.

(Beifall bei der SPD)

Nicht in eine Regierung einzutreten per se als „verantwor-tungslos“ oder „nicht verantwortungsbewusst“ zu beschrei-ben – ich habe in den letzten Tagen noch ganz andere Wor-te von Vertretern der Jamaikaparteien gehört, die mich teil-weise an die Zwanzigerjahre erinnert haben – ist, wenn wirdas ernst nehmen, was wir vorher gesagt haben, nicht ak-zeptabel.

(Beifall bei der SPD)

Wenn es richtig ist, was in der Sonntagsrede von eben auchzum Ausdruck kam, dass wir die Ränder nicht stärken dür-fen, dann muss man diesen sehr systematischen Punkt zu-mindest sehen. Ich will es offen sagen – ich habe es in mei-nen eigenen Reihen gesagt –, damit es auch einmal in derZeitung steht: Wer glaubt, dass man sich per se in einerOpposition erneuert, der glaubt an den Weihnachtsmann.

(Beifall bei der SPD)

Eine Partei wie die deutsche Sozialdemokratie muss immerin der Lage sein, sich weiterzuentwickeln – egal, ob sie re-giert oder in der Opposition ist. Es ist völlig egal, in wel-chem Zustand wir sind.

(Beifall bei der SPD)

Aber wir müssen mit Blick auf die Entwicklungen inÖsterreich sehr wohl in Betracht ziehen, dass diese Ent-wicklungen nicht das Ende erreicht haben, weil die Frageder Erkennbarkeit – gerade der beiden großen Volkspartei-en – in der Vergangenheit zu unklar war. Darüber sind sichdoch fast alle einig.

(Zuruf)

– Wenn Sie etwas zu sagen haben, können Sie noch einmalnach vorne kommen, wir haben heute ja noch ein bisschenRedezeit, Herr Bouffier. Ich bin bereit, das heute alles mitIhnen zu diskutieren, weil wir, so glaube ich, an einem fürdie weitere Entwicklung sehr substanziellen Punkt sind –übrigens auch, weil Sie offensichtlich bestimmte Bemer-kungen nicht verstanden haben; aber dazu komme ich spä-ter noch einmal.

(Karin Wolff (CDU): Diese Arroganz! – WeitereZurufe)

– Zu Überheblichkeit nehme ich von Ihnen keine Beleh-rungen an, Herr Ministerpräsident.

(Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU)

– Der Ministerpräsident ruft rein, auch das sei überheblich:An dieser Stelle hat er ausdrücklich recht.

(Zuruf des Abg. Günter Rudolph (SPD))

Wenn das aber alles so ist und wir möglicherweise nachAuflösungen suchen – ich rede jetzt nicht über den Jamai-kateil, weil der mich heute nicht interessiert, das ist eineFrage, die die beteiligten Parteien zu klären haben –, dannwerden wir uns einmal anschauen müssen, was denn an-sonsten passiert ist. In dem Zusammenhang möchte ichnoch einmal auf das Zitat von Frau Merkel zurückkom-men.

Sie haben eben ein paar Bemerkungen zur Soli-Vereinba-rung gemacht, Herr Ministerpräsident. Es hat uns ja ge-freut, dass das Modell, das die Sozialdemokratie entwickelt

hat, auch eine gewisse Rolle gespielt hat. Der entscheiden-de Punkt aber ist doch – und das ist es, was der FDP Sorgemacht –: Genau das haben Sie vor acht Jahren schon ein-mal im Koalitionsvertrag vereinbart.

(Beifall bei der SPD und der FDP)

Da komme ich einmal an einen Erfahrungshorizont, wennwir über Respekt reden. Die Erfahrung haben wir dochauch gemacht, dass Sie am Ende die Verträge mit uns ge-brochen haben – z. B. beim Rückkehrrecht von Teilzeit aufVollzeit,

(Beifall bei der SPD)

z. B. bei der Entschließung des Deutschen Bundestagesüber den Fiskalpakt und die parallele Einführung der Fi-nanztransaktionssteuer,

(Zurufe von der SPD: So ist es!)

z. B. bei der Revision der Mietpreisbremse, z. B. bei derBekämpfung von Steuerdumping, bis zu dem Punkt – dafürkönnen Sie allerdings nichts –, dass die bayerische CSUden mühsam erarbeiteten Kompromiss zur Erbschaftsteuerdurch Verwaltungshandeln unterlaufen hat. – Das ist dieErfahrung, die wir mit Vertragstreue aus Ihren Reihen ha-ben.

(Beifall bei der SPD)

Dazu kommt all die Häme, die Sie in den letzten Jahren beijeder Gelegenheit in diesem Haus ausgegossen haben, im-mer getreu dem Motto „Mehrheit ist Wahrheit“, Herr Mi-nisterpräsident.

(Widerspruch bei der CDU)

Solange Sie der „Bestimmer“ sind – so haben Sie sich jaselbst genannt –, ist alles okay. Aber genau das hat mit de-mokratischem Respekt nichts zu tun, und das werden Sieirgendwann einmal lernen müssen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten derLINKEN und der FDP)

In diesem Kontext will ich auch eine Bemerkung anBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN richten, bzw. an meinenFreund Tarek Al-Wazir. Ich habe es gestern schon ange-deutet. Wenn der Kollege Al-Wazir am Montag – das istdas zweite Mal in den letzten 24 Monaten, dass das pas-siert – die SPD, und zwar in klarer Absicht, in eine Reiheder Politikverweigerung mit der AfD stellt – –

(Zurufe von der SPD: Eine unglaubliche Entglei-sung! – Widerspruch der Abg. Angela Dorn(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

– Der Kollege Partsch hat klargestellt, was er vor zwei Jah-ren gemeint hat.

(Zuruf von dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

– Das ist kein Unsinn, das hat der Kollege Al-Wazir wört-lich formuliert.

(Zuruf des Ministers Tarek Al-Wazir)

– Ich rede jetzt, Herr Al-Wazir. Sie können gerne auchnoch nach vorne kommen. Ich habe heute alle Zeit, für Sienehme ich mir alle Zeit der Welt.

Es sei bedenklich, dass es – das ist die Reihenfolge, die erausdrücklich aufgezählt hat – mit AfD, LINKEN, SPD undnun auch der FDP im Bundestag eine Mehrheit von Partei-en gebe, die nicht regieren wollten.

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8505

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(Armin Schwarz (CDU): Das ist doch die Wahrheit!– Anhaltende Unruhe – Glockenzeichen des Präsi-denten)

– Mit Verlaub: In solchen Sätzen gibt es immer zwei Ebe-nen. Die eine ist die erste Ebene, bei der es darum geht,einen Mechanismus zu beschreiben. Die zweite ist die Ein-ordnung in eine Linie. Ich habe schon genau verstanden –so viel verstehe ich von Sprache –, was damit gemeint ist.

(Widerspruch der Abg. Angela Dorn (BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN) – Anhaltende Unruhe –Glockenzeichen des Präsidenten)

– Ich bitte Sie inständig darum, Frau Dorn – weil ich weiß,Sie verstehen davon noch mehr als viele andere in diesemHaus –, sensibel an solchen Punkten zu sein, wen Sie inwelche Traditionslinie mit wem stellen.

(Beifall bei der SPD und der FDP sowie der Abg.Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Ich sage Ihnen das in aller Offenheit. Denn wenn allesrichtig ist, was man eben über Respekt gehört hat, HerrMinisterpräsident,

(Unruhe – Glockenzeichen des Präsidenten)

dann sind das die Fragen, die entscheiden, ob aus einemVerantwortungsverhältnis wieder ein Vertrauensverhältniswerden kann. Ich habe Ihnen vor eineinhalb Jahren gesagt:Zwischen uns ist es inzwischen andersherum. Es gibt zwi-schen uns beiden kein Vertrauensverhältnis mehr, es gibtein Verantwortungsverhältnis. Das haben wir auch an vie-len Stellen in diesem Landtag getragen.

Aber die Frage, ob daraus wieder mehr wird, ist keine Fra-ge, die sich nur an uns richtet, und danach, ob Sie dieMehrheit haben. Das spielt auf ganz anderen Ebenen eineRolle. Wir werden sehen, ob es dazu irgendeine Form vonPerspektive gibt.

Damit komme ich zu Ihren wunderbaren Bemerkungenzum Thema Minderheitsregierung. Wer nicht verstandenhat, dass ich gestern versucht habe, Denkblockaden zuüberwinden, der hat in der Tat in den letzten Tagen garnichts begriffen.

(Lebhafter Beifall bei der SPD)

Dass wir in einer Art Basisdemokratie im Deutschen Bun-destag über eine ganze Periode miteinander in den unter-schiedlichsten Konstellationen reden, um weiß Gott wasfür Mehrheiten hinzubekommen, daran glaubt in der Tatniemand. Aber wer angesichts des Scheiterns von Jamaikaam Wochenende in der objektiv schwierigen Situation vonösterreichischen Verhältnissen nicht anfängt, darüber nach-zudenken, ob es andere Optionen zwischen einem simplenund aus meiner Sicht nach wie vor falschen Einfach-wei-ter-so wie in den letzten vier Jahren oder Neuwahlen gibt,der muss irgendwann einmal anfangen, auch Beispiele zunennen, was gehen kann.

Ihr Hinweis zu den hessischen Verhältnissen ist natürlichgrundfalsch, legt jedoch abermals Ihr Demokratieverständ-nis zutage.

(Beifall bei der SPD – Zuruf der Abg. Mürvet Öz-türk (fraktionslos))

Erstens. Wir haben hier in der Tat die Studiengebühren ab-geschafft.

(Zurufe von der CDU)

Wir haben das im Übrigen durch konstruktive Mitarbeitdes damaligen Finanzministers hinbekommen.

(Beifall des Abg. Michael Siebel (SPD))

Zu der Frage der konstruktiven Mitarbeit komme ichgleich noch einmal.

Zweitens. Wir haben hier unter anderem die Härtefallkom-mission auf den Weg gebracht.

(Beifall bei der SPD der LINKEN sowie der Abg.Mürvet Öztürk (fraktionslos) – Vizepräsident Wolf-gang Greilich übernimmt den Vorsitz.)

Wir haben drittens diesen G-8-Murks, den Sie angerichtethaben, revidiert.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie derAbg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Da sind die Einstiege gemacht worden – zu dem Chaos,das Sie vorher angestellt hatten.

Ich komme zum Thema Konstruktivität der Regierung indemokratischen Verhältnissen. Ich sage noch einmal: Hierist die erste Gewalt. Dieser Landtag hat mit Mehrheit dieRückkehr des Bundeslandes Hessen in die Tarifgemein-schaft der deutschen Länder beschlossen. Dann hat sich eingewissen Innenminister Volker Bouffier hierhin gestelltund als „Bestimmer“ erklärt, dass der Hessische Landtaghier beschließen könne, was er wolle, er würde es niemalsumsetzen – und so war es.

(Zurufe von der SPD)

Das ist der Punkt Ihres inakzeptablen Demokratieverständ-nisses, wenn Sie nicht die Mehrheit haben.

(Lebhafter Beifall bei der SPD und der LINKEN so-wie der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Ihr regierungsautoritäres Demokratieverständnis ist Teildes Problems, in aller Klarheit.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU)

Ich sage Ihnen: Wenn Sie von dem Baum nicht irgend-wann herunterkommen, dann wird es in der Tat schwierig.Denn Sie können sich nicht immer hierhin stellen und inSonntagsreden so tun, als wären Sie derjenige, der Leuteverbindet, aber dann, wenn es um die Sache geht, anschlie-ßend das Gegenteil tun. Das werden wir zumindest nichtakzeptieren.

(Lebhafter Beifall bei der SPD und der Abg. MürvetÖztürk (fraktionslos))

Das ist ein Politikstil, der so etwas von gestern ist wie we-nige andere, die ich in den letzten Jahren erlebt habe.

Damit komme ich zum eigentlichen Problem, wenn wirüber das Thema Minderheit reden. Wenn wir über das The-ma Minderheit reden, dann wird das Problem auffällig, dasschon in den letzten vier Jahren ein Riesenproblem in Ber-lin war: dass die Unionsfamilie bei zentralen Fragen in sichinhaltlich zerrissen ist wie keine andere Partei und Frakti-on.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Bei Migrationsfragen, bei europäischen Fragen, insbeson-dere bezüglich des Euros und vielem anderen mehr – derRiss geht mitten durch Ihre Linie: die Willsch‘en auf dereinen Seite, der Sozialflügel auf der anderen Seite, diebayerische CSU mit ihren unterschiedlichsten Teilfraktio-

8506 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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nen. Sie müssten in der Tat ein paar Positionen bei sichklären, die mehr sind als Überschriften. Das ist doch IhrKernproblem. Deswegen scheuen Sie, überhaupt über die-se Variante nachzudenken.

Noch einmal: Mir geht es darum, Denkräume zu eröffnen,wenn ich über die Minderheitenoption rede.

Damit komme ich zum größten und aus meiner Sicht wich-tigsten Thema überhaupt. Wenn ich eine Klammer in die-ser Periode im Deutschen Bundestag sehe, die Fraktionenund Parteien zusammenführen kann, dann sind es diegroßen europäischen Fragen. Ich glaube, dass wenige au-ßer dem französischen Staatspräsidenten Macron verstan-den haben, bei all der Kritik, die man an bestimmten Teil-elementen haben kann, dass die Frage des ZusammenhaltsEuropas nach dem Brexit große Herausforderungen mitsich bringt, die wir ganz ausdrücklich bei der Neukonstru-ierung des Euros haben werden oder bei der Frage, wie wireinen Finanz- und Sozialpakt in der Europäischen Unionhinbekommen. Was für ein Bild: Die Staatschefs aller Län-der Europas versammeln sich, um die Sozialunion zu grün-den. Wer fehlt? Die Bundesrepublik Deutschland. – Dasdarf nicht passieren.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Mürvet Öztürk(fraktionslos))

Wenn es in der nächsten Periode eine Klammer gibt, dannist es die europäische Frage. Das rufe ich Ihnen so neben-bei zu: Wenn es einen Grund gibt, in dieser Periode vordem Hintergrund der gemachten Erfahrungen mit Ihnen zugehen – nicht mit Ihnen als Person, sondern in der Strukturder letzten Monate –, dann sind es diese Fragen. Denn dieeuropäische Frage wird mehr als alles andere in den nächs-ten Jahren entscheiden, welche Form von Handlungsfähig-keiten wir überhaupt noch im demokratisch-liberalen Sys-tem haben werden im Vergleich zu dem Anwachsen staats-autoritärer Systeme auf der ganzen Welt.

Europa ist in der Tat umgeben von vielen Krisenherden.Europa hat in den letzten Jahren leider zu wenig Hand-lungsfähigkeit bewiesen. Natürlich gibt es auch in unsereneigenen Reihen muntere Debatten darüber, was die richtigeAntwort ist. Es gibt sie mit am schärfsten in Ihren Reihen.

Aber dass Europa das zentrale Element der Lösung zentra-ler Fragen ist, das muss ich doch der Partei Konrad Ade-nauers nicht erklären. Wenn es einen Grund gibt, zusam-menzuarbeiten, dann den. Ich sehe wenig andere, weil ichnicht weiß, wo es herkommen soll.

(Beifall bei der SPD und der FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit will ichzum Ende kommen und zu Ihrem Apell zum Thema demo-kratisches Miteinander. Ja, es wäre aller Ehren wert, in ei-nem anderen Verhältnis miteinander zusammenzuarbeiten,das sich nicht nur an der Linie festmacht. Manchmal blitztes auf, dass es hinkommt, aber an vielen Stellen nicht. DerGrundsatz seit Roland Koch – Mehrheit ist Wahrheit –sollte nicht das bestimmende Element im HessischenLandtag und anderswo sein.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Der für mich bedeutendste Ministerpräsident unseres Lan-des, Georg August Zinn, hat den denkwürdigen und wich-tigen Satz gesagt: Demokratie ist mehr als eine Staatsform.Demokratie ist eine Lebenshaltung. – Das setzt in der Tatden wechselseitigen Respekt voraus, den wir alle gelegent-

lich miteinander vermissen lassen. Da nehme ich mich aus-drücklich nicht aus. Daran zu arbeiten, wäre in der Tat einTeil der Voraussetzung dafür, dass die Aufgaben gelöstwerden können, die alle vor uns liegen, die in den nächstenJahren nicht kleiner werden. Aber das setzt ganz ausdrück-lich voraus, dass die, die sich für die „Bestimmer“ halten,sich endlich an die eigenen Maßstäbe halten. – HerzlichenDank.

(Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD und derAbg. Mürvet Öztürk (fraktionslos) – Beifall bei Ab-geordneten der LINKEN und der FDP)

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Vielen Dank, Herr Kollege Schäfer-Gümbel. – Als Nächs-ter hat sich für die Landesregierung Herr StaatsministerAl-Wazir gemeldet. Bitte sehr.

Tarek Al-Wazir, Minister für Wirtschaft, Energie, Ver-kehr und Landesentwicklung:

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren!Kollege Schäfer-Gümbel hat gerade gesagt, wenn ich michrecht erinnere, ich hätte am Montag ganz bewusst AfD undSPD in eine Reihe gestellt.

(Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn (FDP): Die FDP auch!)

Ich will Ihnen ausdrücklich sagen, dass ich das nicht ge-macht habe. Ich will Ihnen aus meiner Sicht sagen, was amMontag nach dem Platzen von Jamaika mein Kommentarzur Lage war.

Mit der AfD verbietet sich jede Zusammenarbeit. Das isteine Partei, die als Antisystempartei angetreten ist. Sie willdieses Parlament, in das sie eingezogen ist, im Grunde garnicht. Insofern ist völlig klar, dass sie von Anfang an selbstgesagt hat, dass sie keinerlei Verantwortung übernehmenwill.

Die Partei DIE LINKE hat gegen Ende des WahlkampfsÄhnliches getan, wenn ich mir die Reden von Sahra Wa-genknecht so betrachte.

(Beifall des Abg. Gerhard Merz (SPD) – JanineWissler (DIE LINKE): Wie bitte?)

Das ist ja eine Debatte, die wir schon seit Längerem füh-ren. Dazu ist zu sagen, dass man durchaus als Antiparteien-Partei beginnen kann – ich weiß ja, wie die GRÜNEN1982 hier eingezogen sind. Aber irgendwann muss mansich schon die Frage stellen, ob man das Schöne, Wahreund Gute immer nur fordern möchte oder ob man auch inder Realität etwas verändern möchte.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei Abgeordneten der CDU – Zuruf der Abg. MürvetÖztürk (fraktionslos))

Das ist aber eine Debatte, die Sie intern führen müssen.Unbestritten steht momentan aber wohl auch die FraktionDIE LINKE im Deutschen Bundestag für keinerlei Regie-rungskonstellation zur Verfügung.

(Zuruf der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Die SPD – das weiß ich – hat an der Großen Koalition ge-litten.

(Zuruf von der LINKEN: Hat verloren!)

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8507

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Sie hat dabei auch Prozente verloren. Ich habe am Samstagauf unserem Parteitag, als wir über diese Frage debattierthaben, gesagt, dass man sich einmal vergegenwärtigensollte, dass Rot und Grün zusammen keine 30 % mehr be-kommen haben. Natürlich muss das eine Partei innerlichumtreiben. Dass dann am Wahlabend, um den Laden zu-sammenzuhalten – so interpretiere ich das –, sofort gesagtwurde: „Wir sind raus“, kann ich in gewissem Maße ver-stehen.

Kollege Schäfer-Gümbel, Sie haben angesprochen, dassteilweise Sachen gesagt worden seien, die Sie an frühereund vergangene Zeiten erinnerten, was die Sozialdemokra-ten angehe.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Ja!)

Das werden Sie von mir nicht gehört haben.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Das habe ichauch nicht gesagt!)

Ich bin geschichtsbewusst genug,

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Wenn Sie „Lan-desverrat“ sagen würden, wäre auch was los! Dashaben andere getan!)

um zu wissen, dass die Stichworte Bismarck und ErsterWeltkrieg, der allfällige Vorwurf gegenüber Sozialdemo-kraten, sie seien „vaterlandslose Gesellen“, immer Versu-che waren, sie außerhalb des politischen Systems zu stel-len. So etwas käme mir niemals über die Lippen, meinesehr verehrten Damen und Herren. Das käme mir nie überdie Lippen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unddes Abg. Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD))

Aber – Entschuldigung – die Demokratie hat ein Problem,wenn an diesem Montag die vierte Fraktion des DeutschenBundestages sagt, sie wolle nicht regieren. Am Ende habenwir im Deutschen Bundestag eine Mehrheit, die keine Ver-antwortung übernehmen will. Darüber sprechen wir heute.

(Zuruf der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Das ist keine Gleichsetzung von SPD und AfD, sondern ei-ne schlichte Feststellung zur gegenwärtigen politischen Si-tuation.

Inzwischen haben auch innerhalb der SPD Debatten be-gonnen. Ich habe heute Morgen gelesen, was Mike Gro-schek gesagt hat; ich habe gehört, was Johannes Kahrs imInterview gesagt hat. Auch innerhalb der Sozialdemokratiefängt man inzwischen an, zu debattieren, ob diese Situationauf Dauer gut sein kann.

Das bestätigt mich in der Auffassung, dass es im Kernnicht funktionieren kann, wenn eine Mehrheit im Deut-schen Bundestag sagt, dass sie zur Übernahme von Regie-rungsverantwortung nicht zur Verfügung stehe. Nicht mehrhabe ich gesagt, und nicht mehr habe ich gemeint. Mehrsollte man auch nicht hineininterpretieren. – Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Vielen Dank. – Das waren gut vier Minuten. Das heißt, denFraktionen sind noch einmal vier Minuten Redezeit zuge-

wachsen. Insgesamt sind das 23 Minuten. Den Sozialde-mokraten stehen damit noch neun Minuten zur Verfügung.

Als nächste Rednerin hat sich Frau Abg. Wissler für dieFraktion DIE LINKE gemeldet. Bitte sehr, Sie haben dasWort.

Janine Wissler (DIE LINKE):

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Minister-präsident, Sie haben in Ihrer Rede eben davon gesprochen,was aus Ihrer Sicht die großen gesellschaftlichen Fragenseien. Sie sagten auch, was aus Ihrer Sicht keine großenFragen seien. Sie sagten, große Fragen seien für Sie nichtder Soli oder die Steuern. Sie haben gesagt, für Sie sei kei-ne große Frage, ob der Diesel- bzw. der Verbrennungsmo-tor 2030 auslaufe oder nicht.

Ich will nur darauf hinweisen, dass es sich bei diesen Fra-gen durchaus um existenzielle Fragen handelt. Beim Ver-brennungsmotor geht es um Klimaschutz. Bei Soli undSteuern geht es auch um gleichwertige Lebensverhältnisse.Genau das ist das Problem in der gesamten Debatte inner-halb der Union und bei den Jamaikasondierungen. Sieglauben allen Ernstes, das seien nicht die großen Fragen.

(Zuruf von der LINKEN: Genau!)

Dann haben Sie darüber gesprochen, was denn aus IhrerSicht die großen Fragen seien. Sie haben eine Menge ge-sagt, was wenig konkret war, und haben anschließend wie-der über Zuwanderung gesprochen. Ich finde, das ist dasProblem.

Ich hätte mir gewünscht, dass die Union, CDU und CSU,Seehofer und Merkel vor der Wahl nächtelang gerungenhätten um die Frage, wie wir im Klimaschutz vorankom-men und wie wir in diesem Land die Kinderarmut begren-zen.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Waren Sie dabei?)

Meine Güte, jedes fünfte Kind lebt in Armut. Ich hätte mirgewünscht, dass man darum ringt, wie man die Wohnungs-not bekämpft, wie man endlich gute Arbeit schafft und dieNiedriglöhne zurückdrängt.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Genau das wurde gemacht, Frau Wiss-ler! – Judith Lannert (CDU): Wo leben Sie denn? –Zuruf von der FDP)

– Ich rede von den Besprechungen zwischen CDU undCSU. Ich glaube, da sind die GRÜNEN jetzt wirklich nochnicht dabei. Ich spreche von dem Ringen vor der Wahl, alsCDU und CSU nächtelang darüber verhandelt haben, wiediese sinnfreie Obergrenze der CSU irgendwie in die Uni-ons-Wahlplattform hineinkommt. Nächtelang hat man dar-um gerungen; das war das große Thema.

Damit bin ich jetzt bei den Sondierungsgesprächen. Dashat sich in den Sondierungsgesprächen ja fortgesetzt. Waswaren denn die großen Themen? Mein Problem bei diesenJamaikasondierungen war nicht nur, worüber Sie sich amEnde nicht geeinigt haben, sondern auch, worüber Sie sichsehr schnell geeinigt haben.

(Gerhard Merz (SPD): Tja, das ist nun mal so!)

Interessant ist auch, was überhaupt nicht zum Thema wur-de.

8508 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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(Zuruf der Abg. Angela Dorn (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN))

Die Frage der Umverteilung hat doch überhaupt keine Rol-le gespielt. Die Vermögensteuer, die die GRÜNEN einmalirgendwie ansatzweise im Programm hatten, haben siedoch vor der ersten Sondierungsrunde abgeräumt.

(Angela Dorn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aberwarum haben Sie dann vor den Wahlen ausgeschlos-sen, mitzuregieren, wenn Sie so viel wissen?)

Armutsbekämpfung und Wohnraum, all diese Fragen ha-ben doch gar keine Rolle gespielt. Waffenexporte haben inden Sondierungsverhandlungen keine Rolle gespielt.

(Unruhe bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Stattdessen war die Zuwanderung wieder das entscheiden-de Thema. Beim den Themen Zuwanderung und Flüchtlin-ge geht es um Menschenrechte und Grundrechte. Der Ab-bau von Grundrechten und Menschenrechten war in derÖffentlichkeit das bestimmende Thema. Das war eines derProbleme dieser Sondierungsverhandlungen, meine Damenund Herren.

(Beifall bei der LINKEN – Angela Dorn (BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN): Das alles waren Themen in denVerhandlungen, Frau Wissler! Das war alles The-ma!)

Es sagt ja viel über eine Partei aus, die sich christlichnennt, wenn eines ihrer offenbar wichtigsten Anliegen ist,den Familiennachzug für Kriegsflüchtlinge zu verhindern,nach dem Motto: Frauen und Kinder zuletzt.

(Zuruf von der LINKEN: Ja!)

Ich möchte Ihnen ein Zitat von Norbert Blüm mitgeben,der in diesen Tagen geäußert hat:

Wenn der Familiennachzug ausgerechnet an derCDU scheitert, wünsche ich jedem Redner der Par-tei, dass ihm fortan das Wort im Hals stecken bleibt,wenn er die hehren Werte der Familie beschwört.

Ich finde, Norbert Blüm hat recht.

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Mürvet Öz-türk (fraktionslos))

Dass die GRÜNEN offensichtlich bereit waren, eine„Obergrenze light“ zu akzeptieren,

(Günter Rudolph (SPD): Atmend! – Heiterkeit beiAbgeordneten der SPD)

dass sie bereit waren, weiteren „sicheren Herkunftsstaaten“zuzustimmen, und dass sie dies dann auch noch mit Patrio-tismus begründen, das hat mich, muss ich ehrlich sagen,schon fassungslos gemacht.

Zwischenzeitlich habe ich einmal gedacht, dass die GRÜ-NEN vielleicht die Größe haben würden, hinauszugehenund zu sagen: Nein, Grund- und Menschenrechte sind füruns nicht verhandelbar; wir werden einer „Obergrenzelight“ nicht zustimmen und auch nicht einer Ausweitungder Zahl sicherer Herkunftsstaaten. – Ich hätte mir ge-wünscht, dass die GRÜNEN aus diesen Sondierungen hin-ausgegangen wären und gesagt hätten: Grund- und Men-schenrechte sind nicht verhandelbar.

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Mürvet Öz-türk (fraktionslos))

Jetzt rufen die GRÜNEN dauernd dazwischen, wir wolltenja nichts verändern.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Ja, stimmt!)

Herr Wagner, hier im Landtag stimmen Sie gegen jedenunserer Anträge. Uns dann vorzuwerfen, wir wollten nichtsverändern, halte ich, ehrlich gesagt, schon für ein bisschenperfide.

(Beifall bei der LINKEN – Unruhe)

Ihr Koalitionspartner, die CDU, hat den Grundsatzbe-schluss, niemals einem Antrag der LINKEN zuzustimmen,unabhängig davon, was in ihm steht. Sie haben sich diesemBeschluss unterworfen.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Immer sind die anderen schuld!)

Wir können hier doch beantragen, was wir wollen. Siestimmen doch dagegen. Da können Sie uns doch nicht vor-werfen, wir wollten nichts verändern.

Ich bin dafür dankbar, dass Thorsten Schäfer-Gümbel nocheinmal an die Ereignisse im Jahr 2008 erinnert hat. HerrKollege Wagner, was haben wir denn da beschlossen?

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Wissler, wer wollte denn nicht indie Regierung gehen?)

– 2008 ist es nicht an uns gescheitert. Das wissen Sie ganzgenau. – Was haben wir denn im Jahr 2008 beschlossen? –Wir haben die Studiengebühren abgeschafft. Wir habenG 8 entschärft. Wir haben die Härtefallkommission ge-schaffen. All das war in diesem Landtag möglich. Als sichdie GRÜNEN noch nicht an die CDU gekettet haben, gabes in diesem Parlament noch sinnvolle Beschlüsse.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Ministerpräsident, wir haben in dieser Zeit noch eini-ges mehr beschlossen. Leider hatten wir es mit einer ge-schäftsführenden Landesregierung zu tun, die sich gewei-gert hat, demokratische Beschlüsse des Parlaments umzu-setzen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir haben beschlossen, in die Tarifgemeinschaft der Län-der zurückzukehren. Wir haben einen Abschiebestopp fürFlüchtlinge aus Afghanistan beschlossen. Wer war es denn,der sich hierhin gestellt hat und gesagt hat: „Ihr könnt hierentscheiden, was ihr wollt, ich setze das als Innenministernicht um“? Das waren damals doch Sie.

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des HerrnKollegen May?

(Janine Wissler (DIE LINKE): Bitte schön!)

Daniel May (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Kollegin Wissler, Sie haben gerade Herrn KollegenSchäfer-Gümbel angeführt. Können Sie mir denn noch sa-gen, welche Ergebnisse die Sondierung im Jahr 2013 zwi-schen Ihnen und Herrn Schäfer-Gümbel aus Sicht vonHerrn Schäfer-Gümbel ergeben hat?

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8509

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Janine Wissler (DIE LINKE):

Herr May, Sie möchten, dass ich aus Sicht Thorsten Schä-fer-Gümbels antworte. Ich kann Ihnen sagen, was die Son-dierungen im Jahr 2013 ergeben haben. Da haben SPD,GRÜNE und LINKE 20 Stunden miteinander sondiert. DasErgebnis war, dass Sie sich entschieden haben, Minister-präsident Bouffier im Amt zu halten und Schwarz-Grün zumachen. Das war das Ergebnis.

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Mürvet Öz-türk (fraktionslos))

Die GRÜNEN haben am 18. Januar 2013 – –

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Wissler, wir haben nach Ihnen ge-fragt!)

– Nein, er hat nach der Sicht Thorsten Schäfer-Gümbelsgefragt.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Er hat nach Ihnen gefragt!)

Am 18. Januar 2013 haben die GRÜNEN im Landtag Vol-ker Bouffier zum Rücktritt aufgefordert. Am 18. Januar2014 haben sie ihn zum Ministerpräsidenten gewählt. Dasist die Situation.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten derSPD sowie der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Sie wissen ganz genau, dass es weder 2008 noch 2013 anuns gescheitert ist. Herr May, ja, wir hatten eine ganzeMenge Differenzen. Wir hatten Differenzen hinsichtlichder Frage der Schuldenbremse. Wir hatten Differenzen,weil wir gesagt haben: Mit uns wird es keine Schulschlie-ßungen im ländlichen Raum geben. Wir haben gesagt: Wirwerden keinen Stellenabbau machen.

Es war die Entscheidung der GRÜNEN, zu überlegen, obdie Widersprüche und Differenzen zu einer CDU rechtsaußen in Hessen einfacher zu überbrücken sind als zurLINKEN. Das war Ihre Entscheidung. Sie haben sich ent-schieden, Bouffier an der Macht zu halten und nicht aufeinen Politikwechsel zu setzen.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten derSPD sowie der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Deshalb sage ich mit Blick auf 2008: Natürlich setzt eineMinderheitsregierung voraus, dass die Regierung und ihreMinister zumindest bereit sind, demokratische Mindest-standards zu akzeptieren und die Beschlüsse des Parla-ments umzusetzen. Das war das Problem 2008.

Natürlich haben wir jetzt auf Bundesebene eine andere Si-tuation.

(Unruhe – Glockenzeichen des Präsidenten)

Wir haben die AfD im Parlament. Ich sehe natürlich dieGefahr, dass wir hier österreichische Verhältnisse bekom-men. Ich möchte nicht, dass die Mehrheit aus Union, FDPund AfD, die es gibt, für den Abbau der Bürgerrechte, fürVerschlechterungen und für weniger Schutz der Flüchtlin-ge genutzt wird.

Ich finde, die große Aufgabe, die man jetzt hat, bestehtzum einen darin, der wachsenden Gefahr von rechts etwasentgegenzusetzen. Das heißt, man darf die AfD nicht im-mer stärker machen, indem man dauernd über ihre Themenredet.

Das Zweite ist Folgendes: Wir brauchen endlich Lösungenfür die drängenden sozialen Probleme in diesem Land. Wirhaben eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Armund Reich. Das große Problem ist, dass weder Jamaikanoch die bisher regierende Große Koalition darauf Antwor-ten gibt. Das ist das eigentliche Problem. Das ist schade.Denn es wäre dringend notwendig, dass es in diesem Landzu einem Politikwechsel kommt und dass man endlich ge-gen Armut und Niedriglöhne vorgeht. Dazu ist leider nie-mand bereit.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten derSPD sowie der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Vielen Dank. – Als Nächster spricht Herr Kollege Bodden-berg für die Fraktion der CDU. Bitte sehr, Sie haben 23Minuten.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Michael, mach es kurz! – ThorstenSchäfer-Gümbel (SPD): Sie hätten dazu eine Regie-rungserklärung machen sollen!)

Michael Boddenberg (CDU):

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren!Ich gebe zu, dass mir etwas längere Redezeiten durchausentgegenkommen. Ich tue mich nach wie vor schwer, sehrkomplexe Fragestellungen in fünf Minuten in AktuellenStunden zu beraten. Herr Kollege Schäfer-Gümbel, ichglaube, es ist auch in Ihrem Sinne, dass wir schon einbisschen tiefer einsteigen, wenn wir heute die Frage aufru-fen: Wie geht es eigentlich unserem Land? Damit meineich natürlich nicht nur die Bundesrepublik Deutschland,sondern ich meine auch Hessen.

Sie haben eben einen sehr energischen und lautstarkenAuftritt gehabt. Ich sage ausdrücklich, dass ich das nichtkritisiere. Nach dem, was Sie hier gesagt haben, bin ichmir immer noch nicht so ganz sicher, was Sie jetzt eigent-lich wollen. Ich sage ausdrücklich, dass das kein Vorwurfist, sondern das ist eine ernst gemeinte Frage.

Ich will einmal in Erinnerung rufen, dass wir seit demWahltag am 24. September 2017, also seit rund 60 Tagen,alle miteinander nicht so recht wissen, was die Sozialde-mokratie jetzt eigentlich will. Dass Sie eine Entscheidungum 18:05 Uhr getroffen haben, kann doch nur Folgendesbedeuten: Herr Kollege Schäfer-Gümbel und Herr KollegeWarnecke, das kann doch nur bedeuten, dass die Sozialde-mokraten schon vor dem Ende des Wahltags vorbespro-chen und beschlossen haben: Wir gehen in die Opposition.

Das glaube ich aber nicht. Denn erst einmal muss der Wäh-ler sprechen. Es hätte auch sein können, dass Ihre Parteiein bisschen besser abschneidet.

Oder aber Sie haben beschlossen, zwei Varianten zu neh-men. Zum einen ist das, um 18:05 Uhr sofort die Erklärungabzugeben: Wir sind nicht dabei. – So haben Sie es ge-macht. Sie hatten dann aber auch eine Schublade, in derdie Option lag, unter bestimmten Voraussetzungen weitermit im Verhandlungsboot zu sein.

Dazwischen muss es irgendeine Grenze gegeben haben,bei der Sie sich für das eine oder andere entschieden ha-ben. Sie sind in einer urdemokratischen Partei mit starken

8510 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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Gremien. Sie können mir deshalb nicht erklären, dass Sieinnerhalb von fünf Minuten diese so zentrale Frage ent-schieden haben. Sie müssen hier doch einmal erklären, beiwelchem prozentualen Wahlergebnis Sie am Ende links-herum oder rechtsherum entschieden haben. Das hätte ichgerne einmal gewusst. Ich glaube, da geht es mir nicht al-leine so.

Herr Schäfer-Gümbel, Sie sind heute hier energisch aufge-treten. Meiner Ansicht nach sind Sie in einigen wenigenMomenten etwas larmoyant aufgetreten. Sie haben vonHäme geredet. Ich weiß nicht, wovon Sie da reden, außerdass es natürlich hin und wieder einmal in der politischenAuseinandersetzung auch im Hessischen Landtag Formu-lierungen gibt, die man vielleicht so interpretieren könnte.

Lieber Herr Kollege Schäfer-Gümbel, Sie sitzen geradevor dem früheren Generalsekretär der hessischen CDU unddem Fraktionsvorsitzenden der CDU im Hessischen Land-tag. Wenn ich Häme so wie Sie definieren würde, dannkönnte ich stundenlang Vorträge halten, was wir denn inden letzten Jahren so haben hinnehmen müssen. Ich habemich darüber nie beschwert.

Heute Morgen hatten wir eine Debatte, bei der es um dieFrage ging, wie robust wir die politische Debatte führen.Wenn ich mich daran robust beteilige, dann muss ich auchhinnehmen, dass es hin und wieder ein bisschen robust zu-rückkommt.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Gegen robusteDebatten habe ich nichts!)

Herr Schäfer-Gümbel, Sie haben meiner Ansicht nach ei-nes erkennen lassen. Für mich bezeichnet dieses Bild esam besten: Die SPD befindet sich irgendwie auf einer Ach-terbahnfahrt. – Auch das sage ich ohne Häme, um es gleichvorwegzunehmen. Vielmehr stelle ich das nur fest.

Sie haben von einem Riss in der Union gesprochen. Ja, wirhaben hinsichtlich der Asyl- und Flüchtlingsfrage einein-halb bis zwei Jahre ernsthafte Debatten innerhalb der Uni-on gehabt. Wer wollte denn das verschweigen? Das standjeden Tag in der Zeitung.

Glauben Sie ja nicht, dass uns das gefallen hat. GlaubenSie ja nicht, dass mir jeder Satz – ich sage das einmal ganzbewusst so – aus Bayern gefallen hat. Glauben Sie, dasswir beispielsweise in der Runde der Fraktionsvorsitzendender Parlamente mit dem bayerischen Kollegen, aber auchmit den anderen Kollegen über die Frage gesprochen ha-ben: Was bedeutet für euch eine Obergrenze beim Asyl-recht? Welche Bedeutung hat möglicherweise die Zahl, diedie Bayern in den Raum gestellt haben? Geht das in dieRichtung eines Signals an die Welt, dass wir glauben, dassdiese Zahl durchaus sagen soll, dass es da eine Grenze hin-sichtlich der Zahl der Personen gibt, die wir glauben in die-sem Land integrieren zu können? – Das ist jetzt der Kom-promiss auf Unionsseite, von dem auch Sie gesprochen ha-ben. Er ist leider nach dem 24. September 2017 zustandegekommen.

Da will ich schon einmal sagen, dass das bis hin zu denLINKEN geht. Ich rufe erneut den Namen Wagenknecht inden Raum. Ich könnte über Herrn Lafontaine reden. Ichkönnte Herrn Gabriel zitieren. Übergreifend haben wir allemiteinander Vertreterinnen und Vertreter in unseren Partei-en und Parlamenten, die erklärt haben: Ja, es gibt da eineGrenze der Belastung.

Da hat es jetzt einen Kompromiss gegeben. Das ist das,was Sie als Riss bezeichnet haben. Ich finde, das ist genaudas, worüber wir heute Morgen geredet haben. Das istnämlich das typische Ergebnis einer langen, für mich ei-gentlich zu langen Phase der Kompromissfindung.

Die Achterbahnfahrt der Sozialdemokraten, die ich ange-sprochen habe, hat schon viel früher begonnen, und sie istbis heute nicht beendet. Sie haben nach wie vor einen ausmeiner Sicht tiefen Spalt in der Sozialdemokratie Deutsch-lands, ob Sie noch zu den Beschlüssen der rot-grünen Bun-desregierung unter Kanzler Schröder stehen oder nicht. MitHerrn Schröder haben Sie darüber hinaus noch ein paar an-dere, aus meiner Sicht durchaus verständliche Probleme.Er war derjenige, der einmal erklärt hat, dass Herr Putinein lupenreiner Demokrat sei. Ich weiß nicht, ob er dasheute noch wiederholt. Er zeigt aber nicht, dass er sich vondieser Aussage distanziert. Die Sozialdemokraten sind hin-und hergerissen, ob sie ihn da hart attackieren oder ob siedas lieber wegnuscheln. Ich glaube, sie haben sich fürLetzteres entschieden. – Aber das auch nur als Randbemer-kung.

Dieser tiefe Riss in der Sozialdemokratie hat am Ende dazugeführt, dass sich viele Menschen von der Sozialdemokra-tie abgewandt haben. Das ist ein Wählervotum, das mannatürlich akzeptieren muss. Aber ich kann verstehen, dasses eine Volkspartei wie die SPD, die früher einmal Wahl-ergebnisse von 40 % und mehr hatte und die jetzt bei 20 %gelandet ist, schmerzt, dass sie in einer schwierigen Phaseist. Auch das, Herr Schäfer-Gümbel, sage ich völlig ohneHäme. Ich stelle es nur fest.

(Günter Rudolph (SPD): Ganz gewiss!)

– Herr Kollege Rudolph, ich freue mich nicht jeden Tagdarüber, dass das bei der SPD gerade so ist; denn wir brau-chen starke Volksparteien in unserem parteipolitischenSpektrum. Wir sehen gerade, wie es schwieriger wird,wenn es um Mehrheitsbildung geht und es viele kleinereParteien gibt – ohne dass ich denen zu nahe treten will.

(Beifall bei der CDU)

Kolleginnen und Kollegen, ich könnte jetzt Hartz IV alsdas zentrale Symbol der sozialdemokratischen Zerrissen-heit nennen.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Das stimmt!)

Noch einmal ausdrücklich: Das verstehe ich. Aber dannfinde ich es ein bisschen unangemessen, dass Sie der Uni-on vorwerfen, Stichwort: Demokratieverständnis, dass dieUnion in einem wesentlichen Punkt der Politik dieser Ta-ge, der Asyl- und Migrationsfrage, in der sie so lange ge-rungen hat, zu einem Ergebnis gekommen ist.

(Torsten Warnecke (SPD): Ja, in einer Achterbahn-fahrt!)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, dann kommen inIhrem Vortrag solche Sätze wie, die Hessische CDU hätteschon immer nach dem Prinzip „Mehrheit ist Wahrheit“gehandelt. Ich weiß nicht, ob Sie diese Formulierung schoneinmal von mir, vom Ministerpräsidenten Bouffier oderseinem Vorgänger gehört haben. Ich meine, mich nicht er-innern zu können, dass wir das einmal so gesagt haben.Wir stehen selbstverständlich dazu, dass wir diese Mehr-heit auch umsetzen, wenn wir eine Mehrheit haben undWählerinnen und Wähler sich für uns und einen Koaliti-onspartner entschieden haben, mit dem wir gemeinsam re-

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8511

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gieren. Wie wollen und sollen wir dem Wähler erklären:„Du hast uns zwar gewählt, wir haben einen Koalitionsver-trag; aber wir fragen jetzt immer die Opposition, ob sienicht auch irgendwie dabei sein will“? Ich sage ausdrück-lich, dass ich es völlig in Ordnung finde, dass Sie häufig –auch in der jüngsten Vergangenheit – angeboten haben,dass Sie mitwirken wollen. Das ist völlig in Ordnung. AberSie müssen bitte einfach auch akzeptieren, wenn wir sagen:Wir glauben, dass wir alleine zu einer guten Lösung kom-men.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Klar!)

Wir haben gerade gestern oder vorgestern noch miteinan-der gesprochen. Sie haben den Anstoß gegeben: Wollenwir uns nicht hier im Hessischen Landtag gemeinsam zudem Verhalten der kuwaitischen Airline, einen israelischenPassagier nicht befördern zu wollen oder ihm die Beförde-rung zu versagen, verhalten? – Danke für diesen Anstoß.Ich sage ausdrücklich: Das ist doch völlig in Ordnung. Ichweiß nicht, wie weit die Kolleginnen und Kollegen mit derFormulierung sind, vielleicht bekommen wir das noch hin.– Aber Sie können nicht erwarten und am Ende immer denbeleidigten Maxe spielen, wenn wir beispielsweise bei ei-ner ganz anderen Frage – –

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Was soll denndas?

– Doch, das sage ich einfach mal so.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Das ist eineFrechheit!)

– Ja, aber das kommt mir so vor. Dann sind Sie eben nichtbeleidigt, dann sind Sie enttäuscht.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Das ist eineFrechheit, das ist so gemeint!)

– Also, ich nehme das zurück, ich entschuldige mich in al-ler Form: Sie sind enttäuscht.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Nein, brauchenSie nicht! Sie haben es doch nicht so gemeint, HerrBoddenberg!)

Herr Schäfer-Gümbel, Sie können nicht, wenn wir bei ei-ner wichtigen Frage wie beispielsweise der weiteren Ent-wicklung des Frankfurter Flughafens hochkomplexe undintensive Gespräche mit allen Beteiligten führen, am Endesagen: Nur weil wir nicht dabei sein durften, ist das jetztdoof, und ich bin eingeschnappt. – Ich will ausdrücklichsagen: Das ist aus meiner Sicht kein Verständnis von Par-laments-, Parteien- und Fraktionsdemokratie, wie wir sieim Hessischen Landtag pflegen. Wir gehen aufeinander zu.In einer wichtigen Angelegenheit, was die Frage des Asyl-paketes anbelangt, haben wir vieles gemeinsam gemacht.Aber hin und wieder, oder in der Regel, regieren wir auchmit dieser Mehrheit in diesem Land.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich komme dannzu dem – –

(Holger Bellino (CDU): Ja, genau!)

– Holger Bellino schaut etwas skeptisch. Ich kann das nurdarauf beziehen, dass es etwas später wird – vielleicht auchmorgen.

(Günter Rudolph (SPD): Dann wird das Hähnchen jakalt!)

– Das sollten wir jetzt miteinander aushalten. – Ich kommeeinmal zu dem, was in den letzten Tagen passiert ist. HerrKollege Schäfer-Gümbel, auch da sage ich ausdrücklich:Sie haben ansatzweise mehrere Botschaften verlautbarenlassen. Deswegen habe ich eingangs gefragt: Was wollenSie denn eigentlich?

Jüngst werden Sie zitiert mit dem Satz: Eine große Koaliti-on ist im Moment nicht denkbar oder möglich. So in etwahaben Sie es wohl formuliert. Es könnte ja sein, dass Siezumindest sagen: Im Moment nicht, aber vielleicht kom-men ja Entwicklungen, dass es dann doch möglich ist. AmMontag haben Sie unmittelbar nach dem Ende der Ver-handlungen von Jamaika einen 100 % apodiktischen Be-schluss gefasst: Wir machen nicht mit. – Das war eine ganzandere Entscheidung.

Heute sagen Sie hier, Stichwort: Minderheitsregierung, esgäbe auch noch eine weitere Variante. Ich finde, der Minis-terpräsident hat völlig zu Recht dazu gesagt, dass ein Landmitten in Europa, mitten in der Europäischen Union – dasgrößte, volkswirtschaftlich gesehen, aber, wie ich finde,auch politisch durchaus gewichtige Land BundesrepublikDeutschland mit mittlerweile zunehmend globalen Verant-wortlichkeiten –, ohne eine klare Haltung nicht regiert wer-den kann. Das versteht sich doch von selbst. Ich bin nochgar nicht bei der Innenpolitik, ich bin bei der Außenpolitik.

(Beifall bei der CDU)

Wir reden bei der Außenpolitik über die Frage: Wie gehtes in den Flüchtlingslagern weiter? Ich will einmal in Erin-nerung rufen: Eine der zentralen, katastrophalen Entwick-lungen in der Weltpolitik war im Januar 2015 die Halbie-rung der Mittel für Flüchtlinge in Flüchtlingslagern im Li-banon und in angrenzenden Ländern von 27 auf 14 € proMonat. – Meine sehr geehrten Damen und Herren, wollenwir demnächst stunden-, tage- oder wochenlang im Deut-schen Bundestag darüber verhandeln, wie wir bei solchenNotwendigkeiten sehr schnell zu Entscheidungen kom-men? Ich nenne ganz bewusst diese Entscheidung: Das wareine Entscheidung in wenigen Tagen, die an uns vorbeige-laufen ist. Wollen wir da nicht in der Sekunde reagierenkönnen? Ich könnte Ihnen ganz andere, viel größere undweiter gehende Fragen stellen – nicht das, was dasMenschliche anbelangt. Was dort passiert ist, ist dasSchlimmste, was ich in den letzten zwei, drei Jahren erlebthabe.

Wie gehen wir mit den Vereinigten Staaten um? Ja, es sinddie Abkommen angesprochen worden, auch das Abkom-men mit Kanada. Aber wie verhält sich die BundesrepublikDeutschland zu dem, was Herr Trump dort weltweit an-richtet? Wir müssen auch Herrn Macron eine Antwort ge-ben, das haben Sie gesagt. In dem Zusammenhang habenSie auch gesagt: Europa muss endlich eine gemeinsameHaltung haben. – Wie soll Europa in wesentlichen undwichtigen Fragen vorankommen, beispielsweise bezüglichder Grundsatzfrage: Wie geht es mit der EuropäischenUnion weiter? Bleibt es bei einer föderalen Struktur, wiewir sie jetzt haben? Bleibt sie ein Staatenbund? Oder wirdsie irgendwann ein Bundesstaat?

Das sind Fragen, die auch heute in ersten Ansätzen disku-tiert werden müssen und vielleicht schon lange diskutiertwerden. Aber wir müssen da sukzessive zu Entscheidun-gen kommen. Wie wollen Sie denn erwarten, dass sich dieEuropäische Union außen-, verteidigungs- und flüchtlings-politisch zusammenrauft, wenn wir Deutsche es noch nicht

8512 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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einmal hinbekommen, eine einheitliche, mit einer Stimmesprechende Politik der Bundesrepublik Deutschland zu ha-ben?

Das geht nicht mit einer Minderheitsregierung. Aus meinerSicht geht es nicht, dass man schaut: Wer ist denn jetzt ge-rade einmal dabei, oder wer zieht sich ansonsten zurück?In einer Minderheitsregierung könnten das dann die einzel-nen Fraktionen alle so handhaben, außer derjenigen, diedie Federführung hat. Wo ziehen wir uns zurück undschauen zu und verteilen Noten? – Was gewinnen wir dennmit einer Minderheitsregierung? Zeit? Für wie lange? Fürzwei Monate, für vier Monate, für sechs Monate? WissenSie das? – Ich weiß es nicht. Ich glaube nur, dass wir aufdem Weg zu einer Neuwahl, die dann eben etwas später,aber doch kommt, unglaublich viel Frustration, Enttäu-schung und Verwirrung der deutschen Gesellschaft, derdeutschen Wählerinnen und Wähler hätten und sonst nichtsgewonnen hätten.

(Beifall bei der CDU und des Abg. Daniel May(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Lieber Holger Bellino, ich will zum Schluss kommen.Mein Appell von heute Morgen war, dass wir alle nocheinmal darüber nachdenken. Ich empfehle die Lektüre desAutors Altenbockum der „FAZ“, der sich genau mit derFrage beschäftigt: Wozu sind eigentlich Wahlen da? Wassagt unsere Verfassung zu unserem heutigen Zustand? Wiewollen wir den Menschen erklären, dass man jetzt – fürden Fall einer Neuwahl – eine Bundeskanzlerin oder einenBundeskanzler wählt, um am Ende mit dieser Wahl eigent-lich die Absicht zu verbinden, dass die- oder derjenigedann gleich wieder die Vertrauensfrage stellt und abge-wählt wird?

Wie sollen wir das erklären? – Ja, es ist die Ultima Ratio.Aber bis dahin haben wir alle die Verantwortung – ichwiederhole es –, tief, intensiv und kompromissbereit nach-zudenken, ob es nicht doch den Weg der Verständigung,zumindest zu weiteren Gesprächen gibt.

Ein Allerletztes will ich nicht weglassen. Sie haben dieseWoche gesagt: Frau Merkel macht das nur aus Gründendes Machterhalts. – Den Vorwurf finde ich schon einiger-maßen – ich sage es ganz bewusst – unerträglich. Die Bun-deskanzlerin hat – ich habe es heute Morgen gesagt – ge-meinsam mit Volker Bouffier und vielen anderen Beteilig-ten von vier Parteien versucht, etwas hinzubekommen.

Man konnte sich nicht so ganz des Eindrucks erwehren,dass manche versucht haben, mit dem Scheitern von Ja-maika das Scheitern der Bundeskanzlerin zu verbinden.Das ist ihr gutes Recht. Ob es in Ordnung ist, dass ausge-rechnet die Seite, die das Risiko des Scheiterns gar nichterst eingehen wollte, diesen Vorwurf formuliert, das über-lasse ich dem Publikum.

Herr Rudolph, eine allerletzte Frage müssen Sie aber nochbeantworten, auch wenn das für Sie langweilig sein mag.Das ist mir aber egal. Sie müssen noch eine weitere Fragebeantworten: Was passiert eigentlich nach einer möglichenNeuwahl? Was ist denn dann die Aussage der SPD? Mitwem wollen Sie dann regieren? Was sagen Sie denn IhrenWählerinnen und Wählern vor einem möglichen weiterenWahlgang? – Es kann sein, dass wir deine Stimme, mit derdu eigentlich beabsichtigst, dafür zu sorgen, dass die SPDregiert, auch nutzen und dann mitregieren.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Das Problem ha-ben noch andere!)

Wenn uns das Ergebnis aber nicht gefällt, dann lassen wirdas. Auch wenn du Wähler das anders wolltest, hast du unsmit deiner Stimme in die Oppositionsrolle gezwungen.

(Zurufe von der SPD)

Was sagen Sie Ihren Wählerinnen und Wählern? Ich wün-sche gute Verrichtung bei der Ansage an das Publikum beieinem eventuellen weiteren Wahlgang. Ich hoffe, dass Siegemeinsam mit uns noch einmal über alternative Wegenachdenken. – Herzlichen Dank fürs Zuhören, meine sehrgeehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU)

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Vielen Dank, Herr Kollege Boddenberg. – Ich nutze dieGelegenheit und begrüße auf der Besuchertribüne den Bot-schafter der Republik Rumänien, S. E. Herrn Dr. h.c. EmilHurezeanu.

(Beifall)

Herzlich willkommen. Wir freuen uns, dass Sie dem Hessi-schen Landtag einen Besuch abstatten. Vielen Dank.

Als Nächster spricht für die Fraktion der Freien Demokra-ten der Fraktionsvorsitzende René Rock.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Schade, dass derKollege Boddenberg nichts zur Vertragstreue gesagthat!)

René Rock (FDP):

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Herr Mi-nisterpräsident, ich finde den Ton, den Sie angeschlagenhaben, auch gegenüber uns, verbindlich und angenehm. Siehaben hier zu Recht ausgeführt, dass Sie es respektieren,wenn ein Verhandlungspartner entscheidet, dass es für eineRegierungsbildung nicht reicht, und die Gespräche für be-endet erklärt. Herr Ministerpräsident, Sie können abernicht Folgendes machen in einer verbindlichen und freund-lichen Art, wie es die GRÜNEN in Berlin in einer anderenTonlage machen, was ein Nachtreten ist. Sie können sichdoch nicht hierhin stellen und sagen: Wir waren eigentlichdurch mit den Verhandlungen. Es hat alles geklappt. Inso-fern verstehen wir nicht, warum Sie weggelaufen sind.

(Zuruf des Abg. Holger Bellino (CDU))

Dann müssten Sie nämlich hier auch sagen, wie Sie denFamiliennachzug mit den GRÜNEN geregelt haben. Siemüssen hier dann einmal ganz genau sagen, über welchesStöckchen die GRÜNEN gesprungen sind. Sie waren dochdabei. An welcher Stelle haben sie denn nachgegeben?

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Wenn Sie hier so auftreten und damit im Endeffekt versu-chen, uns in eine Ecke zu stellen, wie es andere sehr vielunfreundlicher machen, dann müssen Sie auch ganz genauerklären, was verhandelt worden ist. Was ich von unserenParteigremien erfahren habe, war genau nicht das, was Siehier vorgetragen haben. Darum ist das, was Sie hier ge-macht haben, für uns ebenso nicht zu akzeptieren wie das,was die GRÜNEN in Berlin machen. Bleiben Sie bei derWahrheit.

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8513

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(Beifall bei der FDP)

Die Wahrheit muss man hier aber auch konkret vortragen.Ich will das noch einmal deutlich machen. Ich bin bei Ih-nen. Wir müssen daran arbeiten, dass wir kompromissbe-reit und regierungsbereit sind. Vielleicht stellt sich in weni-gen Monaten in Hessen eine ähnliche Frage. Das ist uns al-len hier im Parlament doch klar. Deshalb müssen wir allesunterlassen, was Gräben zieht. Nun zwingen Sie uns aber,deutlich zu machen, dass es ganz anders war. Sie zwingenChristian Lindner und die Freien Demokraten in Berlin im-mer wieder, aus diesen vertraulichen Gesprächen zu zitie-ren, weil Sie uns in eine Ecke stellen. Hören Sie doch aufdamit.

(Beifall bei der FDP)

Bleiben Sie beim ersten Teil Ihrer Aussage. Es macht Siesympathisch, wenn Sie sagen, dass Sie das Ergebnis re-spektieren. Lassen Sie aber bitte den zweiten Teil weg;denn ansonsten zwingen Sie uns, Gräben auszuheben. Wirmüssen uns dann rechtfertigen und deutlich sagen, wie esaus unserer Sicht war. Das ist nicht zielführend, Herr Mi-nisterpräsident.

(Beifall bei der FDP)

Ich gehe aber davon aus, dass Sie das Ziel haben, das Sievorhin vorgetragen haben.

Herr Ministerpräsident, in Ihrer Rede ist für alle, für jedenBürger, der hier oben sitzt, sichtbar geworden, dass wir miteiner anderen Grundhaltung in diese Gespräche gegangensind. Ich will Ihnen das verdeutlichen. Sie haben hervorge-hoben, man müsse doch kompromissfähig sein, man müssedoch politisch beweglich sein, man müsse doch eine Lö-sung und einen Ausgleich finden.

Der Kompromiss darf aber kein Selbstzweck sein. DerKompromiss muss doch einem Zweck, einem Ziel dienen,einer gemeinsamen Idee, einem Bild, das man vonDeutschland hat, wohin man Deutschland entwickeln will.Nichts von dem ist in diesen Jamaikagesprächen deutlichgeworden. Kein Bild von Deutschland, das diese Parteienhätten gemeinsam vorantreiben können. Dann ist ein Kom-promiss Selbstzweck, Machterhalt und Pöstchenverteilerei.Das haben wir halt nicht mitgemacht.

(Beifall bei der FDP)

Lieber Ministerpräsident Bouffier, wir möchten nach ei-nem intensiven Wahlkampf, in dem die Ideen gegeneinan-dergestellt worden sind, nach einer Kompromisslinie su-chen, wie wir Hessen weiterentwickeln können. Dasbraucht jedoch eine Idee. Das braucht ein Bild.

Wir sind fest davon überzeugt, dass die Gerechtigkeitsfra-ge des 21. Jahrhunderts die Bildungsfrage ist. Wir sind festdavon überzeugt, dass die Teilhabe an Bildung und die da-mit verbundenen Aufstiegschancen eine ganz zentrale Fra-ge sind, der wir uns stellen müssen. Insbesondere wirLandtage sind dafür verantwortlich. Das sind Bilder undIdeen, die für uns wichtig sind. Wer gemeinsam mit unsein Ziel erreichen will, muss sich diesen Fragen stellen undeine Idee gemeinsam mit uns vorantreiben wollen. Das istmein Hinweis für die nächste Zeit.

Lieber Volker Bouffier, an einer Stelle haben Sie michheute wirklich erschüttert. Ich bin wirklich erschüttert vonIhrem Bild einer parlamentarischen Demokratie.

(Beifall bei der FDP – Holger Bellino (CDU): Achdu lieber Gott!)

Wie kann man als ein Vertreter einer Landesregierung einParlament auf diese Art und Weise respektlos darstellen?Als wären wir nicht in der Lage, unseren verfassungsmäßi-gen Verpflichtungen nachzukommen.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Als wären wir darauf angewiesen, dass Sie uns die Gesetzeaufschreiben, und als wären wir nur noch in der Lage, dieHand zu heben. Der Deutsche Bundestag ist gewählt unddamit beauftragt worden, Gesetze zu machen. Der Hessi-sche Landtag stellt Ihnen – ebenso wie der Deutsche Bun-destag der Bundesregierung – ein Budget zur Verfügung.Der Hessische Landtag gibt Ihnen Geldmittel, im Rahmenderer Sie als Regierung handeln können. Natürlich könnenSie mit diesen Mitteln die tagespolitischen Probleme lösen.Wie stellen Sie denn unsere Demokratie dar?

Das bestärkt mich in meiner festen Überzeugung, dass wirauch darüber reden müssen, wie wir uns als Parlamentselbst verstehen und wie unser Verhältnis zur Regierungist.

(Holger Bellino (CDU): Wie ist denn Ihr Verhältniszur Verantwortung für Deutschland?)

Mir ist heute noch einmal deutlich geworden, wie wichtigunsere Forderung ist. Zwei Legislaturperioden sind in ei-nem so wichtigen und machtvollen Amt genug, weil manansonsten offenbar das Verhältnis zwischen Regierung undParlament nicht mehr so begreift, wie ich es begreife, HerrBouffier. Vielleicht habe ich es auch falsch verstanden.Das glaube ich aber nicht.

Dieser Hessische Landtag ist von den hessischen Bürgerin-nen und Bürgern gewählt worden und hat verfassungsmä-ßige Aufgaben. Sie sind von diesem Hessischen Landtagzum Ministerpräsidenten gewählt worden. Dieser Hessi-sche Landtag gibt Ihnen ein Budget. Er gibt Ihnen denRückhalt und die Gesetze, auf deren Grundlage Sie diesesLand im Sinne dieses Landtags und damit im Sinne diesesVolkes regieren. Vergessen Sie das bitte nicht. Bitte be-handeln Sie diesen Hessischen Landtag mit mehr Respekt.– Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Das Wort hat Herr Ministerpräsident Bouffier.

Volker Bouffier, Ministerpräsident:

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren!Lieber Kollege Rock, die Kollegen sind in Sorge, dass dieTagesordnung jetzt völlig durcheinandergerät.

(Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn (FDP): Das ist sie schon!)

Aber ich habe mir das aufgeschrieben. Sie haben gesagt:„Bleiben Sie bei der Wahrheit.“

Ich will gleich das Ergebnis vorwegnehmen: Ich habe denEindruck, Sie haben das vielleicht missverstanden. Ich sa-ge das gleich, damit wir da nicht unnötig auseinandergera-ten.

(Holger Bellino (CDU): Sehr diplomatisch formu-liert!)

8514 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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Sie haben ausgeführt: „was mir berichtet wurde“. – DerUnterschied zwischen mir und Ihnen ist der: Ich war dabei.Ich brauche keinen, der mir etwas berichtet.

Die Frage, die Sie eben aufgeworfen haben – was warendie vier Partner bereit bei der Frage des Familiennachzugsbei den subsidiär Geschützten zu machen? –, habe ich ver-handelt. Und verhandeln kann man nur, wenn man Ver-trauen hat, Vertrauen von allen vier.

Sie sind lange genug in der politischen Arena, um zu wis-sen, dass dann, wenn vier Parteien um eine solche Frageringen, die für alle eine große Bedeutung hat, man demVerhandlungsführer sagt: Ich könnte mir vorstellen, viel-leicht da; wir können die anderen einmal fragen, ob diemitgehen würden. – Denn man möchte ja auch nicht, dassman dann vielleicht eine Position preisgibt, die man niemehr wieder einholt – insbesondere nach diesen katastro-phalen Erfahrungen, dass man ständig erleben musste, dasseiner, der vielleicht ein Angebot machte im vertrauten Be-reich, anschließend lesen konnte, was auf dpa wieder ir-gendjemand getwittert hat, um sich wichtig zu machen.

Ich habe eine andere Aufgabenwahrnehmung. Genau dashabe ich nicht gemacht. Deshalb muss ich mich sehr deut-lich äußern. Selbstverständlich habe ich diesem Haus dieWahrheit vorgetragen.

Ich mache Ihnen ein Angebot. Ich werde Ihnen nicht be-richten, was ich mit den Einzelnen besprochen habe. Ichhabe verschiedenste Entwürfe von jeder Gruppe schriftlich,und ich werde die nicht veröffentlichen. Aber ich biete Ih-nen an: Fragen Sie einmal Ihren BundesparteivorsitzendenChristian Lindner, ob es richtig ist, dass wir am Sonntag-abend irgendwann – ich weiß nicht genau, 20 Uhr, 21 Uhr– ein langes Vier-Augen-Gespräch geführt haben und ervon mir persönlich einen Vorschlag bekommen hat, wieman das lösen kann. Fragen Sie ihn.

Genau so war es. Ich schätze Herrn Lindner, und ich bin si-cher, wenn Sie ihn fragen, ob es dieses Gespräch und die-sen Umstand gegeben hat, wird er es nicht bestreiten.

Deshalb, meine Damen und Herren, bei allem Spaß amDiskutieren und auch den Verlockungen – wir gehen jaauch auf Wahlen zu –, jeder muss noch einmal sehen, wieer seine Position beschreibt, und es könnte ja sein – mitVerlaub, ich rede immer und werbe für die absolute Mehr-heit der CDU –, es klappt nicht. Das könnte bei der FDPauch passieren

(Zuruf von der FDP)

oder bei der SPD oder den GRÜNEN. Das könnte passie-ren. Also muss man sich klar sein: Man sieht sich im Le-ben immer zweimal.

Die zweite Bemerkung, lieber Herr Kollege Rock: meinRespekt vor diesem Haus und mein Verständnis. – Ich warlänger Oppositionsabgeordneter als die meisten hier. Ichweiß, wie das ist in der Opposition.

(Michael Boddenberg (CDU): Ja, Mist!)

Ich habe nun lange die Freude, Regierungsverantwortungzu tragen. Aber ich will da keinen Zweifel lassen. Viel-leicht müssen wir es gelegentlich deutlicher machen. Ichhabe mich zu bedanken gehabt bei der Fraktion der FreienDemokraten, bei meiner eigenen Fraktion, dass sie michzum Ministerpräsident gewählt hatten,

(Zuruf des Abg. René Rock (FDP))

auch Sie in Person. Ich habe mich sehr dafür bedankt. Unddas konnten Sie nur, wenn Sie mir vertrauen.

Ich hatte nie einen Zweifel, dass dieses Vertrauen zwi-schen uns – auch wechselweise; auch wenn wir teilweiseunterschiedliche politische Ansichten haben – in dieserGrundfrage, wie Parlament und Regierung miteinanderumgehen, nie gestört war.

Selbstverständlich habe ich größten Respekt auch vor demDeutschen Bundestag. Was ich gesagt habe, ist, dass ichmir nicht vorstellen kann, dass man aufgrund der Situation– das haben ja einige beschrieben – mit einer Minderheits-regierung bei bestem Willen aller Fraktionen, der Mitglie-der aller Fraktionen, überhaupt arbeitsfähig, geschweigedenn, funktionsfähig sein kann.

Wir hier im Hause haben die Regel – um ein Beispiel zunehmen –, dass wir während der Plenarsitzungen keineAusschusssitzungen haben, dass wir während der Plenarsit-zungen auch wirklich keine Ausschussreisen machen, dasswir während der Plenarsitzungen keine Untersuchungsaus-schüsse machen, dass wir während der Plenarsitzungenkeine Sondersitzungen machen. Im Deutschen Bundestagfinden diese permanent und ununterbrochen statt – nebenallen Besuchergruppen. Es sind 700 Abgeordnete, die Tau-sende von Vorschriften im Jahr – klug oder unklug – amEnde zu entscheiden haben.

Sich bei einem solchen Parlamentsbetrieb vorzustellen – dahabe ich noch nicht davon gesprochen, dass ein Großteilder Regierung ununterbrochen unterwegs ist; meist inBrüssel oder irgendwo auf der Welt –, man könne ernsthaf-te Fragen in einen Konsens bringen, da fehlt mir jede Fan-tasie.

Deshalb – verstehen Sie es bitte so –: Ich habe den Ein-druck, dass es vielleicht ein Missverständnis war.

Im Übrigen – das können wir jetzt auch einmal abräu-men –: Ich habe gelesen, dass Sie mit dem Kollegen Schä-fer-Gümbel viel lieber Kaffee trinken.

(Holger Bellino (CDU): Ja! – Zuruf des Abg. RenéRock (FDP))

Mit so etwas im Leben muss man ja leben. Aber ich ladeSie herzlich ein. Vielleicht ist es dann wenigstens so, dassman auf eine Ebene kommt, und wenn Sie mögen, gibt esauch Tee. – Herzlichen Dank.

(Heiterkeit bei der CDU und der FDP – Beifall beider CDU und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Vielen Dank, Herr Ministerpräsident. – Damit sind denFraktionen jeweils weitere sechs Minuten Redezeit zuge-wachsen. Als Nächste spricht Kollegin Öztürk, die dadurchjetzt zehn Minuten Redezeit hat. Bitte sehr.

(Unruhe)

Mürvet Öztürk (fraktionslos):

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich habe michgemeldet, weil ich im Rahmen der Rede von Herrn Minis-terpräsidenten Bouffier das Gefühl hatte, als er über die Si-tuation in Hessen gesprochen hat und auch jetzt versuchthat zu analysieren, warum wir in der Situation sind, in der

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8515

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wir gegenwärtig im Bund sind – ich möchte es ganz vor-sichtig ausdrücken –, dass er ein wenig nahe daran ist, Ge-schichtsklitterung zu betreiben. Und ich finde, das darfman so nicht stehen lassen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Situation in Hessen damals war nicht so, dass das Landin einem Stillstand war oder in einer ganz schwierigenPhase war, sondern es war in einer Phase, wo erstmals dasParlament, die gewählten Abgeordneten sehr viel Macht,sehr viel Selbstbewusstsein und sehr viel Mitbestimmungs-recht hatten, meine Damen und Herren. Das ist im Grundeauch das, was wir uns in der parlamentarischen Demokra-tie vorstellen. Wir wollen nicht, dass in der parlamentari-schen Demokratie Regierungsfähigkeit mit Steigbügelhal-tung verwechselt wird, was die Regierung manchmalmacht.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir wollen nicht, dass, wenn hier ein Parlament gewähltist und Entscheidungen trifft, eine Regierung kommt, dienur geschäftsführend im Amt ist und sagt: Ihr könnt be-schließen, was ihr wollt, wir werden die Entscheidungennicht umsetzen.

Das ist genau das, was Sie, Herr Bouffier, damals als In-nenminister gemacht haben und was auch Herr RolandKoch gemacht hat, indem er bei der Abschaffung der Stu-diengebühren bei einem kleinen Fehler, den es im Datumgab – nämlich die Umsetzung des Gesetzes –, nicht daraufaufmerksam gemacht hat, dass deswegen dieses Gesetznicht beschlossen worden ist. Das hätte ja die Regierungeinmal als Dienstleistung zur Verfügung stellen können.Aber nein, Mehrheit ist Wahrheit, und Macht bestimmtüber alles – auch über das Parlament. Das ist Ihre Haltungbei der CDU, meine Damen und Herren.

Zur Bundesebene. Ich verstehe das nicht, warum man jetztden Deutschen Bundestag so klein macht, warum mannicht akzeptieren kann, dass ein Deutscher Bundestag mitgewählten Abgeordneten, mit einem Apparat durchaus inder Lage sein muss, eine Minderheitsregierung zu betrei-ben. Ich verstehe auch nicht den Druck, der jetzt auf dieSPD aufgebaut wird. Denn wenn Sie diesen Druck konse-quent durchrechnen, müsste die SPD eigentlich kommenund sagen – ja, von mir aus –: Wir möchten in eine GroßeKoalition gehen

(Zuruf des Abg. Holger Bellino (CDU))

ohne Angela Merkel. – Ihre Kanzlerin sitzt auf demSchleudersitz. Es ist auch der Herr Seehofer, der auf demSchleudersitz sitzt. Dass Sie in dieser Situation anfangen,das Parlament kleinzureden, die parlamentarische Demo-kratie kleinzureden, das ist unerträglich, meine Damen undHerren.

(Widerspruch des Abg. Holger Bellino (CDU))

Von daher frage ich: Warum kann nicht die Stunde desParlaments einfach wieder schlagen, und warum könnennicht Abgeordnete bei einer Minderheitsregierung Be-schlüsse fassen, wie sie sie fassen wollen? Denn in derKonsequenz heißt es ja, die Krise, in der wir heute stecken,die Krise, dass in einem Parlament nicht mehr die Parteienabsolute Mehrheiten haben, hat auch etwas mit der Art undWeise zu tun, wie die CDU in den letzten zwölf Jahren re-giert hat.

(Zuruf von der CDU: Hä?)

Sie waren seit 2005 an der Regierung, an der Macht. Siehaben in diesen ganzen Zeiten jeweils peu à peu Ihren Re-gierungspartner zerschlissen. Erst war es die SPD – in derersten Phase nicht –, in der zweiten Phase die FDP undjetzt auch wieder die SPD. Wahrscheinlich wird das Glei-che auch den GRÜNEN hier in Hessen blühen, meine Da-men und Herren. Von daher bitte ich darum: Die Stundedes Parlaments hat jetzt geschlagen. Man sollte eine Min-derheitsregierung probieren und nicht so tun, als wärenAbgeordnete des Bundestages nicht in der Lage, eine Re-gierung zu unterstützen.

Was die Geschichtsklitterung mit Blick auf die LINKENbetrifft: Die LINKEN regieren in Thüringen, die LINKENregieren in Brandenburg, die LINKEN haben in Berlin re-giert, und die LINKEN wären in der Lage gewesen, einerot-grüne Regierung in Hessen zu unterstützen. Von daher:Wenn Sie als CDU nicht in der Lage sind, Mehrheiten zuorganisieren, immer wieder Parlamente zum Steigbügel-halten drängen, Abgeordnete missbrauchen und meinerMeinung nach die parlamentarische Demokratie missach-ten, dann ist das Ihr Problem, meine Damen und Herrenvon der CDU-Fraktion. Sie können gerne das Feld räumen,es gerne anderen überlassen; aber hören Sie auf, hier so zutun, als ob Deutschland im Rahmen seiner demokratischenOrdnung nicht von einer Minderheitsregierung regiert wer-den könnte. Herr Ministerpräsident, von daher brauchenSie keine Geschichtsklitterung zu betreiben. Das möchteich Ihnen gerne als Appell mitgeben.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Vielen Dank, Frau Kollegin Öztürk. – Als Nächster sprichtder Fraktionsvorsitzende von BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN, Herr Kollege Wagner. Herr Wagner, Sie haben 29Minuten Redezeit.

Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Bei 29 MinutenRedezeit werde ich ein bisschen kürzen müssen.

(Heiterkeit bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

– Keine Sorge. – Weil es mir bei meiner ersten Rede indieser Debatte ausdrücklich nicht um Schuldzuweisungenging, sondern um eine Beschreibung der Situation, in derunsere Demokratie ist, will ich zum Anfang der jetzigenRede Folgendes sagen. Es wurde darauf hingewiesen:BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist 2013 auch nicht in dieBundesregierung eingetreten.

(Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn (FDP): Ja!)

Das ist zutreffend. Inhaltlich würde ich heute sagen: Daswar ein Fehler. Es ist aber auch richtig, dass sich meinePartei 2013 darauf verlassen hat, dass nicht die Situationeintritt, dass eine Mehrheit der Parteien nicht regieren will.Herr Kollege Schäfer-Gümbel, wenn Sie so wollen, habenwir uns damals darauf verlassen, dass die SPD in diestaatspolitische Verantwortung gehen würde, und wir sindnicht in die staatspolitische Verantwortung gegangen. Ichfinde, es gehört zu einer fairen Debatte, das zu sagen.

Deshalb habe ich auch nicht über Schuld gesprochen. Ichhabe beschrieben, dass wir jetzt die Situation haben, dass

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eine Mehrheit aus Parteien im Deutschen Bundestag keineRegierungsverantwortung übernehmen will. Ich habe dasdeshalb gesagt, weil ich glaube, dass das kein guter Zu-stand für unsere Demokratie ist und dass wir uns alle fra-gen müssen: Wie sind wir in diesen Zustand gekommen?Was haben wir für ein gesellschaftliches Klima, für einepolitische Debattenkultur, dass die Mehrheit der politi-schen Parteien zu der Überzeugung kommt, es sei besser,nicht zu regieren, nicht in Verantwortung zu gehen, als eszu tun?

Das ist der Kern der Debatte, um die es aus meiner Sichtheute geht. Es geht nicht um die einzelne Aufrechnung inbestimmten Politikfeldern. Dazu werden wir in diesemLandtag hinreichend Gelegenheit haben. So es zu Neuwah-len kommt, werden wir hinreichend Gelegenheit haben,uns darüber auszutauschen, was wir in jedem Detailfeldder Politik und auch in den großen politischen Fragen fürrichtig und für falsch halten.

Heute geht es aber um etwas viel Elementareres. Es gehtdarum, zu fragen: Was hält diese Gesellschaft zusammen?Ist es möglich, in einer Gesellschaft, die immer vielfältigerwird, die immer pluraler wird, Koalitionen zu schließen?Unter welchen Bedingungen ist es möglich, Koalitionen zuschließen? Oder ist es so, dass wir das nicht hinkriegen?Was passiert, wenn wir das nicht hinkriegen? Welchen po-litischen Kräften leisten wir denn dann Vorschub? Darumgeht es in der Debatte. Deshalb hätte ich mir gewünscht,dass sich manche Rednerin, mancher Redner das tagespoli-tische Klein-Klein gespart hätte. Darum geht es im Mo-ment nämlich nicht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei Abgeordneten der CDU)

Hilft es in der aktuellen politischen Situation, in der wirsind, weiter, wenn wir uns gegenseitig in eine Polarisie-rung hineinreden, wenn wir den Eindruck erwecken, es seikeine Kompromissbildung mehr möglich, wenn wir trotzder Situation, die wir in Berlin haben, weiterhin so tun, alskönne man nicht zusammenfinden? Hilft es weiter, wennwir uns gegenseitig mit dem Vorwurf überziehen, man seiein Umfaller, wenn man sich auf Kompromisse einlässt?Hilft es weiter, wenn wir politische Debatten so gestalten,dass wir, die wir Politik machen, uns gegenseitig in Auf-rechte und in Umfaller einteilen, oder wäre es nicht an derZeit, wieder über Inhalte statt über solche platten Etikettenzu reden? Das ist die Debatte, um die es im Moment geht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU)

Hilft es – liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, bevorSie aufschreien: ich meine nur sehr bedingt Sie und auchnicht Sie allein, Sie werden gleich merken, über wen ichrede –, wenn wir Politik immer stärker als One-Man- oderals One-Woman-Show organisieren? Hilft es weiter, wennwir der Gesellschaft gegenüber den Eindruck erwecken,die eine oder der einer werde es schon richten? Hilft esweiter, wenn wir den Eindruck erwecken, all das, was wiran Parteistrukturen haben, was wir an innerparteilicher De-mokratie haben, was wir an manchmal mühseligen inner-parteilichen Debatten haben, brauche es eigentlich garnicht, sondern es gebe eine Person, die alles machen kann?

Ich habe nicht primär über die FDP gesprochen. Ich habeüber ein Phänomen gesprochen, das es in allen Parteien inDeutschland gibt. Vor allem habe ich aber über die Ent-wicklung in Österreich gesprochen. Soll die Zukunft unse-

rer Demokratie so aussehen, dass sich jemand als derjenigeinszeniert, der die Dinge richtet, der so tut, als habe er mitseiner Partei nichts mehr zu tun? Oder ist das nicht imKern die Entwicklung hin zu einem Zustand, der mit de-mokratischer Willensbildung nicht mehr so wahnsinnigviel zu tun hat?

Sosehr ich Emmanuel Macron für seine europäischen Im-pulse bewundere und sie ausdrücklich für richtig halte: Istdas, was wir in Frankreich erlebt haben – dass aus demNichts eine politische Bewegung entsteht, die ihre Kandi-datinnen und Kandidaten mehr wie in einer Castingshowals in einem innerparteilichen Willensbildungsprozess be-ruft –, die Vorstellung von der Demokratie, in der wir inunserem Land leben wollen? Ich glaube, das ist sie aus-drücklich nicht. Deshalb sind alle Kräfte gefordert, die die-se Entwicklung stoppen und die für Kompromissfähigkeitund gegen Polarisierung in unserem Land arbeiten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU)

Ich denke, es ist an der Zeit, wieder weniger über Etikettenund stärker über das zu reden, worum es in der Politikgeht, nämlich um den Wettstreit der besten Ideen. Aber esgeht nicht nur darum, die richtigen Ideen zu postulieren. Esgeht nicht nur darum, sich zufrieden zurückzulehnen, dassman das Richtige gesagt hat, sondern man muss auch be-reit sein, für das, was man als richtig erkannt hat, in dieVerantwortung zu gehen, und das, was man für sich alsrichtig erkannt hat, durch Übernahme der Regierungsver-antwortung Wirklichkeit werden zu lassen. Man muss alldie Widersprüche, die Probleme, die ganze Mühsal, all das,was man nicht erreicht, die Enttäuschung aushalten kön-nen, wenn man real etwas verändern will.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU – Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIELINKE))

Frau Kollegin Wissler, da bin ich genau bei Ihnen. Werimmer nur erzählt, wie die perfekte Welt angeblich auszu-sehen hat, wer alle, die sich auf den Weg machen, die Weltetwas besser zu machen, immer nur verächtlich macht, im-mer nur lächerlich macht, alle anderen immer für doof er-klärt, der muss sich fragen lassen, wie ernst er es mit sei-nen angeblich hohen Zielen eigentlich meint, Frau Wissler.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU – Manfred Pentz (CDU): Genau so ist dieLinkspartei! Frau Wissler, genau so seid ihr! – Ge-genruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE): Ihrmacht die Welt noch perfekter!)

DIE LINKE hat ihre Pressemitteilung zu dieser Debattemit „Mut zum Politikwechsel statt fauler Kompromisse“überschrieben.

(Beifall der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

– Jetzt klatschen Sie zu Ihrer eigenen Pressemitteilung.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Wenn Sie etwasRichtiges sagen, klatsche ich!)

– Frau Wissler, das ist das Niveau, auf dem Sie die Debatteführen. Wir reden aber gerade über etwas anderes.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU)

Wo ist denn der Mut der LINKEN zum Politikwechsel?

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8517

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(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wo ist denn der Mut der LINKEN, wenn es konkret wird?Wo war denn der Mut der LINKEN nach der Bundestags-wahl, zu sagen: „Für das, wofür wir streiten,“ – ich findevieles davon ausdrücklich richtig – „sind wir auch bereit,in eine Regierung zu gehen, sind wir bereit, zu verhan-deln“?

(Janine Wissler (DIE LINKE): Das haben wir immergesagt!)

Wo war denn Ihr Mut, um etwas von Ihrem Programm zuerreichen und zu akzeptieren, dass auch andere Parteien ihrProgramm verwirklichen wollen, sodass Sie nicht immeralles bekommen, was Sie wollen? Was ist daran mutig, im-mer nur Parteitagsreden zu halten, sich immer nur unterden eigenen Leuten, in den eigenen Gewissheiten zu bewe-gen, ohne sich gesellschaftlichen Realitäten und tatsächli-chen Veränderungen in unserer Gesellschaft zu stellen?

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU – Janine Wissler (DIE LINKE): Was istdenn gerade dein Thema, Mathias?)

Frau Kollegin Wissler, wo ist denn Ihr Mut, wenn Sie überMehrheiten reden? Wo war denn 2008 und 2013 Ihr Mutim Hessischen Landtag?

(Lachen bei der LINKEN – Janine Wissler (DIELINKE): Rot-Rot-Grün hatte doch gar keine Mehr-heit! Soll das ein Witz sein?)

– Nein, das ist überhaupt kein Witz. Wo war denn 2008 IhrMut? – Sie haben 2008 erklärt, Sie seien nicht bereit, in ei-ne Regierung zu gehen.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Das ist doch jetztwirklich Unsinn!)

Wo war denn Ihr Mut, Verantwortung zu übernehmen? Dieganze Geschichte ist dann an etwas anderem gescheitert,aber wir halten fest: Sie hatten nicht den Mut, Verantwor-tung zu übernehmen.

(Marjana Schott (DIE LINKE): Wer hat denn hiergekniffen? Das waren doch Sie!)

Wo war denn 2013 Ihr Mut – ich glaube, da bin ich mir mitden Kolleginnen und Kollegen der Sozialdemokratie ei-nig –, als wir in Hessen über die Regierungsbildung ver-handelt haben? Wo war denn damals Ihr Mut, in die Regie-rungsverantwortung zu gehen? Immer, wenn wir in diesenSondierungen gefragt haben: „Ist DIE LINKE bereit, Ver-antwortung zu übernehmen, steht sie auch dann noch zu ei-ner Vereinbarung, wenn die Sonne einmal nicht scheint,wenn es einmal regnet, wenn die Steuereinnahmen zurück-gehen und die Haushaltslage schwierig ist, gemeinsam indie Verantwortung zu gehen?“, dann haben Sie gesagt:„Nein, dazu sind wir nicht bereit“. Von solchen Kräftenbrauchen wir keine, aber auch gar keine Ratschläge, wennwir uns auf den Weg machen, dieses Land immer einbisschen besser und gerechter zu machen. Wenn Sie sichso verhalten, dann brauchen wir von Ihnen überhaupt keineRatschläge.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU – Manfred Pentz (CDU): Das haben wirimmer gewusst!)

Allen anderen immer nur zu erklären, dass sie doof seien,ist genau das Falsche, liebe Kollegin Wissler. Ja, die klas-sischen politischen Lager haben in unserem Land keine

Mehrheit mehr. Das kann man beklagen, das kann manrichtig oder falsch finden, aber das ist so. Was ist darausjetzt die Konsequenz? Reden wir uns weiter in die Polari-sierung? Sagen wir weiterhin, damit sich niemand bewe-gen muss, damit alle in ihren alten Gewissheiten verblei-ben können: „Es bewegt sich niemand; wir gehen keineKompromisse ein; wir polarisieren diese Gesellschaft wei-terhin; wir gehen wie in Amerika in eine Spaltung“? Oderist es nicht an der Zeit, tatsächlich zu schauen, wie man zu-sammenkommen kann, wie politische Parteien zusammen-kommen können, die sich das bislang noch nicht vorge-stellt haben? Wollen wir der Polarisierung das Wort redenoder dem Zusammenhalt der Gesellschaft? Das ist derKern der Debatte. Darum geht es, meine Damen und Her-ren. – Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU)

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Vielen Dank, Herr Kollege Wagner. – Als Nächste hat sichnoch einmal Frau Abg. Wissler für die Fraktion DIE LIN-KE zu Wort gemeldet. Sie haben noch 19 Minuten.

Janine Wissler (DIE LINKE):

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich wollte michnicht mehr zu Wort melden; ich werde die 19 Minutenauch nicht ausschöpfen. Aber das kann man so nicht stehenlassen, was Herr Wagner gerade gesagt hat. Ich muss sa-gen: Ich bin aufgrund Ihres Beitrags echt etwas fassungs-los, weil Sie sich größtenteils in Ihrem Redebeitrag ausge-rechnet an der LINKEN abgearbeitet haben. Also, bitte, ichhabe das Gefühl, Sie wollen hier wirklich übertünchen,welche Situation Sie hier haben, und von Ihren Problemenablenken.

(Beifall bei der LINKEN)

Uns zum Problem zu machen, ist doch geradezu absurd.Ich habe nicht mitbekommen, dass die GRÜNEN einenWahlkampf gemacht hätten, wo sie gesagt hätten: Rot-Rot-Grün, das ist unser Projekt. Wir wollen eine Mitte-Links-Regierung. – Das habe ich nicht ein einziges Mal mitbe-kommen.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Reden Sie doch einmal über sich!)

– Gern rede ich über uns. – Wir haben im Wahlkampf ge-sagt

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Reden Sie einmal über sich selbst!)

– darf ich? –, dass wir bereit sind, Regierungsverantwor-tung zu übernehmen, wenn die Inhalte stimmen. Das habenwir immer und an jeder Stelle gesagt.

(Angela Dorn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Unddann kam Schulz und hat Nein gesagt!)

– Und dann kam Herr Schulz und sagte Nein. Frau Dorn,dafür bin ich aber nicht verantwortlich.

(Widerspruch bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN)

Dass Herr Schulz Nein sagt, können Sie mir nicht vorwer-fen. Ich bin nicht die Pressesprecherin der SPD. Das kön-

8518 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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nen Sie gern mit der SPD diskutieren, aber Herr Wagnerhat sich ja an meiner Partei abgearbeitet. Mir ist nicht be-kannt, dass die GRÜNEN einen Wahlkampf gemacht hät-ten, wo sie gesagt haben: Wir würden gern mit den LIN-KEN und der SPD; wir könnten uns das vorstellen. – Ichhabe mitbekommen, dass die ziemlich viel in Richtung derCDU geblickt und die ganze Zeit von Schwarz-Grün gere-det haben.

(Angela Dorn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wirhaben nichts ausgeschlossen, Frau Kollegin!)

– Wie gesagt, wir haben es auch nicht ausgeschlossen. –Im letzten Bundestag gab es ja eine rot-rot-grüne Mehrheit,aber mir ist nicht bekannt, dass es damals seitens der SPDund GRÜNEN Angebote an DIE LINKE gegeben hätte,dass man sich einmal zusammensetzt und die Mehrheitnutzt.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Sie haben den Mechanismus, dass dieanderen immer etwas bringen müssen!)

An einer Stelle haben wir die Mehrheit genutzt, das warbei der Ehe für alle. Das ist ein wichtiger Punkt. Herr Wag-ner, daher finde ich es auch nicht in Ordnung, uns vorzu-werfen, wir wollten nichts verändern. Wann immer wir dieMöglichkeit hatten, parlamentarisch so abzustimmen, dasses Veränderungen bringt, haben wir die genutzt – übrigensauch im Hessischen Landtag. Wir haben im HessischenLandtag Anträgen und Gesetzentwürfen von Schwarz-Grün zugestimmt, wenn sie Verbesserungen für die Men-schen im Land bedeutet haben, weil für uns entscheidendist, was in einem Antrag steht, und nicht, wer ihn einbringt.Wenn Sie auch so verfahren würden, hätten wir bessereBeschlüsse.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn man aber eine Verweigerungshaltung hat, dann sagtman: Alles, was von der Opposition kommt, lehnen wir ab.– Nicht einmal damals, als SPD, FDP und LINKE zusam-men gefordert haben, dass sich der Landtag für die Freilas-sung von Deniz Yücel einsetzen muss, konnten Sie überIhren Schatten springen und dem zustimmen. Sie finden esinhaltlich richtig, aber Sie können nicht zustimmen.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Sie reden immer über die anderen! Mer-ken Sie den Mechanismus?)

– Nein, ich rede davon, dass, wenn wir Inhalte einbringen,weil wir etwas verändern wollen, Sie dies ablehnen, ob-wohl Sie inhaltlich zustimmen. Das ist natürlich eineSchwierigkeit, wo man anderen nicht vorwerfen kann, siewollten nichts verändern.

Warum ich jetzt aber überhaupt nicht weiß, warum Sie die-se Debatte führen, ist: Wir haben im neuen DeutschenBundestag keine Mehrheit von SPD, GRÜNEN und LIN-KEN. Deswegen ist mir gar nicht klar, warum Sie sich anuns abarbeiten; der Schlüssel zur Lösung dieser Situationliegt nicht bei der LINKEN. Es gibt keine rechnerischeMöglichkeit. Was mich wirklich ärgert, und das kann sonicht stehen bleiben, weil es einfach die Unwahrheit ist –das wissen Sie –, ist: Der LINKEN vorzuwerfen, wir hät-ten uns 2008 verweigert, entbehrt wirklich jeglicherGrundlage, Herr Wagner.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Sie wollten nicht in eine Regierung ein-treten!)

– Nein, das war damals eine andere Situation. – Sie wissenganz genau, dass im Vorfeld Dinge ausgeschlossen wordenwaren und man versucht hat, einen Weg zu finden, damitman es trotzdem hinbekommen sollte, Roland Koch abzu-wählen.

(Norbert Schmitt (SPD): Da haben Sie recht!)

Weil im Vorfeld Dinge kategorisch ausgeschlossen waren,sind wir den Weg einer Tolerierung gegangen. Sie und ichwaren dabei, als wir stundenlang zusammensaßen. HerrWagner, wir hatten eine Tolerierungsvereinbarung verhan-delt. Diese hatten wir unseren Mitgliedern zur Urabstim-mung vorgelegt. Unsere Mitglieder hatten mit ganz großerMehrheit entschieden, dass wir das wollen. Das ist der ob-jektive Ablauf. Dieser Tolerierungsvereinbarung haben Siedoch auch zugestimmt. Sie hatten einen Koalitionsvertragmit SPD und GRÜNEN geschlossen; wir hatten eine Tole-rierungsvereinbarung gemacht. Wir befanden uns einenTag vor der Wahl des Ministerpräsidenten; und, Herr Wag-ner, das ist nicht an uns gescheitert.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Das habe ich auch nicht gesagt!)

– Sie haben wörtlich gesagt, DIE LINKE hätte sich 2008verweigert. Das halte ich für eine bodenlose Frechheit,weil es einfach nicht stimmt.

(Beifall bei der LINKEN)

Das ist einfach nicht wahr, und jeder, der sich in diesemLand ein bisschen mit Politik auskennt, weiß, dass das sonicht stimmt. Sie wissen, dass das so nicht stimmt.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Na ja! – Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn (FDP):Da gibt es sogar ein Buch dazu!)

– Das kann man in diversen Büchern nachlesen.

Noch einmal dazu, dass wir nichts verändern wollten. Wirhaben 2008 im Landtag viele Dinge beschlossen. Wir ha-ben Gesetzentwürfe gemacht; wir haben eine ganze Mengegetan. Ich bin politisch aktiv geworden, weil ich etwas ver-ändern will, und nicht, weil ich irgendwelche parteipoliti-schen Spielchen machen will. Ich finde, anderen Leutenabzusprechen, dass sie etwas verändern wollen, kann manmachen, klar, aber das müssen Sie dann mit sich klären. Indiesem Falle bleiben Sie aber bitte einfach bei der Wahr-heit.

Im Jahr 2013 war es so – Sie werden sich daran erinnern –,dass wir 20 Stunden lang sondiert haben. Damals gab esgroße Differenzen zwischen SPD und GRÜNEN. Auchgab es damals Differenzen zwischen GRÜNEN und LIN-KEN auf der einen und der SPD auf der anderen Seite so-wie zwischen SPD und GRÜNEN auf der einen und unsauf der anderen Seite. Wir haben 20 Stunden lang sondiert;und danach hatten wir ein Ergebnis. Wir hatten festgehal-ten, was wir gemeinsam hatten, das war, fand ich, eineganze Menge, und wir hatten Differenzen festgehalten.

Die Differenzen bestanden insbesondere in der Frage, obes Stellenabbau geben soll und wie man die Schulden-bremse umsetzt. Wir waren bereit, auf dieser Grundlageweiter zu verhandeln. Das Problem war, dass die GRÜ-

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NEN entschieden haben, dass die Differenzen zur LIN-KEN offensichtlich weniger gut zu überbrücken sind.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Das stimmt doch gar nicht! Merken Siedas eigentlich gar nicht? Schuld sind immer die an-deren!)

– Nicht wir sind gerade in einer Koalition mit der CDU,sondern die GRÜNEN, von daher ist doch klar, wer eineEntscheidung getroffen hat.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Schuld sind immer die anderen!)

Wir haben damals gesagt, dass wir bereit sind, das zu ma-chen. Es gab einen Vorrat an Gemeinsamkeiten. Am Endeist es nicht zum Tragen gekommen.

Herr Wagner, bei aller politischen Auseinandersetzung, soetwas hier zu behaupten, das finde ich ein starkes Stück.2008 hätte sich DIE LINKE verweigert, und 2013 hätte esan uns gelegen, das ist doch einfach nicht die Wahrheit,das wissen Sie doch auch.

Ich verstehe, dass das für die GRÜNEN ein harter Vormit-tag ist, erst die Debatte um die Wilhelm-Leuschner-Me-daille und dann diese Debatte. Ich verstehe, dass es für Sienach Ihrem hessischen Landesparteitag, bei dem die Basisgegen den Vorstand entschieden hat, schwierig ist. Sie ha-ben jetzt einen Bundesparteitag vor sich. Ich verstehe, dasses schwierig ist.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Wieder sind es die anderen!)

Das ist aber kein Grund, sich an den LINKEN abzuarbei-ten und uns Dinge zu unterstellen, die überhaupt keineGrundlage haben, weil sie schlicht unwahr sind, Herr Wag-ner.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Vielen Dank. – Als Nächster hat sich Herr Abg. Merz fürdie Fraktion der Sozialdemokraten zu Wort gemeldet. Siehaben 15 Minuten Redezeit.

Gerhard Merz (SPD):

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich habe michnach dem Beitrag des Kollegen Wagner doch noch einmalaufgefordert gefühlt, ein paar Dinge zu sagen. Dabei willich zwei Dinge vorweg sagen.

Erstens. Die Sozialdemokratische Partei hat in der Ge-schichte der Bundesrepublik Deutschland viermal eineGroße Koalition mitgetragen. Die SozialdemokratischePartei hat in der Weimarer Republik die letzte demokrati-sche Regierung angeführt, das war eine Regierung derGroßen Koalition. Danach ist in der Weimarer Republik imWesentlichen mit Notverordnungen und unter Ausschal-tung der Parlamente regiert worden. Die Sozialdemokrati-sche Partei hat historisch von überhaupt niemandem Beleh-rungen darüber anzunehmen, was ihre Verantwortung ge-genüber dem Land angeht.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Das habe ich auch nicht gemacht!)

– Das habe ich vorweg gesagt: to whom it may concern. –Ich sage das auch gegenüber Vertretern von Medien, dieseit Tagen nichts anderes kennen als „keine Parteien“, nurnoch Deutsche, und meinen, die SPD solle unter allen Be-dingungen und unter Zurückstellung aller Bedenken eineGroße Koalition eingehen.

Zweitens. Es ist jetzt mehrfach von Österreich die Redegewesen. Ich will einmal sagen, Österreich ist auch einBeispiel dafür, dass nach einer Großen Koalition nicht un-bedingt etwas Besseres kommen muss.

(Beifall bei der SPD)

Österreich ist auch ein Beispiel dafür, dass es keinerGroßen Koalition bedarf, damit Parteien ununterscheidbarwerden. Österreich ist ein Beispiel dafür, was geschieht,wenn eine christdemokratische Partei sich einer rechtspo-pulistischen Partei – damit drücke ich mich jetzt sehr zu-rückhaltend aus – wie der FPÖ anbiedert und sich ihr andie Brust wirft. – So viel vorab dazu.

(Zuruf des Abg. Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn (FDP))

Herr Kollege Wagner, jetzt zu Ihnen, weil Sie wieder undwieder das Hohelied des Kompromisses gesungen haben –leider nur des Kompromisses, den Sie gerade einzugehenfür richtig halten. Ich habe nicht vergessen und ich werdeauch nicht vergessen, dass von der Fraktion DIE GRÜNENin den letzten vier Jahren der Großen Koalition jeder, aberauch jeder Kompromiss, den die sozialdemokratische Par-tei in dieser Großen Koalition eingegangen ist, in diesemLandtag öffentlich denunziert wurde, aus Ihren Reihen undvon diesem Pult aus, unter jeweiliger Aussparung des An-teils, den Ihr CDU-Koalitionspartner und unser Koalitions-partner in Berlin gerade hatte. Wer dies vier Jahre lang mitHingabe und offensichtlich denunziatorischer Absicht be-trieben hat, hat keinerlei Berechtigung mehr, hier anderenvorzuhalten, dass sie Kompromisse denunzieren. Dannmuss man vor der eigenen Haustür kehren.

(Lebhafter Beifall bei der SPD)

Es waren für uns schmerzhafte Kompromisse und auchziemlich viele gute, von denen ich mir wünschte, meinePartei würde mit etwas mehr Verve vertreten, was wir inder Großen Koalition erreicht haben. Wenn Sie aber dannden Schmerzensmann machen, wenn man einen Kompro-miss eingehen muss, und sich als Vertreter des Gemein-wohls hinstellen, der unter Zurückstellung der eigenen In-teressen handelt, ist das völlig unglaubwürdig. Es gibt einanderes Wort dafür, für das bin ich aber schon einmal ge-rügt worden, das will ich hier nicht wiederholen.

(Beifall bei der SPD – Mathias Wagner (Taunus)(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Merz, Sie ma-chen es wieder! Man ist nur glaubwürdig, wenn manetwas daraus lernt!)

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Meine Damen und Herren, mir liegen keine Wortmeldun-gen mehr vor. Damit ist auch diese Aktuelle Stunde abge-halten.

(Anhaltende Unruhe)

– Darf ich um Aufmerksamkeit bitten? – Vielen Dank.

8520 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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Wir kommen dann zu Tagesordnungspunkt 68:

Antrag der Fraktion der FDP betreffend eine AktuelleStunde (Wettbewerbsfähigkeit des IndustriestandortsHessen leidet unter Schwarz-Grün – Standortschlie-ßung bei Siemens leider kein Einzelfall) – Drucks. 19/5431 –

(Anhaltende Unruhe)

Diese Aktuelle Stunde wird aufgerufen zusammen mit Ta-gesordnungspunkt 69:

Antrag der Fraktion DIE LINKE betreffend eine Aktu-elle Stunde (Massenentlassung trotz Milliardengewinn:Solidarität mit den Beschäftigten bei Siemens in Offen-bach und an den anderen Standorten) – Drucks. 19/5432 –

Das Wort hat zunächst der Abg. Lenders für die Fraktionder Freien Demokraten. Bitte schön. – Ich sage noch dazu:Redezeit 7,5 Minuten, weil wir die beiden Aktuellen Stun-den zusammen aufrufen.

Jürgen Lenders (FDP):

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es ist sicherlichschwierig für das gesamte Plenum, jetzt wieder zur Sach-politik zurückzukehren. Ich glaube aber, dass es richtigund notwendig ist. Nach den Meldungen, die uns erreichthaben, dass der Siemens-Konzern in erheblichem Umfang,nicht nur in Hessen, sondern in ganz Deutschland, Stellenabbauen will, müssen wir uns mit der Frage beschäftigen,welche Rolle die Industrie in Deutschland spielt.

Ich kann mich gut an Zeiten erinnern, in denen man gesagthat, die Industrie habe ausgedient, man solle sich mehrdem Dienstleistungssektor zuwenden. Meine Damen undHerren, was das bedeutet, haben wir in England gesehen.England hat sozusagen keine Industrie mehr, auf jeden Fallnicht mehr in nennenswertem Umfang. Dort hat man ziem-lich konzentriert auf Dienstleistungen gesetzt und irgend-wann einmal feststellen müssen, gerade in der Finanz-marktkrise, dass das ein Land ziemlich nah an den Randdes Abgrunds bringen kann.

Meine Damen und Herren, Industrie bedeutet echte Wert-schöpfung und vor allen Dingen Arbeitsplätze. Es warendie industriellen Kerne, die uns in Hessen, aber auch inDeutschland aus der besagten Finanzmarktkrise herausge-hoben haben und Deutschland so gut dastehen lassen, wieDeutschland heute dasteht.

(Beifall bei der FDP)

Es gibt eine Studie der Industrie- und Handelskammer zumNetzwerk der Industrie in Frankfurt, die zu dem Schlusskommt, dass rund die Hälfte aller Arbeitsplätze in der Re-gion der Industrie- und Handelskammer in der Industrie zusuchen ist. Das zeigt sich auch in anderen Industrieländern.

Hessen erlebt derzeit eine beispiellose Welle der Dein-dustrialisierung. Das Wella-Werk in Hünfeld: 400 Ar-beitsplätze weg. Mundipharma in Limburg: Ende der Pro-duktion, 600 Jobs weg. Sanofi im Industriepark Höchst:600 Jobs weg. Spezialguss in Wetzlar: in der Insolvenz,140 Arbeitsplätze weg. Carl Zeiss in Wetzlar: 220 Stellenweg. Bosch Rexroth: 150 Arbeitsplätze weg. SchließungRodenstock: 140 Arbeitsplätze weg. Abwicklung des Au-

tozulieferers Johnson Controls: 700 Beschäftigte betroffen.Autozulieferer Continental in Karben: 160 Jobs weg.

Und jetzt zuletzt die Hiobsbotschaft zu Siemens, StandortOffenbach: 700 hoch qualifizierte Arbeitsplätze aus demIngenieur- und Entwicklungsbereich sind bedroht.

Wenn wir dann die Meldung „Noch ein Opfer der Energie-wende“ dazu lesen – das war die Überschrift der „FAZ“zur geplanten Schließung von Siemens –, muss man sagen,dass eine ideologisch getriebene Energiewende am Ende –was die Kanzlerin einmal als „Dekarbonisierung der Indus-trie“ ausgegeben hat – eben nicht zu diesem Wirtschafts-wunder führt, das uns so viele gerne glauben machen wol-len, vielmehr kostet das massiv Arbeitsplätze, auch in Hes-sen. Das gehört zur Ehrlichkeit dazu.

(Beifall bei der FDP – Zuruf des Abg. Stephan Grü-ger (SPD))

Wir reden uns teilweise wirklich besoffen, wenn es darumgeht, was die erneuerbaren Energien alles an Chancen bie-ten. Meine Damen und Herren, wer da von den Chancenredet, muss eben auch klar sagen, dass es angestammteWirtschaftsbereiche sind, die darunter zu leiden haben, unddass es Entscheidungen von Konzernen sind, die dann har-te Einschnitte eben auch bei den Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmern zur Folge haben.

(Beifall bei der FDP – Zuruf des Abg. Stephan Grü-ger (SPD))

Was ich Ihnen eben vorgelesen habe ist am Ende auch eineBilanz eines hessischen Wirtschaftsministers – Herr Al-Wazir, das ist Ihre Bilanz, und diese Bilanz ist nicht gut.

Ich will ausdrücklich sagen: Als es in den Koalitionsver-handlungen um den Ausstieg aus der Kohleindustrie ging,hat es einen Masterplan für einen Ausstieg aus der Subven-tion für die Steinkohle gegeben. Es waren Tausende vonArbeitsplätzen im Revier, die von Kohle und Stahl abhän-gig sind. Es hat einen jahrzehntelangen Prozess gebraucht,um diesen Strukturwandel zu ermöglichen. Ich kann michgut daran erinnern: Es war die FDP, es waren die FreienDemokraten, die gesagt haben: „Wir steigen aus dieserSteinkohlesubvention aus“. Dabei haben wir aber geliefert,eben auch diesen Strukturwandel, dass sich eine Industrie,ein ganzes Revier umstellen kann. Was die GRÜNEN aberin den Verhandlungen wollten, war das Abschalten derKohleindustrie von heute auf morgen – damit wären eben-falls Tausende von Arbeitsplätzen verloren gegangen. Dasist unverantwortlich.

(Beifall bei der FDP)

Aber zum Thema „Unverantwortung“. Bei all den Fragen –man kann es politisch diskutieren, dass solche Strukturpro-zesse begleitet werden müssen – zu dem, was der Siemens-Konzern an dieser Stelle tut – nämlich über 3.000 Ar-beitsplätze infrage zu stellen, davon 700 Arbeitsplätze inOffenbach –, ist der Siemens-Konzern ein Konzern mitMilliardengewinnen. Dass dieser Konzern, der so viel Ei-genkapital hat, dass er sich vom Fleck weg selbst kaufenkönnte, am Ende eine Bank mit einem angeschlossenenElektrogroßhandel ist, der so viele Perspektiven hat, keinePerspektive für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf-zeigt, sondern einfach in den Strukturwandel reingeht undsagt: „Das wars, wir bauen ab“ – das versteht selbst einFreier Demokrat nicht mehr.

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8521

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(Beifall der Abg. Nancy Faeser und WolfgangDecker (SPD) – Janine Wissler (DIE LINKE): Daswill etwas heißen!)

Wir rufen dazu auf, dass die Leitung dieses Konzerns Per-spektiven und Strukturwandel begleitet und seine Mitarbei-terinnen und Mitarbeiter vertrauensvoll mitnimmt und ih-nen eine Perspektive bietet. – Vielen Dank für Ihre Auf-merksamkeit.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Vielen Dank, Herr Kollege Lenders. – Als Nächste sprichtFrau Kollegin Wissler für die Fraktion DIE LINKE.

Janine Wissler (DIE LINKE):

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wir haben dieseAktuelle Stunde beantragt, weil es nicht sein darf, dass einKonzern wie Siemens Milliardengewinne macht undgleichzeitig massiv Stellen abbauen will.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten derSPD)

Ich freue mich, dass Vertreter des Betriebsrates von Sie-mens in Offenbach heute hier im Landtag auf der Besu-chertribüne zu Gast sind. Herzlich willkommen und solida-rische Grüße an die Kolleginnen und Kollegen in Offen-bach, die um ihre Arbeitsplätze kämpfen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordnetender SPD und des Abg. Jürgen Lenders (FDP))

Solidarische Grüße auch nach Berlin, wo gerade TausendeSiemens-Beschäftigte aus dem ganzen Bundesgebiet fürden Erhalt ihrer Arbeitsplätze demonstrieren – auch vonhier herzliche Grüße dorthin.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten derSPD)

Die Firma Siemens hat angekündigt, 7.000 Stellen abzu-bauen, davon mehr als 3.000 in Deutschland. MehrereStandorte werden komplett infrage gestellt. Davon sindnicht nur diese Tausenden Menschen und ihre Familien be-troffen, sondern zusätzlich auch noch Leiharbeiterinnenund Leiharbeiter sowie Zulieferbetriebe. Ganze Regionenwie z. B. um Görlitz bangen um einen ihren größten Ar-beitgeber.

Auch der hessische Standort Offenbach, wo Gaskraftwerkegeplant und vertrieben werden, soll mit den StandortenWien und Erlangen zusammengelegt werden – und zwar inFranken. 847 Beschäftigte und deren Familien sind alleinein Offenbach betroffen. Deshalb muss sich auch der Hessi-sche Landtag damit befassen, wenn ein solch massiverStellenabbau droht.

Warum aber tut man diesen Menschen das an? Nein, liebeFDP, die Energiewende ist nicht das Problem von Sie-mens.

(Beifall bei der LINKEN und des Abg. Stephan Grü-ger (SPD))

Der Konzern stellt Windkraftanlagen und viele andere Pro-dukte in diesem Bereich her. Und für die Gefährdung desStandortes Offenbach ist die Energiewende schon mal garnicht verantwortlich, weil dort fast nur für den außereuro-

päischen Markt geplant wird. Es stimmt also einfach nicht,was Sie erzählen, Herr Lenders.

Ja, die Unternehmensführung von Siemens hat aber jahre-lang den Anschluss an das 21. Jahrhundert und den gesell-schaftlichen Wandel gerade im Umwelt-, Industrie- undEnergiesektor verschlafen. Es kann doch nicht sein, dassunternehmerische Versäumnisse zulasten der Beschäftigtengehen, während die Vorstände Millionengehälter beziehen.

(Beifall bei der LINKEN und des Abg. Gerald Kum-mer (SPD))

Dass die Nachfrage nach Teilen für Großkraftwerke sinkt,war länger absehbar. Das finden wir im Sinne der Dezen-tralisierung der Energieerzeugung auch richtig. Aber Sie-mens müsste für einen Standort mit Hunderten Ingenieu-ren, Vertrieblern und anderen erfahrenen Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern doch eine sinnvolle andere Verwendunghaben und darf sie nicht auf die Straße setzen.

(Beifall bei der LINKEN)

Stattdessen amputiert Siemens-Chef Joe Kaeser jetzt zumwiederholten Mal seinen Konzern durch Kürzungen undStellenabbau. Regelmäßig wird der Fachkräftemangel be-klagt, und dann will man hoch qualifizierte Beschäftigteentlassen – und das ohne jede finanzielle Not.

Erst in der Woche vor dieser Ankündigung hat Siemensseine Geschäftszahlen vorgelegt: Es wurde mitgeteilt, dassdas Unternehmen Umsatz und Gewinn erneut erheblich ge-steigert hat, nämlich um 11 %, und das nun nutzt, um mehrDividende an seine Aktionäre auszuschütten. Der Gewinnbeträgt nun über 6 Milliarden € im Jahr. Gleichzeitig wirdmit der Existenz Tausender Beschäftigter gespielt, um dieAktionäre zufriedenzustellen und Geschäftsberichte auf-zuhübschen, indem die Rendite weiter nach oben getriebenwird. Das ist gut für die Bonuszahlungen der Vorstände,aber gesellschaftlich ein Skandal, was Siemens hier tut.

Auch das Werk in Offenbach leidet nicht, schon gar nichtunter der Energiewende. Es ist ausgelastet und schreibtkeine roten Zahlen – ganz im Gegenteil, dort werden riesi-ge Projekte abgewickelt, und die Mitarbeiter leisten alleinein Offenbach über 4.000 Überstunden pro Jahr. Trotzdemwurde den Beschäftigten erklärt, dass man in Offenbachnach jetzigem Planungsstand die Mitarbeiterzahl null an-strebt, also den ganzen Standort schließen will.

Das ist eine Katastrophe für Offenbach, nachdem schon soviele Industriebetriebe wegfielen. Und es ist eine Katastro-phe für die Beschäftigten; denn die dürfen dann höchstensnoch an einen anderen Standort wechseln – und der nächs-te Siemens-Standort ist in Erlangen, mehr als zwei Stundenentfernt. Für Teilzeitkräfte, Menschen mit kleinen Kindern,Menschen mit Behinderungen, aber auch für viele andereist das einfach keine Option, sie stehen dann vor demNichts. Das ist absolut inakzeptabel.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten derSPD)

Der Grundsatz aus dem Grundgesetz „Eigentum verpflich-tet“ ist auf die Beschäftigten und das gesellschaftliche Ge-meinwohl anzuwenden. Es kann doch nicht sein, dass sichSiemens seine Großprojekte überall in der Welt durch Her-mes-Bürgschaften der Bundesregierung absichern lässt, derStaat also die Gewinne sichern darf, man selbst aber nichtbereit ist, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen.

8522 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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Die treuen Beschäftigten waren in den Krisenjahren vonSiemens diejenigen, die den Laden am Laufen hielten,während der Vorstand sich mit einem der größten Korrup-tions- und Schmiergeldskandale der deutschen Wirtschafts-geschichte beschäftigte.

Dann wird den Beschäftigten das Ganze auch noch per Vi-deobotschaft mitgeteilt. Den Beschäftigten wurde per Vi-deobotschaft mitgeteilt, dass man seit einem Jahr an die-sem Kahlschlagkonzept arbeitet, ohne dass der Betriebsratüberhaupt eingebunden wurde.

Die Beschäftigten bei Siemens in Deutschland arbeitenlänger und verdienen weniger. Dafür wurde ihnen Sicher-heit versprochen, und jetzt sollen sie die Leidtragendensein, obwohl der Laden brummt. Deswegen sagen wir: Be-stehende verbindliche Vereinbarungen mit dem Gesamtbe-triebsrat, die betriebsbedingte Kündigungen ausschließen,wie das Radolfzell-II-Abkommen müssen eingehalten wer-den.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten derSPD)

Ich appelliere an die Landesregierung, sich an die Seite derBeschäftigten zu stellen und sich für den Erhalt der Ar-beitsplätze in Offenbach einzusetzen. Wir dürfen nicht zu-lassen, dass die Beschäftigten dort gegen ihre Kolleginnenund Kollegen in Wien oder in Erlangen ausgespielt wer-den.

Ja, wir brauchen Industriearbeitsplätze in Hessen; denn dieWertschöpfung findet eben nicht an der Börse statt, son-dern wird erarbeitet von Menschen in den Betrieben.

Wir fordern Siemens auf, Verantwortung gegenüber denMitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu übernehmen; aberauch gegenüber den Regionen, in denen der Konzern seitJahrzehnten aktiv ist.

Wir stehen solidarisch an der Seite der Beschäftigten inOffenbach und an allen anderen Siemens-Standorten, diezu Recht auf die Straße gehen, die gerade um ihre Ar-beitsplätze kämpfen, und wir wünschen ihnen viel Erfolg.– Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN und der SPD)

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Vielen Dank, Frau Wissler. – Als Nächster spricht HerrKollege Decker für die Fraktion der Sozialdemokraten.Bitte sehr, Sie haben das Wort.

Wolfgang Decker (SPD):

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wieder einmalversucht ein international tätiger Konzern, unternehmeri-sche Versäumnisse zu korrigieren, indem er die Beschäf-tigten die Zeche zahlen lassen will. Hier dürfen wir nichteinfach zur Tagesordnung übergehen. Wir reden von 7.000Stellen, allein in Offenbach von 700 Stellen. Dagegenmuss entschieden vorgegangen werden.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Ich begrüße für die SPD-Fraktion sehr herzlich auf der Tri-büne die Vertreter des Betriebsrats aus Offenbach. SeienSie gewiss, dass wir alles daransetzen werden, um Ihnen zuhelfen, den Kampf um die Arbeitsplätze dort fortzuführen.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Meine Damen und Herren, dass die konventionellen Groß-kraftwerke, wie Siemens sie baut, beim globalen Umstiegauf die erneuerbaren Energien nicht mehr in gewohntemUmfang gebraucht werden, ist keine wirkliche Überra-schung mehr. Das hat sich bereits seit vielen Jahren abge-zeichnet. Dass das Management von Siemens offensicht-lich nicht imstande ist, angemessen darauf zu reagieren,das kann einen nur wundern. Es muss einen sogar erschüt-tern, dass ein solcher weltweit agierender Betrieb nicht inder Lage ist, hier für Alternativen zu sorgen.

(Beifall bei der SPD)

Das Unternehmen hat wertvolle Zeit verstreichen lassen.Sehenden Auges hat es die Zeit verstreichen lassen undwill jetzt mit einem radikalen Personalabbau antworten,um die Bilanz und die Dividende der Aktionäre aufzubes-sern. Auch das spricht Bände.

(Beifall bei der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, dabei übersiehtdas Management von Siemens ganz offensichtlich, dass einKonzern dieser Größe nicht nur der Kapitalseite verpflich-tet ist, sondern auch seinen Beschäftigten und deren Fami-lien. Wenn man ins Grundgesetz schaut, sieht man, dassdort etwas von „Eigentum und Kapital verpflichten“ steht.Dem ist nichts hinzuzufügen.

(Beifall bei der SPD)

Die hoch qualifizierten Fachleute, die am Standort Offen-bach hervorragende Arbeit leisten, werden so zu einer na-menlosen Manövriermasse degradiert, und das kann esnicht sein. Es geht um wertvolle Arbeitsplätze, um Men-schen, die teilweise seit Jahrzehnten dort hervorragendeArbeit leisten. Sie einfach auf die Art und Weise regelrechtkaltzustellen, das kann man in diesem Hause nicht durch-gehen lassen.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Janine Wissler(DIE LINKE))

Deswegen will ich im Namen unseres Fraktionsvorsitzen-den Thorsten Schäfer-Gümbel, aber auch im Namen dergesamten Fraktion sagen, dass wir uns ausdrücklich mitden Siemens-Beschäftigten, mit dem Betriebsrat und denGewerkschaften, die gegen diesen billigen Versuch der Bi-lanzoptimierung Widerstand leisten, solidarisieren.

(Beifall bei der SPD)

Auch wenn der Konzern im weltweiten Wettbewerb steht,dürfen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von der Unter-nehmensführung sicherlich intelligentere Lösungen erwar-ten als nur einen personellen Kahlschlag. Die SPD steht ander Seite der Beschäftigten von Siemens und ist bereit, alleBeteiligten bei einer Suche nach einem intelligenten Aus-gleich der Interessen zu unterstützen, und zwar ganz imSinne der Siemensianerinnen und Siemensianer, ganz imSinne der Stadt Offenbach und ganz im Sinne des Indus-triestandorts Hessen.

Wir appellieren ebenfalls an die Landesregierung: Tun Siealles, was in Ihren Möglichkeiten steht, damit dieser Stand-ort mit seinen 700 Beschäftigten erhalten bleibt. – Ich dan-ke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der LIN-KEN)

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8523

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Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Vielen Dank, Herr Kollege Decker. – Als Nächster sprichtHerr Kollege Kasseckert für die Fraktion der CDU. Bittesehr, Sie haben das Wort.

Heiko Kasseckert (CDU):

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! „Für au-genblicklichen Gewinn verkaufe ich die Zukunft nicht“,das ist ein Zitat von Werner von Siemens, zugegebenerma-ßen am Ende des 19. Jahrhunderts, aber am Beginn einerErfolgsgeschichte der heutigen Siemens AG, die weltweitetwa 370.000 Beschäftigte zählt.

Es wäre gut – das will ich vorwegschicken; deshalb solida-risieren wir uns ähnlich wie die Vorredner selbstverständ-lich mit den Beschäftigten der Siemens AG am StandortOffenbach, aber auch an anderen Standorten in der Bun-desrepublik –, wenn sich auch die heutigen Vorstände derSiemens AG an diese Verantwortung, an diese Unterneh-mensphilosophie von Werner von Siemens erinnern wür-den.

(Beifall bei der CDU, der SPD, dem BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Natürlich ist es richtig, dass sich die Welt seit dem Zitatvon Werner von Siemens verändert hat. Die Globalisierunghat uns mit allen Kontinenten näher zusammengebracht,aber natürlich auch den Wettbewerb aus diesen Kontinen-ten nach Europa, nach Deutschland gebracht. 24 Stunden/sieben Tage können wir unsere Waren und die Dienstleis-tungen rund um den Globus vermarkten. Wir stehen damitnatürlich auch im Wettbewerb mit anderen Volkswirt-schaften, mit anderen Kulturen, auch mit Arbeitsbedingun-gen in anderen Volkswirtschaften. Dazu zählen natürlichLohn- und Arbeitsplatzkosten, die bekanntermaßen amStandort Deutschland relativ hoch sind.

Aber auch das muss man sagen: Die Unternehmenskulturund das Koordinatensystem für den Erfolg in den Großun-ternehmen haben sich verändert. Das, was Werner von Sie-mens seinerzeit als Unternehmensphilosophie für sich aus-gemacht hat und auch später in den Regeln der sozialenMarktwirtschaft von Ludwig Erhard festgeschrieben wur-de, wurde verdrängt von Wertschöpfung, von Rendite, Di-vidende oder den Forderungen der Aktionäre.

Deshalb ist es, wenn ich auf die beiden Aktuellen Stundender LINKEN und der FDP eingehen darf, vielleicht zu kurzgesprungen, Herr Lenders, wenn wir sagen: Diese Ent-scheidung von Siemens hat etwas mit dem Industriestand-ort Hessen zu tun. – Ich will drei äußere Faktoren in Hes-sen nennen. Beim Breitbandausbau ist Hessen auf Platz 3der Flächenländer vor Bayern und vor Baden-Württem-berg.

(Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Ich nenne den Straßenbau, die Investitionen in die Infra-struktur. Ich glaube, wir haben es gestern oder vorgesternim Rahmen der Regierungserklärung hier diskutiert. Dasnimmt in den Jahren 2018 und 2019 Rekordsummen an.

Als Drittes und Letztes nenne ich das Beispiel Forschungund Entwicklung. Da sind wir mit den hessischen Unter-nehmen bei 2,15 % in der Spitzengruppe neben einer her-vorragend aufgestellten universitären Landschaft.

Dass das am Standort Hessen von Erfolg geprägt ist, zei-gen auch die Indikatoren: Produktivität – Platz 1 aller Flä-chenländer der Bundesrepublik. Gründerquote – Platz 3nach Hamburg und Berlin, also auch hier Platz 1 aller Flä-chenländer. Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte – imAugust war es ein Höchststand, der Rekord seit 25 Jahrenmit über 2,5 Millionen sozialversicherungspflichtig Be-schäftigten und demgemäß einer niedrigen Arbeitslosen-quote von 4,8 %, wie sie letztmals vor 25 Jahren gemessenwurde.

Es ist richtig: Wir haben im Frühjahr schon einmal eineDiskussion geführt, dass wir als Landesregierung, als LandHessen uns auf diesen Lorbeeren nicht ausruhen können,ganz im Gegenteil.

Wir haben seinerzeit über den Innovationsindex diskutiert.Ich erinnere mich an die Abschiedsrede von FlorianRentsch. Natürlich ist dies kompliziert und anspruchsvoll.Wir sind von Platz 7 auf Platz 10 abgerutscht. Das wirdniemanden mehr ärgern als uns in der Landesregierung.Deshalb ist es Ansporn, an diesen Stellen weiterzuarbeiten.

Aber alle diese Faktoren, Herr Lenders, sind mit Sicherheitnicht der Grund dafür, dass die Siemens-Vorstandsetageeine Entscheidung getroffen hat,

(Janine Wissler (DIE LINKE): Das stimmt! Die bau-en überall in der Welt ab!)

die für uns nicht nachvollziehbar und nicht akzeptabel ist.

Es gibt zum Teil Gründe, die wir nicht beeinflussen kön-nen, etwa die Entwicklung in der Kraftwerkssparte im Um-feld der Energiewende; Sie haben davon gesprochen. Rich-tigerweise muss man aber sagen, dass die Energiewende2011 stattfand, dass die Entscheidung für den Ausstieg ausder Kernenergie in Deutschland nunmehr sechs Jahre herist. Da muss ich von einem Unternehmensvorstand erwar-ten können, dass er sich ausreichend und rechtzeitig mitdem Umbruch, mit dem Strukturwandel beschäftigt.

(Stephan Grüger (SPD): 17 Jahre!)

– Ja, aber der proklamierte Ausstieg, der 2011 zur Energie-wende führte, ist sechs Jahre her.

Siemens Offenbach ist auf diesem Feld ohnehin nicht un-mittelbar betroffen. Gasturbinen und Großkraftwerke sindAnlagen, die nicht nur in Deutschland gebraucht und ge-baut werden, sondern die überall in der Welt neu entstehen.Das heißt – darauf wurde hingewiesen –, die Auftragslageam Standort Offenbach, die Überstunden, die die Beschäf-tigten in den letzten Monaten geleistet haben, weisen ebengenau nicht darauf hin, dass es einen Strukturwandel gäbe,der am Standort Offenbach oder in Deutschland diese Ent-scheidungen notwendig machen würde.

Deshalb sage ich sehr deutlich: Da teilt ein Gesamtkon-zern, der eine Bilanz mit einem Milliardengewinn vorlegtund auf ein Rekordniveau zusteuert, zwei Wochen späterseinen Beschäftigten mit, dass Standorte geschlossen undzusammengelegt werden. Für den Standort Offenbach be-deutet das die Schließung. Das zeugt davon, dass in diesemUnternehmen wenig Fingerspitzengefühl vorhanden ist unddass von dem Geist von Werner von Siemens offenbarnicht mehr viel übrig geblieben ist, was wir sehr bedauern.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

8524 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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Deshalb komme ich zum Anfang meiner Rede zurück.„Für augenblicklichen Gewinn verkaufe ich die Zukunftnicht.“ Dies sollte auch für DAX-Vorstände gelten. Des-halb appellieren wir an die Vorstände von Siemens in Of-fenbach und auch bundesweit. Wir unterstützen die Lan-desregierung in ihrem Bemühen, alles möglich zu machen,damit die Perspektive in Offenbach weiterhin erhaltenbleibt.

Ich bin sicher, dass die gut ausgebildeten Kräfte, die Inge-nieure natürlich auch an anderer Stelle Beschäftigung fin-den, auch hier im Rhein-Main-Gebiet. Die Fachkräftesitua-tion gewährt ihnen auf jeden Fall eine Perspektive. Aberdas steht heute hier nicht zur Diskussion. Wir erwarten voneinem Unternehmen, dass es sich auch in der gesellschaft-lichen Situation verantwortlich zeigt.

Insofern Glückauf für Sie und für die Bemühungen derLandesregierung, erfolgreich tätig zu werden. – VielenDank.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Vielen Dank, Herr Kollege Kasseckert. – Ich erteile FrauKollegin Kinkel für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN das Wort. Bitte sehr, Frau Kollegin.

Kaya Kinkel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrter Herr Präsi-dent! Die erste Rede vor dem Parlament ist ja immer etwasBesonderes. Deshalb danke ich der FDP und der LINKENausdrücklich für das spannende Thema Siemens in derheutigen Aktuellen Stunde.

Das Management von Siemens hat jahrelang die offen-sichtliche Trendwende im Kraftwerksbereich versäumt. Eshat versucht, die Energiewende zu ignorieren, und willjetzt auf dem Rücken der Beschäftigten kurzfristig durchStellenabbau Kosten sparen. Eine nachhaltige Unterneh-menspolitik sieht aber in jeglicher Hinsicht anders aus.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so-wie bei Abgeordneten der CDU, der SPD und derLINKEN)

Dafür aber die Energie- und Klimapolitik der Landesregie-rung und explizit den Klimaschutzplan als Ursache zu nen-nen, ist grundfalsch. Angesichts des auch in Hessen immerdeutlicher werdenden Klimawandels – steigende Tempera-turen, mehr Extremwetterereignisse, häufiger tropischeNächte – ist es mir, ehrlich gesagt, ein Rätsel, weshalb dieFDP noch immer nicht eingesehen hat, dass ein schnellesHandeln erforderlich ist.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei Abgeordneten der CDU sowie der Abg. JanineWissler (DIE LINKE))

Die Hessische Landesregierung setzt deshalb sinnvolleMaßnahmen eben auch im Bereich der Ökonomie um. Bei-spielsweise fördert die Landesregierung mit rund 12 Mil-lionen € Investitionen kleiner und mittlerer hessischer Un-ternehmen in Technologien zur Ressourceneffizienz. Gera-de die Vereinbarkeit von Ökologie und Ökonomie stärktden Wirtschaftsstandort Hessen, wie es viele Unternehmenin Hessen schon jetzt zeigen. Das aktuellste Beispiel für

die Vereinbarkeit von Ökonomie und Ökologie kommt ausNordhessen. VW hat vorige Woche verkündet, dass dortein Leitwerk für E-Mobilität entstehen wird, mit einem In-vest von insgesamt 1,5 Milliarden €.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei Abgeordneten der CDU)

Für die FDP ist die schwarz-grüne hessische Regierung of-fenbar verantwortlich für den weltweiten Stellenabbau vonSiemens.

(Heiterkeit der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Meine Damen und Herren, wir sagen zwar immer: „Grünwirkt“, aber dies gilt auch für den hessischen Wirtschafts-minister sicherlich nur bedingt im globalen Sinne.

(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES90/DIE GRÜNEN – Zuruf von dem BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN: Leider!)

Erstaunlich ist bei Siemens, dass das Unternehmen eigent-lich alle Voraussetzungen hat, um aus der Energiewendeals Gewinner hervorzugehen. Know-how in der Kraft-werkssparte ist ja gerade beim Umbau der Energieversor-gung gefragt. Bei der dezentralen Energiewende, wie wirGRÜNE sie wollen und wie sie aktuell fortschreitet, sindkleine, dezentrale Kraftwerkslösungen gefragt, aber nichtdie herkömmlichen Großkraftwerke. Darauf muss sich dasUnternehmen einstellen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei Abgeordneten der CDU sowie des Abg. StephanGrüger (SPD))

In einem offenen Brief an die Jamaikaparteien forderteSiemens übrigens vor Kurzem den Kohleausstieg und dieEinhaltung der Klimaziele – und damit eben auch den wei-teren Ausbau erneuerbarer Energien.

Der Standort Offenbach hat für Siemens viele Vorteile,nicht nur das Know-how der Beschäftigten, sondern geradeauch die Anbindung und die Infrastruktur im Rhein-Main-Gebiet. Deshalb wird der Wirtschaftsminister das Gesprächmit Siemens suchen, auch mit den Beschäftigten und derGewerkschaft, damit eine Zusammenlegung beider Stand-orte möglichst nicht zulasten von Offenbach und nicht zu-lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei Abgeordneten der CDU)

Überhaupt ist klar, dass eine Veränderung bei Siemens, diesicherlich notwendig ist, nur gemeinsam mit den Beschäf-tigten geht und nicht ohne sie. Der Weg des Managements,Stellenstreichungen über Videokonferenzen oder Webcastsbekannt zu geben, mag zwar im Sinne der Digitalisierungsein, ist aber absolut nicht nachvollziehbar und rücksichts-los gegenüber den Beschäftigten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei Abgeordneten der CDU)

Was Siemens übrigens viel mehr helfen würde als dieseAktuelle Stunde, sehr geehrte Kollegen von der FDP, wäreein Jamaikabündnis,

(Zuruf von der SPD: Ach Gottchen! – Zuruf desAbg. Jürgen Lenders (FDP))

in dem hinsichtlich der Energiewende zwar Kompromissegeschlossen würden – das Thema hatten wir gerade –, mitdem aber auch ein Kohleausstieg festgelegt werden könnte.

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8525

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(Zuruf des Abg. Jürgen Lenders (FDP) – Gegenrufdes Abg. Günter Rudolph (SPD))

Dann würden nämlich auch Gaskraftwerke wieder eineRolle spielen. Stattdessen hat die FDP die Sondierung ab-gebrochen. Damit trägt sie aber auch einen Teil der Schuld,wenn sich jetzt die Planungsunsicherheit nicht nur bei Sie-mens, sondern auch hinsichtlich vieler anderer Industriear-beitsplätze noch verschärft.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei Abgeordneten der CDU)

Sehr geehrte Damen und Herren, lassen Sie uns deshalb imSinne der über 700 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmergemeinsam für den Standort Offenbach eintreten; denn dieBeschäftigten sind am Ende die Leidtragenden der langjäh-rigen Versäumnisse des Managements.

Vor diesem Hintergrund ist eine Veränderung bei Siemensdringend notwendig, damit auch die Kraftwerkssparte vonSiemens endlich einen Beitrag zum Klimaschutz und zurEnergiewende leistet.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei Abgeordneten der CDU)

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Vielen Dank, Frau Kollegin Kinkel. Meine Damen undHerren, das war die erste Rede von Frau Abg. Kinkel indiesem Hause. Herzlichen Glückwunsch dazu.

(Allgemeiner Beifall)

Für die Landesregierung spricht Herr Staatsminister Al-Wazir. Bitte schön.

Tarek Al-Wazir, Minister für Wirtschaft, Energie, Ver-kehr und Landesentwicklung:

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Um esgleich am Anfang sehr klar zu sagen: Die Entscheidungdes Siemens-Vorstands, die Division „Power and Gas“ inErlangen zu bündeln und damit faktisch das Ende desStandorts Offenbach mit rund 800 Mitarbeitern zu be-schließen, ist für die Hessische Landesregierung nichtnachvollziehbar.

Ich habe bereits letzte Woche darauf hingewiesen, dassSiemens in Offenbach ein bedeutender Teil des Industrie-standorts Rhein-Main ist – selbstverständlich wegen derArbeitsplätze, aber auch wegen der Kompetenz im Ener-giesektor.

Deswegen würde eine Schließung des Standorts die Regionnatürlich empfindlich treffen, ganz abgesehen von den Fol-gen für die unmittelbar betroffenen Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer und deren Familien. Deswegen werdenwir in den Gesprächen mit Siemens, die jetzt kommen wer-den, natürlich darauf drängen, diese Entscheidung zu ver-ändern.

Natürlich ist völlig klar, dass unternehmerische Entschei-dungen auch Standortfragen betreffen können. Aber ichwill das ausdrücklich sagen: Ein Unternehmen sollte nichtallein an kurzfristig erzielbare Einsparpotenziale denken,sondern z. B. auch an seine Verantwortung vor Ort, an mit-tel- und langfristige Entwicklungen und an die Vorteile ei-ner erstklassigen Infrastruktur, wie sie im Rhein-Main-Ge-biet vorhanden ist.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei Abgeordneten der CDU)

Es kommt etwas hinzu. Das wurde schon angesprochen.Siemens geht es als Konzern nicht schlecht. Siemens gehtes als Konzern sogar ziemlich gut.

Natürlich ist klar, dass es in der Kraftwerkssparte insge-samt Veränderungsbedarf gibt. Denn das ist ein globalerMarkt. Es gibt auf diesem Markt Überkapazitäten. Natür-lich ist klar, dass Veränderungsbedarf da ist und dass mansich auf das Neue einstellen muss. Siemens hat das in sei-ner langen Unternehmensgeschichte immer auch gemacht.

Ich darf einmal daran erinnern, dass der Siemens-Standortin Offenbach ein Ergebnis davon ist, dass man einmal et-was auseinandergeführt hat, was man vor vielen Jahrzehn-ten zusammengeführt hatte. Siemens und AEG bildeten ir-gendwann einmal die Kraftwerk Union. Am Ende hat mandas wieder auseinandergenommen. Dann gab es die Areva,die für die Atomkraftwerke zuständig war. Siemens wurdefür die Gasanlagen zuständig.

Areva hat den Standort Offenbach geschlossen. Allerdingstaten sie das, weil sich Areva als Konzern in einer dramati-schen Krise befindet. Ich kann deshalb sagen: Es gibtschon einen Unterschied zwischen einem Konzern, beidem man nicht weiß, ob er in einem oder zwei Jahren über-haupt noch existiert, und einem Konzern, der gerade welt-weit blendende Geschäfte macht. Deshalb kann man wirk-lich an die Verantwortung des Unternehmens appellieren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so-wie bei Abgeordneten der CDU, der SPD und derLINKEN)

Zweitens will ich sagen, dass wir natürlich bei der Frage,wie wir mit den Vertretern dieses Unternehmens sprechen,ganz klar die Standortinteressen vertreten werden. Wirwerden das auch in enger Abstimmung mit dem Betriebs-rat tun. Der Betriebsratsvorsitzende befindet sich gerade inBerlin. Aber ich werde ihn dort morgen früh treffen. Es istganz gut, wenn sich zwei Offenbacher in Berlin zum Früh-stück treffen.

Ich will das sehr deutlich sagen: Ich verstehe aus Sicht derGewerkschaft, dass man sich nicht auseinanderdividierenlassen möchte. Frau Kollegin Wissler hat das auch gesagt.Ich will dann aber aus hessischer Sicht schon einmal dieFrage stellen: Wenn man sagt, man möchte Standorte zu-sammenlegen, erhebt sich die Frage, warum dann alles inErlangen zusammengelegt werden soll. Denn man solltesich überlegen, welche Ersatzangebote man für gut qualifi-zierte Fachkräfte hat. Dann ist es natürlich bei dem Haupt-standort eines Unternehmens sehr viel einfacher, Leutenetwas anderes anzubieten, als es an einem Standort der Fallist, bei dem es dann gar nichts anderes mehr geben würde.

Das ist ein Teil der Situation. Siemens in Offenbach ist soetwas wie ein Ingenieurstandort. Es ist weniger ein Pro-duktionsstandort. Deshalb ist das auch hinsichtlich der Fra-ge, ob man beispielsweise an anderen Siemens-Standortenwie in Fechenheim Ersatzarbeitsplätze hat, nur sehr einge-schränkt darstellbar.

Deswegen will ich schon einmal sagen: Meiner Ansichtnach wäre eine Zusammenlegung an einem Ort, der sehrzentral in Deutschland liegt, gut. Dabei muss man wissen,wo die unterwegs sind. Das ist bei Offenbach immer dieAmbivalenz. Einerseits gibt es den Fluglärm. Andererseitsgibt es Verbindungen in alle Welt. Da muss man mir ein-

8526 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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mal erklären, warum Erlangen eigentlich besser geeignetsein soll. Diese Frage werde ich durchaus stellen. Aber na-türlich werden wir das in enger Abstimmung mit dem Be-triebsrat und der Gewerkschaft machen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei Abgeordneten der CDU)

Insgesamt will ich sagen: Herr Kollege Lenders, ich verste-he Ihren Versuch, zu sagen, die Landesregierung seischuld. Sie sehen, Siemens wird knapp 7.000 Stellen ab-bauen. Wenn ich das einmal so sagen darf: Beispielsweiseist für Görlitz und den dortigen Produktionsstandort dieEntscheidung viel dramatischer. Das sieht man, wenn mansich die gesamte Umgebung anschaut.

Ich glaube, dass für eine solche unternehmerische Ent-scheidung, die etwas mit dem globalen Markt zu tun hat,nicht allein die Hessische Landesregierung verantwortlichsein kann. Die Rahmenbedingungen hier sind gut. HerrKollege Kasseckert hat das alles gesagt.

Eines ist mir noch wichtig. Denn ich bin auch für Energiezuständig. Natürlich wird die Energiewende die Energieer-zeugungslandschaft verändern. Das ist doch ganz klar. Na-türlich ist es auch so, dass sich die Produktion der Kraft-werke verändern wird. Auch das ist unbestritten. Es istauch völlig unbestritten, dass Gaskraftwerke in der Über-gangszeit bis zur Vollversorgung mit erneuerbaren Ener-gien in allen Szenarien eine bedeutende Rolle spielen.

Herr Lenders, ich darf das einmal so sagen: Vielleicht wür-de ein geplanter Ausstieg aus der Nutzung der Kohle dazubeitragen, dass wieder mehr Unternehmen in Gaskraftwer-ke investieren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Denn wir befinden uns in einer bestimmten Situation. Wirhaben noch einige laufende Atomkraftwerke. Wir habendie Braunkohlekraftwerke, die einfach sehr schlecht regel-bar sind. Darin besteht der Unterschied zu den Gaskraft-werken. Deswegen wird der Strom an der Börse momentaneher verschenkt, als dass man etwas, was man nicht abre-geln kann, abregelt. Das ist ein Teil der Investitionsunsi-cherheit. Das ist ein Teil der Erklärung, warum wir inEuropa so wenige neue Gaskraftwerke haben.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, deswegen sageich Ihnen: Wenn man merkt, wie erfolgreich die Energie-wende ist, wird eine Anpassung der konventionellen Struk-turen vielleicht dafür gut sein, Investitionen für den Über-gangszeitraum wieder zu ermöglichen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder Abg. Judith Lannert (CDU))

Ich glaube, dass wir gute Argumente haben. Natürlich gibtes für die Beschäftigten eine Phase der Unsicherheit. Dasist etwas, was durch diese Entscheidung des Unternehmenshervorgerufen wurde. Ich jedenfalls habe den Standortnoch nicht aufgegeben. Ich setze darauf, dass sich am Endedie Qualität, die besseren Argumente und auch mittelfristi-ge Überlegungen durchsetzen und gegenüber dem einfa-chen Schließen des Standorts gewinnen werden. Ich hoffeim Interesse der Beschäftigten, dass wir alle miteinandermit dem, was wir uns, so denke ich, alle wünschen, am En-de auch Erfolg haben werden. – Vielen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei Abgeordneten der CDU sowie der Abg. HeikeHabermann (SPD))

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Herr Minister, vielen Dank. – Da mir keine Wortmeldun-gen mehr vorliegen, ist damit auch diese Aktuelle Stundeabgehalten.

(René Rock (FDP): Gibt es noch Redezeit?)

– Es sind noch 24 Sekunden. Vielleicht wird das ge-wünscht. – Nein.

Noch eingegangen und an Sie verteilt worden ist zu Tages-ordnungspunkt 15, das ist der Gesetzentwurf der Fraktio-nen der CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für einGesetz zur Änderung des Landtagswahlgesetzes, Drucks.19/5439 zu Drucks. 19/5273, der Änderungsantrag Drucks.19/5450.

Ist das so? – Ich will es wiederholen. Drucks. 19/5439 istdie Beschlussempfehlung zu Drucks. 19/5273. Dazu liegtjetzt der Änderungsantrag Drucks. 19/5450 vor. Er wirdnatürlich mit dem Gesetzentwurf unter Tagesordnungs-punkt 15 aufgerufen werden.

Nach Absprache der parlamentarischen Geschäftsführersteht zwischen uns und der Mittagspause nur noch Tages-ordnungspunkt 70:

Antrag der Fraktion der CDU betreffend eine AktuelleStunde (Opel-Beschäftigte in Hessen haben Grund zugroßer Zuversicht – Sanierungsprogramm „Pace“ isteine gute Grundlage für die Zukunft) – Drucks.19/5433 –

Dazu hat sich Frau Kollegin Bächle-Scholz für die CDU-Fraktion zu Wort gemeldet. Bitte schön, Sie haben dasWort.

Sabine Bächle-Scholz (CDU):

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Opel ist ein tra-ditionsreiches hessisches Unternehmen. Für die Region,aus der ich komme, ist es noch viel mehr. Über ihre Arbeitbei Opel definieren sich bei uns die Menschen, die Famili-en und vielleicht sogar Städte, und das schon über Genera-tionen. Dabei geht es nicht nur um die 14.000 direkt beiOpel Beschäftigten, sondern auch um viele weitere Men-schen, unter anderem bei den Zulieferern.

Ich selbst bin da keine Ausnahme. Meine Mutter war beiOpel technische Zeichnerin. Die Tochter meines Mannesmacht bei Opel gerade eine duale Ausbildung.

Jeder kann sich daher vorstellen, welche Unruhe nun überviele Jahre den Menschen in unserer Region zugemutetwurde und bei ihnen geherrscht hat. Die Frage ist: Wiegeht es mit Opel weiter? Wie sicher ist mein Arbeitsplatz?

Manch einer wird sich noch daran erinnern, wie sehr sichdie Landesregierung 2009 und im Frühjahr 2017 für Opeleingesetzt hat. – Vielen Dank dafür.

(Beifall bei der CDU)

Bei uns haben die meisten Menschen – dies konnte ich invielen Gesprächen mit den Beschäftigten erfahren – denVerkauf von Opel durch GM an PSA als eine Chance fürdie Zukunft gesehen. Trotzdem bleibt die Frage: Wie gehtes weiter? Wie sicher ist mein Arbeitsplatz? Pace ist dasneue Zauberwort. Durch Pace, das sogenannte Programmzur Zukunftsgestaltung von Opel, wird ein Weg einge-schlagen, der eine neue Geschichte in dem traditionsrei-

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8527

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chen hessischen Unternehmen einleiten kann. Mit dem kla-ren Bekenntnis von Opel und PSA zu dem Standort Hes-sen, den Beschäftigten und deren Sachverstand und Kom-petenz entsteht diese neue Sicherheit. Beides, die Beschäf-tigten und ihr Wissen, ist von zentraler Bedeutung für dieZukunftsfähigkeit des Gesamtkonzerns in einem sich starkverändernden Wettbewerbsumfeld. Gleichzeitig ist die Er-klärung, dass das Forschungs- und Entwicklungszentrumzu einem globalen Kompetenzzentrum für den neuen Ei-gentümer werden soll, ein starkes Bekenntnis zum StandortRüsselsheim, ein starkes Bekenntnis zu der Region und einstarkes Bekenntnis zu Hessen.

(Beifall bei der CDU und der Abg. Angela Dorn(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Offenkundig hat die PSA-Group den Willen, Opel zu neu-en Erfolgen zu führen. Dies begrüße ich ausdrücklich, auchwenn damit noch nicht alle Probleme vom Tisch sind. Jetztsind Betriebsrat und Gewerkschaften am Zuge, sich in dieWeiterentwicklung einzubringen. Ich möchte in diesemZusammenhang darauf hinweisen, dass Arbeitsplatzsicher-heit auch im Interesse des Arbeitsgebers liegt. Es ist dahereine gute Botschaft für die Angehörigen und Familien derBeschäftigten der Opel-Standorte, dass beabsichtigt ist,auch über 2018 hinaus betriebsbedingte Kündigungen aus-zuschließen und alle deutschen Werke zu erhalten.

Ich begrüße ausdrücklich die Bemühungen um eine lang-fristige Sicherung der Arbeitsplätze. Für meine Regiongeht es dabei nicht nur um die Arbeitsplätze der derzeit beiOpel Beschäftigten, sondern auch um die Ausbildung unddie Arbeitsplätze der nächsten Generation. Mit Pace kannnun Ruhe einkehren, um die vor Opel liegenden enormenAufgaben zu bewältigen. So ist eine Exportoffensive ge-plant, mit der bis 2022 rund 20 neue Märkte erschlossenwerden sollen. Bereits 2020 soll Opel Vauxhall mit vierelektrifizierten Modellreihen auf dem Markt vertreten sein.Alle europäischen Pkw-Baureihen sollen bis 2024 entwe-der mit einem Batterieantrieb ausgestattet oder als soge-nannter Plug-in-Hybrid verfügbar sein. Ebenso soll dieEntwicklung von Brennstoffzellen, Assistenzsystemen undTechnologien zum automatisierten Fahren vorangetriebenwerden. – Das nenne ich Nachhaltigkeit.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Werte Kollegen, dadurch können sich große Wachs-tumschancen ergeben, die natürlich auch von der Entwick-lung von PSA abhängig sind. Opel muss daher vom bis-lang dominanten europäischen Markt unabhängig werden –ich nenne nur China –, was mit GM nicht machbar war.Opel ist ein innovationsstarkes Unternehmen, das alle Vor-aussetzung für eine solch erfolgreiche Entwicklung hat.

Jetzt liegt noch eine Menge Arbeit vor der Führungsspitzeund den Arbeitnehmern bei der Umsetzung des neuen Pro-gramms.

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Frau Kollegin, Sie müssen bitte langsam zum Ende kom-men.

Sabine Bächle-Scholz (CDU):

Ich bin sicher, dass gerade die Mitarbeiter in der Fertigungund Forschung in Rüsselsheim angesichts ihrer herausra-

genden Leistungen der letzten Jahre mit Selbstbewusstseinund Zuversicht in die Zukunft blicken können. Ich wün-sche viel Erfolg bei den Verhandlungen, Nehme Pace imengeren und wahrsten Sinne des Wortes Tempo auf. – Vie-len Dank.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Vielen Dank, Frau Kollegin Bächle-Scholz. – Als Nächsterspricht Herr Kollege Decker für die Fraktion der Sozialde-mokraten. Bitte sehr.

Wolfgang Decker (SPD):

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Opel hat wiedereine Zukunft. Das ist eine erfreuliche und wichtige Nach-richt für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Re-gion und den Automobilstandort Hessen und den StandortDeutschland. Für uns Sozialdemokraten und Sozialdemo-kratinnen ist die wichtigste Botschaft, dass es keine Werks-schließungen und keine betriebsbedingten Entlassungengeben wird.

(Beifall bei der SPD)

Das heißt, dass die Unternehmensleitung offensichtlichkeinen Kahlschlag vornehmen will, sondern vielmehr eineverantwortungsbewusste und vor allem sozial verträglicheRestrukturierung plant. Meine Damen und Herren, daswürden wir uns auch vom Siemens-Konzern wünschen, zudem wir gerade die andere Aktuelle Stunde hatten.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Marjana Schott(DIE LINKE))

Wenn das alles tatsächlich so vonstattengehen wird, hatOpel die Chance, im PSA-Konzernverbund wieder zu einererfolgreichen Marke zu werden.

Ich will an dieser Stelle deutlich hervorheben, was für unsSozialdemokraten im weiteren Verlauf des Prozesses einenbesonderen und unverzichtbaren Stellenwert hat. Die weit-reichenden und tief greifenden Veränderungen, die denOpelanern und Opelanerinnen mit dem Umbau des Unter-nehmens ins Haus stehen, müssen im Einvernehmen und inenger Kooperation mit dem Betriebsrat und den Gewerk-schaften umgesetzt werden. Meine Damen und Herren, al-les andere wäre für uns ein No-Go.

(Beifall bei der SPD)

Für uns steht und fällt damit auch der Erfolg der Neustruk-turierung. Wir alle in diesem Hause wissen, dass eine star-ke Mitbestimmung und starke Arbeitnehmervertretungenein Markenzeichen der sozialen Marktwirtschaft und einGarant für eine gute Entwicklung der Wirtschaft und desArbeitsmarkts sind. Immer dann, wenn Unternehmensvor-stände und Arbeitnehmervertretungen vertrauensvoll, kon-struktiv und zukunftsorientiert zusammenarbeiten, sindUnternehmen in aller Regel erfolgreich und die Ar-beitsplätze gesichert. Aber auch nur dann sind sie in derLage, aus Krisen und schwierigen Lagen herauszukommenund zukunftsfähige gute Produkte und gute Arbeit zu bie-ten.

Meine Damen und Herren, wie wichtig das ist, können wirgerade bei Volkswagen beobachten. Wir haben oben vor

8528 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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den Toren Kassels das zweitgrößte Werk mit fast 17.000Beschäftigten. Da – und auch an den anderen Standortenvon Volkswagen weltweit – geht es nicht nur um die Be-wältigung des Dieselskandals, sondern es geht zusätzlichauch darum, effizienter bei hoher Qualität zu produzierenund konkurrenzfähig zu bleiben. Es geht darum, neueTechnologien – ich rede z. B. von der E-Traktion – auf denMarkt zu bringen und gleichzeitig den digitalen Wandelsozial und arbeitsplatzschonend zu vollziehen. Durch einestarke Arbeitnehmervertretung bei Volkswagen, die durchharte Verhandlungen maßgeblich zur Standort- und Ar-beitsplatzsicherung beigetragen hat, wird dies aller Voraus-sicht nach auch gelingen. Genau das wollen wir und wün-schen wir uns für die Opelanerinnen und Opelaner in Rüs-selsheim und natürlich auch in Bochum und an anderenStandorten.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Ralf-NorbertBartelt (CDU))

Wir wollen auch anerkennen, dass der neue französischeKonzerneigentümer PSA mit der Zusage, auf Standort-schließungen und betriebsbedingte Kündigungen zu ver-zichten, den Willen zeigt, verantwortungsvoll mit den Mit-arbeiterinnen und Mitarbeitern umzugehen. Wir erwartenjetzt, dass die Anpassung bestehender Tarifverträge sowieanderer betrieblicher Vereinbarungen an die künftige Un-ternehmensstruktur im Einvernehmen zwischen dem Be-triebsrat, den Gewerkschaften und der Konzernleitung ge-regelt wird. Gemeinsam mit der Arbeitnehmervertretungwerden wir das sehr sorgfältig beobachten und auch in die-sem Hause im Rahmen unserer Möglichkeiten begleiten.

Auch wir begrüßen die Pläne, die CO2-Emissionen derFahrzeugflotte zu reduzieren und Teile der Modellpaletteals E-Variante anzubieten, sowie dass das Entwicklungs-zentrum in Rüsselsheim künftig innerhalb des PSA-Kon-zerns eine Schlüsselrolle einnehmen soll. Meine Damenund Herren, all dies sind überlebenswichtige Bausteine fürOpel und zugleich eine große Zukunftschance.

So wie wir von einem Unternehmen verlangen, dass es sei-ne Hausaufgaben macht, so muss man es auch vom Staaterwarten können. Konkret geht es darum, jetzt die staatli-che Förderung der Elektromobilität zielgenauer und wirk-samer zu gestalten. Dabei geht es nicht nur um die Zukunftvon Opel, sondern um die aller Automobilhersteller inDeutschland.

Ich rede hier von rund 800.000 Beschäftigten in der deut-schen Automobilbranche und von 19.000 Opel-Beschäftig-ten. Es geht um Konkurrenzfähigkeit in einem immer här-ter werdenden internationalen Markt, um wirtschaftlicheEntwicklung und damit um Arbeit und Wohlstand. Das istvor allem der Job der Landesregierung. Da helfen keinewohlfeilen Worte und Glückwunschadressen bzw. Jubel-adressen. Jetzt muss gehandelt werden. Da gibt es einigeszu tun.

Zum Schluss noch ein kleiner Hinweis: Dass Hessen beider Energiewende im Ranking der Bundesländer nur aufPlatz 14 steht und sich damit in der Abstiegszone befindet,spricht Bände, meine Damen und Herren. Da muss nochkräftig nachgelegt werden. Die Landesregierung hat alsodie Aufgabe, ihren Beitrag dazu zu leisten, damit es beiden Opelanern wieder bergauf geht. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Vielen Dank, Herr Kollege Decker. – Ich erteile nun HerrnAbg. Jürgen Lenders für die Fraktion der FDP das Wort.

Jürgen Lenders (FDP):

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es ist gut, dasswir direkt im Anschluss an die vorherige Debatte überOpel diskutieren; denn beides gehört aus unserer Sicht einStück weit zusammen. Sie haben uns eben gesagt, wir sei-en hartnäckig ignorant, was den Klimawandel angeht.

(Angela Dorn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja!)

Wir sagen Ihnen, dass Sie das nicht isoliert betrachten kön-nen. Das sind Entscheidungen von Unternehmen, die Aus-fluss Ihrer Politik sind. Das stellt für mich ein Stück weiteine Klimahysterie dar. Am Ende sagen Sie aber, das habeüberhaupt nichts damit zu tun.

Ich will Ihnen eines sagen, meine Damen und Herren: Opelgehört sicherlich zu den größten hessischen Industrieunter-nehmen. Was bei Siemens diskutiert wird, hat für Opel ge-nau die gleiche Bedeutung.

(Beifall bei der FDP)

Ich kann in die Freude über die Entscheidung bei Opelnicht ganz so einstimmen. Das hat einen einfachen Hinter-grund. Warum hat denn General Motors das Unternehmennach 90 Jahren abgegeben? Bei der Übernahme von Ma-gna hieß es damals noch, dies sei ein fester Bestandteil desGeneral-Motors-Konzerns. Was hat sich denn geändert?Die CO2-Grenzwerte der EU gelten ab dem Jahr 2020. Ge-neral Motors hat sich gefragt: Gibt es nach 2020 noch einGeschäftsmodell für General Motors in Europa, ja odernein? – General Motors hat entschieden, dass dies der Mo-ment ist, um auszusteigen.

Dann haben wir Glück gehabt, zumal die Opel-Mitarbeitereine hervorragende Arbeit abliefern. Daraufhin hat PSAentschieden, dort einzusteigen. Auch Analysten sagen, dassdie Lage extrem ernst und extrem gefährlich ist. Der PSA-Sanierungsplan sieht im Grunde genommen vor: Wir wer-fen die Opel-Plattformen raus und bauen französischeTechnologie ein. – Ab 2020 drohen Opel Strafzahlungen.Insofern funktioniert das nur, wenn man die Flotte wiederin einen Rahmen bringt, der den europäischen Vorstellun-gen entspricht.

Ich sage ausdrücklich, dass ich von einer neuen Bundesre-gierung, aber auch von einem hessischen Wirtschaftsminis-ter erwarte, dass man sich in die Diskussion in Europa ein-schaltet, wenn es um eine Schlüsselindustrie in Deutsch-land geht. Das gilt also auch für die Automobilindustrie.Wenn eine Schlüsselindustrie im Grundsatz gefährdet ist,dann muss eine Regierung handeln, egal ob in Berlin oderin Wiesbaden.

(Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren, wenn ich PSA richtig verstan-den habe, dann sind am Standort in Rüsselsheim, aber auchan anderen deutschen Standorten 3.000 bis 4.000 Ar-beitsplätze zumindest in Gefahr. Wir hoffen, dass Opel mitPSA wieder richtig in die Spur kommt. Bis 2020 müssteder Durchschnittsverbrauch der gesamten Fahrzeugflotteum 30 % reduziert werden. Das hat aber natürlich nichtsmit Ihren politischen Entscheidungen zu tun. Das Schlecht-

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reden des CO2-freundlichen Diesels wird das Erreichendieses Ziels noch schwieriger machen.

(René Rock (FDP): So ist es!)

Am 8. November dieses Jahres, also einen Tag vor der Be-kanntgabe des Opel-Sanierungsplans, verkündet die EUneue CO2-Grenzwerte für die Zeit von 2025 bis 2030. Mei-ne Damen und Herren, der zulässige Kraftstoffverbrauchwird noch einmal um 30 % gekürzt. Im Klartext heißt dasübersetzt: Dann dürfen Autos nur noch 2 bis 3 l Benzinoder Diesel pro 100 km verbrauchen.

Meine Damen und Herren, wie das technisch und wirt-schaftlich realisiert werden kann, ist vollkommen unklar,zumal noch gar keine Ladeinfrastruktur für die Elektromo-bilität vorhanden ist und zumal die Kunden diese Fahrzeu-ge überhaupt nicht annehmen.

(Beifall bei der FDP)

Das Problem des Verbrennungsmotors ist nicht der Motor,sondern der Kraftstoff, der verbrannt wird.

Aus Sicht der Freien Demokraten sollte das technologieof-fen sein. Wir wollen Alternativen prüfen. Warum nichteinmal über synthetische Kraftstoffe nachdenken? Es passtein bisschen in die sehr aufgeregte Diskussion um den Kli-maschutz, dass grundlegend falsche Entscheidungen ge-troffen werden. Ich erwarte von einem hessischen Wirt-schaftsminister, dass er in Berlin klarmacht, welches dieSchlüsselindustrien in Hessen sind. – Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Vielen Dank, Herr Kollege Lenders. – Als Nächste sprichtzu uns Frau Kollegin Karin Müller von der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Bitte schön.

Karin Müller (Kassel) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Bis zur Redevon Herrn Lenders dachte ich, dass wir den Abschluss derAktuellen Stunden in Einigkeit und mit Optimismus bege-hen können. Da habe ich mich aber leider getäuscht.

Bisher hat uns Opel immer geeint. Wir haben uns im Jahr2009 sehr intensiv mit dem Thema Opel beschäftigt. FrauBächle-Scholz hat bereits darauf hingewiesen. Am Pfingst-sonntag hat eine Sondersitzung des Landtags stattgefun-den. Das Land hat 448 Millionen € an Bürgschaften bereit-gestellt. Dem haben wir alle zugestimmt, um den Standortzu retten – im Sinne des Standorts, für die Beschäftigtenund für das Unternehmen, um langfristig die Arbeitsplätzezu sichern. Da waren wir uns immer alle einig.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU)

Anfang dieses Jahres, als Opel von PSA übernommen wur-de, waren wir noch pessimistisch und bangten um denStandort. Ich glaube, mit dem jetzt vorgelegten Sanie-rungsplan können wir durchaus optimistisch in die Zukunftblicken.

PSA hat verkündet, dass der CO2-Ausstoß sukzessive ab-gebaut werden soll und dass bis 2024 alle Modelle mitElektromotoren zur Verfügung stehen sollen. Ich finde, dasist eine positive Nachricht; denn die Automobilunterneh-

men erkennen unisono, dass der Weg in Richtung Elektro-mobilität gewiesen ist. Auch der Standort Nordhessen wirdjetzt gestärkt. 1,2 Milliarden € werden jetzt in den Standortgesteckt. VW will Weltmarktführer im Bereich der Elek-tromobilität werden. Ich finde, das ist eine gute Nachrichtfür die hessischen Standorte.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei Abgeordneten der CDU)

Natürlich gehen auch wir das technologieoffen an. DieElektromobilität steht aber zur Verfügung. Deshalb müssenwir da jetzt massiv einsteigen und in den anderen Berei-chen – synthetische Kraftstoffe, Brennstoffzellen usw. –weiter forschen. Serienmäßig wird aber wohl der Elektro-motor auf den Weg gebracht werden. Das hat auch PSA er-kannt und investiert deshalb in die Zukunft.

Sie haben auch erkannt, dass das Know-how der Beschäf-tigten und der Ingenieure sehr wichtig ist. Um die Beschäf-tigungsgarantie für alle auch nach 2018 zu gewährleisten,werden keine betriebsbedingten Kündigungen ausgespro-chen. Zudem soll ein globales Kompetenzzentrum aufge-baut werden.

Die Zukunft der Mobilität und auch der Automobilindus-trie ist die intelligente und vernetzte Mobilität mit gutenProdukten. Das wird Opel leisten. Das hoffen wir. WennOpel zur Premiummarke wird, machen wir uns auch keineSorgen mehr um den Standort und um die Beschäftigten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei Abgeordneten der CDU)

Opel war schon immer weitsichtig und erfolgreich. AmAnfang wurden fünf Jahrzehnte lang Fahrräder gebaut.Adam Opel hat den Satz geprägt: Bei keiner anderen Erfin-dung ist das Nützliche mit dem Angenehmen so eng ver-bunden wie beim Fahrrad. – Wir feiern jetzt 200 JahreFahrrad. Wenn wir in 200 Jahren 200 Jahre Elektromobili-tät bei Opel feiern werden, dann ist das ein guter Erfolg fürden Standort.

Ich habe ein Plakat mitgebracht, auf dem steht: „Opel: fei-ne Marke – jetzt und hoffentlich auch in 100 Jahren“.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei Abgeordneten der CDU)

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Vielen Dank, Frau Kollegin Müller. – Das Wort hat FrauAbg. Schott für die Fraktion DIE LINKE.

Marjana Schott (DIE LINKE):

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Als der PSA-Chef seinen Sanierungsplan vorgestellt hatte, ist uns –glaube ich – allen ein Stein vom Herzen gefallen. Nocheinmal davongekommen, war so ein Gefühl, das sicherlichviele hatten. Aber mehr ist es im Moment auch noch nichtals „noch einmal davongekommen“.

Wie viele andere Firmen auch stellt Opel Produkte her, diewir zur Mobilität brauchen. Damit stehen sie in Konkur-renz zu VW, Toyota, Tesla, Daimler und Co., aber auch zuBussen und Bahnen der hessischen Verkehrsverbünde undKonzernen wie Siemens.

Was die Produktion von Autos angeht, haben wir seit Jah-ren eine Überkapazität. Der Markt ist hart umkämpft, und

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wir LINKE sorgen uns um jeden Arbeitsplatz, während wirgleichzeitig wissen, dass dauerhaftes Wachstum, immergrößere Autos und zunehmender Individualverkehr keineZukunft haben, wenn mit Klimaschutz und VerkehrswendeErnst gemacht werden soll.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn Sie für den Erhalt der Forschungs- und Produktions-stätten in Hessen eintreten, muss dem Management vonPSA, Opel oder VW, aber auch der Hessischen Landesre-gierung eines klar sein: Als Autokonzern reicht es heutenicht mehr aus, nur Autos zu bauen. Wer zukünftig erfolg-reich sein will, muss als Dienstleister ganze Mobilitätskon-zepte anbieten, in denen die Hardware E-Auto nur ein Be-standteil ist.

Die Konzerne müssen ihre Strategien an der Entwicklungder Mobilitätsbedürfnisse der Menschen und an Anforde-rungen an eine zu verändernde Mobilität in Zeiten des Kli-mawandels und knapper Ressourcen ausrichten. Spätestensan dieser Stelle kommt die Politik ins Geschäft. Der Kli-maschutz sowie der übermäßige Ressourcenverbrauch er-fordern eine andere Mobilität. Für die Weiterentwicklungdes Verbrennungsmotors braucht Opel sein Entwicklungs-zentrum nicht mehr. Wenn wir den Klimawandel, die Pari-ser Klimaschutzvereinbarung und das Kanzlerinnen-State-ment zur Dekarbonisierung unserer Wirtschaft ernst neh-men, ist das Ende der fossilen Verbrennungsmotoren ab-sehbar. Dieser Prozess muss jetzt eingeleitet werden. Dasist vor allem Aufgabe der Politik, nicht der Autobauer, diegern mit ihrer etablierten Technik weiter Geld verdienenmöchten.

Es ist die Aufgabe der Politik, den gesellschaftlichen Aus-handlungsprozess über die Zukunft unserer Mobilität anzu-schieben und zu modernisieren. Konzernmanagement, dieBelegschaft von Opel, die Gewerkschaft oder die kommu-nalen Stadtwerke sind dabei einige Akteure unter vielen.

Wir, die Politikerinnen und Politiker, sind aufgefordert, aufdie Spielregeln zu achten. Die Grenzen der Belastbarkeitunserer Umwelt verlangen von uns, ökologische Leitplan-ken für die Mobilität zu setzen. Die sozialen Erfordernisseverlangen, für gute Arbeits- und Einkommensbedingungenfür die Beschäftigten zu sorgen und Standorte nicht gegen-einander auszuspielen.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Gesundheitsschutz verlangt, den Ausstoß von Schad-gasen zu reduzieren, und für die soziale Gerechtigkeit darfMobilität nicht zum teuren Luxusartikel werden.

Kurz: Unser Job ist, eine Verkehrswende einzuleiten unddafür die sozialen und ökologischen Leitplanken aufzustel-len.

Aber noch nicht einmal das Wort „Verkehrswende“ hat esin den schwarz-grünen Koalitionsvertrag geschafft, ge-schweige denn, in die Inhalte.

Teil des Sanierungsplans der Tochter des französischenPSA-Konzerns ist die schnelle Einführung von Elektromo-dellen bis 2020. Aus bekannten Gründen ist Opel nicht ge-rade der Exportweltmeister. Der heimische Markt ist alsobesonders wichtig. Ohne Ladeinfrastruktur wird aber nie-mand E-Autos kaufen.

Es ist ja schön, dass die Landesregierung an einigen Ge-bäuden Steckdosen installieren lässt und die wenigen La-destationen in Hessen in einer Karte darstellt. Das ist aber

keine sozial-ökologische Verkehrswende und wird wederPendler noch Handwerker zum Umsteigen auf E-Autosverleiten.

Opel hat geliefert, jetzt muss die Politik liefern. Die Akti-vitäten der Landesregierung sind aber eher kläglich. Waswir brauchen, ist ein verlässlicher Plan, wie wir in denkommenden Jahren zu einer flächendeckenden Ladeinfra-struktur kommen. Herr Minister, das schafft Sicherheit fürdie Investitionen und die Arbeitsplätze.

Für Nordhessen hätten wir da einen Vorschlag: Anstattweiterhin Geld an einem so nicht benötigten Flughafen zuverpulvern, sollte die Landesregierung mit diesen Millio-nen die Ladeinfrastruktur aufbauen. In wenigen Jahren hät-te Nordhessen das beste Ladenetz in ganz Deutschland.Dann wäre Hessen einmal richtig vorn.

(Beifall bei der LINKEN)

In spätestens drei Jahren muss bei Opel neu investiert wer-den, sonst wird es dunkel. Verantwortlich handeln heißt andieser Stelle, Konversion frühzeitig einzuleiten, sozialeund ökologische Belange, Arbeitsplätze, Wirtschaft undKlimaschutz zusammenzubringen. Die Hessische Landes-regierung versagt hier.

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Marjana Schott (DIE LINKE):

Mein letzter Satz, Herr Präsident. – Sie ist leider eher Teildes Problems als Teil der Lösung.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Nun hat sich für die Landesregierung Herr StaatsministerAl-Wazir zu Wort gemeldet. Bitte schön.

Tarek Al-Wazir, Minister für Wirtschaft, Energie, Ver-kehr und Landesentwicklung:

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren!Liebe Kollegin Schott, die Landesregierung ist für vielesverantwortlich, aber sie ist wirklich nicht an allem schuld.

(Zuruf von der SPD: Was? – Marjana Schott (DIELINKE): Das habe ich auch nicht gesagt!)

– Ja, doch. Das ist eine echte Neuigkeit für die FraktionDIE LINKE.

Aber jetzt wieder zurück zu Opel und dem, was da geradepassiert. Ich will das aus Sicht der Landesregierung kom-mentieren.

Was Michael Lohscheller und Carlos Tavares am 9. No-vember der Öffentlichkeit vorgestellt haben, das gibt in derTat Anlass zu Hoffnung. Ich will einmal die aus unsererSicht drei wichtigsten Aussagen benennen: erstens keineWerksschließungen, zweitens Vermeidung betriebsbeding-ter Kündigungen und drittens, vielleicht für die Zukunftdas Allerwichtigste, neue Opel-Fahrzeuge sollen in Rüs-selsheim entwickelt werden. Denn die Zukunft dieser Mar-ke steht und fällt mit der Frage, ob es dieses Entwicklungs-

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zentrum dort weiter gibt oder nicht, meine sehr verehrtenDamen und Herren.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Deswegen ist das eine Chance für die Zukunft. Ich willaber ausdrücklich hinzufügen: Niemand soll sich da etwasvormachen. Opel muss in vielerlei Hinsicht effektiver wer-den. Was die Antriebe angeht, Herr Lenders, muss Opel ef-fektiver werden. Es muss aber auch, was die Kosten an-geht, mehr Effektivität hinein. Und das wird natürlich auchVeränderungen und teilweise auch Zumutungen für die Be-legschaft bedeuten. Da soll sich niemand etwas vorma-chen.

Mir hat neulich einer, der es wissen muss, gesagt, die Leu-te bei Opel denken langsam, sie seien unverwundbar.

(Michael Boddenberg (CDU): Wie der HSV!)

Denn wer seit 1999 kein einziges Jahr Gewinn gemacht hatund immer noch existiert, wer irgendwie denkt, es wird im-mer so weitergehen, muss wissen, am Ende des Tagesmuss eine Firma irgendwann einmal wieder einen positi-ven Ergebnisbeitrag erwirtschaften, sonst wird es schwer,meine sehr verehrten Damen und Herren. Deswegen: Es isteine Chance, aber diese Chance muss jetzt auch genutztwerden.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Ich habe das Entwicklungszentrum angesprochen. Warumist das Entwicklungszentrum aus unserer Sicht so wichtig?– Weil auch die Zukunftsfähigkeit einer Marke mit derKompetenz einhergehen muss, ein Fahrzeug von Grundauf zu entwickeln. Das hat eine ganz besondere Bedeu-tung, Herr Kollege Lenders. Denn – Sie haben die Antriebeangesprochen – Opel muss auch bei neuen Antrieben aufder Höhe der Entwicklung bleiben.

Jetzt haben Sie zu Recht die Gefahr angesprochen, dassOpel Strafzahlungen leisten muss, wenn die CO2-Grenz-werte nicht eingehalten werden. Aber ich sage Ihnen, ausmeiner Sicht wird eigentlich andersherum ein Schuh dar-aus. Wenn es viele Hersteller gibt, die diese Werte einhal-ten können, und Opel nicht, dann muss Opel eigentlich beider Transformation schneller werden, und es ist nichts da-mit gewonnen, wenn man dann sozusagen die Grenzwertenicht mehr gelten lässt. Das ist am Ende des Tages eine derwichtigen Aufgaben, die aus meiner Sicht vor Opel stehen,weil die Transformation in vollem Gange ist.

Es sind die Investitionen von VW in die Elektromobilitätangesprochen worden. Es wird dort den Versuch geben, indiesen Bereichen wirklich eigene Kompetenzen wieder zuerwerben, teilweise Produktionen zurückzuholen, die bis-her – was Batterien angeht – vor allem in Asien sind. Weran dieser Stelle nicht mithalten kann, der kriegt auf langeSicht ein Problem.

Also, meine Antwort darauf wäre nicht, zu sagen, wennman keine zukunftsfähigen Technologien hat, dass man diealten noch länger benutzt, sondern, dass man sich mehr an-strengen muss, genau diese zukunftsfähigen Technologienzu entwickeln.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, da gibt es aberauch gute Nachrichten; denn Herr Lohscheller hat nämlichauch am 9. November gesagt, dass es sein Ziel ist – FrauBächle-Scholz hat es angesprochen –, bis 2024 jedes Opel-

Modell – ich wiederhole: jedes Opel-Modell – auch elek-trisch oder teilelektrisch anbieten zu können.

Das zeigt mir, dass die Firma Opel die Herausforderungender Zukunft annehmen möchte. Ich wünsche an dieser Stel-le viel Glück.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Wir wissen natürlich um die Bedeutung von Opel – für denStandort Rüsselsheim, aber auch für den gesamten Indus-triestandort Südhessen. Denken Sie an die vielen Zuliefer-betriebe, denken Sie an die Dienstleister, denken Sie an dieArbeitsplätze im weiteren Umfeld von Opel. Wir wollen,dass Opel erfolgreich wird. Wir sind zuversichtlich, dassOpel im Verbund mit PSA die Kehrtwende schaffen kann.Opel muss wieder ein profitables, wettbewerbsfähiges Un-ternehmen werden und vor allem eine stabile Entwicklungnehmen, die von Kontinuität gekennzeichnet ist. Opelbraucht Stabilität. Das wird am Ende des Tages entschei-dend sein.

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Herr Minister, ich darf Sie an die vereinbarte Redezeit er-innern.

Tarek Al-Wazir, Minister für Wirtschaft, Energie, Ver-kehr und Landesentwicklung:

Letzter Satz, Herr Präsident. – Ich will aus der heutigen„FAZ“ zitieren: Die Internationalisierungsstrategie nimmtjetzt offenbar Fahrt auf. Die Überschrift in der „Börsen-Zeitung“ lautet: „Opel findet Partner für Südafrika“. EinTeil des Problems war ja, dass Opel durch GM auf deneuropäischen Markt beschränkt war.

Ich will an dieser Stelle sagen: Ich wünsche der Firma,dass sie aus dieser Chance – vielleicht ist es die letzteChance, aber es ist eine wirkliche Chance – etwas macht,dass sie erfolgreich ist und dass wir am Ende, in ein paarJahren, sagen: Was für ein Glück, dass an dieser Stelle eineUmkehr gelungen ist und es endlich wieder gute Nachrich-ten aus Rüsselsheim gibt. – Es wäre den Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern und der Firma zu wünschen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei Abgeordneten der CDU)

Vizepräsident Wolfgang Greilich:

Vielen Dank, Herr Minister.

Für das Protokoll stelle ich fest, dass Herr Kollege Schä-fer-Gümbel für die Nachmittagssitzung entschuldigt ist.

Wir setzen nach der Mittagspause mit dem Setzpunkt derFDP-Fraktion fort. Danach behandeln wir den Setzpunktder GRÜNEN. So ist es vereinbart.

Wir treffen uns nach der Mittagspause, in die wir jetzt ein-treten, um 14:45 Uhr wieder.

(Unterbrechung von 13:42 bis 14:47 Uhr)

8532 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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Vizepräsident Dr. Ulrich Wilken:

Meine Damen und Herren! Ich eröffne die durch die Mit-tagspause unterbrochene Sitzung.

Wir arbeiten uns jetzt an zwei Setzpunkten von je einerStunde ab. Danach haben wir noch zwei zweite Lesungen,Redezeit ebenfalls je eine Stunde. Dann schauen wir ein-mal, wie spät es ist.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 36 und Tagesordnungs-punkt 76 auf:

Antrag der Fraktion der FDP betreffend Konflikte beiverkaufsoffenen Sonn- und Feiertagen beenden –„Runden Tisch Ladenöffnungszeiten“ einrichten– Drucks. 19/5147 –

Dringlicher Entschließungsantrag der Fraktionen derCDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend ver-kaufsoffene Sonn- und Feiertage – Drucks. 19/5444 –

Die vereinbarte Redezeit beträgt zehn Minuten. Als Ersterhat sich Herr Lenders für die FDP-Fraktion zu Wort ge-meldet.

Jürgen Lenders (FDP):

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wir Freie De-mokraten wollen, dass die vier verkaufsoffenen Sonntage,die laut Gesetz in Hessen möglich sind, wirklich umgesetztwerden können. Dazu haben wir Ihnen einen Gesetzent-wurf vorgelegt, mit dem der Anlassbezug gestrichen wer-den sollte.

Sie wissen, die Bezugnahme auf einen Anlass ist derGrund, der dazu führt, dass viele verkaufsoffene Sonntagegerichtlich untersagt wurden, nicht nur in Frankfurt oderDarmstadt, sondern sogar beim Frühjahrsmarkt in Eiter-feld. Man muss zwar nicht wissen, wo Eiterfeld liegt, denndas ist eine kleine Gemeinde; aber gerade dieses Beispielzeigt sehr deutlich, dass die Gerichte in ihrer Rechtspre-chung keine klare Linie haben. In Eiterfeld liegen dasFrühjahrsmarktgeschehen und der verkaufsoffene Sonntagzeitlich sehr dicht beieinander und sind räumlich begrenzt.Der Anlassbezug liegt in der Tradition des Frühjahrsmarktsbegründet und ist ganz klar gegeben. Dass das Gericht indiesem Fall anders geurteilt hat, zeigt deutlich, dass dieGrundlage, auf der die Rechtsprechung erfolgt, ein Pro-blem darstellt.

Meine Damen und Herren, die Initiativen der hessischenIndustrie- und Handelskammern zeigen umso mehr auf,dass es falsch war, unseren Gesetzentwurf abzulehnen. Siehaben uns immer wieder gesagt: Das geht rechtlich nicht. –Das Gutachten sagt hingegen eindeutig: Der Vorschlag istverfassungsgemäß, das kann rechtlich so umgesetzt wer-den.

(Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren, das Gutachten der Arbeitsge-meinschaft der Industrie- und Handelskammern wurde al-len Fraktionen im Landtag zur Kenntnis gebracht. Es un-terstreicht noch einmal ausdrücklich, dass es möglich ist,durch Streichung des Anlassbezugs im Hessischen Laden-öffnungsgesetz eine für alle klare und sichere Lösung her-beizuführen.

(Beifall bei der FDP)

Es kann doch nicht sein, dass Städte und Händler einenverkaufsoffenen Sonntag planen, viel Geld dafür investie-ren, Werbung machen, damit Kunden kommen, die die In-nenstädte wieder für sich entdecken, und dann müssen Ge-richte dieses Vorhaben untersagen, weil das Gesetz die Ge-nehmigung der eigentlich zulässigen vier verkaufsoffenenSonntage in der Praxis nicht mehr ermöglicht. Händler,Kommunen und Kunden haben das Recht auf eine rechtssi-chere Lösung. Darum geht es. Es geht nicht darum, mehrals vier verkaufsoffene Sonntage zu schaffen.

Meine Damen und Herren, ähnlich sieht es auch die Mittel-standsvereinigung der CDU in Hessen. In diesem Sinne hatsich beispielsweise auch der sozialdemokratische Oberbür-germeister von Hanau, Herr Kaminsky, geäußert und vonder Landesregierung Rechtssicherheit eingefordert. Auchdie Kommunalpolitische Vereinigung der CDU, an derSpitze der Frankfurter Bürgermeister Uwe Becker, forderteine saubere und rechtssichere Lösung.

Meine Damen und Herren, ich sehe auch bei der CDU imLandtag einen schrittweisen Erkenntnisfortschritt. Immer-hin lehnt der Herr Minister unseren Vorschlag nicht mehrrundweg ab, sondern verweist auf die Evaluierung, die2018 stattfinden soll.

(Holger Bellino (CDU): Sehr gut!)

Herr Kollege Bellino, dann darf ich Sie aber fragen: Wirdiskutieren darüber seit 2014, seit mittlerweile drei Jahren.Es gibt Gutachten, es gab einen Gesetzentwurf von uns, esgab eine Anhörung dazu, aus der Anhörung haben sich Än-derungen an unserem Gesetzentwurf ergeben. Warum sol-len wir auf die Evaluierung warten? Das ist nichts anderesals die Ausfahrt Feld.

(Beifall bei der FDP)

Herr Kollege Bellino, wo sehen Sie eigentlich ein Pro-blem? Ist das Problem, dass wir Freie Demokraten diesenGesetzentwurf eingebracht haben? Ist das Problem, dass ernicht von der Regierungsseite gekommen ist, sondern dasswir den ersten Aufschlag gemacht haben? Meine Damenund Herren, was haben uns die Reden von heute Vormittagund die schöne Rede des Ministerpräsidenten denn mitge-geben, wenn es hier wiederum darum geht, ganz kleinesKaro zu spielen?

(Beifall bei der FDP)

Wir haben unseren Gesetzentwurf sehr lange in den Bera-tungen gehalten, nicht deswegen, damit wir oder jemandanders mit dem Thema nach Hause gehen können, sondernweil es uns um die Sache geht. Mit der Evaluierung spielenSie nur auf Zeit, damit die FDP nicht am Ende diesen Sieg– wie Sie meinen – davontragen kann.

(Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren, es muss doch auch im Interesseder Landesregierung sein, endlich eine ordentliche undrechtssichere Lösung zu finden. Ich fand den Termin mitdem Präsidenten des Hessischen Landtags, Herrn Kart-mann, und den katholischen Laienvertretern ganz span-nend. Von den katholischen Laienvertretern kam klar dasSignal, dass auch sie für eine rechtssichere Lösung sind.Sie sind in dieser Frage keine Hardliner.

Genau aus diesem Grund haben wir gesagt: Dann lasst unszumindest einen runden Tisch einberufen und über die Si-gnale, die von da kommen, beispielsweise Fristen, nach-denken. Da brauchen wir nicht auf eine Evaluierung zu

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8533

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warten. Es gibt viele mittelständische Unternehmen in denInnenstädten, die um ihre Existenz kämpfen, in die vieleBeteiligte viel Energie und viel Geld investieren und derenVorstöße immer wieder von den Gerichten eingefangenwerden.

Der runde Tisch wäre unser Vorschlag, um am Ende tat-sächlich zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen.Wenn es Ihnen darum geht, dass das nicht mit der FDP al-lein funktioniert, fordere ich Sie auf: Machen Sie einenGesetzesvorschlag auf der Grundlage eines Ergebnisses,welches der runde Tisch erarbeiten kann. Damit wäre uns,den Beschäftigten im Einzelhandel und allen Kommunensehr gedient. – Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. Ulrich Wilken:

Danke, Herr Lenders. – Für die CDU-Fraktion hat sichHerr Möller zu Wort gemeldet.

(Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn (FDP): Da kann ja keinerwidersprechen!)

Klaus Peter Möller (CDU):

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Sonntagsru-he hat in Deutschland einen sehr hohen Stellenwert, sie hatverfassungsrechtlichen Rang. Damit ist es ein Thema, dasvon runden Tischen oder von irgendwelchen zeitgemäßenund nicht zeitgemäßen Äußerungen in diesem Hause unab-hängig ist. Das sollten wir festhalten.

(Beifall bei der CDU)

Dies wurde mehrfach durch diverse Rechtsprechungen be-stätigt. Wir haben 2009 eine ziemlich klare Aussage vomBundesverfassungsgericht bekommen, dass nur in Ausnah-mefällen von der Sonntagsruhe abgewichen werden darf.Ausnahmefälle sind über sogenannte externe Ereignissedefinierbar – Märkte, Events, Feierlichkeiten oder Ähnli-ches.

Ein bisschen komplizierter wurde das Ganze im Jahr 2015,als das Verwaltungsgericht zusätzlich gesagt hat: Es mussim Vorfeld ein Nachweis erbracht werden, dass der Grundfür die Kundschaft, in eine Innenstadt zu kommen, nichtdie Öffnungszeiten der Geschäfte sind, sondern der externeAnlass. – Das hat die Sache nicht wirklich leichter ge-macht.

Wir müssen uns an diesen mehrfachen Rechtsprechungenorientieren, damit das, was wir tun, dann tatsächlich Be-stand hat. Hier geht es nicht nur um Gutachten sowie umdie Äußerung und die Willensbekundung von Verbändenund Interessenvertretern – diese nehmen wir alle zurKenntnis, das wird auch alles einfließen –, sondern es gehtdarum, dass wir eine Regelung finden, die nachhaltig Be-stand haben kann.

Meine Damen und Herren, ich glaube, über das Arbeits-rechtliche müssen wir uns nicht groß unterhalten. Die ver-gangenen Jahre haben gezeigt, dass der Einzelhandel sehrwohl Möglichkeiten findet, die Mitarbeiterinnen und Mit-arbeiter einzubinden. Wenn man sich in den Städten um-schaut, in denen es zu einer Abweichung von bereits bean-tragten verkaufsoffenen Sonntagen kam, sieht man, da la-gen Erleichterung und Enttäuschung der betroffenen Mitar-beiter oftmals relativ nah beieinander.

Wegen der Extravergütungen oder des Ausgleichs durchFreizeit haben nicht wenige Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter damit gerechnet, dass es zu vier verkaufsoffenenSonntagen kommt. Die Vergütung war nicht ganz unwill-kommen. Insofern haben auch wir mitbekommen, dass,wenn kurzfristig ein vorgesehener verkaufsoffener Sonntagabgesagt wurde, sehr viele Mitarbeiter relativ verärgert wa-ren.

Noch mehr verärgert waren die Händler. Da haben sie na-türlich recht. Der Innenstadthandel hat momentan sehrgroße Herausforderungen zu meistern. Ich spreche z. B.den Onlinehandel an. Das Verfahren, das sehr ärgerlich ist,kennt jeder: Der Kunde kommt in ein Geschäft, lässt sichlange beraten, lässt sich alles vorführen, verhandelt, foto-grafiert das Produkt, setzt sich dann auf die Couch und be-stellt es im Internet.

(Horst Klee (CDU): Und beschwert sich über denLeerstand in den Innenstädten!)

Wenn das Produkt dann nicht funktioniert, kommt derKunde zum Einzelhandel, gibt es dort wie selbstverständ-lich ab und erwartet, dass der Einzelhandel es wieder inOrdnung bringt. Herr Kollege Klee hat mit seinem Zurufnatürlich recht. Es kann sich jeder an die eigene Nasepacken. Im Ergebnis wird das passieren, was Sie überallbeobachten können: Der Inhaber des klassisches Einzel-handelsgeschäfts wird sich das auf Dauer nicht leisten kön-nen.

Wenn man andere Faktoren hinzunimmt, die es dem Han-del schwer machen – die Erreichbarkeit von Innenstädten,fehlende Stellplätze, ÖPNV, steigende Mieten und Perso-nalkosten, das Vorhalten von Serviceangeboten und voneinem gewissen Grundsortiment –, kommen wir irgend-wann in die Situation, dass nur noch die großen Ketten undFranchisenehmer diese Mischkalkulation aushalten kön-nen. Auf diesem Weg sind wir bereits. Wenn Sie durch dieInnenstädte laufen, können Sie sehen, dass sich das Sor-timent immer mehr angleicht. Insofern sind wir bei Ihnen.

Die vier geöffneten Sonntage plus das Weihnachtsgeschäftmachen nicht selten bis zu 50 % des Jahresumsatzes aus.Deshalb ist das ein ernstes Thema, und deshalb nehmenwir uns dieses Themas auch an und verweigern nicht dieDiskussion. Aber der Weg ist ein Spannungsfeld zwischender Rechtsprechung und der Herausforderung für den In-nenstadthandel. Das Ganze muss so vorformuliert werden,dass es Bestand hat und verlässlich wird.

Das Gesetz, das wir in Hessen haben, sollte diesen Weg ei-gentlich öffnen. Es sollte eigentlich zwischen den verschie-denen Interessenlagen vermitteln – angefangen von denKirchen bis hin zu den Innenstadthändlern. Wir haben ge-sagt: maximal vier Sonntage, an bestimmten Feiertagennicht, maximal sechs zusammenhängende Stunden, usw. –Das Ganze muss im Vorfeld mit den Kommunen abge-stimmt werden, um es für alle Beteiligten und für die Inter-essenvertreter in der Innenstadt planbar zu machen, ambesten für das ganze Jahr.

Das Ganze wird auch mit Gesetzesinitiativen im Landtagflankiert, z. B. INGE – Gesetz zur Stärkung von innerstäd-tischen Geschäftsquartieren. Das wird alles gerne ange-nommen. Trotzdem zeigen die jüngsten Rechtsprechungen,dass dieses Gesetz in seiner jetzigen Form offensichtlichangreifbar ist, wenn man einzelne Punkte nicht zu 100 %beachtet.

8534 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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(Zuruf: Richtig!)

Sie sprachen die Anlassbezogenheit und die räumliche Nä-he an. Wir können jetzt lange diskutieren, ob eine räumli-che Nähe in einer großen Stadt noch vorhanden ist, wennan einem Ende der Stadt eine Messe stattfindet, am ande-ren Ende die Geschäfte geöffnet sind und dazwischen8 oder 9 km liegen. Wer solche Fehler macht, muss damitrechnen, dass irgendein Gericht das vielleicht kassiert.

(Michael Boddenberg (CDU): Stimmt!)

Dass man vor Gericht damit Erfolg haben kann, motiviertnatürlich dazu, jede Ladenöffnungszeit an einem Sonntagzu hinterfragen. Natürlich sind ein paar Menschen unter-wegs, die nur darauf warten, dass Kommunen oder Ver-bände „Fehler“ machen. Das liegt in der Natur der Dinge.Deshalb wird es in der einen Stadt genehmigt und in deranderen Stadt vom Gericht kassiert.

Ein Punkt, bei dem ich auch bei Ihnen bin, ist der Ärger,der entsteht, wenn groß angekündigt und dafür geworbenwird, dass an einem Sonntag die Innenstadt geöffnet hat.Die Mitarbeiter, die Geschäftsleute, die Einwohner und dieBesucher richten sich darauf ein.

Wenn im Nachbarland noch ein Feiertag ist, dann passt dasidealerweise zusammen. Man plant das. Noch sonntagswird vielleicht in der Sonntagszeitung oder im Radio großdafür geworben, nach dem Motto: „heute alles geöffnet“,was vergessen lässt, dass ein Gericht diese Genehmigungvor 24 Stunden kassiert hat. Das ist schon passiert, und dasärgert dann alle Beteiligten über alle Maßen.

Deshalb muss es das Ziel sein, in einer Befassung mit derRechtsprechung und vor dem Hintergrund der Erfahrungenim kommenden Jahr, wenn es ohnehin fällig ist, sich dasGesetz noch einmal vorzuknöpfen. Wir müssen dortschlichtweg bestimmte aktuelle Probleme betrachten: denräumlichen Zusammenhang zwischen dem Anlass und dendurchführenden Geschäften, die Problematik mit denSchätzungen der Besucherströme im Vorfeld und die aktu-ellen Gerichtsentscheidungen. Dazu kommt jetzt nochNRW; die wollen etwas ganz Neues. Bis wir in Hessen dasGesetz ändern, werden wir auch die ersten Rechtsprechun-gen in Nordrhein-Westfalen sehen; dann können wir aucheinschätzen, ob dieser Weg gangbar ist.

Im Jahr 2018 evaluieren wir das Gesetz mit Zielrichtung2019. Ich schlage vor, dass wir uns bis dahin von Interes-senvertretern klug beraten lassen, die Rechtsprechung be-trachten und uns die anderen Länder anschauen, die 13 von16 Ländern, die maximal auch nur vier Tage haben, umdann in aller Entspanntheit und gut vorbereitet im nächstenJahr einen runden Tisch – dieser kann auch eckig sein; dasspielt keine Rolle – durchzuführen, um uns dieses Gesetzin Hessen vorzuknöpfen, damit wir 2019 ein aktualisiertesGesetz, ein an die jetzige Situation angepasstes Gesetz aufden Weg bringen können.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Unsist es bei aller Diskussion wichtig, dass für die Mitarbeiterund die Menschen vor Ort klar ist: Der verkaufsoffeneSonntag muss die Ausnahme bleiben. Der Regelsonntagmuss arbeitsfrei bleiben. Das muss auch ein deutliches Si-gnal aus diesem Hause sein. Es muss bei Ausnahmen blei-ben, wenn die Geschäfte öffnen. Was wir anstreben müs-sen, ist, die Angreifbarkeit zu verhindern, zu minimierenund dadurch die Planungssicherheit zu erhöhen.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Liebe Kollegen von der FDP, ich schlage vor, dass wir Ih-ren Antrag im kommenden Jahr noch einmal aufrufen,nach dem Motto: „Wir setzen uns zusammen, wenn es soweit ist“. Bis dahin sollten wir die Bälle flach halten. Ichglaube nicht, dass sich das Thema für solche voreiligen In-itiativen eignet. – Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Ulrich Wilken:

Danke, Herr Möller. – Für die SPD-Fraktion bekommt nunHerr Decker das Wort.

Wolfgang Decker (SPD):

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Debattenüber die Ladenöffnungszeiten an Sonn- und Feiertagen ge-hören inzwischen zu unseren treuesten Wegbegleitern imHaus. Gegen treue Wegbegleiter ist eigentlich nichts ein-zuwenden, allemal nicht, wenn sie ein Dauerthema sindund der arbeitsmarktpolitische Sprecher dadurch immerArbeit hat. Aber, nein, wir wollen die Debatte heute mitder notwendigen Ernsthaftigkeit führen, so wie wir das inden letzten Runden schon immer getan haben; denn wirverstehen als SPD-Fraktion durchaus, dass Sie sich Gedan-ken über die Zukunft des Einzelhandels und über die Zu-kunft der Innenstadtentwicklung machen. Deshalb habenwir uns Ihren Antrag mit seinen drei Punkten auch sehr in-tensiv angeschaut.

Auf den ersten Blick kann man durchaus sagen, dass er dieInteressen der einkaufenden Bürgerinnen und Bürger, desHandels, der innerstädtischen Entwicklung sowie die Inter-essen der Beschäftigten und der Kirchen im Blick hat. Esist auch nicht von der Hand zu weisen, dass es in der einenoder anderen Stadt oder Gemeinde zu dem bekannten Pro-blem bei der Genehmigung von verkaufsoffenen Sonnta-gen kommt, je nachdem, was als Anlassbezug benanntwird bzw. wer die Akteure sind.

Ich habe heute Morgen aus dem Kreise der Kollegen dasBeispiel gehört, man habe sich vor Ort durchaus geeinigt,aber dann sei von beiden Seiten die überörtliche Ebene aufden Plan getreten, und dann ward es um die Einigung ge-schehen. Es ist nachvollziehbar, dass das eine unbefriedi-gende Situation ist. In vielen anderen Kommunen gibt eshingegen gute Beispiele dafür, dass es dort keine Problemegibt, z. B. in Kassel. Ich habe das bei meinen Reden zudiesem Thema schon mehrfach erwähnt. Dort läuft es soreibungslos, weil sich alle Akteure vor Ort im Grundsatzeinig sind, und zwar einig über Umfang, Art und Anlassder Ladenöffnung, immer auf der Grundlage des nach wievor geltenden aktuellen Ladenöffnungsgesetzes und natür-lich der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundes-verwaltungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts.Ich komme darauf später noch einmal zurück.

Was wir in Ihrem Antrag allerdings nicht sehen, ist, dassdie Gemengelage zu unbefriedigenden Ergebnissen für dieBeschäftigten und die Kirchen führt. Die Arbeitnehmerund Kirchen wollen ganz sicherlich nicht an dem bestehen-den Gesetz rütteln. Das ist mir bisher jedenfalls nicht be-kannt geworden – warum auch, denn es schützt im Grunde

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8535

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genommen zunächst ihre Interessen, nämlich das Interessean einem geschützten Tag der Arbeitsruhe. So treu, wieuns dieses Thema im Landtag begleitet, so treu bleibt dieSPD-Fraktion deshalb auch bei ihrer Haltung, meine Da-men und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Aus Sicht der SPD-Fraktion gibt es mehrere gute Gründedafür, das Gesetz beizubehalten. Natürlich fühlen wir unsheute und in Zukunft zuallererst den Beschäftigten, Kir-chen und Vereinen mit deren Bedürfnissen nach sonntägli-cher Ruhe verpflichtet; denn es geht um den Schutz der Fa-milien, der körperlichen und seelischen Gesundheit, vonReligion und Kirchen, der Vereine, des Sports, der Kultursowie der Freizeit, die in Zeiten immer zunehmender Ar-beits- und Alltagsbelastungen mehr denn je nötig sind.

(Beifall bei der SPD)

Ganz einfach gesagt: Die allermeisten Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer sind froh, wenn sie an Sonn- und Feier-tagen ganz einfach einmal ihre Ruhe haben.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Des Weiteren haben wir aufgrund der klaren und eindeuti-gen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts großerechtliche Bedenken gegen eine Gesetzesänderung; denndas Gesetz macht sehr deutlich, dass das in Art. 140 desGrundgesetzes verankerte Verbot von Sonn- und Feiertags-arbeit so bedeutsam ist, dass es nicht ohne einen bestimm-ten Grund aufgehoben werden kann.

Ich betone das an dieser Stelle noch einmal so klar unddeutlich, weil wir uns natürlich auch überlegt haben, wasSie mit dem Vorschlag eines runden Tisches – das istPunkt 3 Ihres Antrags – beabsichtigen. Geht es dabei nurdarum, regionale Konflikte zu lösen und vor Ort Interes-senausgleiche zu finden, und, wenn ja, wie sollen sie aus-sehen, oder soll es am Ende darauf hinauslaufen, den An-lassbezug aus dem Gesetz zu streichen oder zumindest zulockern? In Ihrer Einbringungsrede habe ich in diese Rich-tung zumindest leicht etwas wahrgenommen. Dazu habeich unsere Haltung aber schon deutlich gemacht. Ich glau-be nicht, dass uns ein runder Tisch viel weiterhilft. Ichempfehle vielmehr, dass sich die Akteure vor Ort rechtzei-tig vorher zusammensetzen und sich auf Lösungen verstän-digen, die dann auch funktionieren und in jedem Falle dasKlagerisiko mindern könnten.

In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal wieder-holen, was ich hier schon in den vorangegangenen Debat-ten mehrfach dargelegt habe. Wir halten den Wegfall eineskonkreten Ereignisses für die sonntägliche Öffnung für we-nig geeignet, den innerstädtischen Handel wirksam zu stüt-zen. Es gibt sogar Marketingfachleute, die die Gefahr se-hen, dass man durch die Ladenöffnung die ganze sonntäg-liche Verkaufsveranstaltung schlicht und einfach unattrak-tiv machen würde. Überhaupt glauben wir auch nicht, dassder Einzelhandel durch eine Erleichterung der Ladenöff-nung, egal, ob durch eine Ausweitung oder durch denWegfall des Anlassbezugs, besser vor dem Internethandelzu schützen wäre. Ich schaue noch einmal nach Kassel.Dort haben wir mit den geltenden Regelungen kaumSchwierigkeiten. Die verkaufsoffenen Sonntage findenstatt. Aber glauben Sie, dass der Internethandel deshalbnicht weiterwächst? Ich glaube es nicht. Ich glaube, es istnicht so, meine Damen und Herren.

Schauen wir einmal über den Teich in die USA. Nach mei-ner Kenntnis haben wir dort Ladenöffnungszeiten, die vielgroßzügiger sind als bei uns, um es zurückhaltend auszu-drücken. Dort hat der Einzelhandel genauso unter dem In-ternethandel zu leiden, wahrscheinlich sogar noch vielmehr als bei uns.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten derCDU)

Ich will zum Schluss sagen: Ich hätte noch ganz andereIdeen, dem Einzelhandel und der Entwicklung der Innen-städte unter die Arme zu greifen, z. B. mit vernünftigen ta-rifgeschützten Arbeitszeiten, die dann Zeit und Muße zumBummeln und Einkaufen schaffen, oder mit ordentlichenTariflöhnen, die es jedem erlauben, seine Einkäufe in ei-nem etwas teureren Fachgeschäft mit dem entsprechendenService in der Stadt zu tätigen, anstatt im Internethandelauf Schnäppchenjagd gehen zu müssen. Das Land könntedie Kommunen auch künftig besser bei dringend notwendi-gen Investitionen unterstützen, um unsere Innenstädte at-traktiver zu machen, z. B. beim Thema ÖPNV.

(Beifall bei der SPD)

Zum Schluss noch ein Wort zu dem vorliegenden Dringli-chen Entschließungsantrag der CDU. Es kommt sehr seltenvor, dass wir einem Ihrer Anträge umfänglich zustimmenkönnen – aus guten Gründen. In diesem Fall ist das so. Ichhatte das Gefühl, als hätte ich ihn selbst geschrieben.

(Zurufe von der CDU: Oh!)

– Wer meiner Rede ordentlich zugehört hat, weiß, dass al-les darin steht.

Meine Damen und Herren, wir werden diese Debatte si-cherlich im kommenden Jahr im Zuge der Evaluierung – esist ja schon angesprochen worden – mit großer Ausführ-lichkeit fortführen. Das ist dann auch der richtige Rahmen,um Pro und Kontra ausführlich zu diskutieren. Aber schonheute möchte ich zu großer Vorsicht und Behutsamkeit,auch bei der Evaluierung des Gesetzes, raten.

Die jüngste Diskussion und die Forderung hinsichtlich derLadenöffnung am Heiligabend, der dieses Mal auf einenSonntag fällt, haben uns wieder einmal die Frage vor Au-gen geführt: Wo fängt das an, und wo soll das aufhören? –Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten derCDU)

Vizepräsident Dr. Ulrich Wilken:

Danke, Herr Decker. – Für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENspricht nun Frau Kinkel.

Kaya Kinkel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Her-ren! Der Streit um die verkaufsoffenen Sonntage ist in die-ser Runde nicht neu, er hat den Landtag in der Vergangen-heit schon öfter beschäftigt und wird ihn auch in Zukunftnoch häufiger beschäftigen. Fest steht aber, dass wir aufLandesebene nicht im luftleeren Raum entscheiden kön-nen, sondern natürlich den Sonntagsschutz aus der Verfas-sung berücksichtigen müssen.

Dass der Schutz des Sonntags und des anerkannten Feier-tags nach wie vor gilt, das hat auch das Bundesverfas-

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sungsgericht in seiner Entscheidung zum Berliner Laden-öffnungsgesetz noch einmal bestätigt. Vorrangig bei dieserEntscheidung war nicht der Grund der Religionsausübung,sondern vor allem die Arbeitsruhe und die Ermöglichungdes sozialen Zusammenlebens. Genau das wird in unsererbeschleunigten Gesellschaft immer schwieriger: zur Ruhezu kommen, Zeit mit der Familie zu verbringen und ein-fach einmal richtig abzuschalten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU)

Dazu tragen natürlich auch die immer flexibleren Arbeits-zeitregelungen bei, die ständige Erreichbarkeit und dersteigende Druck in der Arbeitswelt. Wir GRÜNE finden eswichtig, den Sonntagsschutz auch weiterhin streng zuhandhaben, insbesondere zum Schutz der Arbeitnehmerin-nen – es sind überwiegend Frauen, die als Verkäuferinnenarbeiten –, aber auch zum Schutz der Arbeitnehmer.

Als Argument für die Sonntagsöffnungszeiten die Konkur-renz aus dem Internet zu nehmen, ist ein schwaches Argu-ment. Egal, wie weit wir die Öffnungszeiten ausweiten, In-ternetshopping wird immer noch flexibler möglich sein.Wir GRÜNE sind deswegen strikt dagegen, diese Konkur-renz auf Kosten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerüber die Öffnungszeiten aufzunehmen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU)

Die Entscheidung zu Berlin sagt ganz deutlich, eine Öff-nung an einem Sonntag dürfe nicht dazu führen, dass die-ser Tag ein Werktag wie jeder andere auch werde. DerVerkauf an einem Sonntag müsse einen Anlass über diesesreine Einkaufs- und Verkaufsinteresse hinaus haben. DieRegelung ist dadurch eindeutig: Sonntagsöffnungszeitenohne Anlassbezug, nur um flexible Einkaufsmöglichkeitenzu schaffen, sind durch die gesetzgeberische Vorschriftnicht möglich.

(Im Plenarsaal wird das Licht angeschaltet. – Zuru-fe: Ah! – Zuruf von der SPD: Energiewende! – Ma-thias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Bei dieser Rede geht die Sonne auf! – Minis-ter Stefan Grüttner: Nicht aus der Ruhe bringen las-sen!)

Im Übrigen ist das auch nicht gewollt. Wir hatten die Dis-kussion über die Ladenöffnung an Heiligabend. Es hat sichganz deutlich gezeigt, wo die Prioritäten der Gesellschaftliegen; denn eine überwältigende Mehrheit ist gegen eineÖffnung der Läden an Heiligabend.

Die Konkurrenz zum Internetshopping ist auf einer ganzanderen Ebene relevant, nämlich beim Wettbewerb um dieQualität, die Beratung und den Service. Hier hat der Ein-zelhandel einiges zu bieten und muss sich nicht verstecken.Am Ende hängt es natürlich auch wieder an jedem Einzel-nen, ob er ein Buch im Internet bestellt und damit großeVersandhäuser stärkt, oder ob er das Buch in einer Buch-handlung in der Innenstadt kauft.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU)

Übrigens gehört zur Stärkung der Konkurrenzfähigkeitzum Onlineshopping auch, dass die Innenstädte zum Bum-meln und zum Verweilen einladen. Dazu trägt das Pro-gramm „Stadtumbau in Hessen“ des Umweltministeriumserheblich bei und stärkt auch den Einzelhandel wesentlich

mehr, als es z. B. reguläre sonntägliche Öffnungszeitenmachen würden.

Es gibt nämlich bei der immer stärkeren Ausweitung derÖffnungszeiten auch den Effekt, dass kleine Anbieter, ge-rade auch bei dem Beispiel von Eiterfeld, und ladenin-habergeführte Geschäfte nicht mehr mithalten können unddamit auch vor Ort eine weitere Konzentration auf diegroßen Ketten erfolgt.

Die GRÜNEN sehen aber auch die Diskussion, die es inden vergangenen Monaten um die verkaufsoffenen Sonnta-ge gab. In einigen Kommunen ist die Sonntagsöffnung anKlagen der Gewerkschaften und der Kirchen gescheitert,da der enge Zusammenhang zu dem besonderen Anlassnicht immer klar erkennbar war.

Vizepräsident Dr. Ulrich Wilken:

Frau Kinkel, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?

(Kaya Kinkel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja!)

– Herr Lenders.

Jürgen Lenders (FDP):

Frau Kollegin, können Sie uns die Frage beantworten,wann das letzte Mal die große Reform der Ladenöffnungs-zeiten war und welche Bundesregierung damals die Ver-antwortung getragen hat? Können Sie uns sagen, wann daswar?

(Zurufe von der CDU, der SPD und dem BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN: Oh! – Michael Boddenberg(CDU): Ich könnte das nicht sagen! – René Rock(FDP): Ratet mal! – Gegenrufe von der CDU unddem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Glockenzei-chen des Präsidenten)

Kaya Kinkel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehen Sie es mir nach, das weiß ich nicht. Aber das Themaist das Ladenöffnungsgesetz in Hessen. Bei der Evaluationdes Gesetzes in Hessen kommen wir auch dazu, uns dar-über auszutauschen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU)

Wenn geplante Öffnungszeiten kurzfristig abgesagt werdenmüssen, weil sie gerichtlich untersagt werden, dann ist dasohne Zweifel eine ärgerliche Situation für alle Beteiligten,also die Arbeitnehmerinnen und die Arbeitnehmer, die sichdarauf eingestellt haben, und deren Familien und auch fürdie, die sich gefreut haben, sonntags einkaufen zu gehen,und natürlich auch für die Kommunen.

Die Verfahren sind auch eine Konsequenz daraus, dass eskeine gesellschaftliche Einigung darüber gibt, was vor Ortan Sonntagen gewollt ist und was nicht. Die Gewerkschaf-ten und die Kirchen haben natürlich eine ganz andere Vor-stellung als die Unternehmensverbände. Wir GRÜNE sindder Meinung, dass sich diese Probleme am besten vor Ortlösen lassen, mit den Gewerkschaften, mit den Kirchen,mit dem Einzelhandel, den beteiligten Firmen und derenBetriebsräten.

Das ist der Unterschied zur FDP-Position. Ein runder Tischauf Landesebene, so wie Sie ihn vorschlagen, mit der Be-

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teiligung von Landtagsabgeordneten, wäre zwar politischsichtbar, er würde aber im Zweifel die Probleme, die es vorOrt gibt, überhaupt nicht lösen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU)

Deswegen regen wir in unserem Antrag an, sich auf kom-munaler Ebene mit allen Gruppen frühzeitig auf die maxi-mal vier verkaufsoffenen Sonntage pro Jahr zu verständi-gen. Dass dies wirksam dazu führt, das Klagerisiko zu ver-ringern, zeigt das Beispiel Rheinland-Pfalz. Dort wird dasbereits praktiziert. Das gibt den Unternehmen Planungssi-cherheit und spart Gerichtskosten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU)

Es ergibt sicherlich Sinn, den Sachverhalt und das Hessi-sche Ladenöffnungsgesetz zu evaluieren und zu schauen,ob die Regelungen wirksam sind bzw., falls nicht, wo ver-bessert werden kann. Diese Evaluierung wird nächstes Jahrbeginnen. Bis dahin werden wir sehen, ob die Gesprächevor Ort funktionieren und ob eine gemeinsame Position ge-funden werden kann. Wir GRÜNE sehen aber keinen Sinndarin, einen runden Tisch auf Landesebene einzurichten,der nichts weiter als eine symbolische Wirkung habenkann. – Vielen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Dr. Ulrich Wilken:

Danke, Frau Kinkel. – Für die LINKE hat sich Frau Schottzu Wort gemeldet.

Marjana Schott (DIE LINKE):

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Vorweg: Dasangesprochene Thema ist ein wichtiges, doch das Ansin-nen der FDP ist wieder einmal sehr durchschaubar. Siewollen wie eh und je den Schutz von Sonn- und Feiertagenweiter aufweichen, und das wird es mit uns nicht geben.Wir werden uns dagegen stellen, so gut und solange wirkönnen.

(Beifall bei der LINKEN)

Was ist die Situation? Der Sonn- und Feiertagsschutz wur-de in den zurückliegenden Jahrzehnten weitgehend ausge-höhlt. Vor nicht allzu langer Zeit begann für den ganzüberwiegenden Teil unserer Bevölkerung spätestens amSamstagnachmittag das Wochenende. Feiertage waren ge-nerell besonders geschützt. Es gab kaum Betriebe, denenaus wirtschaftlichen Gründen Ausnahmen genehmigt wur-den, sondern es gab Notdienste in den für die Bevölkerunglebensnotwendigen Bereichen – z. B. in den Krankenhäu-sern, bei der Polizei, der Feuerwehr usw.

In der Zwischenzeit haben wir aber eine Situation, in derdas Arbeitsleben der meisten beschäftigten Menschen völ-lig entgrenzt ist. Familien haben kaum mehr gemeinsameZeiten. Das heißt, der Nine-to-five-Job an fünf Tagen inder Woche ist nicht mehr die Regel, wie es einmal war,sondern die Ausnahme. Menschen arbeiten in Teilzeit oderin Schichten, Arbeit ist durch ständige Erreichbarkeit völ-lig entgrenzt. Eltern sind beispielsweise in ihrer Freizeit zuHause, wenn die Kinder in der Schule sind, arbeiten am

Abend und müssen dann noch organisieren, wie die Kinderzu betreuen sind. Das Familienleben ist komplett zerrissen.

Schon deshalb ist es so wichtig, dass für so viele Menschenwie möglich der Sonntag frei ist – und das nicht nur fürden Zusammenhalt von Familie und Gesellschaft und fürdie Erholung, sondern es geht auch um ein ganz rationalesArgument: Die Menschen können das Geld, das sie haben,eben nur einmal ausgeben. Ob sie es am Freitagnachmittagausgeben oder am Sonntag, ändert wirtschaftlich nichts. Esändert sich nur, dass alle Betriebe rund um die Uhr geöff-net bleiben müssen. Bequemlichkeit für die einen ja, weilman eben immer einkaufen gehen kann, aber Verlust vonPlanbarkeit und Gemeinsamkeit für die Beschäftigten – daswollen wir so nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Dann kommt das Argument mit dem Einkaufen im Netz.Ja, aber wenn wir politisch etwas am Einkaufen im Netzverändern wollen und die Menschen mehr dazu animierenmöchten, tatsächlich vor Ort einzukaufen, dann sollten wirauch einmal darüber nachdenken, warum das Einkaufen imNetz so attraktiv ist. Dazu gehört auch, dass man die Dingenach Hause geliefert bekommt, und zwar ohne den realenPreis dieses Transports zu zahlen; denn es bedeutet, wirfahren jedes einzelne Teil für jeden einzelnen Menschenbis vor seine Haustür durch die Gegend. Früher kam derPaketbote einmal, heute kommt er drei-, vier- und fünfmal.Was das für eine Belastung für unsere Kommunen ist, wasdas für eine Belastung für unsere Umwelt ist und was dasfür unerträgliche Arbeitsbedingungen für die Menschensind, die diese Lkw fahren, das wissen wir doch alle, unddas kann es doch nicht sein, was wir wollen. Machen wirendlich den Transport so teuer, wie er wirklich sein müss-te, damit er die Kosten einfährt, die er gesellschaftlich ver-ursacht. Dann ist auch das Einkaufen im Netz deutlich we-niger attraktiv.

(Beifall bei der LINKEN)

Nun geht es uns nicht darum, die Uhr zurückzudrehen.Aber wir wollen und müssen den Schutz der Beschäftigten,den Schutz der Familien und den Schutz einer nicht aus-schließlich am Kommerz orientierten Gesellschaft deutlichstärken.

(Beifall bei der LINKEN und des Abg. Turgut Yük-sel (SPD))

Bei der Debatte um die Öffnung am 24. Dezember in die-sem Jahr ist mir wirklich speiübel geworden. Die Vorstel-lung, dass die Menschen im Einzelhandel am Sonntag inihren Laden gehen sollen, während sich früher jeder ge-freut hätte, dass Menschen einmal drei Tage am Stück freihaben – sogar dreieinhalb Tage, weil Samstagnachmittagauch frei gewesen wäre, und viele haben ja Gott sei Danknoch am Samstag frei –, sich erholen können und genießenkönnen, dass es Feiertage gibt: Das aufzuweichen, indemwir erwarten – als ob wir weder Kühlschränke noch Ge-friertruhen zu Hause hätten und alle verhungern würden,wenn wir nicht einkaufen können –, dass am Sonntagmor-gen die Läden geöffnet werden – bei dieser Debatte ist mirehrlich übel geworden.

Wenn ich für mich selbst den Anspruch habe, ich möchteein gutes und ein schönes Fest verbringen, dann sollte ichdas auch den anderen zugestehen.

(Beifall bei der LINKEN und des Abg. Gerald Kum-mer (SPD))

8538 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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Ich bin froh, dass viele Einzelhandelsketten – auch großeKetten – von sich aus gesagt haben: „Wir machen an die-sem Tag nicht auf“. Ich bin froh, dass die Debatte so gelau-fen ist und es zu diesem Ergebnis gekommen ist.

Ich möchte auch noch einmal daran erinnern – heute kamso ein Anklang in diese Debatte, als ob irgendwann einmalbeschlossen worden sei, an vier Sonntagen bliebe geöffnet,und dafür müsse es irgendeinen Anlass geben –: Die Ideewar ursprünglich, dass es einen Anlass gibt, ein etabliertesFest oder eine etablierte Veranstaltung, die seit eh und jean diesem Sonntag stattfindet, und deshalb gestattet manauch ausnahmsweise, viermal im Jahr an diesem Sonntagdas Geschäft zu öffnen – und nicht: Wir gestatten, viermalim Jahr das Geschäft zu öffnen, und erfinden dafür irgend-eine Bratwurstkirmes, damit wir eine Rechtfertigung ha-ben. Wenn das vor Ort daraus gemacht wird, dann mussman sich auch nicht wundern, wenn das angefochten wirdund wenn Gerichte so entscheiden, wie sie vielerorts ent-schieden haben. Man kann es nicht herbeibiegen. Und obman denn nun in Eiterfeld oder in Lohfelden oder sonst wounbedingt einen verkaufsoffenen Sonntag braucht, wageich zu bezweifeln; denn für die Versorgung der Menschenbrauchen wir ihn beileibe nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

DIE LINKE unterstützt daher seit Jahren die Forderungdes Bündnisses für den Sonn- und Feiertagsschutz. Einelohnende Debatte wäre, darüber nachzudenken, warum esin Hessen im Bundesvergleich weniger Feiertage gibt:Fünf Tage mehr hat Bayern. Und geht es denen ökono-misch nun so viel schlechter? Nein. Es ist eine Mär, zuglauben, dass Rund-um-die-Uhr-Versorgung glücklich ma-chen würde. Freie Zeit für alle ist ein viel höherer Wert,und für den machen wir uns stark.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich frage mich auch, warum die FDP einen runden Tischeinsetzen will; denn die Positionen sind doch klar. Es istgut, dass die FDP weder in Hessen noch in Berlin in Re-gierungsverantwortung gekommen ist, weil damit wenigs-tens ein Ende der immer weiteren Aushöhlung des Sonn-und Feiertagsschutzes verbunden ist. Wir wollen, dass derSonntag der Familie gehört, bei dieser Position werden wirbleiben, und daran wird auch ein runder Tisch nichts än-dern.

(Beifall bei der LINKEN und des Abg. Turgut Yük-sel (SPD))

Vizepräsident Dr. Ulrich Wilken:

Danke, Frau Schott. – Für die Landesregierung hat sichHerr Grüttner zu Wort gemeldet. Herr Minister, Sie habendas Wort.

Stefan Grüttner, Minister für Soziales und Integration:

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren!Natürlich ist es ein Thema, das uns seit längerer Zeit undimmer wieder beschäftigt.

Eines vorangeschickt: Die Frage der Sonntagsruhe hat fürdie Hessische Landesregierung einen hohen Stellenwert,und diesen hohen Stellenwert verteidigen wir auch, meinesehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Trotzdem müssen wir uns an dieser Stelle auch Gedankendarüber machen, wenn es um die Fragestellung von Laden-öffnungen und verkaufsoffenen Sonntagen geht, in wel-chem Kontext wir es diskutieren und mit welcher Wahr-haftigkeit wir es diskutieren.

Wenn ich „Wahrhaftigkeit“ sage, mache ich das an einemBeispiel fest, weil es gerade auch in einem Beitrag darge-stellt worden ist, verbunden mit einem persönlichen Übel-keitsgefühl, was den verkaufsoffenen Sonntag und die Dis-kussion um Heiligabend betrifft.

Ein Blick in das Gesetz hätte genügt, um diese Diskussionüberhaupt nicht anfangen zu lassen. Das Gesetz ist eindeu-tig, da dort steht: auf keinen Fall ein verkaufsoffener Sonn-tag unter anderem – das lasse ich einmal weg – an den vierAdventssonntagen. Wer geschaut hätte, hätte festgestellt,dass Heiligabend in diesem Jahr als Sonntag auf den vier-ten Adventssonntag fällt, er hätte automatisch gemerkt,dass diese Diskussion vollkommen überflüssig ist.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN sowie des Abg. Jürgen Lenders (FDP))

In diesem Moment stellt sich durchaus die Frage, ob eswirklich an einem Interesse der Gewerkschaft ver.di liegt –ich nenne das ganz bewusst, weil es auf der Tagesordnunggewesen ist –, zum Schutz von Mitarbeiterinnen und Mit-arbeitern bloß keinen verkaufsoffenen Sonntag durchzu-führen, oder aber an der Intention, eine Diskussion zu er-zeugen, die jeglicher Sachgrundlage entbehrt und wahr-scheinlich nur deswegen auf die Tagesordnung gebrachtworden ist, um Stimmung zu machen, und nicht etwa, umdie Fragestellung der Ladenöffnungszeiten an Sonntagenzu diskutieren. Die Rechtslage ist eindeutig, und genau dasist das Problem.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Wir müssen an der Stelle schon konstatieren, dass es einGerichtsurteil zum Verbot eines verkaufsoffenen Sonntagsin Hanau gibt. Die Zeitungen waren teilweise voll mit derBerichtserstattung über die Entscheidung des Gerichts. DasGericht hat ausgeführt: Der Antragstellerin, der Stadt Ha-nau, war es nicht gelungen, zu begründen, warum die Lä-den ausschließlich als Annex zu als Herbstmarkt verbunde-nen drei Märkten, die keinerlei Traditionsveranstaltungensind, geöffnet sein sollen. – Wenn man diese Begründungliest, dann sollte man gleichzeitig die Auslegungshinweiseund Empfehlungen lesen, die die Hessische Landesregie-rung den Kommunalen Spitzenverbänden, den Städten undGemeinden zur Verfügung gestellt hat, in denen sehr klarsteht, wie die Kriterien, wie die Begründung, wie die Ab-folge aussehen sollen.

Nach meiner Kenntnis ist kein einziger verkaufsoffenerSonntag gerichtlich verboten worden, der diesen Richtlini-en oder Hilfestellungen entsprechend beantragt worden ist.Wenn man sie missachtet, muss man sich nicht wundern,wenn es entsprechende Gerichtsurteile gibt.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Trotzdem sind wir auch an dieser Stelle nicht blind undnicht beratungsresistent.

(Günter Rudolph (SPD): Was? – Weitere Zurufe)

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8539

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– Herr Rudolph, immerhin hat Herr Decker gesagt, dass ereinem Antrag der CDU zustimmen kann. Der ist übrigensgeschrieben worden, bevor er gesprochen hat. Insofernkann man sagen, er hat für den CDU-Antrag gesprochen.Das ist auch insofern in Ordnung.

(Zuruf des Abg. Günter Rudolph (SPD))

– Der Koalitionsfraktionen, Entschuldigung. – Aber es istan dieser Stelle vollkommen klar, dass wir wissen, dass eseine Unsicherheit bei denjenigen gibt, die einen ver-kaufsoffenen Sonntag planen und beantragen, auch wennsie sich an diese Richtlinien halten.

Hier geht es nicht um die Ausweitung von verkaufsoffenenSonntagen. Ich bin gespannt, wie die das in Nordrhein-Westfalen umsetzen wollen. Wir werden damit durchauseinige Erfahrungen machen. Das hört sich plakativ an. Inder Umsetzung halte ich es für etwas problematisch. DieBerliner sind damals auch auf die Nase gefallen, als sie ei-ne ganz andere Regelungsmöglichkeit für sich in Anspruchnehmen wollten. Das hat auch zur Entscheidung des Bun-desverfassungsgerichts geführt, die uns heute in der Tat inder Auslegung immer noch Schwierigkeiten macht.

Wie können wir es schaffen, eine größere Rechtssicherheitherzustellen? Ich habe von diesem Pult aus schon einmalgesagt – aber diese Prüfungen sind ausgesprochen schwie-rig –: Können wir Fristen setzen, innerhalb derer eine Ent-scheidung oder eine Letztentscheidung zu treffen ist, damitnicht Werbemaßnahmen bis zwei oder drei Tage vor demgeplanten verkaufsoffenen Sonntag anlaufen und er danndurch Eilantrag gekippt wird? Können wir dort ein Stückweit Hilfestellung leisten?

Die Prüfungen gestalten sich eindeutig schwierig, auch imHinblick auf die Rechtsmittel, die man in Anspruch neh-men kann, und wie Gerichte dahin gehend entscheiden.Oder muss es nicht den Versuch geben, mit den Betroffe-nen – da sage ich: Gewerkschaften, Kirchen, Einzelhandelund viele mehr – möglicherweise zu Regelungen zu kom-men, wie weit man Entscheidungen delegieren oder verla-gern kann? Wir sind offen für solche Diskussionen.

Deswegen sehe ich erst einmal auch nicht die Notwendig-keit eines runden Tisches. Was wir machen können, ist,den Beginn der Evaluation vorzuziehen, auch auf derGrundlage der Erfahrungen, die wir gemacht haben. Wennwir die Evaluationsergebnisse haben und die Stellungnah-men der Beteiligten, die sowieso eingeladen werden, ihreAuffassungen entsprechend darzulegen, haben wir dieChance, die sehr divergierenden Interessen möglicherweisein Übereinstimmung zu bringen und einen Weg zu finden,wie eine solche Diskussion in Zukunft unter dem Gesichts-punkt: „Wir schützen den Sonntag, wir schützen Rechtevon Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, geben demHandel aber auch Entwicklungsperspektiven“, geführt wer-den kann.

An der Stelle sind wir gesprächsbereit. Wir versuchen, dashinzubekommen. Bis zu diesem Zeitpunkt würde ich im-mer empfehlen, sich an den Richtlinien zu orientieren, diewir an die Hand gegeben haben, und möglichst im Sinneeiner Versachlichung der Diskussion auf solche unsinnigenDiskussionen wie „Ja nicht den Heiligen Abend zum ver-kaufsoffenen Sonntag machen“ zu verzichten. Wie gesagt,ein Blick in das Gesetz hätte genügt, um zu sehen, dassdiese Diskussion vollkommen überflüssig ist. Ich glaube,es bringt uns weiter, auf der sachlichen Grundlage zu dis-kutieren.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Ulrich Wilken:

Danke, Herr Minister Grüttner.

Mir liegen Informationen vor, dass beide Anträge demAusschuss überwiesen werden sollen. – Ich sehe einNicken. An den Wirtschafts- und Verkehrsausschuss? –Dann machen wir das so.

(Günter Rudolph (SPD): Ich weiß nicht, warum es inden Wirtschaftsausschuss soll! Aber ich bin nichtzuständig! – Minister Stefan Grüttner: Es sollte demSozial- und Integrationspolitischen Ausschuss über-wiesen werden! – Günter Rudolph (SPD): Ja, daspasst!)

Michael Boddenberg (CDU):

Herr Präsident, mein Chef ist gerade nicht da. Deswegenbitte ich um Entschuldigung. Aber ich glaube, das gehörteher in den Sozialpolitischen Ausschuss, möglicherweisein beide Ausschüsse.

Vizepräsident Dr. Ulrich Wilken:

Danke, Herr Boddenberg. – Genau deswegen habe ich ge-fragt. Es besteht Einigkeit, das dem Sozial- und Integrati-onspolitischen Ausschuss zu überweisen.

(Jürgen Lenders (FDP): Und mitberatend an denWirtschaftsausschuss!)

– Mitberatend an den Wirtschaftsausschuss. – Beide Anträ-ge gehen also an den Sozial- und IntegrationspolitischenAusschuss, mitberatend ist der Wirtschaftsausschuss. Jetzthaben wir es.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 56:

Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend Steuerhinter-ziehung bekämpfen, aggressive Steuervermeidungsstra-tegien eindämmen – „Paradise Papers“ belegen Not-wendigkeit weiterer nationaler und internationalerMaßnahmen – Drucks. 19/5409 –

zusammen mit Tagesordnungspunkt 60:

Antrag der Fraktion DIE LINKE betreffend „SwissLeaks“, „Lux Leaks“, „Panama Papers“, „Paradise Pa-pers“ – Steuerehrlichkeit und Steuergerechtigkeit her-stellen – Drucks. 19/5414 –

Als Erste hat sich Frau Erfurth von BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN zu Wort gemeldet.

Sigrid Erfurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren!Zu Beginn möchte ich ausdrücklich betonen, dass Steuer-hinterziehung eine Straftat ist und wir mit allen rechtsstaat-lichen Mitteln entschieden dagegen vorgehen müssen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, derCDU und der LINKEN)

8540 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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Aber auch aggressiven Steuervermeidungsstrategien, beidenen das Handeln der Unternehmen oder auch Privatper-sonen ohne ersichtlichen wirtschaftlichen Grund aus-schließlich darauf ausgerichtet ist, nur Steuerumgehung zuerzielen, muss ein Riegel vorgeschoben werden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU)

Die Enthüllungen der sogenannten Paradise Papers, die wirerneut einem Netzwerk von Journalisten verdanken, zei-gen, wie multinationale Konzerne und einzelne schwerrei-che Privatpersonen mithilfe von großen Beratungskanzlei-en aggressive Steuervermeidungsstrategien in sehr er-schreckendem Ausmaß betreiben. Diese Praktiken mögensich am Rande der Legalität bewegen, legitim sind sie aberauf gar keinen Fall.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU)

Durch moralisch höchst fragwürdige Steuervermeidungs-strategien werden den öffentlichen Haushalten Milliarden-beträge an Steuern hinterzogen – Steuern, mit denen wirunsere Kitas, unsere Straßen, unsere Schulen, die Universi-täten und Bibliotheken, unseren sozialen Wohnungsbau fi-nanzieren oder, wenn man es kurz zusammenfasst, unserenRechts- und Sozialstaat.

Das widerspricht allen Prinzipien der Steuergerechtigkeitoder auch den Bedingungen des fairen Wettbewerbs, wennsich zwar die Bürgerinnen und Bürger und kleinere Unter-nehmen in erheblichem Umfang über ihre Steuerzahlungenam Gemeinwesen beteiligen, während sich internationaleKonzerne aber mithilfe von großen Beratungskanzleien ausdem Staub machen und sich nicht darum scheren, wie wirunser Gemeinwesen finanzieren.

Damit ist aus unserer Sicht unser Gesellschaftsvertrag inGefahr. Wer die Vorzüge unseres Rechtsstaats und auchunserer sozialen Infrastruktur, der staatlich finanzierten In-frastruktur genießt, der muss sich, bitte schön, auch an derFinanzierung unseres Gemeinwesens beteiligen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei Abgeordneten der CDU)

Anhand der Paradise Papers kann man wunderbar nach-vollziehen, wie sich bekannte Konzerne, z. B. Nike, ausdem Staub machen und der Verantwortung entziehen. Mit-hilfe einer Beratungsfirma haben sie erreicht, dass sie hierin Deutschland so gut wie keine Steuern zahlen. Dabei be-findet sich das Hauptquartier von Nike für Deutschland,Österreich und die Schweiz hier bei uns in Frankfurt.

Jetzt könnte man vermuten, dass jeder in Deutschland ver-kaufte Schuh auch zu einem Gewinn führt, der hier inDeutschland versteuert wird. Dem ist aber nicht so, dennaufgrund der Vertragsgestaltung gilt die deutsche Nieder-lassung nur als Vermittler. Wer also in einem deutschenNike Store oder einem Nike Factory Outlet Schuhe kauft,der kauft gar nicht den Schuh einer deutschen Firma, son-dern befindet sich eigentlich in der Filiale eines niederlän-dischen Ablegers. Das ahnt der Schuhkäufer im Regelfallnicht.

Was er ebenfalls nicht ahnt, ist, dass die Erlöse aus demSchuhverkauf komplett in die Niederlande fließen und vondort – über astronomisch hohe Lizenzzahlungen – auf dieBahamas. Auf den Bahamas zahlen Firmen für ausländi-sche Gewinne keine Steuern. So haben wir am Ende eine

schöne Kette, die ausschließlich darauf ausgerichtet ist,keine Steuern in Deutschland oder einem anderen Land zuzahlen, sondern Steuern am Ende möglichst zu umgehenund zu vermeiden. Meine Damen und Herren, das hat über-haupt keinen wirtschaftlichen Grund. Der einzige Hinter-grund ist, dass man keine Steuern zahlen will.

Angesichts solcher Praktiken sind wir froh, dass es auf In-itiative Hessens bereits einige Maßnahmen gibt, um die-sem internationalen Steuerbetrug und der aggressiven in-ternationalen Steuervermeidung Einhalt zu gebieten. Sohaben wir z. B. für 2018 die Lizenzschranke eingeführt.Mit der Eindämmung sogenannter Lizenzboxen soll er-reicht werden, dass der wirtschaftliche Nutzen aus Paten-ten und Lizenzen in dem Land versteuert wird, wo tatsäch-lich geforscht und entwickelt wird. Das ist ein sehr gutesPrinzip; denn dort, wo Infrastruktur in Anspruch genom-men wurde, sollen, bitte schön, auch Steuern gezahlt wer-den.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei Abgeordneten der CDU)

Das Beispiel Nike zeigt auch, dass eine echte und tatsäch-lich wirkungsvolle Bekämpfung grenzüberschreitenderSteuerhinterziehung nur im internationalen Verbund gelin-gen kann. Die Enthüllungen aus den Paradise Papers ma-chen sehr deutlich, dass der internationale Druck auf dieOffshore- und Schattenfinanzplätze und deren Unterstützerbei Weitem noch nicht ausreicht und dass weitere Maßnah-men umgesetzt werden müssen.

Wir brauchen ein weltweites Register, das die wirtschaft-lich begünstigten Personen hinter den Unternehmenskon-struktionen auflistet. Die bereits auf europäischer Ebenebeschlossenen Register – da haben wir schon einiges er-reicht – sind sinnvoll, aber auch nur ein erster Schritt.

Wir begrüßen auch, dass die europäischen Staaten anstre-ben, gemeinsam eine Liste von Drittstaaten zu erstellen,gegen die steuerliche Bedenken bestehen oder die beimDatenaustausch bisher nicht kooperieren. Das ist ein sinn-volles Instrument der Transparenz, mit dem erreicht wer-den soll, dass der öffentliche Druck auf Offshorefinanz-plätze weiterhin verstärkt wird und dass Gesetzesänderun-gen erreicht werden. Das ist nicht einfach, aber ich denke,es ist den Schweiß der Edlen wert.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei Abgeordneten der CDU)

Neben mehr Transparenz müssen sich die europäischenStaaten aber endlich auch auf Mindeststandards bei derUnternehmensbesteuerung verständigen. Es gibt durchausauch in der Europäischen Union Ausweichbewegungenimmer dorthin, wo niedrige Unternehmenssteuern zu zah-len sind. Es muss das Prinzip gelten, dass Gewinne dortbesteuert werden, wo sie auch erwirtschaftet wurden – oh-ne dass sie in Niedrigsteuerländer transferiert werden.

Wir brauchen innerhalb der Europäischen Union gemein-same Regeln zur Ermittlung einer einheitlichen Bemes-sungsgrundlage für Steuern und eine gemeinsame Körper-schaftsteuerbemessungsgrundlage, ein Thema, das wirschon sehr lange miteinander diskutieren und in das mehrBewegung kommen muss.

Meine Damen und Herren, das Beispiel Share Deals habenwir hier schon mehrfach besprochen. Durch Share Dealsentgehen den Bundesländern insgesamt Grunderwerb-steuereinnahmen in Höhe von mindestens 1 Milliarde €.

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8541

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Diesbezüglich war Finanzminister Dr. Schäfer schon tätig.Wir wollen einfach nicht länger hinnehmen, dass Großin-vestoren bei millionenschweren Immobiliengeschäftenmittels entsprechender Vertragsgestaltungen keinen Centan Grunderwerbsteuer zahlen, anders als jeder Bürger undjede Bürgerin, die für den privaten Hauskauf Grunder-werbsteuer entrichten müssen. Deshalb sind wir froh, dasses die hessische Bundesratsinitiative zur Reform derGrunderwerbsteuer gibt, um diesen Share Deals endlicheinen Riegel vorzuschieben.

Meine Damen und Herren, hier in Hessen haben wir denKampf für mehr Steuergerechtigkeit aufgenommen. Ich binfroh, dass wir eine Vorreiterrolle einnehmen können. Ichfreue mich sehr, Herr Dr. Schäfer, dass Sie eine Auswer-tung der Paradise Papers angeboten haben, um sie auch aushessischer Perspektive aufzuarbeiten.

(Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Das ist erneut ein wichtiger Beitrag für mehr Steuergerech-tigkeit. Hessen nimmt bereits bei der Auswertung der Pa-nama Papers eine Vorreiterrolle im Kampf gegen interna-tionale Steuerkriminalität ein.

Es gibt eine Sondereinheit bei der OFD Frankfurt, in derSteuerfahnderinnen und Steuerfahnder eng mit dem Bun-deskriminalamt zusammenarbeiten. Dort sind fachlicheund technische Expertise gebündelt, um das Datenpaket,das sich aus den Panama Papers ergeben hat, auszuwertenund neue Erkenntnisse zu sammeln. Es ist eine Herkules-aufgabe, das alles zusammenzubinden. Das zeigt aberauch, dass es in Hessen eine schlagkräftige Steuerverwal-tung gibt, die mit solchen Aufgaben betraut werden kann,die solche Aufgaben annimmt und gut zu lösen weiß.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU)

Damit das auch in Zukunft so bleibt, werden wir die Zahlder Betriebsprüferinnen und Betriebsprüfer erhöhen. Wirwerden auch weiterhin Anwärterinnen und Anwärter in derSteuerverwaltung einstellen, im nächsten Jahrgang jeweils700 neue. Damit sind wir auch künftig gut gerüstet, umden Kampf gegen Steuerhinterziehung und Steuervermei-dung durchzustehen.

Insofern will ich zum Schluss nur noch sagen: Im Hinblickdarauf, was DIE LINKE in ihren Anträgen fordert, sind wirschon längst weiter.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Vor allem bei Fra-port! – Heiterkeit bei der LINKEN)

– Ja, die Debatte zu Fraport werden Sie jetzt wieder anfan-gen, das weiß ich schon, Frau Wissler.

(Unruhe)

Vizepräsident Dr. Ulrich Wilken:

Aber Sie jetzt nicht mehr, Frau Erfurth.

Sigrid Erfurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Das ist eine alteDebatte, die wir hier schon längst geführt haben. Ich den-ke, wir brauchen sie heute nicht zu wiederholen. Das ma-chen nur die, die sich nicht um die Zukunft kümmern wol-len. – Danke.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU – Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Ulrich Wilken:

Danke, Frau Erfurth. – Für die Fraktion DIE LINKE hatsich Herr Schalauske zu Wort gemeldet.

Jan Schalauske (DIE LINKE):

Herr Präsident, meine Damen und Herren, liebe Besuche-rinnen und Besucher! Ich möchte meine Rede zunächst miteinem ganz großen Dank beginnen, einem Dank an dieJournalistinnen und Journalisten, die zum Teil unter Ein-satz ihres Lebens immer und immer wieder Steuerhinter-ziehung und üble Machenschaften um legale Steuertricksans Licht der Öffentlichkeit bringen. Ihnen sind wir zuDank verpflichtet.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie müssen das tun, weil Finanzminister versagen oder Po-litiker Gesetze machen, die Steuerflucht ermöglichen. DieListe der Skandale ist lang: Offshore Leaks, LuxemburgLeaks, Swiss Leaks, Panama Papers, Bahama Leaks, Para-dise Papers.

Wenn solche Vorgänge an das Tageslicht kommen, ist dieEmpörung jedes Mal groß. Dann werden Reden gegenSteuervermeidung gehalten. Es werden Anträge gestelltund beschlossen. Aber am Ende passiert nichts, und allesläuft weiter wie bisher.

Schätzungsweise über 17 Milliarden € entgehen Deutsch-land jedes Jahr durch legale Steuertricks von Superreichenund Konzernen. Nehmen wir die illegale Steuerhinterzie-hung hinzu, verlieren wir in der Europäischen Union Hun-derte Milliarden € jährlich, viel davon hier in Deutschland.

Welche Auswirkungen das auf die Reichtumsverteilung indieser Welt hat, zeigt eine ganz beeindruckende Zahl. Mitt-lerweile besitzen etwa acht Personen so viel wie die Hälfteder Weltbevölkerung. Die Hälfte der Weltbevölkerung sind3,6 Milliarden Menschen. In Deutschland verfügen diereichsten Zehn über zwei Drittel des privaten Nettovermö-gens. Die Hälfte der Bevölkerung besitzt nichts oder hatSchulden.

Deswegen fordert selbst der Internationale Währungsfonds– das ist eine des linken Einflusses unverdächtige Organi-sation –, in Deutschland endlich die Vermögensteuer ein-zuführen.

(Beifall der Abg. Janine Wissler, Marjana Schott(DIE LINKE) und Gerald Kummer (SPD))

Welche Auswirkungen hat diese massive Konzentrationdes Reichtums in den Händen weniger? Jetzt muss dierechte Seite des Hauses einmal kurz schaudern. Darauf hatder bekannte US-Senator Bernie Sanders, ein bekennenderdemokratischer Sozialist, hingewiesen. Er hat davor ge-warnt, dass uns angesichts dieser massiven Konzentrationdes Reichtums droht, unter die Kontrolle eine Oligarchievon Milliardären zu geraten.

Das werden wir an dieser Stelle nicht ausführlich tun kön-nen. In diesem Zusammenhang wäre es interessant, aucheinmal über die Parteispenden zu reden.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Ja, aus Aserbai-dschan!)

8542 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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Wir haben in Hessen dazu eine spezielle Tradition. Partei-spenden bergen immer die Gefahr, dass Demokratie undpolitische Entscheidungsprozesse käuflich werden.

(Zuruf des Abg. Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn (FDP))

– Herr Dr. h.c. Hahn, das heißt, beim Thema Steuergerech-tigkeit geht es daher auch um die Frage des Einflusses aufdie politische Entwicklung und den Einfluss auf die Demo-kratie.

Heute Vormittag haben wir lange darüber diskutiert, dasshinsichtlich der Jamaikakoalition sehr lange Sondierungs-gespräche geführt wurden. Das geschah sehr lange. Dashaben wir heute Morgen sehr strittig diskutiert.

Aber in einem waren sich die Jamaikaparteien doch soforteinig: Es soll keine Vermögensteuer für Millionäre undkeine vernünftige Erbschaftsteuer geben. Genau das ist es,was die schwarz-grüne Landesregierung in Hessen eint.Sie wollen doch gar kein gerechtes Steuersystem. Sie mei-nen es mit dem Kampf gegen aggressive Steuervermei-dungsmodelle nicht ernst.

(Holger Bellino (CDU): Träumen Sie einmal wei-ter!)

Ich will Ihnen auch erklären, warum das so ist. Das LandHessen ist nicht einmal in der Lage, seinen Einfluss aufUnternehmen, an denen es selbst wesentlich beteiligt ist,geltend zu machen. Es bringt diese Unternehmen nicht da-zu, endlich damit aufzuhören, in Steueroasen Tochterge-sellschaften zur Steuervermeidung zu betreiben. Wenn Siedamit nicht endlich aufhören, dann ist Ihr Engagement fürmehr Steuergerechtigkeit letztlich nicht mehr als eine hoh-le Phrase.

(Beifall der Abg. Janine Wissler und Marjana Schott(DIE LINKE))

Wie soll denn eine Landesregierung im Kampf gegen Steu-ervermeidung und Steuerungerechtigkeit glaubwürdig sein,wenn sie es duldet, dass die Gesellschaft Fraport, an derdas Land wesentlich beteiligt ist, eine Briefkastenfirma aufMalta unterhält? Wenn Sie es ernst mit dem Kampf gegenSteuervermeidung meinen, dann sorgen Sie dafür, dass die-ser Briefkasten endlich dichtgemacht wird.

(Beifall der Abg. Janine Wissler, Marjana Schott(DIE LINKE), Gerald Kummer (SPD) und MürvetÖztürk (fraktionslos))

Die Landesregierung ist im Aufsichtsrat vertreten. HerrKaufmann hätte die Möglichkeit, gegen diese Praxis zu in-tervenieren. Er scheint das nicht zu tun. Deswegen ist IhrEngagement nicht glaubwürdig.

Wenn Ihnen der Kampf für Steuergerechtigkeit so wichtigwäre, dann hätten Sie hier im Landtag das eine oder dasandere Mal die Gelegenheit gehabt, deutlich zu machen,dass die Entziehung der Gemeinnützigkeit von Attac nichtzu tolerieren ist. Denn die globalisierungskritische Organi-sation Attac hat mit ihrem gesellschaftlichen Engagementsehr viel mehr zum Thema Steuergerechtigkeit beigetragenals so mancher Finanzminister in Hessen und auch anders-wo.

(Beifall der Abg. Janine Wissler, Marjana Schott(DIE LINKE) und Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Während Herr Kaufmann an den Sitzungen des Aufsichts-rats der Fraport teilnimmt, der Öffentlichkeit auch nichtviel mitzuteilen hat, was da denn so passiert, bröckelt es in

der öffentlichen Infrastruktur an allen Ecken und Enden.Das haben wir hier auch schon an der einen oder anderenStelle diskutiert. Wir haben einen Investitionsstau bzw. ei-ne Investitionslücke, die bundesweit 100 Milliarden € be-trägt. Dabei geht es um Universitäten, Krankenhäuser,Brücken und bezahlbaren Wohnraum.

Die Zahlen für Hessen haben wir hier auch schon einmalangesprochen. Leider können wir sie nicht genau ermitteln,weil Sie in Hessen keinen Investitionsbedarf vorsehen wol-len. Das Geld, das durch Steuervermeidung am Fiskus vor-beitransportiert wird, fehlt uns in Hessen für Investitionenin unsere öffentliche Infrastruktur. Sie wird aber wiederumvon Konzernen wie Fraport genauso wie von den Arbeits-kräften genutzt, die hier ihrer Arbeit nachgehen.

Diese Konzerne drücken ihre Steuern, wie sie nur können.Das betrifft z. B. Apple, Amazon oder Staatsfirmen wie dieschwarz-grüne Fraport. Sie verschieben Gewinne überkünstlich geschaffene Zinsen oder Lizenzgebühren zuBriefkastenfirmen in Steueroasen. Die sind nicht irgendwoaußerhalb Europas, sondern die befinden sich in den Nie-derlanden, in Irland und Malta. Dort müssen kritische Jour-nalisten bei der Aufdeckung solcher Skandale ihre Arbeitmit dem Leben bezahlen.

Es ist nichts anderes als ein Skandal, dass jeder Otto Nor-malverbraucher und jede Otto Normalverbraucherin, jedeVerkäuferin und jeder Krankenpfleger seine Steuern zah-len müssen, während die großen Konzerne alles dafür tunkönnen, ihre Steuerlast zu drücken. Wenn ein Hartz-IV-Empfänger einen Termin versäumt, dann drohen ihmSanktionen und existenzielle Leistungskürzungen. Bei Rei-chen und Unternehmen hingegen schauen wir zu, wie siesich durch aufwendigste Konstruktionen ihrer Steuerpflichtentziehen. Das bleibt ein großer Skandal.

(Beifall der Abg. Janine Wissler, Marjana Schott(DIE LINKE) und Mürvet Öztürk (fraktionslos))

In Ihrem Entschließungsantrag betonen Sie – Frau Erfurthhat das auch getan –, wie wichtig die internationale Koope-ration im Kampf gegen die Steuervermeidung sei. Das istzweifelsohne richtig. Ich habe aber den Eindruck, dass Siesich dahinter verstecken wollen. Denn Sie geben damitvor, dass wir hier in Deutschland und in Hessen kaum et-was tun könnten. Gerade in Deutschland könnten wir an-fangen, indem wir uns nicht mehr hinter anderen verste-cken, sondern indem wir unsere eigenen Hausaufgabenmachen, z. B. indem wir Strafsteuern auf Finanzflüsse inSteueroasen erheben.

Es bedarf eines Transparenzregisters und eines weitgehen-den Verbotes von Geschäften in Steueroasen. Wie gesagt,wir brauchen auch die Erhebung von Strafsteuern auf Fi-nanzflüsse in die Steueroasen. Wir müssen die Konzernedazu zwingen, für jedes Land, in dem sie aktiv sind, Ge-winne und Steuern getrennt auszuweisen, und zwar öffent-lich.

(Beifall der Abg. Janine Wissler, Marjana Schott(DIE LINKE) und Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Es ist schön, dass die Landesregierung die Notwendigkeitnationaler und internationaler Maßnahmen gegen Steuer-hinterziehung anerkennt. Anstatt sich hinter diesen natio-nalen und internationalen Maßnahmen zu verstecken, wärees schön, wenn Sie Ihre eigenen Hausaufgaben machenund dafür sorgen würden, dass die Unternehmen, an denendas Land Hessen beteiligt ist, aufhören, Steuervermei-

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8543

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dungsstrategien zum Schaden der Allgemeinheit zu betrei-ben.

Wenn man sich das Marketing für Ihre Offensive in derSteuerpolitik so anschaut – Marketing kann die HessischeLandesregierung gut –, dann hat man den Eindruck, dasszumindest bei einem Teil der die Landesregierung tragen-den Parteien vielleicht auch ein bisschen schlechtes Gewis-sen dahintersteht. Denn da gab es etwas in der Vergangen-heit. Daran erinnern sich vielleicht nicht mehr alle. Aber esgab einmal ein dunkles Kapitel mit völlig zu Unrechtzwangspsychiatrisierten Steuerfahndern. Ich kann verste-hen, dass Sie dieses Image loswerden wollen. Das ist fürdas Land Hessen kein schönes. Blöd dabei ist nur, dass Sieausgerechnet demjenigen, der das mitzuverantworten hat,die Wilhelm-Leuschner-Medaille verleihen wollen. Aberauch darüber haben wir schon gesprochen.

(Beifall der Abg. Janine Wissler und Marjana Schott(DIE LINKE), bei Abgeordneten der SPD sowie derAbg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Sie rühmen sich, jetzt endlich Betriebsprüfer und Anwärterfür Steuerprüfer einzustellen. Dafür sollen wir noch einmalextra klatschen. Es ist eine Notwendigkeit, dass wir genü-gend Betriebsprüfer und genügend Anwärter für Steuerprü-fer haben. Das sollte eine Selbstverständlichkeit sein undkein Grund, sich selbst zu beweihräuchern. Wir haben inden letzten Jahren verzweifelt gefordert, dass Sie da mehrtätig werden müssen.

Ich fasse jetzt zusammen. Allein, mir fehlt der Glaube,dass sich die Landesregierung auch nur für einen kleinenFortschritt im Steuerrecht ernsthaft einsetzen wird. Dasgilt, obwohl Sie immer wieder erklären, dass Sie bei densogenannten Share Deals – Frau Erfurth hat das angespro-chen – etwas gegen die Tricksereien bei der Grunderwerb-steuer tun wollen. Solange Sie nicht einmal bei Unterneh-men, die mehrheitlich der öffentlichen Hand gehören, zurEinsicht bereit sind, dass nicht alles, was legal ist, auch le-gitim und moralisch richtig ist, bleiben Sie schlichtweg un-glaubwürdig.

(Beifall der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Vizepräsident Dr. Ulrich Wilken:

Herr Schalauske, kommen Sie bitte zum Schluss Ihrer Re-de.

Jan Schalauske (DIE LINKE):

Ich komme zu meinen letzten Sätzen. – Steuerhinterzie-hung und Steuervermeidung schaden allen, die auf eine gutausgebaute öffentliche Infrastruktur angewiesen sind. Ap-pelle und Sonntagsreden reichen nicht aus. Wer Steuerge-rechtigkeit durchsetzen will, der muss sich mit den Rei-chen und Mächtigen in diesem Land anlegen. Dazu ist dieLandesregierung bis auf Weiteres wohl nicht bereit.

(Beifall der Abg. Janine Wissler, Marjana Schott(DIE LINKE) und Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Vizepräsident Dr. Ulrich Wilken:

Danke, Herr Schalauske. – Für die SPD-Fraktion hat sichHerr Schmitt zu Wort gemeldet.

Norbert Schmitt (SPD):

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Jährlich gehenrechtschaffenen Steuerzahlern in Europa durch Steuerver-meidung bei der Körperschaftsteuer nach Schätzungen derEuropäischen Kommission 50 bis 70 Milliarden € verloren.Man muss sich einmal überlegen, was man damit alles fi-nanzieren könnte, z. B. Maßnahmen zur Bekämpfung derJugendarbeitslosigkeit in Europa oder sinnvolle Investiti-onsprogramme in Südeuropa, möglicherweise auch inGriechenland.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Deswegen darf es nicht sein, dass sich Steuerverbrechergegenüber einer Gemeinschaft, die sie reich gemacht hat,indem sie ihre Produkte gekauft hat, entsolidarisieren. Diegeleakten Dokumente zeigen den Sittenverfall von wirt-schaftlichen Eliten,

(Beifall bei der SPD und der Abg. Mürvet Öztürk(fraktionslos))

und sie machen unanständige Steuervermeidung und zumTeil auch strafbare Handlungen deutlich. – Deswegen einLob an die Journalisten und auch an diejenigen, die dieseDokumente zur Verfügung gestellt haben. – Damit kom-men wir wieder zu der strafrechtlichen Frage. Ich glaube,wir bräuchten in Deutschland auch eine Regelung, mit derwir solche Personen vor strafrechtlicher Verfolgung schüt-zen, Stichwort: Whistleblower-Privileg.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, das Grundgesetz, die HessischeVerfassung und auch die bayerische Verfassung habenwunderschöne Formulierungen dazu, dass sich die Rei-chen, die Vermögenden in unserer Gesellschaft an der Ver-anstaltung „Steuerzahlung“ zu beteiligen haben und dass esnicht am Ende dazu kommt, dass nur diejenigen, die überkleine und mittlere Einkommen verfügen, die Veranstal-tung „Staat“ in Deutschland und Europa bezahlen. – Daskann nicht sein. Es gibt eine moralische Verpflichtung, undes gibt auch eine Verpflichtung aufgrund von Verfassun-gen, dass wir diese Personen endlich erfassen und den ge-rechten Anteil für den Staat dann auch von ihnen holen.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Mürvet Öztürk(fraktionslos) – Präsident Norbert Kartmann über-nimmt den Vorsitz.)

Wir müssen erreichen, dass die Vermögenden etwas vondem zurückgeben, was die Gesellschaft und der Staat fürsie geleistet und erbracht haben. Das ist eine gesellschaftli-che Pflicht. Meine Damen und Herren, wer sich dieserPflicht entzieht, der begeht „eine Sauerei“.

(Beifall bei der SPD)

Herr Präsident, bevor es gerügt wird: Ich habe gerade GrafLambsdorff von der FDP zitiert. Der hat gesagt, das sei ei-ne Sauerei. Er hat recht, meine Damen und Herren. Mitt-lerweile sieht man es auch bis in die letzten Kreise derFDP hinein so, dass es so nicht weitergehen darf.

(Zuruf des Abg. Jürgen Lenders (FDP))

Wir müssen alles daransetzen, dass wir das nicht hinneh-men. Sehr geehrte Damen und Herren, wir müssen endlichdazu kommen, dass Firmen, die ungeheuer gut verdienen,auch zum Steuerzahlen herangezogen werden und sich kei-nen schlanken Fuß machen können.

8544 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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(Beifall bei der SPD und des Abg. Jan Schalauske(DIE LINKE))

Wir Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen wollendem Geschäftsmodell Steueroase die Grundlage entziehen.Hier sind die Bundesregierung und die EU-Mitgliedstaatengefordert. Länder mit Steuersätzen in Höhe von 0 % odermit geringen Steuersätzen sind Steueroasen. Solche Ländergehören auf eine schwarze Liste.

Meine Damen und Herren, Steueroasen sind gleichzeitigGerechtigkeitswüsten. Gerechtigkeitswüsten können wir inder Europäischen Gemeinschaft nicht hinnehmen.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen Länder, die sich das zum Geschäftsmodell ge-macht haben – die Niederlande, Luxemburg, Großbritanni-en –, auf die schwarze Liste setzen. Dann müssen auchwirtschaftliche Sanktionen folgen. Alles andere hat keinenSinn; das ist das einzige Instrument, das wir haben. Leidersetzen manche EU-Mitgliedstaaten auf eine Verschlep-pungstaktik und versuchen, gemeinsame Grundlagen zurBemessung der Körperschaftsteuer in der EuropäischenUnion wie auch die Veröffentlichung einer länderspezifi-schen Berichterstattung von multinationalen Unternehmenzu verhindern. In einem solchen Bericht müssten diese Un-ternehmen endlich einmal offenlegen, was sie in den ein-zelnen Ländern an Steuern zahlen. Diese Offenlegung wür-de dazu führen, dass endlich einmal bekannt wird, wasz. B. Starbucks in Italien oder Deutschland, den Niederlan-den oder in Frankreich an Steuern zahlt. Dadurch würdedann auch national eine Diskussion losgehen. Wie kann essein, dass die Unternehmen Riesengewinne melden, aberbei uns kaum Steuern zahlen? Deshalb ist diese Offenle-gung sehr wichtig, und wir müssen sie erreichen.

Wir sind aber leider nicht allein. Es gibt europäische Staa-ten, die versuchen, das zu vermeiden. Aber da müssen wir– um Peer Steinbrück zu zitieren – endlich einmal die Pfer-de satteln. Ich glaube, wir müssen alles, was wir an Mög-lichkeiten haben, am Ende auch anwenden. Die Skandaleum Lux Leaks, die Panama Papers und jetzt natürlich umdie Paradise Papers machen deutlich, dass asoziales Ver-halten von internationalen Unternehmen, aber auch vonNiedrigsteuerländern, nicht hingenommen werden darf. Ichglaube, das ist eine sehr zentrale Frage.

(Beifall bei der SPD)

Wenn nun aber die CDU in ihrem Antrag – die CDU hat jaleider noch nicht gesprochen, ich bin ganz überrascht –,vor allem in Punkt 4, so tut, als sei sie in Sachen Bekämp-fung der Steuervermeidung Vorreiter, dann hat das mit derRealität doch nichts zu tun.

Herr Finanzminister Dr. Schäfer, wer war es denn, der dasSteuerabkommen mit der Schweiz, das Anonymität für alleSteuervermeider und Steuerflüchtlinge vorsah, absichernwollte? – Er war es. Dieser Minister wollte, dass das so ge-macht wird. Dass wir das verhindert haben – vor allem So-zialdemokraten und GRÜNE –, war ein wesentlicherGrund dafür, dass wir heute mittlerweile auch andere Steu-erabkommen haben und dass diese Anonymität endlichaufgebrochen worden ist. Es war dieser Minister, der dieAnonymität für Steuerflüchtlinge und -betrüger weiter auf-rechterhalten wollte. Und Sie sprechen von einer Vorreiter-rolle in Deutschland? Da lache ich mich ja kaputt, meineDamen und Herren.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Mürvet Öztürk(fraktionslos))

Aber es ist nicht zum Lachen, es ist zum Weinen, was andieser Stelle gemacht worden ist.

Der Herr Ministerpräsident war es, der zu der Frage desAnkaufs von Steuer-CDs – was wichtig war, um herauszu-bekommen, was da gespielt wird – gesagt hat, das wäre il-legal. Meine Damen und Herren, er wollte auch das ver-meiden. Und da sprechen Sie von einer Vorreiterrolle? –Nein, das ist keine Vorreiterrolle.

Bundesfinanzminister Schäuble wollte in Deutschlandz. B. eine Patentbox einrichten; das hätte dazu beigetragen,dass der Steuerdumpingwettbewerb in Europa weiterge-gangen wäre.

Protokolle auf europäischer Ebene zeigen, dass Schäublemit wirklich seltsamen Begründungen das sogenannteCountry-by-Country-Reporting verhindern wollte. Es gehtdabei darum, dass internationale Konzerne wichtige Kenn-zahlen gegenüber dem Fiskus offenlegen müssen, damitwir endlich einmal sehen: Wie sind die Zahlen? Wie sinddie Gewinne? Wie hoch sind die Betriebsausgaben? Wiesieht es mit den Lizenzen aus? Wie sind die internen Ver-rechnungen? Wie hoch sind die Steuerzahlungen? DieseKennzahlen sollten veröffentlicht werden, damit wir ein-mal durchblicken können, was da möglicherweise auchzwischen Müttern und Töchtern bei internationalen Unter-nehmen verschoben wird.

Es waren in all diesen Fällen Sozialdemokraten, insbeson-dere der nordrhein-westfälische Finanzminister, NorbertWalter-Borjans, die verhindert haben, dass solche Reportstorpediert werden. Es war nicht die Hessische Landesregie-rung, es waren Sozialdemokraten, die für das Reportinggekämpft haben. – Gott sei Dank.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, wenn Sie in Punkt 4 Ihres An-trags schreiben, wie toll die Stellenentwicklung ist: Wir ha-ben ja eine Anfrage dazu. Aus dieser wird deutlich: DerSoll/Ist-Vergleich in Hessen heißt, dass es 630 Finanzbe-amte weniger gibt, als der Stellenplan 2016 ausweist. Daswar die Antwort, die wir jetzt gerade gesehen haben. Des-halb sage ich: Sie können noch so viele Stellen in den Stel-lenplan schreiben – sie werden nicht besetzt. Ob das fi-nanzpolitische Gründe hat oder damit zusammenhängt,dass Sie nicht ausgebildet haben, oder damit, dass Leuteam Ende in die Wirtschaft wechseln, weiß ich nicht. AberSie müssen da für eine andere Politik sorgen, damit dieLeute auch bei der Steuerverwaltung bleiben. Fast 8 % derMitarbeiter in den Finanzämtern fehlen. Das ist keine alteZahl, sondern sie ist von Ende 2016.

2010 hatten wir in den Finanzämtern – ich rede nicht vonder Steuerverwaltung – 200 Finanzbeamte mehr als 2016.Da sprechen Sie von Zuwächsen und davon, dass mehr ge-macht wird. Das sind die objektiven Zahlen, schauen Siesich die Beantwortung der Anfrage an.

Meine Damen und Herren, der eigentliche Skandal ist, dassEinkommensmillionäre im Jahr 2009 öfter geprüft wurdenals im Jahr 2016. Also auch bei der Frage der Prüfung derEinkommensmillionäre ist eine schlechtere Entwicklungfeststellbar. Deswegen hören Sie auf, davon zu sprechen,alles sei besser geworden.

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8545

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Nun zu den Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Wirt-schaftsstrafsachen. Im Jahr 2014 waren es 44,0 Stellen,und im Jahr 2017 sind es 44,7 Stellen. Das ist also ein rich-tiger Zuwachs von 0,7 Stellen, meine Damen und Herren.Das ist ein Schwerpunkt. Alle Achtung. 0,7 Stellen habenSie mehr.

Gestehen Sie das doch endlich ein. Ich glaube, in der Sa-che sind wir uns einig. Hören Sie aber doch bitte mit derLobhudelei auf. Das hat doch nichts mit der Realität zutun. Lassen Sie uns in der Sache darüber streiten, was manin Deutschland oder auf europäischer Ebene tun kann. Hö-ren Sie aber doch bitte mit dieser Lobhudelei auf, dienichts mit der Realität zu tun hat.

(Beifall bei der SPD)

Ich komme zum Schluss. Wir werden dem Antrag derFraktion DIE LINKE zustimmen. Herr Kaufmann, Sie sinddoch Aufsichtsratsmitglied und bekommen dafür 22.000 €im Jahr. Insofern könnte man durchaus der Frage nachge-hen, was mit dieser Briefkastenfirma in Malta eigentlichgemacht wird. Das gilt es zu klären. Ich will wissen, obdieser Sache nachgegangen worden ist. Wir werden demAntrag der Fraktion DIE LINKE auf jeden Fall zustimmen.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Eine staatliche Instanz muss doch vorangehen. Deswegensage ich noch einmal, dass endlich die Pferde gesatteltwerden müssen, um denjenigen das Handwerk zu legen,die Steuervermeidung als Geschäftsmodell betreiben. –Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Präsident Norbert Kartmann:

Die nächste Wortmeldung ist von Frau Abg. Arnoldt,CDU-Fraktion.

Lena Arnoldt (CDU):

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren!Herr Schmitt, Herr Schalauske, es geht hier um deutlichmehr als nur um die Beteiligung des Landes Hessen an derFraport AG und deren Tochtergesellschaften in Malta. Ichwerde auf die dazu getroffenen Aussagen, hinter denen –verzeihen Sie es mir – wieder einmal eine durchschaubareTaktik steckt und die ein Zerrbild der Realität erzeugensollen, nicht weiter eingehen.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Schade!)

Schließlich haben wir uns mit Ihren Vorwürfen schon aus-führlich beschäftigt. Ich möchte nur auf folgende Punktenochmals wiederholt hinweisen. Die Fraport AG ist eineder wichtigsten Arbeitgeberinnen in Hessen,

(Beifall bei der CDU)

zahlt ihre Steuern zu großen Teilen in Deutschland,

(Janine Wissler (DIE LINKE): Jetzt gehen Sie dochdarauf ein!)

ist international breit aufgestellt und hat Tochtergesell-schaften in vielen Ländern dieser Erde, nicht nur in Malta.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Auch in Luxem-burg!)

Hierüber entscheidet übrigens der Unternehmensvorstandder Gesellschaft, die sich rund zur Hälfte in der Hand sons-tiger Aktionäre befindet.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der Eindruck, den Sie hier erzeugen wollen, passt Ihnenzwar besser ins Bild, wenn Sie der Landesregierung unter-stellen, sie setze sich nicht gegen Steuerhinterziehung undaggressive Steuervermeidung ein. Das hat mit der Realitätaber reichlich wenig zu tun.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Heute geht es thematisch um viel mehr als um das, was Siewieder einmal versuchen zu propagieren, um die Landesre-gierung zu denunzieren. Es muss für Sie schwer erträglichsein, dass Sie kein Monopol darauf haben, sich gegen Steu-erhinterziehung und aggressive Steuervermeidung auszu-sprechen. Im Gegensatz zu Ihnen halten wir nicht nur ir-gendwelche Reden, sondern handeln in Hessen im Rahmender einem Bundesland gegebenen Möglichkeiten.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie sollten vielleicht einmal Ihre politischen Scheuklappenablegen und über Ihren sozialistischen Tellerrand schauen,um zu verstehen, wo das Problem wirklich liegt, falls Siewirklich Interesse daran haben, sich für Steuerehrlichkeitund Steuergerechtigkeit einzusetzen. Es geht darum, dassder Bundesrepublik Deutschland mehr als 32 % des Kör-perschaftsteueraufkommens verloren gehen. Das sind Jahrfür Jahr rund 17 Milliarden €.

Außerdem geht es darum, dass sich multinationale Konzer-ne und Milliardäre unter anderem von der AnwaltskanzleiAppleby oder anderen Spezialisten beraten lassen, wie sieSteueroasen nutzen können, Steuervermeidungskonzepte inAnspruch nehmen können oder im schlimmsten Fall sogarmittels Verschleierung, Splitting und Geldwäsche aktivSteuerhinterziehung betreiben können. Wir lassen keinenZweifel aufkommen, dass wir konsequent gegen Steuerhin-terziehung vorgehen.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass wir aggressive Steuer-vermeidung zwar nicht gutheißen, diese aber im Gegensatzzur Steuerhinterziehung grundsätzlich nicht illegal ist. Die-ses Problem können wir weder in Hessen noch auf Bundes-ebene im Alleingang befriedigend lösen. Das setzt nämlichStaaten und Regierungen voraus, die mit ihren Gesetzendiese Möglichkeiten zur Steuergestaltung überhaupt erstschaffen und Steuerdumping ermöglichen. Ich sehe vor al-lem auch diese Staaten in der Pflicht, sich fair zu verhaltenund ihre Steuerpolitik zu überdenken,

(Manfred Pentz (CDU): So ist es!)

damit aggressiver Steuervermeidung das Handwerk gelegtwerden kann und wir zu einer solidarischen, ehrlichen undgerechten Steuerpolitik in der ganzen EU und darüber hin-aus kommen.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg.Jan Schalauske (DIE LINKE))

8546 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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– Herr Schalauske, es sind unter anderem die Kollegen inden Niederlanden, in Luxemburg, in Irland und in Malta,die sich um des eigenen Vorteils willen mit minimalenSteuersätzen oder dem Entstehen einiger weniger Ar-beitsplätze zufriedengeben und dabei billigend in Kaufnehmen, dass anderen Staaten dadurch Steuereinnahmen inMilliardenhöhe entgehen.

Nehmen wir einmal das Beispiel Malta. Es war der sozial-demokratische Ministerpräsident, der in der vergangenenWoche auf „Spiegel Online“ bestritt, dass es in der EUüberhaupt so etwas wie Steueroasen gibt.

(Holger Bellino (CDU): Das ist ja unerhört!)

Wir sind überzeugt davon, dass internationale Einrich-tungen von EU und OECD beim Kampf gegen Steuerhin-terziehung und gegen aggressive Steuervermeidungsstrate-gien eine Schlüsselrolle einnehmen müssen. Deutschlandleistet seinen Beitrag, um hier Druck zu erzeugen, kann dasProblem leider aber nicht allein lösen.

Dass hier der Eindruck erweckt werden soll, die HessischeLandesregierung würde das Thema der Steuergerechtigkeitund das Thema der Steuerehrlichkeit nicht ernsthaft behan-deln, ist schlichtweg absolut haltlos.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Lassen Sie mich anhand von einigen Beispielen einenBlick darauf richten, dass wir hier in Hessen erfolgreichund auf dem richtigen Weg sind. Wir haben eine schlag-kräftige und leistungsfähige Steuerverwaltung, die wir imRahmen des bereits im Jahr 2013 aufgelegten Fünfpunkte-programms zur verstärkten Bekämpfung der Steuer- undWirtschaftskriminalität durch 105 zusätzliche Betriebsprü-fer und Steuerfahnder innerhalb von nur drei Jahren weiterverstärkt haben. In diesem Jahr kamen durch das Maßnah-men- und Sicherheitspaket für die Steuerverwaltung im In-nen- und Außendienst 115 Dienstposten hinzu. In diesemJahr werden wir übrigens – Frau Erfurth hat es auch schonerwähnt – 650 Anwärterinnen und Anwärter für die Steuer-verwaltung einstellen und damit so viele, wie noch nie zu-vor. Wir werden in den nächsten beiden Jahren sogar noch700 zusätzlich einstellen.

Seit 2005 wurde der Bereich der Betriebsprüfung um 30 %personell verstärkt. Insgesamt kommen in Hessen rund1.500 Betriebsprüfer und 250 Steuerfahnder zum Einsatz.Dank der guten und professionellen Arbeit der Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter in unserer Steuerverwaltung konn-ten allein im Jahr 2016 über 4.200 Ermittlungsaufträge derSteuerfahndung abgeschlossen werden.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Norbert Schmitt(SPD): Weniger als 2009!)

Die durchgeführten Maßnahmen der Steuerfahndung führ-ten im vergangenen Jahr zu Steuermehreinnahmen vonüber 276 Millionen €.

(Manfred Pentz (CDU): Aha!)

An diesem Punkt möchte ich ganz ausdrücklich allen Mit-arbeiterinnen und Mitarbeitern in der Finanzverwaltung,der Staatsanwaltschaft und der hessischen Polizei sowieunserem Minister Dr. Thomas Schäfer zu diesem Erfolggratulieren und mich im Namen der CDU-Fraktion für ih-ren Einsatz bedanken.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Auch über die Landesgrenzen hinaus setzen wir uns dafürein, Steuerbetrug, Geldwäsche und Schwarzarbeit konse-quent zu bekämpfen, Steuerschlupflöcher zu schließen undSteuergestaltung offenzulegen.

Präsident Norbert Kartmann:

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Lena Arnoldt (CDU):

Ich habe nur noch zwei Minuten. – Nein.

Nicht zuletzt hat unser Finanzminister angeboten, bei derAuswertung der Paradise Papers behilflich zu sein. Damitnimmt Hessen – wie auch schon bei der Auswertung derPanama Papers – eine Vorreiterrolle im Kampf gegen in-ternationale Steuerkriminalität und -vermeidung ein.

Weiterhin wurde auf hessische Initiativen unter anderemdie ab 2018 geltende Lizenzschranke zur Eindämmung vonLizenzboxen bereits umgesetzt – Frau Erfurth ist auchschon darauf eingegangen –, und die Bundesratsinitiativezum Verbot sogenannter Share Deals wurde von uns aufden Weg gebracht, damit Großinvestoren bei millionen-schweren Immobiliengeschäften nicht durch Gestaltungs-konstrukte Grunderwerbsteuer vermeiden können.

(Manfred Pentz (CDU): Sehr gut!)

Wir sind auch Vorreiter bei der Aufklärung des milliarden-schweren Betrugs durch Cum-Ex-Geschäfte. Wie Sie deraktuellen Berichterstattung entnehmen konnten, wurdendadurch schon 770 Millionen € zurückgeholt.

(Heike Hofmann (SPD): Wie viel steht noch aus?)

Das sind nur einige Beispiele, die zeigen, dass es uns imBund und auch im Land Hessen ein besonderes Anliegenist, hier schnell zu handeln und Steuerstraftätern das Hand-werk zu legen. Der Kampf gegen Steuerflucht ist einehöchst komplexe Herausforderung. Es reicht eben nicht,nur deutsches Steuerrecht zu ändern, sondern wir müssenauch Einfluss auf das Steuerrecht anderer souveräner Staa-ten nehmen.

(Beifall des Abg. Norbert Schmitt (SPD))

– Vielen Dank, Herr Schmitt. – Nur so werden wir dieSteueroasen weltweit trockenlegen können. – Vielen Dankfür Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Präsident Norbert Kartmann:

Das Wort hat Herr Abg. Dr. Hahn, FDP-Fraktion.

Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn (FDP):

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habegerade stolz dem Präsidenten mitgeteilt, das ist das ersteMal, dass ich mit meinen iPad an dieses Pult gehe. AberHerr Schalauske hat mich einfach provoziert.

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8547

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Herr Schalauske hat mich einfach provoziert, weil er min-destens siebenmal in seiner Rede auf eine Gesellschaft –ich glaube, es ist eine einzige Gesellschaft; aber das müssteder Kollege Kaufmann aktuell noch besser wissen als ich;zu meiner Zeit jedenfalls war es eine einzige Gesellschaft –der Fraport AG auf Malta hingewiesen hat. Das haben Siesiebenmal vorgetragen, es ist trotzdem nur eine.

Sie haben damit das Bild untermauern wollen, dass Sie derLandesregierung und uns allen nicht glauben, dass wir esernst meinen mit der Bekämpfung der ungerechten Vertei-lung von Steuereinnahmen. Wissen Sie, lieber Herr Scha-lauske, da hat mich irgendetwas geritten, und ich habe beiGoogle eingegeben „SED-Vermögen“.

(Manfred Pentz (CDU): Oh! – Lachen des Abg. JanSchalauske (DIE LINKE))

Ich habe einfach einmal bei Google eingegeben „SED-Ver-mögen“. Und ich will Ihnen jetzt nur fünf Überschriften,und zwar die ersten, aus Google vorlesen. – Das darf ichauch – da muss ich den Präsidenten gar nicht fragen –, weilsich die Geschäftsordnung nämlich schon lange geänderthat.

Die erste ist – MDR –:

Das verschwundene SED-Vermögen – 6 MilliardenOstmark und etliche Immobilien.

(Manfred Pentz (CDU): Aha!)

Die zweite – Wikipedia –:

Vermögen von Parteien und Massenorganisationender DDR: … Die SED/PDS gründete nach dem Son-derparteitag … Das ursprüngliche Vermögen derSED zum Stichtag betrug 6,2 Milliarden DDR-Mark; rund 2,8 Milliarden davon als Barvermögen,3,3 Milliarden in Immobilien.

Jetzt robben wir uns an die Istzeit heran, damit Ihnen dasso richtig peinlich wird, was Sie hier vorgetragen haben.

(Zuruf des Abg. Jan Schalauske (DIE LINKE))

31. März 2010, „Die Welt“:

Ist es ein später Triumph, dass ein Züricher Gerichtdie Bank Austria verurteilt hat, 230 Millionen € ver-stecktes SED-Vermögen an Deutschland zu zahlen?

(Manfred Pentz (CDU): Ei, ei, ei! – Weitere Zurufe)

Jetzt nehmen wir noch die letzte Meldung; die ist vom 24.November 2014:

Seit Herbst versucht die Bundesanstalt für Immobili-enaufgaben, vor dem Züricher Bezirksgericht 135Millionen € verschlepptes SED-Vermögen zu ber-gen.

(Zurufe von der CDU: Oioioi!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, jedem von Ihnenhier im Raum nehme ich ab, dass Sie es ernst meinen mitSteuergerechtigkeit – den LINKEN aber nicht.

(Beifall bei der FDP, der CDU und dem BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN – Lachen des Abg. Jan Schalaus-ke (DIE LINKE))

Den LINKEN aber nicht. Das ist ja an Pharisäerhaftigkeitnicht mehr zu überbieten, sich hierhin zu stellen – –

(Anhaltender Beifall bei der CDU)

– Das geht von meiner Redezeit ab.

(Heiterkeit)

Ich wollte auch zu euch noch etwas sagen. Deshalb vielenDank.

(Zurufe)

Es ist an Bigotterie, an Pharisäerhaftigkeit nicht mehr zuüberbieten, Herr Schalauske, so zu tun, als hätten Sie eineweiße Weste. Sie – klein- und großgeschrieben – haben of-fensichtlich keine weiße Weste. Deswegen treten Sie hierbitte so nicht auf.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Dass es Ihren Kollegen peinlich ist, was Sie gesagt haben,merken Sie ja daran, dass Sie jetzt hier Einzelkämpfer ge-worden sind. Denn das ist wirklich viel zu sehr mit derRealität nicht in Einklang zu bringen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das kommt da-von, wenn man erstens Google beherrscht und zweitens ei-ne solche Steilvorlage bekommen hat, wie sie der KollegeSchalauske eben gegeben hat.

(Unruhe)

Zum Inhalt. Es ist doch allen hier im Raum bekannt – dashaben, glaube ich, schon drei oder vier Kollegen gesagt –,Steuergerechtigkeit ist etwas ganz Wichtiges. Es kannnicht sein, dass der Bäckermeister in Bad Vilbel, lieber To-bias Utter, oder auch in Kassel ordentlich seine Steuernzahlt, aber internationale Konzerne durch legale oder auchdurch illegale Finanzkonstruktionen es schaffen, ihre echteSteuerlast praktisch auf null zu senken.

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, auch dasist schon gesagt worden: Da müssen wir nicht in die weiteWelt nach Panama reisen und müssen das auch nicht in einanderes Land in der Karibik machen, sondern wir könnennach Irland gehen, wir können in die Niederlande gehen,wir können in Gebiete gehen, die eindeutig zur Europäi-schen Union gehören. Deshalb sind wir als Liberale imHessischen Landtag, aber auch unsere freidemokratischenKollegen im Europäischen Parlament verärgert darüber,dass erst ab 2020 die Lösungen in Kraft treten, die tatsäch-lich eine entsprechende Verfolgung von derartigen Dingenzulassen. Das hätte man früher machen können.

(Beifall bei der FDP)

Es war meine Parteifreundin, die liberale Wettbewerbs-kommissarin, Frau Margrethe Vestager, die das jetzt aufanderem Wege versucht in die Hand zu nehmen. – SchöneGrüße an Irland, meine sehr verehrten Damen und Herren.So geht es halt nicht, und da muss man dann auch handelnund sich nicht auf 2020 vertagen.

(Beifall bei der FDP und des Abg. Torsten War-necke (SPD))

Wir müssen es auch schaffen, dass der Wanderzirkus auf-hört. Das ist vielleicht manchem von Ihnen aufgefallen:Erst war es in der Nähe, dann wurde das aufgedeckt, undjetzt wandert man immer weiter. Aber das Ergebnis ist im-mer dasselbe: Diejenigen, die auch hier in Deutschland, inEuropa Steuern zu zahlen hätten, zahlen sie nicht, weil sieSchlupflöcher finden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das passt einemFreidemokraten nicht. Wir möchten einen starken Staat ha-

8548 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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ben, der finanziell auch ausgestattet ist und der gerecht dieSteuern von seinen Bürgerinnen und Bürgern und von sei-nen Unternehmen einzieht und sich hier nicht durch Unge-rechtigkeit auszeichnet.

(Beifall des Abg. Wolfgang Greilich (FDP))

Lieber Kollege Norbert Schmitt, wir können uns ewig dar-über streiten – ich hätte es auch nicht gesagt, wenn Siejetzt nicht wieder begonnen hätten mit der Schweiz –: Wirbrauchen keine Kavallerie.

(Torsten Warnecke (SPD): Hat er auch nicht ge-sagt!)

Und seitdem wir in Dillenburg keine Hengste mehr haben,können wir auch keine mehr aufstellen.

(Allgemeine Heiterkeit – Beifall bei der FDP)

Das ist nicht mehr möglich. Das schaffen wir nicht mehr.Die müssten wir zukaufen.

(Zuruf des Abg. Norbert Schmitt (SPD))

Aber ich bin der festen Überzeugung, die Schweiz hat rea-giert wegen des politischen Drucks und auch wegen derentsprechenden Verträge, die von der damaligen schwarz-gelben Bundesregierung geschickt worden sind. Also keineKavallerie, sondern politischen Druck aufbauen.

Dann lassen Sie mich Ihnen zum Abschluss sagen – ichwill gar nicht meine zehn Minuten ausnutzen –: Es gibt ei-ne ganz einfache Methode – Wolfgang Kubicki hat dieauch schon vor Wochen, vor Monaten, ich glaube, vor ein-einhalb Jahren vorgeschlagen –, wie wir in Deutschlanddie Großen – seien es nun die Googles, die Nikes, die App-les, die Starbucks’ – bekommen können: In allen Fällen, indenen wir in Deutschland wissen, dass irgendwo auf derWelt Erträge steuerfrei von diesen Unternehmen kassiertwerden, verweigert der deutsche Fiskus schlicht den Ab-zug der Betriebsausgaben.

(Beifall des Abg. Norbert Schmitt (SPD))

Da ich an dem Nicken merke, dass einige Kollegen, dieauch Freiberufler oder Selbstständige sind, wissen, das tutweh, ist das eine Maßnahme. Ich wundere mich darüber,dass das in den letzten vier Jahren von der Großen Koaliti-on nicht umgesetzt worden ist.

(Beifall bei der FDP)

Langer Rede kurzer Sinn: Wir lassen uns niemals wiedervon den LINKEN etwas zum Thema Steuergerechtigkeitsagen. Die sollen erst einmal all das abliefern, was ihnennicht gehört.

Wir wollen zweitens, dass es in Europa flotter vorangeht.Wir wollen, dass nicht erst im Jahr 2020 mit den Maßnah-men begonnen wird. Wir enthalten uns aber bei Ihrem An-trag, liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Grün,weil wir wollen, dass es weiterhin einen Wettbewerb beiden Steuersätzen gibt. Die Bemessungsgrundlage mussgleich sein – ohne Frage –, aber wir wollen trotzdem einenWettbewerb bei den Steuersätzen. Das schließt Ihr Antragaber aus. Deshalb können wir uns leider nur der Stimmeenthalten. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, auchbei den Kollegen der LINKEN.

(Beifall bei der FDP – Jan Schalauske (DIE LIN-KE): Sie haben mit Ihrem Redebeitrag die fünfteJahreszeit eingeläutet! Das war Karneval!)

Präsident Norbert Kartmann:

Das Wort hat Herr Finanzminister Dr. Schäfer.

Dr. Thomas Schäfer, Minister der Finanzen:

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren!Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich habe schon lan-ge keine Rede vom Kollegen Hahn mehr gehört, die mir sogut gefallen hat.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Heiterkeit bei derFDP)

– Ich glaube, die Freude ist im Hause weit verbreitet, mitAusnahme eines kleinen Streifens auf der linken Seite.

Herr Kollege Hahn, an einer Stelle muss ich Sie leider kor-rigieren. In der Tat haben wir zwar keine Hengste mehr,aber beim Zusammenstellen einer Kavallerie – das habeich mir von der Kollegin Hinz bestätigen lassen – ist derEinsatz von Stuten und insbesondere von Wallachen bes-ser, da diese sich besser auf ihre eigentliche Aufgabe, näm-lich das Ziehen von Wagen, konzentrieren, als das Hengstetun.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-ten der SPD)

Hessen ist nach wie vor auf allen Ebenen wehrfähig.

(Heiterkeit – Zuruf des Abg. Norbert Schmitt (SPD))

– Sie sehen, welch wertvolle Gespräche wir führen. –Wehrfähigkeit ist das richtige Stichwort: Wehrfähigkeitgegenüber Steuerkriminalität. Ich glaube, diesbezüglich istin der Diskussion manches ein bisschen mit parteipoliti-scher Färbung versehen worden. Lassen Sie mich ein paarHinweise geben, weil der eine oder andere Teilnehmer ander Debatte möglicherweise nicht mehr auf dem allerletz-ten Stand der rechtlichen Entwicklung ist.

Das vom Kollegen Schmitt geforderte Transparenzregisterhat Deutschland zum 1. Oktober 2017 eingeführt.

(Zuruf des Abg. Norbert Schmitt (SPD))

– Sie haben ein Transparenzregister gefordert. Wir habenes seit ein paar Wochen.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Ganz so transparentist es aber nicht!)

Ein Country-by-Country-Reporting gibt es seit dem 1. Ja-nuar 2016. Das beruhte im Wesentlichen auf einer deut-schen Initiative. Was Sie da über Herrn Schäuble erzählthaben: Ich weiß nicht, wo Sie das gelesen haben, jedenfallsstimmt es mit den mir vorliegenden Informationen nichtüberein.

(Norbert Schmitt (SPD): „Spiegel Online“!)

Kollegin Erfurth hat auf die Frage der Lizenz hingewiesen.Lizenzen und die Möglichkeiten von Kredit- und Zinszah-lungen waren früher das Vehikel, um Steuersubstrat inniedriger besteuernde Länder zu verschieben. Das ist beiniedrigerem Zinsniveau unattraktiver geworden – aber vorallem auch deshalb, weil wir eine Zinsschranke eingeführthaben, die den Ertrag aus solchen Möglichkeiten reduzierthat. Das war eine hessische Initiative. Das ist später auf Li-zenzeinkünfte erweitert worden.

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8549

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Das ist übrigens ein sehr gutes Beispiel dafür, dass derKampf gegen Steuerkriminalität – an der Stelle vor allemder Kampf gegen steuerliche Gestaltung – nur dann funk-tioniert, wenn dieser Kampf nicht nur in Sonntagsreden,auch und insbesondere in anderen Ländern, sondern auchdurch gemeinschaftliches Handeln geführt wird. Es istnicht in Ordnung, auf der einen Seite zu erklären, man seigegen steuerliche Gestaltungen, und auf der anderen SeiteNiedrigsteuerregime für einzelne Elemente von Erwerbs-einkommen einzuführen in der Hoffnung und Erwartung,dass dadurch Steuersubstrat in das eigene Land verschobenwird. Die Niederlande sind hierfür ein Beispiel; deshalbspielte dieses Land bei dem von Frau Erfurth genanntenBeispiel eine Rolle. Irland ist ein weiteres Beispiel, aberauch Großbritannien hat für London eine niedrigere Be-steuerung von Lizenzeinnahmen festgesetzt.

Dem haben wir – Entschuldigung, aber es war so – durchdie hessische Initiative zur Einrichtung einer Lizenzschran-ke entgegengewirkt. Ich hätte mir gewünscht, dabei auf dernationalen Ebene ein bisschen schneller voranzukommen.Wir haben da manches Jahr in Diskussionen verloren, auchmit sozialdemokratischen Kollegen auf der Länderebene.Wir hätten besser und schneller vorankommen und dieEinführung der Schranke früher hinbekommen können.Aber wir haben jetzt eine Lizenzschranke, und dadurchwird es schwerer, über Lizenzeinnahmen Steuersubstrat zuverschieben.

Eines wird aber immer bleiben, meine Damen und Herren:Zu glauben, es gebe die eine große Maßnahme, und wirhätten das Problem von Steuerhinterziehung und von Steu-ergestaltung gelöst, ist eine naive Annahme. Sowohl aufder einen als auch auf der anderen Seite wird es für diestaatlichen Institutionen immer ein Hase-und-Igel-Spielsein. Das eine Loch wird geschlossen, aber es gibt eineHeerschar von Menschen, die wiederum Menschen be-schäftigen, die gut ausgebildet sind, die nur die Aufgabehaben, die Lücken zwischen den gefundenen Regeln zufüllen. Es sind dann wieder die gleichen Leute, die in dernächsten Sonntagsrede Steuervereinfachungen fordern.Das passt aber nicht mit dem zusammen, was sie zuvor ge-fordert haben.

(Beifall bei der CDU – Zuruf des Abg. NorbertSchmitt (SPD))

Deshalb ist das eine Daueraufgabe. Wir werden uns dieserAufgabe auch weiterhin stellen. Ich will das Beispiel nen-nen, dass das Bundeskriminalamt am Ende entschiedenhat, auf die hessische Steuerverwaltung zuzukommen, alses um die Auswertung der Panama Papers ging. Das erfülltmich mit einem gewissen Maß an Stolz auf die Leistungs-fähigkeit meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es istein Zeichen dafür, dass es uns offensichtlich gelungen ist,die hessische Steuerverwaltung so leistungsfähig aufzustel-len, dass die oberste Strafverfolgungsbehörde des Bundesauf die hessische Steuerverwaltung zukommt – und ebennicht auf die Steuerverwaltung beispielsweise des LandesNordrhein-Westfalen. Das mag einem zu denken geben,wenn man an der Legende strickt, wie es der KollegeSchmitt tut, dass es in der Vergangenheit nur einen einzi-gen Landesfinanzminister gegeben habe, der sich um die-ses Problem gekümmert habe. Ich gebe zu, gelegentlichführen auch wir in diesem Landtag Debatten über die Fä-higkeit von Finanzministern, PR in eigener Sache zu ma-chen. Aber der Kollege Borjans war in dieser Frage un-glaublich gut. Er hat den Eindruck erweckt, er kaufe die

CDs persönlich, werte sie nachts in seinem Dienstzimmerselbst aus, um am nächsten Tag gemeinsam mit den Steu-erfahndern beim Steuerpflichtigen vor der Tür zu stehenund höchstpersönlich die Verhaftung vorzunehmen. Daswar eine unglaublich gute Leistung.

(Zuruf des Abg. Norbert Schmitt (SPD))

Man merkt, der langjährige Regierungssprecher von Johan-nes Rau – –

(Marius Weiß (SPD): Ein eigenes Filmchen darüberproduzieren! – Heiterkeit)

– Ich habe ihn gefragt, ob er mitmacht, wenn wir ein hessi-sches Filmchen machen; aber er war nicht restlos davon zuüberzeugen, das zu tun.

(Heiterkeit)

Zur Wahrheit gehört aber, dass nordrhein-westfälischeSteuerfahnder und Betriebsprüfer regelmäßig in Frankfurtzu Gast sind, um sich darüber unterrichten zu lassen, wieman Cum-Ex-Geschäfte erkennt.

(Norbert Schmitt (SPD): Na ja, um sich auszutau-schen!)

Als es um die Identifikation von Cum-Cum-Geschäftenging, war es die hessische Steuerverwaltung, die bundes-weit Kolleginnen und Kollegen ausgebildet hat, um dieseMechanismen zu erkennen. In Hessen sind die Cum-Ex-Geschäfte aufgedeckt worden, nirgendwo anders.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN – Norbert Schmitt (SPD): Da sind sie jaauch aufgetreten!)

Der Versuch, den Eindruck zu erwecken, als sei die Weltüberall schön, nur in Hessen sei alles verbesserungsbedürf-tig, lässt sich jedenfalls anhand der Fakten nicht unterneh-men.

Ich bin dankbar dafür, dass es – bei allen parteipolitischenUnterschieden – Ihre gemeinsame Einschätzung ist, dass esweiterhin eine gemeinsame Aufgabe sein muss, sowohlden Kampf gegen Steuerhinterzieher zu führen als auchunser Bemühen um das Eindämmen von Gestaltungsmo-dellen voranzubringen. Lassen Sie uns bitte einen Fehlernicht machen: Wenn wir uns permanent wechselseitig be-scheinigen, der jeweils andere sei mindestens blöd, wennnicht gar böswillig, wenn Politiker nichts Besseres zu tunhaben, als sich – zum Teil wider besseres Wissen – gegen-seitig der Untätigkeit zu bezichtigen, wie sollen denn danndie Menschen in diesem Lande Vertrauen zu den staatli-chen Institutionen haben? Das funktioniert nicht. Damitbin ich wieder bei den Sonntagsreden. Wer in Sonntagsre-den die Politikverdrossenheit beklagt, aber hier eine solcheRede hält, wie es Herr Schalauske getan hat, dem muss ichsagen: Das passt in dieser Welt nicht zusammen.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie unsweiterhin über den besten Weg streiten. Wer Ideen hat,was wir noch besser machen können: herzlich willkom-men.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Wir geben Ihnen eineListe!)

Bitte aber nicht nur Plakatsätze nach dem Motto „Manmüsste mal“, „Man könnte mal“. Ich wüsste gern sehr ge-

8550 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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nau und sehr präzise, was wir an bestimmten Punkten anVeränderungen, auch rechtlicher Art, vornehmen sollen.Dafür sind wir immer offen und nehme das gerne entge-gen; denn Hessen ist und bleibt an der Spitze bei der Ver-folgung von Steuerkriminalität und unlauterer Gestaltung.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Präsident Norbert Kartmann:

Meine Damen, meine Herren, es liegen keine weiterenWortmeldungen vor.

Wir können beide Anträge an den Haushaltsausschussüberweisen. – Darüber besteht Konsens. Das ist so be-schlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:

Zweite Lesung des Gesetzentwurfs der Fraktionen derCDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für ein Gesetzzur Änderung des Landtagswahlgesetzes – Drucks.19/5439 zu Drucks. 19/5273 –

Änderungsantrag der Fraktionen der CDU und BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN – Drucks. 19/5450 –

Berichterstatter ist Herr Kollege Bauer. Sie haben dasWort.

Alexander Bauer, Berichterstatter:

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Beschlussemp-fehlung des Innenausschusses: Der Innenausschuss emp-fiehlt dem Plenum mit den Stimmen der Fraktionen vonCDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stim-men der Fraktionen von SPD, DIE LINKE und FDP, denGesetzentwurf in zweiter Lesung unverändert anzuneh-men.

(Beifall bei der CDU)

Präsident Norbert Kartmann:

Vielen Dank. – Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hatHerr Abg. Bauer für die Fraktion der CDU.

Alexander Bauer (CDU):

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Niemand machtohne triftigen Grund eine Wahlkreisreform. Anlass für dieNotwendigkeit, Wahlkreise neu einzuteilen, sind zwei Fak-ten, die in der bisherigen Debatte von niemandem in Zwei-fel gezogen wurden. Das ist zum einen die demografischeEntwicklung. Wir haben in Nordhessen eine Bevölke-rungsabnahme im ländlichen Raum und in Südhessen eineBevölkerungszunahme in den Ballungsgebieten. Zum an-deren gelten in einer Demokratie Wahlrechtsgrundsätze,dass Wahlen „allgemein“, „unmittelbar“, „frei“ und „ge-heim“ sein müssen. Sie müssen auch „gleich“ sein, d. h.,jede Stimme muss den gleichen Zähl- und Erfolgswert ha-ben. Der Gleichheitsgrundsatz ist auch bei der technischenGestaltung der Wahl, also auch bei der Wahlkreiseintei-lung, zu beachten. Durchschnittlich kommen 80.000 Wahl-berechtigte auf einen hessischen Landtagswahlkreis. Aberwir haben weitaus auffällige Extreme. Um nur zwei zu

nennen: Der Wahlkreis Rotenburg liegt um 28,8 % unterdiesem Schnitt; und der Wahlkreis Gießen I liegt mit28,9 % über diesem Schnitt. Angesichts dieser Umständehat die FDP auf das Schreiben des Innenministers reagiertund verfassungsrechtliche Bedenken geäußert.

(Günter Rudolph (SPD): Ach, die FDP ist jetztschuld!)

Die aktuelle Situation lässt sich angesichts der bereits gra-vierenden Differenzen nicht aufrechterhalten. Es muss sichetwas ändern. Eine Toleranzgrenze von 25 % ist das Maßan Abweichungen, wie sie auch andere Bundesländer ha-ben und wie sie der Bund als Grenze festgelegt hat. Abdann ist eine Neuabgrenzung vorzunehmen. Auch wir sindnach dem Anschreiben des Innenministers und den ebenerwähnten Rückmeldungen der FDP zu der Auffassung ge-kommen, dass man, wenn man die Toleranzgrenze von25 % ernst nimmt, in wenigstens acht Wahlkreisen mitBlick auf die Rechtssicherheit der Wahl Änderungen vor-nehmen muss.

Wir als Parlamentarier, kein anderer, regeln die Kriteriender Zusammensetzung. Das ist ganz ausdrücklich keine Sa-che der Regierung. CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN haben einen entsprechenden Gesetzentwurf vorge-legt, der Rechtssicherheit schafft und zeitnah im Sinne desKontinuitätsgedankens nur zwingend erforderliche Ände-rungen anhand mathematischer Notwendigkeiten regeltund in insgesamt 14 Wahlkreisen Änderungen vornimmt.Wir nehmen diese Anpassungen auf der Basis der aktuellverfügbaren statistischen Zahlen vor. Ich sage ganz aus-drücklich: Auch wir würden uns einen aktuelleren validenDatenbestand wünschen.

(Günter Rudolph (SPD): Das konnte man auch garnicht feststellen! Dann haben alle geschlafen!Abends werden die Faulen fleißig!)

Er liegt aber nicht vor, und alle anderen Vorschläge, wieetwa auf Wahlverzeichnisse der Bundestagswahl zurückzu-greifen, führen lediglich zu Annäherungswerten, die nichtden gesetzlichen Vorschriften entsprechen. Wir haben die-sen unbefriedigenden Zustand natürlich im Rahmen derAnhörung beim Hessischen Statistischen Landesamt hin-terfragt und von der Präsidentin, Frau Dr. Figgener, folgen-de Antworten erhalten:

Ich wurde nach dem Grund der Verzögerungen deramtlichen Statistikzahlen gefragt. Das ist ein bun-desweites Problem. Es liegt nicht in Hessen. Es isteine schwierige Programmierung. Wir verwerten dieDaten aus allen Ländern in einem einzigen Pro-gramm. Das sind über 10 Millionen Datensätze, dieaus Tausenden von Meldebehörden kommen. Eshandelt sich um Daten der Kommunen aus den Mel-deregistern, die in die Statistik eingehen. Das isthochkomplex. Dafür ist ein neues Programm erfor-derlich, das komplexer war, als es sich die program-mierenden Ämter gedacht haben. Diese sitzen nichtin Hessen. Das sage ich dazu.

Ich darf sie weiter zitieren:

Hinzu kam, dass der Standard der Datenlieferungvon den Meldebehörden mitten in die Programmie-rung auf den sogenannten X-Meld-Standard geän-dert wurde. Darauf werden jetzt alle Datenlieferun-gen im öffentlichen Bereich umgestellt.

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8551

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Das sind die beiden Gründe, die für eine bundeswei-te Verzögerung gesorgt haben. Jetzt ist man bei einersogenannten Aufholjagd.

(Günter Rudolph (SPD): Oh, im Schneckentempo!)

Ich darf die Präsidentin weiter zitieren:

Die zweite Frage war, ob man aus Wählerverzeich-nissen oder auf anderem Wege die Zahl der Wahlbe-rechtigten für die Bundestagswahl ermitteln kann.Das ist kein Geheimnis. Diese Zahl ist da; sie stehtim Internet. Aber das hat jetzt nichts mit Statistik zutun. Deshalb verstehe ich den Vorwurf an die Statis-tik nicht. … Ich gehe nicht davon aus, dass siedeckungsgleich ist. Das habe ich nicht untersucht. Eskann nicht ganz deckungsgleich sein, weil die recht-liche Grundlage andere Merkmale enthält.

Das ist nachzulesen im Protokoll des Innenausschusses,INA/19/80, 09.11.2017, Seite 17 ff.

Meine Damen und Herren, wir haben keinen anderen Da-tenbestand. Wir müssen auf den vorhandenen Datenbe-stand zurückgreifen, da beißt die Maus keinen Faden ab,unter der Berücksichtigung, dass wir eine weitestgehendeKontinuität wollen; denn Sie müssen sich einmal vorstel-len, bei den schon jetzt vorgenommenen Änderungen wa-ren logischerweise alle betroffenen Bürgermeister dage-gen. Wenn wir andere Kriterien heranziehen würden, wä-ren viel mehr Wahlkreise betroffen. Wir hätten genau diegleichen Argumente gehört, wobei noch viel mehr dagegengewesen wären. Keiner möchte die Änderungen bei sichhaben. Das erinnert mich an das Sankt-Florians-Prinzip,wo man sagt: Heiliger Sankt Florian, verschon mein Haus,zünd andere an. – Alle sehen die Notwendigkeit von Ände-rungen, aber keiner war bereit, die Änderungen bei seinerKommune vornehmen zu lassen.

Wir schlagen einen minimalinvasiven Eingriff vor; so wür-de es der Mediziner sagen. Ich habe einmal nachgeschaut,laut Duden heißt das: „Die Durchführung operativer Ein-griffe ohne größere Schnitte“. Entsprechend machen wirmit klaren Grundsätzen eine minimalistische Lösung, dieRechtssicherheit schafft. Es geht um die Wahlkreisgrößen;diese werden angeglichen. Es geht um ein zusammenhän-gendes Gebiet, das erforderlich ist. Wir haben auch natürli-che, historische, politische, kulturelle und wirtschaftlicheGrenzen zu berücksichtigen, und das alles, so sagt der Ge-setzentwurf, muss gegeneinander abgewogen werden undin einer Weise zum Ausgleich gebracht werden, dass alleInteressen berücksichtigt werden.

Wir haben einen Vorschlag vorgelegt. Ich kenne keinenanderen, und ich kenne keinen besseren, der diesen Konti-nuitätsgedanken beinhaltet.

(Günter Rudolph (SPD): Ach du lieber Vater!)

Die Sachverständigen selbst sagen: Man kann auch weitgrößere Eingriffe vornehmen. – Ich darf Herrn Prof. Dr.Will zitieren, Seite 16 des Protokolls:

Kreisgrenzen sind kein Dogma. Es gibt diverserechtliche Vorgaben in anderen Bundesländern, nachdenen sogar Gemeindegrenzen durchschnitten wer-den können.

Das wollen wir alles nicht. Wir wollen eine weitestgehendeKontinuität im Sinne von Rechtssicherheit. Das ist unserVorschlag. Nichts anderes liegt in diesem Hause bis zum

jetzigen Zeitpunkt vor. Wir haben hier viele Besserwisser,aber keinen Bessermacher, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU – Holger Bellino (CDU): HerrPentz würde sagen: „Richtig so!“)

Für eine grundlegende Befassung mit dem Landtagswahl-gesetz sollten wir uns in der nächsten Wahlperiode auf denWeg machen. Deshalb haben wir in dem heute eingebrach-ten Änderungsantrag Drucks. 19/5450 einen Vorschlag fürdiesen gemeinsamen Weg erarbeitet. Der neue § 7 Abs. 4sieht entsprechend dem Bundeswahlgesetz die Regelungvor, dass dem Hessischen Landtag zukünftig in jederWahlperiode eine Wahlkreiskommission über Änderungender Bevölkerungszahlen im Wahlgebiet berichtet und Än-derungsvorschläge unterbreitet.

Die Mitglieder der Wahlkreiskommission sollen nach demBeginn der Wahlperiode vom Präsidenten des HessischenLandtags ernannt werden. Die Wahlkreiskommission sollsich aus dem Landeswahlleiter als dem Vorsitzenden, demPräsidenten des Hessischen Statistischen Landesamtes,dem Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofs und fünfAbgeordneten zusammensetzen. Mit dieser Wahlkreiskom-mission wollen wir ein objektives, unabhängiges und neu-trales Gremium schaffen, das dann entsprechende Kriterienerarbeiten kann, um eine große Reform anzugehen. Umdiese Änderungen entsprechend zu bewerten – wir habenden Änderungsantrag heute eingebracht –, werden wir na-türlich auch im eigenen Interesse eine dritte Lesung bean-tragen.

Wir können Änderungen vornehmen. Wir haben im Ände-rungsantrag auch eine kleine Änderung vorgenommen, dieeinen Vorschlag beinhaltet, der nicht zulasten Dritter geht.Im südhessischen Bereich hat die Gemeinde Groß-Rohr-heim selbst vorgeschlagen, dass sie eine andere Zuteilungwünscht. Das ist unter Beibehaltung der von mir genanntenKriterien möglich. Die Wahlkreisgrenzen werden eingehal-ten; die entsprechenden Toleranzzahlen werden eingehal-ten. Es ist eine Möglichkeit, dass man zum einen dem An-sinnen entgegenkommen und zum anderen die entspre-chenden politischen Gebietskörperschaften berücksichtigenkann. Das entspricht im Übrigen dem Wunsch der Gemein-de, des Kreistags und meiner zwei Kollegen aus dem KreisBergstraße, die diesen Vorschlag selbst in die Debatte ein-gebracht haben. Ich bin gespannt, wie sie sich dazu verhal-ten werden.

Meine Damen und Herren, wir dürfen noch eines festhal-ten: Wir haben einen Vorschlag vorgelegt, der Rechtssi-cherheit schafft. Auf Alternativen warte ich bis heute. Ichkann nicht erkennen, wie man dieses Problem in der Kürzeder Zeit besser lösen könnte. – Ich danke für die Aufmerk-samkeit.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Präsident Norbert Kartmann:

Das Wort hat der Abg. Rudolph, SPD-Fraktion.

(Holger Bellino (CDU): Jetzt kommt der Vorschlag,wie wir es besser machen können!)

8552 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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Günter Rudolph (SPD):

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Das Schreibendes Ministers des Innern und für Sport vom 25. April 2017wird immer und immer wieder im Protokoll des Landtagsund vielleicht auch darüber hinaus gebraucht. Der Innen-minister schreibt in den letzten beiden Absätzen: altes Da-tenmaterial, Stand 31.12., weitere Entwicklungen müsseman unberücksichtigt lassen, wenn man handeln wolle.Letzter Absatz:

Ich rege vor diesem Hintergrund an, eine Neuab-grenzung der hessischen Landtagswahlkreise auf derBasis der dann aktuell vorliegenden Bevölkerungs-zahl in der neuen Wahlperiode anzugehen. Bei die-ser Gelegenheit könnte man auch eine Wahlkreis-kommission … machen.

(Zuruf des Abg. Alexander Bauer (CDU))

Meine sehr verehrten Damen und Herren, dann kommt einBrief bzw. eine Vorlage von Herrn Bouffier an HerrnSchäfer-Gümbel, und dann kommt irgendwann ein Gesetz-entwurf von Schwarz-Grün. Herr Innenminister Beuth, washat sich eigentlich zwischen dem 25. April – dem DatumIhres Schreibens – und der Einbringung des Gesetzent-wurfs geändert? Warum machen Sie jetzt einen Paradig-menwechsel?

(Holger Bellino (CDU): FDP!)

– Herr Kollege, jetzt hören Sie doch auf, das können Sienoch nicht einmal in Neu-Anspach erzählen, dass Sie aufein Schreiben der Opposition reagieren und etwas umset-zen. Hören Sie doch auf, das ist geradezu kindisch.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Erste Lesung im Hessischen Landtag: Wir haben den Ge-setzentwurf an vielen Punkten für problematisch gehalten.Am 9. November Anhörung im Hessischen Landtag: Mei-ne sehr verehrten Damen und Herren, der eine oder andereKollege war da, selten war in einer Anhörung ein Urteilüber einen Gesetzentwurf so vernichtend.

(Michael Boddenberg (CDU): Den Satz habe ichvon Ihnen mindestens schon 30-mal gehört. Dasscheint Ihr Standardsatz zu sein!)

Dann stellt sich Kollege Bauer hin und wagt es, zwei Sätzevon Herrn Will zu zitieren. Herr Bauer, Sie sollten allesvon Herrn Will zitieren. Im Ergebnis sagen die Sachver-ständigen, die Rechtsgutachter: Dieser Gesetzentwurf ist ineinigen Bereichen verfassungswidrig. – Das ist eine klareAussage.

(Beifall bei der SPD)

Sie reden heute Morgen von „nach Kompromissen suchen“und „gemeinsam etwas machen“. Herr Kollege Bellino, esist relativ einfach: Wir wollen ein geordnetes Verfahren,kein Hauruckverfahren, wie Sie das machen. Wir wollenKriterien, die nachvollziehbar sind, und wir wollen, dassLandtagswahlkreise nicht nach politischen Gesichtspunk-ten zusammengeschustert werden, dass es möglicherweiseder CDU nutzt. Meine sehr verehrten Damen und Herren,das wollen wir dezidiert nicht.

(Beifall bei der SPD – Holger Bellino (CDU): Dasmachen wir auch nicht!)

Aktuelles Datenmaterial gibt es nicht, das werden wir allesnoch einmal in Ruhe überprüfen. Dann ermitteln Sie eben

händisch in 426 Gemeinden die Zahlen. Das ist machbar.Ein Gutachter hat gesagt, der Aufwand dürfe bei so wichti-gen Fragen nicht die Rolle spielen. Herr Innenminister, imÜbrigen haben Sie dreieinhalb Jahre Zeit gehabt. Sie habendreieinhalb Jahre die Entwicklungen verpennt, so wie beimVerfassungsschutz. Abends werden bestimmte Leute flei-ßig. Dreieinhalb Jahre Zeit, die uns jetzt fehlen, die hättenwir gut gebrauchen können.

(Beifall bei der SPD)

Ein Beispiel aus der Anhörung. Der Bürgermeister der Ge-meinde Niederdorfelden aus dem Main-Kinzig-Kreis hatvorgetragen, dass dort schon jetzt mit den Veränderungendie 25-%-Grenze nicht erreicht wird. Wir haben dagegen ineinigen Regionen um Frankfurt, um Wiesbaden, um Ha-nau, im Main-Kinzig-Kreis, im Kreis Bergstraße Verände-rungen. Wir werden Handlungsbedarf haben, der weit überdiese jetzt vorliegenden Änderungen hinausgeht.

Herr Bellino, das haben wir Ihnen gesagt. Wir werden eineumfassende Wahlkreisreform durchführen. In der erstenLesung habe ich gesagt: Wir wissen nicht, ob wir dannLandkreisgrenzen einhalten können. Wir wollen das aberin einem sauberen und transparenten Verfahren und nichtkurz vor Toresschluss. – Das war das Ergebnis der Anhö-rung. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Ge-setzentwurf ist an dieser Stelle nicht haltbar, aber bei Ihnengilt augenscheinlich: Augen zu und durch.

(Beifall bei der SPD)

Jetzt haben Sie einen Änderungsantrag eingebracht. HerrInnenminister, erst einmal herzlichen Dank an Ihre Mitar-beiter, die den Koalitionsfraktionen sicherlich ordentlichzugearbeitet haben. Wir würden das als Fraktion so nichthinbekommen. Das ist eben das Privileg von Regierungs-fraktionen.

(Holger Bellino (CDU): Sie können das auch ma-chen lassen! Wir helfen Ihnen gerne! – Nancy Fae-ser (SPD): Wir kommen sehr gerne darauf zurück!)

– Ach, wir hätten das auch machen lassen können? Ichnehme das Angebot gerne an, wir machen demnächst ein-mal einen Test.

Meine Damen und Herren, durch die Änderungen wird dasalles nicht besser. Sie können bis heute nicht mit einer ver-nünftigen Begründung nachweisen und nachvollziehen,warum Sie bestimmte Gemeinden bestimmten Wahlkreisenzuordnen. Warum wird die Gemeinde Eiterfeld aus demLandkreis Fulda in den Wahlkreis Hersfeld verschoben?Das haben Sie bis heute noch nicht stichhaltig nachweisenkönnen.

(Zuruf des Abg. Alexander Bauer (CDU))

Es gibt einen Beschluss des Kreistags Fulda: Der Kreistagdes Landkreises Fulda spricht sich gegen eine kurzfristigeNeuordnung des Landtagswahlkreises 14 aus, bei der es zueiner Herauslösung der Marktgemeinde Eiterfeld kommt.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie reden dochsonst davon, dass Sie Sorgen und Nöte der Menschen ernstnehmen. Das sind ehrenamtliche Kommunalpolitiker. Siehaben es am Beispiel der Gemeinde Groß-Rohrheim ge-macht. Das steht in der Begründung, da gab es einen Be-schluss der Gemeindevertretung und des Kreistags. Es gibtauch andere Beschlüsse, z. B. in Niederdorfelden, in Nies-te, in Heidenrod. Machen Sie das doch in anderen Berei-

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8553

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chen auch und nicht nur da, wo es Ihnen gerade in denSinn kommt.

(Zuruf des Abg. Alexander Bauer (CDU))

Es ist ein schwerer Mangel dieses Gesetzentwurfs, dass Siedas nicht stichhaltig begründen können, meine sehr verehr-ten Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Im Übrigen haben wir in der Anhörung gelernt, dass einehemaliger amerikanischer Vizepräsident von anno dazu-mal das Gerrymandering erfunden hat. Das ist das willkür-liche Zusammenschneiden und Zusammenschustern vonWahlkreisen nach politischen Kriterien.

Ich habe es Ihnen schon in der ersten Lesung gesagt, ichsage es Ihnen in der zweiten und werde es auch in der drit-ten sagen: Sie gehen sehenden Auges in eine rechtlich pro-blematische Situation. Da kann ich Ihnen nur sagen: Bor-niertheit ist noch ein vornehmer Ausdruck, um das zu be-schreiben.

(Zuruf des Abg. Holger Bellino (CDU))

Dann erzählen Sie uns heute Morgen, Parteien und Fraktio-nen müssten zusammenarbeiten und gemeinsam nach ei-nem Konsens suchen. Sie bekommen Argumente von derOpposition, und Sie bekommen Argumente von Rechtsver-stehern, die Sie ignorieren. Meine sehr verehrten Damenund Herren, da fehlt einem jedes Verständnis.

(Beifall bei der SPD)

Es gibt eine Entscheidung des Staatsgerichtshofs aus demJahr 2006. Warum wird das von Ihnen nicht angewandt?Darin steht:

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtszur höchstzulässigen Abweichung der Größe unter-schiedlicher Wahlkreise orientiert sich maßgeblichdaran, der Bildung von nicht ausgleichsfähigenÜberhangmandaten entgegenzuwirken. … Andersals das Wahlrecht des Bundes sieht aber das hessi-sche Wahlrecht die Bildung von Ausgleichsmanda-ten vor. … Nicht zuletzt deshalb ist die Rechtspre-chung des Bundesverfassungsgerichts zur Wahl-kreiseinteilung des Bundes auf das hessische Wahl-recht nicht übertragbar.

Meine Damen und Herren, das ist die Entscheidung desStaatsgerichtshofs aus dem Jahr 2006. Das spielt im Ge-setzesverfahren überhaupt keine Rolle. Auch das ist einsehr bemerkenswerter Zustand.

(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. AlexanderBauer (CDU))

Meine Damen und Herren, eine Wahlkreiskommission mitBeginn der neuen Wahlperiode einzurichten, ist ein sinn-voller Vorschlag, irgendwann wird es ja einmal neue Zah-len geben. Ein Rechtsgutachter hat übrigens auch klar aus-geführt, man müsse immer nah an den aktuellen und realis-tischen Zahlen sein, sonst könnten Sie auf die Idee kom-men, Zahlen aus dem Jahr 2010 zu nehmen.

Dann haben Sie noch etwas zur Wahlkreiskommission ein-gebracht. Wer sich das schon einmal hat anschauen können– der Änderungsantrag kam allerdings erst heute um12:16 Uhr, es wird noch nicht jeder geschafft haben, ihn zulesen, der eine oder andere Kollege hat ja auch noch etwasanderes zu tun; aber es ist ja schön, dass Sie es bis zur

zweiten Lesung hinbekommen haben –, wird sich gewun-dert haben.

(Beifall der Abg. Marjana Schott (DIE LINKE) –Zuruf des Abg. Alexander Bauer (CDU))

Für die Wahlkreiskommission ist vorgesehen – da kannman über das Prozedere streiten, das will ich Ihnen einmalvortragen, das finde ich richtig rührend –: Der Landtags-präsident darf für die Wahlkreiskommission fünf Abgeord-nete nach eigenem Gusto benennen.

(Zuruf des Abg. Alexander Bauer (CDU))

Nichts gegen den Landtagspräsidenten, aber er darf dannnach eigenem Gusto fünf Abgeordnete benennen. Das istrichtig großzügig, wie nach dem Feudalrecht. Wir habendas heute Morgen bei der Diskussion über die Leuschner-Medaille schon einmal erlebt, dass jemand etwas bestimmt.

(Zuruf des Abg. Norbert Schmitt (SPD))

In dem Änderungsantrag steht nicht, dass alle Fraktionenberücksichtigt werden sollen, das steht nur in der Begrün-dung. Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlichmüssen alle Fraktionen des Landtags in einer solchenWahlkreiskommission vertreten sein. Wir als Fraktion ent-scheiden schon selbst, wen wir dorthin entsenden. Da gibtes kein Gnadenrecht von irgendjemandem.

(Beifall bei der SPD)

Das zeigt übrigens, welcher Geist hinter diesem Gesetzent-wurf steht. Das ist schon alles mehr als bedenklich.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Gesetz-entwurf enthält weiterhin starke Elemente verfassungswid-riger Ansätze. Sie sind darauf hingewiesen worden. EinArgument der Rechtsprechung ist, dass man nicht ohneNot Einwohner einer Stadt oder Kommune – so das Ver-fassungsgericht in Rheinland-Pfalz – einer anderen Kom-mune zuordnen kann, weil es gewachsene Traditionen gibt.Auch das sind Argumente, die man abwägen muss.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, es besteht einweit größerer Handlungsbedarf als über die genanntenWahlkreise. Nachdem Sie dreieinhalb Jahre gepennt ha-ben, wollen Sie das jetzt im Schweinsgalopp durchziehen.Im Übrigen wäre es Aufgabe des Innenministers und derLandesregierung gewesen, den Gesetzentwurf vorzulegenund ein ordnungsgemäßes Verfahren in Gang zu bringen.

(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. AlexanderBauer (CDU))

– Wissen Sie, Herr Bauer, ungetrübt von Sachverstandlässt es sich gut parlieren.

(Zuruf des Abg. Alexander Bauer (CDU))

Aber ich will Ihnen an der Stelle einmal deutlich sagen,dass der Innenminister beispielsweise auch den Landes-wahlleiter ernennt. Der ist im Nebenjob noch Abteilungs-leiter im Innenministerium. Da könnte man auch auf dieIdee kommen, dass die Unabhängigkeit möglicherweisenicht so gegeben ist.

(Zuruf)

– Ich habe „könnte“ gesagt und den Konjunktiv verwendet.– Deswegen wäre es natürlich Job der Landesregierung ge-wesen, weil sie auch dafür da ist und die Möglichkeit hat,aktuelles Datenmaterial zu bekommen, Herr Bauer. Nein,dieser Gesetzentwurf ist höchst fragwürdig. Wir haben es

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Ihnen angekündigt, Sie sind bockig und nicht bereit, einzu-lenken.

(Zuruf des Abg. Alexander Bauer (CDU))

Deswegen werden wir es noch einmal in der dritten Lesungberaten. Wir werden sehen, ob Sie noch etwas an dem Ge-setzentwurf verändern – ansonsten werden Sie schon se-hen, dass es andere Möglichkeit gibt. Das ist ja nicht daserste Mal, dass Sie mit dem Kopf gegen die Wand rennen,aber meine Lebenserfahrung sagt mir, dass eine Wand im-mer noch stärker ist als Ihr Dickkopf. – Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Janine Wissler(DIE LINKE))

Präsident Norbert Kartmann:

Das Wort hat Herr Dr. Wilken für die Fraktion DIE LIN-KE.

Dr. Ulrich Wilken (DIE LINKE):

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren!Ja, der vorliegende Gesetzentwurf ist eine einzige Zumu-tung für die Fraktionen, die Parteien und letztlich für dieWählerinnen und Wähler in Hessen. Das Ganze von CDUund GRÜNEN durchgezogene Verfahren ist eine einzigeZumutung für uns alle.

(Beifall der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Ich will es noch einmal ganz kurz rekapitulieren: Es wirdeine Anhörung durchgeführt und eine Sondersitzung desInnenausschusses einberufen für Dienstag, 13 Uhr. Dawird mündlich angekündigt, es werde einen Änderungsan-trag zu dem Gesetzentwurf geben. Zwei Minuten später be-schließen die Regierungsfraktionen die Empfehlung an dasPlenum, den vorliegenden Gesetzentwurf in zweiter Le-sung unverändert anzunehmen – Herr Bauer hat es unseben als Berichterstatter noch einmal vorgetragen. Im sel-ben Atemzug musste er aber noch sagen, es gebe dochnoch einen Änderungsantrag.

(Alexander Bauer (CDU): Ist das ungewöhnlich?)

– Nein, das ist nicht ungewöhnlich, sondern eine Missach-tung uns als Gesetzgeber gegenüber. Das ist kein ordentli-ches Verfahren.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten derSPD – Widerspruch bei der CDU)

Einmal unabhängig davon, wer zuständig ist, ein solchesGesetz einzubringen: Sie inklusive Herrn InnenministerBeuth verursachen ungefähr ein Jahr vor der Landtagswahldas größtmögliche Chaos mit einer unausgegorenen Wahl-rechtsreform.

Ein kurzer Blick zurück. Trotz aller Hinweise verneinenSie noch in diesem Jahr die Notwendigkeit, das Wahlge-setz ändern zu müssen, und das, obwohl – es wurde schonausgeführt – Wahlkreise ungleich groß sind. Nicht einmalmehr als ein Jahr vor der Landtagswahl müsste uns eigent-lich allen klar sein, jetzt nichts mehr am Wahlgesetz zu än-dern – die Aufstellungsversammlungen laufen doch be-reits.

(Holger Bellino (CDU): Bei uns nicht!)

– Aber Sie lesen auch in der Zeitung, dass sie woandersschon laufen. – Schon gar nicht sollten die Regierungsfrak-

tionen einseitig die Wahlgrundlagen ändern, und dreimalnicht sollten sie gegen den erklärten Willen der Gemeindenmit veralteten Daten und erkennbarem Willen zur Verän-derung von Mehrheitsverhältnissen das Wahlgesetz än-dern.

(Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. HolgerBellino (CDU) – Gegenruf des Abg. Günter Ru-dolph (SPD))

Genau das aber machen Sie nun. Und mit welchem Ergeb-nis? – Nahezu alle Sachverständigen, Gemeinden und Ge-bietskörperschaften haben in aller Deutlichkeit gesagt, dassIhre Reformabsichten ein einziger Murks sind.

Fest steht nun, dass wir weder mit dem alten Gesetz nochmit dem neuen eine rechtssichere Grundlage für die Land-tagswahl haben. Herzlichen Glückwunsch, Herr Beuth –das haben Sie zu verantworten.

(Beifall der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE) –Holger Bellino (CDU): Falsch!)

Weil Sie – nicht nur Sie, Herr Bellino, sondern auch weite-re – uns LINKEN ja nie glauben und die Sprecher vonCDU und GRÜNEN hier wieder so tun, als gäbe es garkein Problem, will ich hier im Plenum einmal die Sachver-ständigen, betroffenen Gemeinden und Beobachter der An-hörung zu diesem Gesetzentwurf zu Wort kommen lassen.Teile davon wurden bereits zitiert.

Herr Prof. Dr. Martin Will sagt:

Wenn das vor den Staatsgerichtshof kommt, wirddieser im Lichte der neueren Rechtsprechung desBundesverfassungsgerichts sowie der Rechtspre-chung anderer Staatsgerichtshöfe und der Verfas-sungsgerichte der Länder zu dem Ergebnis kommen,dass das Ganze verfassungswidrig ist.

Herr Prof. Dr. Hofmann:

In der schriftlichen Stellungnahme habe ich sogargesagt, dass ich es für verfassungswidrig halte, dassnicht die aktuellsten Zahlen zugrunde gelegt wordensind.

(Günter Rudolph (SPD): Genau!)

Herr Dr. Hofmann spricht auch das schon erwähnte Gerry-mandering an, benannt nach einem US-Politiker, der es an-geblich erfunden hat, Wahlkreise so zuzuschneiden, dasseine Partei davon profitiert. Wir werden im Duden beob-achten, ob Beutezug demnächst mit „th“ geschrieben wird.

(Heiterkeit der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE) –Zuruf von der CDU)

Weiter sagt Dr. Hofmann:

Gerrymandering ist ebenfalls ein Punkt, der unbe-dingt eingehalten werden muss. Wenn es tatsächlichso ist, dass durch den Neuzuschnitt eines Wahlkrei-ses ein Wahlkreis, der bis dahin zwischen A- und B-Partei umstritten war, plötzlich mit großer Wahr-scheinlichkeit zu einem Wahlkreis wird, der von derA-Partei gewonnen wird, dann stinkt die Sache, umes direkt zu sagen.

(Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. GünterRudolph (SPD) – Gegenruf des Abg. Holger Bellino(CDU))

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8555

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Aus den Stellungnahmen der Gemeinden ist schon zitiertworden, deswegen will ich an dieser Stelle nur kurz HerrnDr. Walter Arnold aus der „Fuldaer Zeitung“ von gesternzitieren, wo er in einem Gastbeitrag schreibt:

Das ist sehr bedauerlich. … Unter anderen aus die-sen Gründen befürworte ich die Aufteilung meinesWahlkreises nicht.

Bis in die eigenen Reihen haben Sie also ein Problem mitdiesem Gesetzentwurf.

Zusammenfassend haben wir alle in der „Frankfurter All-gemeinen Zeitung“ am 16. November gelesen:

So nicht – Die CDU/GRÜNEN-Koalition hat sichbei der Reform der Wahlkreisgrenzen in eine Sack-gasse manövriert. … Wenn Schwarz-Grün eine Neu-regelung partout für erforderlich hält, ist zumindesteine Revision des vorliegenden Hopplahopp-Gesetz-entwurfs unumgänglich. Der Eindruck, die Wahl-kreisveränderungen hätten politische Gründe, mussum jeden Preis vermieden werden.

Das aber machen Sie mit Ihrem heutigen Änderungsantragausdrücklich nicht, weil Sie uns die Begründung für die je-weiligen Änderungen auch in diesem Änderungsantragschuldig bleiben.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten derSPD – Zuruf des Abg. Holger Bellino (CDU))

Herr Bauer, Herr Frömmrich, Herr Beuth, man fragt sich,auf welchem Planeten Sie eigentlich leben, wenn Sie einesolch vernichtende und berechtigte Kritik schlicht nicht zurKenntnis nehmen. Sie sind dafür verantwortlich, dass dasWahlgesetz und damit die Landtagswahl absehbar beklagtsein wird – schon vor der Wahl.

(Zuruf des Abg. Holger Bellino (CDU))

Sie müssen sich Vorwürfe der politischen Manipulationgefallen lassen und haben zu verantworten, hier mit einem– ich sage es einmal so – schäbigen Verfahren ein bis hinzur Verfassungswidrigkeit gehendes Wahlgesetz parteipo-litisch durchzudrücken. Es ist uns aber aufgefallen, meineDamen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU)

Die Regierungsfraktionen haben es eingebracht, aber Sie,Herr Innenminister, chaotisieren die Landtagswahl, nochbevor der Termin überhaupt feststeht.

(Holger Bellino (CDU): Das machen doch Sie! –Gegenruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Sie sind zur Vorlage eines rechtssicheren Gesetzes entwe-der nicht in der Lage, oder Sie betreiben bewusst Wahlma-nipulation durch CDU-günstige Wahlreisveränderungen.

(Widerspruch bei der CDU)

Man muss es leider immer wieder sagen: herzlichenGlückwunsch an die GRÜNEN. Früher haben Sie hier im-mer vorgetragen – auch Sie, Herr Frömmrich –, Mehrheitsei nicht Wahrheit. Ich vermute einmal, dass Sie das heutenicht sagen werden, obwohl es immer noch richtig wäre:Mehrheit ist nicht Wahrheit.

(Beifall der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Es ist schon erstaunlich, mit welcher 180-Grad-DrehungSie auf einmal an der Seite der CDU kämpfen.

Ich kann nur sagen, dass auch mit Ihrem Änderungsantragfür uns LINKE dieses Gesetz nicht zustimmungsfähig ist,weder heute noch in einer dritten Lesung. – Ich bedankemich.

(Beifall bei der LINKEN)

Präsident Norbert Kartmann:

Das Wort hat der Kollege Greilich, FDP-Fraktion.

Wolfgang Greilich (FDP):

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren!Wir reden heute über nichts anderes als über die Frage, obdie Wahl zum Hessischen Landtag im nächsten Herbst ver-fassungsmäßig durchgeführt werden kann.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Das ist eine Frage, bei der ich mir in der Tat wünschte,dass mit etwas mehr Ernst und der Suche nach echten Lö-sungen an das Thema herangegangen würde. Deswegenwill ich noch einmal versuchen, den Hintergrund zu erläu-tern.

Es geht hier um den Grundsatz der Gleichheit der Wahlnach Art. 73 Abs. 2 der Hessischen Verfassung, und daserfordert, dass in jedem Wahlkreis eine nicht allzu unter-schiedliche Zahl an Stimmberechtigten besteht. Da eineannähernd identische Anzahl tatsächlich nicht zu erreichenist, erkennt das Bundesverfassungsgericht, wie schonmehrfach erwähnt, eine Toleranzschwelle von plus/minus25 % an. Das ist die maximal zulässige Abweichung nachBundesverfassungsgericht.

Nach den Zahlen, die Sie Ihrem Gesetzentwurf zugrundegelegt haben oder die der Innenminister dort eingearbeitethat, kommen Sie auch dorthin. Das Dumme ist aber, dassdiese Zahlen lediglich dem Entwurf entsprechen, aber dieZahlengrundlage selbst untauglich ist. Das ist der wesentli-che Kritikpunkt an diesem Gesetzentwurf.

(Beifall bei der FDP und der SPD – Zuruf des Abg.Alexander Bauer (CDU))

– Ich erkläre es Ihnen gleich, Herr Kollege Bauer. – Es istzu bezweifeln, und das geht so nicht. Deswegen muss mannach dem Rechtsstaatsprinzip das verfassungsrechtlicheGebot beachten, den Zuschnitt nach den besten verfügba-ren Daten herzustellen. Das eben tun Sie nicht.

(Holger Bellino (CDU): Das haben wir gemacht!)

– Ich würde zuhören. – Der Kollege Rudolph hat schondarauf hingewiesen: Sie stützen sich auf Zahlen vom31.12.2015 mit der Begründung, es gebe keine entspre-chenden Zahlen mit einem aktuelleren Stand, weil sie beimStatistischen Landesamt nicht verfügbar seien. Ich sage Ih-nen ganz einfach: Es gibt sehr viel konkretere und sehr vielbesser geeignete Zahlen, die verfügbar sind,

(Norbert Schmitt (SPD): Das ist der entscheidendePunkt!)

die Zahlen der Bundestagswahl 2017, die, wie Sie wissen,erst wenige Wochen zurückliegt.

(Beifall bei der FDP und der SPD – Michael Bod-denberg (CDU): Das ist falsch!)

8556 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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– Herr Kollege Boddenberg, das ist nicht falsch. DieseZahlen sind erstens aktueller; sie stammen aus dem Sep-tember dieses Jahres. Sie unterscheiden sich in der Tat aneinem Punkt.

(Michael Boddenberg (CDU): 17 Juristen werdenuns etwas anderes erzählen!)

– Ich weiß nicht, ob ich irgendwann noch dazu komme,das auch auszuführen.

(Zuruf des Abg. Michael Boddenberg (CDU))

– Herr Kollege Boddenberg, wenn Sie zuhören würden,könnten Sie an der Stelle in der Tat etwas lernen. Jetzt er-zählen Sie wieder, ich wäre ein Oberlehrer. Aber ich versu-che nur einmal, den Sachverhalt zu klären.

Die Zahlen der Bundestagswahl unterscheiden sich bezüg-lich der Feststellung der Stimmberechtigten von denen beider Landtagswahl. Das ist richtig. Aber woran liegt das? Esliegt daran, dass bei der Bundestagswahl auch Personenstimmberechtigt sind, die am Wahltag außerhalb der Bun-desrepublik Deutschland leben. Das ergibt sich aus demBundeswahlgesetz. Da haben Sie eine Differenz, aber dieseDifferenz kann man ausräumen, wenn man will.

(Beifall bei der FDP, der SPD und der LINKEN)

Das ist eine relativ einfache Rechenoperation. Dafür mussman nur die Zahl der im Ausland lebenden Stimmberech-tigten von der Anzahl der Stimmberechtigten bei der Bun-destagswahl 2017 abziehen. Dann kommt man auf genaudie richtige Zahl.

(Beifall bei der FDP und der SPD – Norbert Schmitt(SPD): Da ist die CDU überfordert! – Weitere Zuru-fe – Glockenzeichen des Präsidenten)

Dann erhalten Sie die Zahl derjenigen, die am 24. Septem-ber, wenn Landtagswahl gewesen wäre, bei der Landtags-wahl stimmberechtigt gewesen wären. Dass das eine aussa-gekräftige und aktuellere Zahl ist, das werden Sie nichternsthaft bestreiten wollen.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Nun haben wir gehört, es sei schwierig, dort zu echtenZahlen zu kommen. Wir haben vorige Woche beim Bun-deswahlleiter angerufen. Es sind in Hessen genau 9.776Stimmen.

Nun könnte man auf die Idee kommen, das könne mannicht richtig auf die einzelnen Wahlkreise herunterbrechen.Auch das haben wir überlegt, weil im Ministerium anschei-nend nicht die Möglichkeit besteht, solche Hausaufgabenzu erledigen. Wir haben heute früh – wann war es? –

(Günter Rudolph (SPD): 12:16 Uhr!)

beim Bundeswahlleiter angerufen und bekamen nach unse-rem Anruf von heute Vormittag heute um 12:40 Uhr perMail die Zahlen heruntergebrochen auf die einzelnenWahlkreise.

(Lebhafter Beifall bei der FDP, der SPD und derLINKEN)

Ich zeige es Ihnen einmal: So sieht das aus. Mit diesenZahlen – rechnen müssen Sie noch selbst; Herr Minister,ich stelle sie Ihnen zur Verfügung – sind Sie in der Lage,einen verfassungsmäßigen Gesetzentwurf vorzulegen.

(Lebhafter Beifall bei der FDP, der SPD und derLINKEN)

Ich will das nur klarstellen. Diese Zahlen sind nicht nurüber eineinhalb Jahre aktueller als die, die Sie zugrundegelegt haben. Sie haben noch einen weiteren entscheiden-den Vorteil: Sie beziehen sich auf die richtige Bezugsgrö-ße, auf diejenigen, die wahlberechtigt sind, und nicht aufdie Einwohner, von denen die abzuziehen sind, die aus ir-gendwelchen Gründen nicht wahlberechtigt sind, die zwarüber 18 sind, aber nicht wahlberechtigt.

(Beifall bei der FDP, der SPD und der LINKEN)

Insofern komme ich zu dem ersten Fazit. Berechnen Sieeinfach unter Einbeziehung der Anzahl dieser Stimmbe-rechtigten auf aktueller Datenbasis neu. Dann sind Sie inder Lage oder haben eine Voraussetzung, um einen verfas-sungsmäßigen Gesetzentwurf vorzulegen.

Ich will an dieser Stelle eines einschieben, weil ich hierHerrn Kollegen Dr. Arnold sehe und in der Tat auch gele-sen habe, was gestern in der „Fuldaer Zeitung“ unter sei-nem Namen veröffentlicht ist. Vielleicht kann er es hiergeraderücken. Es heißt dort:

Leider ist schnelles Handeln jetzt nötig geworden,weil die Landtagsfraktion der FDP in einem Schrei-ben mit einer Klage gegen die Wahlergebnisse derkommenden Landtagswahl gedroht hat, falls es vor-her zu keinen Änderungen kommt.

Lieber Herr Kollege Dr. Arnold, gerade wenn man ein inFulda direkt gewählter Wahlkreisabgeordneter ist, sollteman sich an die Gebote halten, unter anderem auch an das:Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP, der SPD undder LINKEN)

Was ist denn der Sachverhalt? Der Sachverhalt ist, dassuns der Innenminister mitgeteilt hat, es ist zwar alles ver-fassungswidrig, was wir dort stehen haben, aber wir wollendiese Wahlperiode nichts mehr daran ändern. – Das warder durchschaubare Versuch, die Parteien und die Fraktio-nen in Mithaft zu nehmen für die Gefahr, ein verfassungs-widriges Wahlverfahren durchzuführen.

(Dr. Walter Arnold (CDU): Was haben Sie denn ge-schrieben?)

– Was haben wir geschrieben? – Wir haben geschrieben,dass wir feststellen, dass die Befürchtungen des Innenmi-nisters zutreffend sind, dass wir in die Gefahr laufen, dasseine Wahl angefochten werden könnte. Wer das im Zwei-felsfall tun würde, ist eine völlig andere Frage. Wir würdenes nicht tun.

Aber ich weiß von Parteien, die in anderen Bereichen kan-didieren und gewählt worden sind. Wenn, was wir hoffenkönnten – mittlerweile zweifle ich, dass es gelingt, dassdiese Parteien an der 5-%-Klausel scheitern –, die AfD ge-scheitert wäre, hätten Sie sich darauf verlassen können,dass Sie diese Klage bekommen hätten. Genau das ist un-ser Ansinnen gewesen, das zu vermeiden. Wir haben mitkeinem Wort eine Klage angedroht.

(Beifall bei der FDP)

Deswegen hoffe ich, lieber Herr Kollege Dr. Arnold, damitnichts Falsches zurückbleibt, dass Sie das hier entspre-chend klarstellen.

Ich will jetzt nicht im Einzelnen wiederholen, warum dieBegründung, die Sie gegeben haben, und auch die Begrün-dung in Ihrem Änderungsantrag nicht ausreicht, um kon-

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kret zu begründen, warum genau diese Änderungen an denWahlkreiszuschnitten gemacht werden. Da kann ich michauf die verschiedenen Stellungnahmen in der Anhörungbeziehen, die Sie nur nachlesen müssen, um zu einem rich-tigen Ergebnis zu kommen.

Ich sage deshalb abschließend – das ist mein zweites Fazit,und da hoffe ich, dass wir in diesem Haus Einigkeit ha-ben –: Kein Demokrat wünscht sich ein angreifbares Wahl-recht. Kein Demokrat kann wünschen, dass wir auf einerfalschen Grundlage Landtagswahlen durchführen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten derSPD und der LINKEN)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, deshalb fordereich Sie nochmals auf: Räumen Sie die verfassungsrechtli-chen Bedenken aus. Bessern Sie Ihren Gesetzentwurf nach.Ihr Änderungsantrag wird dem nicht gerecht. VerwendenSie aktuelles Zahlenmaterial, wählen Sie die exakte Be-zugsgröße, und begründen Sie die vorgenommene Neuein-teilung. Man könnte auch einfach sagen: Machen Sie end-lich einmal Ihre Hausaufgaben.

(Lebhafter Beifall bei der FDP, der SPD und derLINKEN)

Präsident Norbert Kartmann:

Zu einer Kurzintervention erteile ich Herrn Abg. Dr. Ar-nold das Wort.

Dr. Walter Arnold (CDU):

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich binzweimal angesprochen worden in den letzten beiden Bei-trägen und möchte dazu Folgendes sagen: Ja, es ist richtig.Ich bedauere, dass offensichtlich durch diese Wahlkreis-veränderung Eiterfeld den Wahlkreis 14 verlässt. Eiterfeldist als Marktgemeinde sehr verwurzelt mit dem LandkreisFulda und ist Teil meines Wahlkreises gewesen.

(Günter Rudolph (SPD): Ist das schon beschlossen?)

Ich sage auf der anderen Seite auch – hören Sie bitte zu,Herr Rudolph – ganz deutlich, und das auch in RichtungFDP: Ich war im Frühjahr dieses Jahres der Auffassung,dass durch den Brief des Innenministers ganz klar vorgege-ben ist, dass es hier ein möglicherweise größeres Problemin der Wahlkreisneuordnung gibt und dass man das in derneuen Legislaturperiode in Ruhe hätte angehen können.

Der Brief der FDP, den Sie ja nicht abstreiten, Herr Kolle-ge Greilich,

(Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn (FDP): Wieso auch, Kolle-ge Arnold?)

hat zu der Frage geführt, ob das beklagt werden könnte.Jetzt haben Sie es so dargestellt, dass Sie das nur theore-tisch angesprochen hätten und dass in dem Brief nicht drin-stehe, dass die FDP es beklagen würde.

(Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn (FDP): Ja, steht das denndrin? Steht es drin?)

– Lieber Herr Kollege Hahn, nachdem jemand sagte, eskönne beklagt werden,

(Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn (FDP): Sie behaupten esdoch!)

räume ich gerne ein, dass ich – und vielleicht auch nochandere – das so interpretiert habe, dass die FDP dies tunkönnte.

(Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn (FDP): Jetzt verstehe icheiniges!)

Aber entscheidend ist doch, dass der Innenminister aus sei-ner Verantwortung heraus gesagt hat: Dann können wir dasso nicht stehen lassen, wir müssen etwas tun.

(Zuruf von der SPD: Er hätte etwas tun können, derInnenminister!)

Deswegen unterstütze ich, was der Innenminister dann an-geregt hat, nämlich dass wir darauf mit einer Gesetzesän-derung reagieren.

So leid es mir auch tut, dass Eiterfeld durch diesen Vor-gang dann den Wahlkreis 14 verlassen muss: Ich trage die-sen Gesetzentwurf mit, weil ich keine Alternative zu demsehe, was der Innenminister vorgeschlagen hat und was diebeiden Fraktionen in ihrem Gesetzentwurf umgesetzt ha-ben. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU – Unruhe)

Präsident Norbert Kartmann:

Das Wort hat Herr Kollege Greilich.

Wolfgang Greilich (FDP):

Herr Kollege Dr. Arnold, ich muss wirklich sagen,

(Günter Rudolph (SPD): Scheinheilige Bande! Na,na, na!)

dass mich das jetzt schon enttäuscht. Auf die klare Frage,ob das dort drinsteht, behaupten Sie weiterhin, in demBrief stehe, wir hätten eine Klage angedroht. Das habenSie nicht zurückgenommen, das haben Sie nicht korrigiert.

(Holger Bellino (CDU): Hat er korrigiert! Jetzt ver-suchen Sie doch nicht, sich herauszureden! – Weite-re Zurufe von der CDU)

Ich stelle noch einmal fest: Die Behauptung, die Sie in der„Fuldaer Zeitung“ veröffentlicht haben, ist nichts anderesals schlicht unwahr.

(Beifall bei der FDP und der SPD – Holger Bellino(CDU): Erst Briefe schreiben und sich dann distan-zieren, das ist fast à la Jamaika! – Gegenruf desAbg. Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn (FDP) – Unruhe)

Präsident Norbert Kartmann:

Das Wort hat Herr Abg. Frömmrich für die FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

(Anhaltende Unruhe)

– Meine Damen und Herren, der Kollege Frömmrich hatdas Wort. – Bitte.

Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren!Man merkt, dass das ein Themenkomplex ist, der dazu füh-ren kann, dass es hier emotional in die Höhe geht.

8558 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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(Zuruf von der SPD: Woran liegt denn das?)

Ich kann das auch nachvollziehen. Es geht hier, das habenwir auch in der Anhörung gehört, um Gemeinden, die sichnicht richtig zugeordnet fühlen. Es geht um Landkreise, dieäußern, ihre Landkreisgrenzen verrückten und würden zer-schnitten, da seien Bezüge nicht vorhanden. Es geht auchum Kolleginnen und Kollegen, die hier im HessischenLandtag Wahlkreise vertreten und die natürlich auchschauen, ob die Veränderungen unter Umständen etwasmit ihrem Wahlkreis, mit ihrem Mandat und mit den Er-gebnissen in ihrem Wahlkreis zu tun haben könnten. Vondaher kann ich verstehen, dass man ein bisschen emotionalreagiert.

Aber ich finde, man sollte sich vielleicht doch einmal ge-nauer anschauen, was hier vorliegt und auf welcher Grund-lage wir diesen Gesetzentwurf vorgelegt haben. Herr Kol-lege Arnold hat es gerade sehr deutlich gesagt. Ich willnoch einmal betonen, dass wir in den ersten Gesprächen,die wir miteinander geführt haben – daraufhin sind ja dieBriefe des Ministers entstanden –, der Auffassung waren,dass wir daran irgendwann etwas ändern müssen. Da ver-schieben sich Zahlen von Nordhessen nach Südhessen, Un-gleichgewichte entstehen. Das ist dem demografischenWandel geschuldet, das wussten wir alle. Wir hatten hier-über ja einmal eine Enquetekommission.

Wir sind aber eher davon ausgegangen, das in aller Ruhe inder nächsten Wahlperiode anzugehen, mit Sachverstandvon außen, und dann zu entscheiden. Das war zumindestder Sachstand, den ich hatte. Dann – in der Tat, Herr Kol-lege Greilich – kam die Intervention der FDP.

(Angela Dorn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja,super!)

Nach dieser Intervention haben wir miteinander gespro-chen und gesagt: Na gut, wenn jetzt alle gemeinsam ein-hellig festgestellt hätten, dass das eine Geschichte für dienächste Wahlperiode ist, wenn alle sich darin einig gewe-sen wären, hätten wir uns das in der nächsten Wahlperiodevorgenommen. Aber dadurch, dass die FDP Einhalt gebo-ten und gesagt hat, das sei komplex und schwierig und ha-be unter Umständen auch das Problem, dass die Wahl an-gefochten werden könne

(Michael Boddenberg (CDU): Größte Bedenken gabes!)

oder dass es zumindest juristische Probleme damit gebenkönnte, müssen wir wenigstens – –

(Zuruf des Abg. Marius Weiß (SPD) – Unruhe)

– Vielleicht lassen Sie mich einfach einmal ausreden.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe, glaube ich, hier noch nicht dazu beigetragen, ineinen Streit zu gehen, sondern habe versucht, zu erklären,wie das entstanden ist, damit man aus dieser Debatte dieEmotionen vielleicht ein bisschen herausnimmt.

Wir haben also festgestellt, dass wir daran doch noch et-was ändern müssen. Dann hat man sich darauf geeinigt –Herr Kollege Bauer hat das gerade so schön ausgedrückt –,minimalinvasiv vorzugehen und zu versuchen, die größtenSchwierigkeiten auszuräumen. In der Regel kommen wirmit diesen 25 % hin. Der nächste Hessische Landtag kanndarüber dann in aller Ruhe diskutieren und sehen, wie man

den demografischen Wandel in unserem Bundesland ent-sprechend abbildet. Das war sozusagen die Grundlage, aufder wir gearbeitet haben.

Ich betone es hier noch einmal, weil das, wie ich finde, im-mer ein wenig weggenuschelt wird. Wir haben immer ge-sagt: Wir unterbreiten einen Vorschlag; das ist unser Ange-bot, wie man es machen könnte. – Wir als Koalition habenim gleichen Atemzug aber immer wieder betont – auchFrau Kollegin Dorn in ihrer Einbringungsrede bei der ers-ten Lesung –, dass wir Vorschlägen aus dem Hause grund-sätzlich positiv gegenüberstehen – etwa, dass man A nichtB zuordnen sollte, sondern eher C, weil diese Regelungbesser passen würde und die gleichen Auswirkungen hätte.Wenn es Vorschläge gibt, die machbar sind und die dasgleiche Ergebnis bringen, dann machen wir das mit, über-haupt kein Problem. Das war unsere Intention; dieses An-gebot haben wir gemacht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei Abgeordneten der CDU)

Vielleicht darf ich an etwas erinnern, ohne gleich wiederSchimpfe zu bekommen – aber ich tue es trotzdem. Ichmöchte an den Satz eines ehemaligen, hoch geschätztenFraktionsvorsitzenden in diesem Hause erinnern, der, wennes Diskussionen gab, die man nicht nachvollziehen konnte,immer gesagt hat: Mir liegt nichts vor.

(Angela Dorn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Stimmt!)

Und so ist es: Uns liegt in Bezug auf dieses Gesetz von denanderen Fraktionen nichts vor.

(Widerspruch bei der FDP)

Sie haben keinen eigenen Änderungsantrag zu diesem Ge-setzentwurf in Gang gebracht.

(Zuruf von der SPD: Das ist so arm!)

Wenn man hier schon so auftritt und alles kritisiert, wennman sagt, dass alles schlecht gewesen sei, dann hätte ichmir wenigstens vorstellen können, dass man dem Hause et-was vorlegt und darlegt, wie man es gerne regeln würde.Doch uns liegt nichts vor. Auch Oppositionsfraktionen ha-ben die Möglichkeit, dem Hause Anträge vorzulegen, mei-ne Damen und Herren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei Abgeordneten der CDU – Janine Wissler (DIELINKE): Die lehnen Sie doch sowieso ab! – Gegen-ruf von der SPD: Nicht so emotional!)

Ein weiterer Punkt, der hier angesprochen wurde, ist dasstatistische Material. Ich sage Ihnen ganz ehrlich und habedas auch in der Anhörung zum Ausdruck gebracht, dass esmich einigermaßen verwundert, dass wir mit all der Tech-nik, die wir heute haben, und mit all dem Personal für Sta-tistik nicht in der Lage sind, das vorzulegen. Die Präsiden-tin hat erläutert, warum das der Fall ist. Aber so einfach istes nicht, wie Sie das hier gerade dargestellt haben, HerrGreilich. Das war – mein Kompliment; ich kenne das nochaus Oppositionszeiten – eine gute Inszenierung, die Siehier gebracht haben.

Aber das betrifft nicht nur die Wählerinnen und Wähler,die im Ausland sind und bei einer Bundestagswahl mit-wählen können. Nach dem hessischen Wahlrecht müssenWähler ihren Wohnsitz mindestens drei Monate lang in

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8559

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Hessen haben, damit sie an der Wahl in Hessen teilnehmenkönnen.

(Zuruf des Abg. Rüdiger Holschuh (SPD) – Unruhe)

Derjenige, der von Mannheim nach Hessen zieht, hat beieiner Bundestagswahl in Hessen Wahlrecht, weil er in derBundesrepublik Deutschland an der Bundestagswahl teil-nimmt. Um aber bei der Landtagswahl wahlberechtigt zusein, muss er, wenn er von Mannheim nach Hessen zieht,eine gewisse Zeit in Hessen gewohnt haben. Von daher istdas, was Sie gerade versucht haben, schnell wegzunu-scheln, ein Problem.

(Norbert Schmitt (SPD): Herr Frömmrich, das krie-gen Sie mit den Einwohnerzahlen doch auch nichtraus! – Zuruf von der FDP – Unruhe – Glockenzei-chen des Präsidenten)

Herr Kollege Boddenberg hat es gerade dazwischengeru-fen. Das ist ein Problem, das ein bisschen komplexer ist,als es hier gerade dargestellt worden ist. Herr Kollege Bod-denberg hat zu Recht dazwischengerufen. Auch dann hät-ten wir es wahrscheinlich mit fünf Juristen zu tun, die zehnverschiedene Meinungen vertreten und darlegen, warumausgerechnet das nicht geht. Das ist ein sehr komplexesGesetz, meine Damen und Herren.

Ich glaube, wir legen Ihnen am Ende etwas vor, was wirmachen könnten. Wir geben Ihnen ja sogar eine Alternati-ve.

Präsident Norbert Kartmann:

Gestatten Sie Zwischenfragen?

Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Nein. – Denn wir sagen Ihnen, wie wir das dann regelnwollen, und zwar im Großen und Ganzen, was die Frageder Wahlkreisreform angeht. Es wird externen Sachver-stand und Diskussionen geben. Der Landeswahlleiter, derPräsident des Verwaltungsgerichtshofs, die Statistikbehör-de und Abgeordnete aus dem Hessischen Landtag werdenbeteiligt sein.

Natürlich werden das Abgeordnete aus dem HessischenLandtag sein, die die Fraktionen benennen werden. An-sonsten würde das keinen Sinn machen. Wir wollen eineüberparteiliche Lösung schaffen. Dafür soll das da sein.

(Unruhe)

Präsident Norbert Kartmann:

Meine Damen und Herren, darf ich um mehr Ruhe – –

(Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Das ist schon ein bisschen komisch! Entschuldigung,das ist so wichtig! Warum man dann so dazwischen-ruft!)

– Herr Kollege, ich rede eben. Herr Kollege, danke für dieUnterstützung.

Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Das ist nicht ganz einfach. Wir werden Ihnen einen Vor-schlag machen, wie man das gestalten kann.

Wir haben viele Anzuhörende gehabt. Die Vertreterinnenund Vertreter aller Gemeinden, die eingeladen waren, ha-ben das eine oder andere daran kritisiert. Sie haben gesagt:„Wir hätten es gerne so“, oder: „Macht es doch lieber an-ders.“ – Wenn wir noch Vertreterinnen und Vertreter zehnweiterer Gemeinden eingeladen hätten, hätten die unswahrscheinlich auch erzählt, dass das so gerade nicht geht,weil es sie betrifft.

Das ist eine schwierige und komplexe Sache. In Richtungder SPD-Fraktion sage ich: Sie haben immer das BeispielNieste gebracht. Das es das Beispiel Nieste ist, kann mannachvollziehen. Denn dort hat sich der Bürgermeister dazugeäußert. Es ist im Übrigen ein Bürgermeister der SPD. Erhat auch einen Vorschlag gemacht.

Ich frage: Ist der Vorschlag, den der Bürgermeister der Ge-meinde Nieste, SPD, gemacht hat, der Vorschlag der SPD?Denn der sagt nämlich, dass wir aus dem geteilten Wahl-kreis Hersfeld-Rotenburg und Werra-Meißner-Kreis alleWähler aus dem Werra-Meißner-Kreis dem WahlkreisWerra-Meißner zuordnen sollen und alle Wähler aus demTeil Hersfeld-Rotenburg dem Wahlkreis Hersfeld-Roten-burg zuordnen sollen. Dann könnte man dort einen Wahl-kreis auflösen.

Herr Kollege Rudolph, Sie sollten sich einmal die demo-grafische Entwicklung anschauen. Das würde bedeuten,dass dieser Wahlkreis wahrscheinlich in den Main-Kinzig-Kreis, in den Wetteraukreis oder irgendwo nach Südhessenwandern würde. Denn das entspricht der demografischenEntwicklung. Schlagen die Sozialdemokratinnen und Sozi-aldemokraten dieses Hauses vor, dass wir in Nordhesseneinen Wahlkreis dichtmachen und ihn nach Südhessen ver-lagern? Herr Kollege Rudolph, diese Frage müssen Sie hiereinmal beantworten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undbei Abgeordneten der CDU)

Herr Präsident, ich komme zum Schluss meiner Rede. –Man sollte sich das noch einmal genauer anschauen. Wirhaben es mit einer schwierigen Situation zu tun. Das istkeine Frage. Das Thema ist sehr emotionalisiert. Ich kanndas auch verstehen. Die Kolleginnen und Kollegen dergroßen Parteien sind da deutlich mehr betroffen, als das beidenen der kleineren Parteien der Fall ist. Es ist verständ-lich, dass das intensiv diskutiert wird.

Wir legen Ihnen eine minimalinvasive Lösung vor. So hates Kollege Bauer ausgedrückt. Wir haben Ihnen einen Vor-schlag gemacht, wie wir das Problem in der nächstenWahlperiode angehen wollen. Wir haben ein demografi-sches Problem. Wir haben einen Wandel. Die Menschenziehen vom ländlichen Raum in die Ballungsräume. Demmüssen wir irgendwann gerecht werden.

Ich glaube, dass wir mit dem Gesetzentwurf ein vernünfti-ges Angebot machen, wie wir die nächste Landtagswahldurchführen können. – Herzlichen Dank für die Aufmerk-samkeit.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU)

Präsident Norbert Kartmann:

Das Wort erhält Herr Innenminister Beuth.

8560 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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Peter Beuth, Minister des Innern und für Sport:

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren!Die Landesregierung unterstützt den Gesetzentwurf derFraktionen der CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund auch den Änderungsantrag, der heute dazu eingebrachtwurde.

In der Tat ist es so, dass die Anhörung keine eindeutigenErgebnisse erbracht hat.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

Es wurden von den Bürgermeistern und den Vertretern derKommunen viele Argumente ausgetauscht – es gab vieleEmotionen –, die aber letztendlich an diesem ganzen Ver-fahren eigentlich nicht beteiligt sind. Denn das ist eine An-gelegenheit des Hessischen Landtags. Es ist eine Angele-genheit, die Sie alle, die 110 Abgeordneten, angeht.

Hier wurde kritisiert, dass die Vorschläge, die gemachtwurden, alle völlig falsch seien. Ich finde, dann steht manschon in der Not, einen eigenen Vorschlag zu machen. Derfehlt allerdings. Das hat Herr Kollege Frömmrich geradeschon gesagt.

Ich will zum Landtagswahlgesetz ein paar Bemerkungenmachen, die Ihnen zeigen sollen, dass wir uns im Rahmendessen bewegen, was für die Landtagswahl im Jahr 2018am Ende wichtig ist. Es gibt keine ausdrücklichen Vorga-ben für die Zusammensetzung der Wahlkreise. Es gibtRahmenbedingungen, auf die ich gleich zurückkommenwerde.

Es gibt Rechtsprechung dazu. In der Rechtsprechung hatsich ein Interventionswert von 25 % Über- oder Unter-schreitung in einem Wahlkreis gegenüber dem durch-schnittlichen Wahlkreis entwickelt. Das hat sich sozusagenaus der Rechtsprechung heraus entwickelt.

Herr Kollege Rudolph, uns hilft das Urteil des Staatsge-richtshofs aus dem Jahr 2006 nicht. Denn mittlerweile hatdas Bundesverfassungsgericht im Jahr 2012 all diese Fra-gen ziemlich eindeutig beantwortet.

Der Bundesgesetzgeber hat im Bundeswahlgesetz entspre-chende Veränderungen vorgenommen, an denen wir unsorientieren können, weil wir keine eigenen unmittelbarenMaßstäbe haben. Diese Maßstäbe haben wir angelegt. DerGesetzgeber hat in der Tat einen gewissen Gestaltungs-spielraum. Der wird am Ende von Ihnen hier auszuschöp-fen sein.

Alles in allem will ich hier auch deutlich sagen: Das ist dieAngelegenheit der Abgeordneten. Es geht um die 110Mandate und um die Frage des Zuschnitts der Wahlkreise.

Wenn wir die Rechtsprechung und die Rahmenbedingun-gen heranziehen, die in Deutschland für die Zusammen-stellung der Wahlkreise herrschen, dann kommen wir zudem Ergebnis, dass wir in acht Wahlkreisen einen entspre-chenden Anpassungsbedarf haben. Dieser Anpassungsbe-darf folgt, wie ich finde, den Maßstäben ziemlich korrekt,die uns von der Rechtsprechung vorgegeben wurden.

Wir haben die deutsche Bevölkerung ab 18 Jahren zu be-achten. Die deutsche Bevölkerung ab 18 Jahren ermittelnwir mit der amtlichen Statistik. Wir legen die amtliche Sta-tistik für das zugrunde, was in unseren Gesetzen vorgese-hen ist.

Das wurde gerade schon erläutert. Es ist bedauerlich, dasswir aufgrund der bundesweiten Umstellung auf die Zahlen

des 31. Dezember 2015 zurückgreifen müssen. Das sinddie letzten amtlichen Zahlen, die uns vorliegen. Damit sindes auch die aktuellsten Zahlen, die wir haben und die wirdiesem Gesetzentwurf zugrunde legen können.

Das Wählerverzeichnis ist keine amtliche Statistik. Mankann das Wählerverzeichnis der Bundestagswahl hier na-türlich anführen. Man kann natürlich auch darstellen, dass9.700 Auslandswahlberechtigte in den Wahlkreisen vor-handen sind, wenn ich das richtig in Erinnerung habe. Inder Tat, das stimmt. Das ist keine amtliche Statistik. Dasist die zufällige Zusammensetzung der wahlberechtigtenBevölkerung für die Bundestagswahl. Herr KollegeFrömmrich hat gesagt, es gebe da noch ein paar andereVoraussetzungen, die zu berücksichtigen seien. Es ist diezufällige Zusammensetzung am 22. September dieses Jah-res.

Es gibt noch weitere Unterschiede beim Wahlrecht, diesich auch nicht groß auswirken. Wir können aber dieWahlberechtigten für die Landtagswahl auf der Basis derWahlberechtigten für die Bundestagswahl am 22. Septem-ber 2017 immer nur annäherungsweise ermitteln. Damit istdas eine untaugliche Grundlage. Wir können dann nur aufdie amtliche Statistik zurückgreifen. Sie stammt nun ein-mal vom 31. Dezember 2015. Das können wir im Momentnicht ändern.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich sage noch eines: Den Gesetzentwurf der Fraktionenund den ganzen Vorlauf dazu sollten Sie bitte ein bisschenmit berücksichtigen. Sie haben das Schreiben vom April2017 schon angesprochen. Der Gesetzentwurf ist vom 19.September 2017. Das Wählerverzeichnis ist am 22. Sep-tember 2017, also drei Tage später, öffentlich gewesen. In-sofern bitte ich da um Verständnis. Selbst wenn man esheranziehen könnte, wäre es in der Vorbereitung überhauptnicht möglich gewesen, es heranzuziehen.

Lassen Sie mich das noch einmal von einer anderen Wartebeleuchten. Wir alle wissen, dass im Jahr 2005 eine Ände-rung des Landtagswahlgesetzes stattgefunden hat. Ichkonnte das jetzt in der Kürze der Zeit nicht prüfen. Denndas ist mir eben erst aufgegangen. Im Jahr 2005 hat manwahrscheinlich die Zahlen vom 31. Dezember 2004 zu-grunde gelegt, wenn es die damals schon gab. Vielleichtwaren es auch die vom 31. Dezember 2003. Jedenfallsstammten sie aus der amtlichen Statistik.

Wir haben im Jahr 2005 im Hessischen Landtag ein Land-tagswahlgesetz verabschiedet und die Wahlkreise zuge-schnitten. Zur Landtagswahl selbst waren dann noch dreiJahre Zeit. Hier von veralteten Zahlen und einem Vorgangzu sprechen, der völlig ungewöhnlich sei, ist meiner An-sicht nach völlig absurd. Das ist ein willkürlich gegriffe-nes, weil gerade populäres Argument. Ich finde, das darfman einer solchen Wahlrechtsänderung nicht zugrunde le-gen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben regionale Besonderheiten zu berücksichtigen.Wir haben die historischen Verwaltungsgrenzen – das istschon angesprochen worden – und die Landkreisgrenzenzu beachten gehabt. Wir haben gesagt: Wir wollen einenminimalinvasiven Eingriff machen und so wenig wie mög-lich verändern, weil es in der Tat ein erheblicher Eingriff

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8561

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in die Zusammensetzung der Wahlkreise insgesamt ist.Deshalb haben wir gesagt: minimale Lösung. Wir habenvor allem eines gesagt – da will ich Herrn KollegenFrömmrich gerne noch einmal zitieren, der hier die Vor-schläge des Bürgermeisters von Nieste dargestellt hat –:Wissen Sie, was wir dem Gesetzentwurf zugrunde gelegthaben?

(Günter Rudolph (SPD): Wir oder Sie?)

Wir haben vor allem darauf geachtet, dass die parlamenta-rische Vertretung Nordhessens hier im Hessischen Landtaggewahrt bleibt. Wir sind nämlich nicht hingegangen undhaben gesagt: „Wir nehmen an der bevölkerungsschwächs-ten Stelle einfach einmal einen Wahlkreis heraus und fü-gen ihn der bevölkerungsstärksten hinzu“, sondern wir ha-ben gesagt: Nordhessen muss in diesem Hessischen Land-tag einen entsprechenden Raum haben.

(Manfred Pentz (CDU): So ist es! Das ist Verant-wortung!)

Deswegen haben wir einen solchen Eingriff vorgenommen,wie ich ihn hier dargestellt habe.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Meine Damen und Herren, ich finde die Kritik, vor allemdie Kritik der Manipulation, ziemlich maßlos. Alle hier imHause wissen, dass das personalisierte Mehrheitswahlrechtvor allem dazu führt, dass das Zweitstimmenergebnis fürdie Zusammensetzung dieses Hessischen Landtags aus-schlaggebend ist. Das heißt, von einer Manipulation dieserLandtagswahl kann gar keine Rede sein.

Aber ich will vor allem noch einmal darauf zurückkom-men, dass das Thema der Manipulation, wie ich finde, ineiner zweifelhaften Art und Weise hier angebracht wordenist, indem man hingeht und sagt: Wir schauen einmal aufdie Wahlergebnisse, die es vor ein paar Jahren gegebenhat. Wie würde sich das entsprechend verändern? – Ich fin-de, diese Frage verbietet sich schon. Oder gar die Verein-nahmung: Ein Kollege hat sich nicht entblödet, in der Zei-tung von einer „roten Gemeinde“ zu schreiben, die von ei-nem Wahlkreis in den anderen verlagert worden ist.

(Manfred Pentz (CDU): Das ist ja unglaublich! –Norbert Schmitt (SPD): Das hat doch Herr Bauer ge-sagt!)

Meine Damen und Herren, das ist doch absurd. Es ist re-spektlos gegenüber den Wählerinnen und Wählern. LassenSie das doch einfach beiseite. Es verunsichert nur, und esist in dem Wahlgesetz an keiner einzigen Stelle nachweis-bar, dass hier ein manipulativer Eingriff erfolgen sollteoder erfolgen wird.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Meine Damen und Herren, Sie haben sich darüber ereifert,dass wir eine mangelhafte Begründung vorgenommen hät-ten. Ja, es ist in der Tat eine eher mathematische Frage, ei-ne minimalinvasive – das ist so. Wir haben die Maßstäbe,die ich eben genannt habe, natürlich auch in der Gesetzes-begründung dargestellt.

Aber jetzt sage ich Ihnen einmal eines zu den Veränderun-gen bei den einzelnen Wahlkreisen: In der Begründungsind natürlich diese zahlenmäßigen Darstellungen entschei-dend gewesen. Das hat Sie im Jahr 2005 aber nicht gestört.

Damals war es genauso. Die Abgeordneten im DeutschenBundestag von SPD, CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN haben die Wahlkreisänderungen bei den Bundestags-wahlkreisen auch nicht anders als zahlenmäßig begründet,weil es generelle Maßstäbe gibt und man das im Einzelfallnur sehr schwer begründen kann, außer mit geografischenZusammenhängen.

Meine Damen und Herren, wir haben einen Änderungsan-trag vorliegen, der aufgreift, dass wir uns in der nächstenWahlperiode mit dem Thema noch einmal detaillierter be-fassen wollen. – Herr Kollege Rudolph, nur weil Sie ebenangesprochen haben, wie sich die Wahlkreiskommissionam Ende zusammensetzt und wer bei der Frage der Zusam-mensetzung eine entscheidende Rolle spielt: Wir haben dieRegelung dem § 3 des Bundeswahlgesetzes nachgebildet.Dort ist der Bundespräsident – –

(Nancy Faeser (SPD): Quatsch!)

– Ja, der Bundespräsident ist vielleicht der Falsche für un-sere Wahlkreiskommission. Wir haben es der Bundesrege-lung nachgebildet.

(Marius Weiß (SPD): Da sind doch keine Abgeord-neten drin!)

Dort ernennt der Bundespräsident die Wahlkreiskommissi-on.

(Nancy Faeser (SPD): Der Bundespräsident ist derBundeswahlleiter!)

Da wir keine Landeswahlleiter aus anderen Ländern beru-fen können, haben wir gesagt, es wäre doch klug, wenn dieAbgeordneten dieses Hauses hier in dieser Wahlkreiskom-mission vertreten wären. Ich weiß nicht, warum man dasjetzt auch noch kritisieren muss.

(Unruhe bei der SPD)

Das ist ein Vorschlag, der am Ende dazu führen soll,

(Anhaltende Unruhe bei der SPD – Glockenzeichendes Präsidenten)

dass man ein solches Thema, nämlich die Zusammenset-zung der Wahlkreise, bevor es hier im Hessischen Landtagberaten wird, in einer Wahlkreiskommission mit der Präsi-dentin oder dem Präsidenten des Statistischen Landesam-tes, dem Landeswahlleiter – wahrscheinlich ist es auchnicht schlecht, wenn man den VGH-Präsidenten mit dazunimmt – und mit den Abgeordneten berät. Ich weiß nicht,warum das jetzt auch ein kritikwürdiger Vorschlag ist,

(Manfred Pentz (CDU): Die wollen einfach nurmeckern!)

wenn man sich vorher gewünscht hat, dass man gerne einegrößere Beteiligung gehabt hätte. – Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Präsident Norbert Kartmann:

Das Wort hat Abg. Rudolph.

(Holger Bellino (CDU): Wir hören die SPD, wir hö-ren noch die FDP, wir hören Beuth, wir hören dieKommission!)

8562 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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Günter Rudolph (SPD):

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren!Herr Innenminister, Sie haben eben Ihren Parteikollegenein bisschen angegriffen. Es war in der Tat der KollegeBauer, der uns darlegen wollte, dass man die GemeindeGroß-Rohrheim, eine SPD-Hochburg, verlagert. Da habeich ihm schon geantwortet: Es geht nicht um Hochburgen,sondern es geht nach rechtsstaatlich nachvollziehbaren Be-gründungen. Die haben Sie nicht geliefert.

(Beifall bei der SPD)

Herr Innenminister, warum schreiben Sie erst am 25. April2017 die Fraktionen, nachrichtlich die Landesverbände,an? Über drei Jahre nach Konstituierung des Landtags die-ser Wahlperiode machen Sie nichts.

(Michael Boddenberg (CDU): Wir sind nicht de-ment!)

Jetzt zitieren Sie – Handlungsdruck – die Entscheidung desBundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2012. Sie hattensogar fünf Jahre Zeit. Im Übrigen sind Sie sehr vermessen.Ich bin nicht so sicher, das müssen dann Juristen prüfen,ob der Beschluss des Staatsgerichtshofs aus dem Jahr 2006alles aufhebt, was das Bundesverfassungsgericht gesagthat. Dann müssen Sie nämlich auch vergleichen, was ver-gleichbar ist. Deswegen bin ich noch nicht so sicher, obdas 1 : 1 zu übertragen ist – geschenkt an der Stelle. AberSie wussten seit 2012, dass es da offensichtlich klare Ver-änderungen auf Bundesebene gibt, und Sie haben nichtsgemacht.

(Beifall bei der SPD)

Jetzt schreiben Sie uns als Fraktionen an. – Herr Bodden-berg, was will die SPD? – Ja, wir schließen uns der Mei-nung, der Haltung Ihres Innenministers an.

(Zuruf des Abg. Michael Boddenberg (CDU))

In dem Schreiben vom 25. April, letzter Absatz, steht:

Ich rege vor diesem Hintergrund an, eine Neuab-grenzung der hessischen Landtagswahlkreise auf derBasis der dann aktuell vorliegenden Bevölkerungs-zahlen in der neuen Wahlperiode anzugehen. Beidieser Gelegenheit könnten im Landtagswahlgesetznach dem Vorbild des Bundes und anderer Bundes-länder auch eine regelmäßige Berichtspflicht gegen-über dem Hessischen Landtag über die Bevölke-rungsentwicklung statuiert und ebenfalls Kriterienfür eine mögliche Neuabgrenzung der Wahlkreiseaufgenommen werden.

(Dr. Walter Arnold (CDU): Guter Vorschlag!)

Teilen wir alles. – Das war Sachstand April.

Jetzt schreibt die FPD – ich habe den Brief vorliegen –:Wir brauchen Rechtssicherheit, damit eine Wahlanfech-tung hinterher nicht nötig ist. – Damit hat der KollegeGreilich doch völlig recht; er weist nur darauf hin, und dashat Herr Schäfer-Gümbel auch immer wieder gesagt. Aberhier bekommen Sie – –

(Unruhe bei der CDU)

– Was wir sagen, interessiert Sie nicht. Das wissen wir –geschenkt.

(Michael Boddenberg (CDU): Größte Bedenken hatdie FDP gehabt!)

Aber seriöse Rechtsgutachter, Sachverständige, sagen Ih-nen: An einigen Stellen ist dieser Gesetzentwurf augen-scheinlich verfassungswidrig.

(Zuruf von der CDU)

Hören Sie doch wenigstens einmal auf die Experten, wennSie schon auf uns nicht hören, und nehmen Sie die Sorgenund Nöte ernst.

Dass aktuelle Bevölkerungszahlen eine Rolle spielen, kön-nen Sie am Wahlkreis Frankfurt I sehen: knapp 61.000Wahlberechtigte nach den Zahlen von 2015. Frankfurt istdie am stärksten wachsende Stadt in Hessen. Ich bin sehrsicher, dass wir gravierende Veränderungen haben werden.Deswegen ist der Änderungsbedarf größer. Ja, wenn später– nach einem geordneten Verfahren, nach einer vernünfti-gen Anhörung und nicht im Hauruck-Verfahren – irgend-wo ein Wahlkreis nicht mehr existiert, dann ist das demo-kratisch und auch zu akzeptieren. Aber doch nicht so, wieSie es machen.

Noch einmal zum Vorwurf der politischen Manipulation.Ich kannte den Begriff Gerrymandering bis dato nicht.Aber Sie können das am Beispiel Eiterfeld nicht widerle-gen. Deswegen ist das möglicherweise ein Wahlanfech-tungsgrund. Sie sagen: Augen zu, Schwarz-Grün hat im-mer recht. – Nein, wenn der Gesetzentwurf, so wie er heutevorliegt, in dritter Lesung verabschiedet wird, riskierenSie, dass er möglicherweise tatsächlich vor dem Staatsge-richtshof landet. Darauf haben Experten und politischeVertreter Sie hingewiesen. Das entscheiden nicht wir. Siehaben die Mehrheit. Das sagen Sie uns 24-mal am Tag, ob-wohl wir es gar nicht hören wollen, weil wir es selbst wis-sen.

(Zuruf des Abg. Holger Bellino (CDU))

Sie sind Herr oder Frau des Verfahrens, auch wenn Sie of-fensichtlich aktuelles Zahlenmaterial durch politische Will-kür ersetzen. Die Wahlkreiskommission ist absurd zusam-mengesetzt; da gehören möglicherweise tatsächlich keineAbgeordneten hinein, aber auch keine weisungsgebunde-nen Personen aus dem Innenministerium. Das muss mandann sehen. Da kann man sich tatsächlich an anderen ori-entieren.

Deswegen ist dieser Gesetzentwurf schnell zusammenge-schustert worden. Nun ist schnell eine Anhörung durchge-zogen worden. Außerdem haben Sie Zeitdruck gemacht.Sie wollten das bereits zum 01.12. im „Gesetz- und Ver-ordnungsblatt“ haben. Herr Arnold schreibt jedoch in der„Fuldaer Zeitung“: Das passt mir eigentlich alles gar nicht.Das ist auch nicht alles so richtig. Aber weil die FDP miteiner Klage gedroht hat, machen wir das.

Noch einmal: Wenn Sie ernsthaft behaupten, Sie würdenKlagen der Opposition ernst nehmen, dann müssten Sie un-sere Bedenken auch aufnehmen. Deshalb sollten wir dasgemeinsam in der nächsten Wahlperiode angehen. Ichglaube, dann wird das auch Bestand haben. Es muss Hand-lungsbedarf gegeben sein, und es müssen aktuelle Zahlenvorliegen. Auch das ist ein Rechtsgrundsatz, der bei derWahlkreiszusammensetzung beachtet werden muss. – Vie-len Dank.

(Beifall bei der SPD)

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8563

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Präsident Norbert Kartmann:

Die nächste Wortmeldung ist von Herrn Kollegen Greilich.

Wolfgang Greilich (FDP):

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es ist schon einbisschen erschreckend, wenn man sieht, wie hilflos hier ar-gumentiert wird gegenüber dem Tatbestand, der nicht zuleugnen ist, dass wir eine verfassungswidrige Vorlage zurÄnderung eines verfassungswidrigen Gesetzes haben.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Es gibt bessere Vorschläge. Wir haben Ihnen sogar dieZahlen geliefert. Wenn einem dazu nur der Hinweis ein-fällt, dass diese Zahlen deswegen nicht verwendbar seien –Herr Kollege Frömmrich, wenn ich Sie richtig verstandenhabe –, weil die Leute zur Bundestagswahl zu diesem Zeit-punkt wahlberechtigt waren, aber zur Landtagswahl nurwahlberechtigt ist, wer schon drei Monate lang in Hessenlebt, dann halte ich das für schwierig. Wenn ich halbwegsrechnen kann, dann ist zwischen dem 24. September 2017und jedem denkbaren Wahltermin für eine Landtagswahlim Jahr 2018 in Hessen eine Frist von drei Monaten ver-strichen. Ich glaube, das ist nicht wegzudiskutieren.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Ich bin ein großer Freund Nordhessens. Es ginge mir schonin der eigenen Fraktion nicht gut, wenn ich das nicht wäre.Deswegen hoffe ich, dass die Vertretung Nordhessens beieinem Neuzuschnitt der Wahlkreise unverändert bleibt. Ei-nes muss aber auch sicher sein: Auch in Nordhessen giltdie Gleichheit des Stimmgewichts.

(Norbert Schmitt (SPD): Eben!)

Deswegen muss man ordentlich rechnen. Dann wird dorthoffentlich kein Wahlkreis wegfallen. Aus Gründen desRegionalproporzes macht man das jedoch nach dem grü-nen Motto: legal, illegal, ganz egal. – Das andere Wort las-se ich lieber weg.

(Unruhe)

Das ist das, was nicht geht. – Herr Kollege Pentz, regenSie sich ab.

Dann kommt der interessante Hinweis, dass die Wähler-verzeichnisse ja keine amtlichen Statistiken seien.

(Günter Rudolph (SPD): Was denn sonst?)

Das ist mir auch bekannt. Die Wählerverzeichnisse sindkeine amtliche Statistik. Was wollen Sie damit aber eigent-lich sagen? Wollen Sie damit sagen, dass eine Statistikbesser sei als reale Zahlen? Aus meiner Praxis weiß ich,dass die Statistik immer die Krücke ist, wenn man keinevernünftigen belastbaren Zahlen hat, um trotzdem irgend-wie zu einem belastbaren Ergebnis zu kommen. Reale Zah-len sind aber allemal besser.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Es scheint eine neue Platte zu sein, die Sie schon ein paar-mal aufgelegt haben, die ich aber jetzt schon nicht mehrhören kann: Die Opposition soll doch jetzt einmal Gesetz-gebungsvorschläge machen.

(Zurufe – Angela Dorn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Wir haben einen Vorschlag gemacht!)

Ich finde das ganz nett. Wir können so etwas machen. FrauKollegin Dorn, Sie haben aber gar nichts gemacht. Sie ha-ben sich der Zuarbeit durch die Landesregierung bedient.Eines ist ja wohl klar, und das sehen wir in jedem Gesetz-gebungsverfahren: Hauptaufgabe der Landesregierung istes, darüber zu wachen, das Parlament rechtzeitig darüberzu informieren, wenn es gesetzlichen Änderungsbedarfgibt, wenn z. B. die Gültigkeitsdauer eines Gesetzes ab-läuft. Beim Polizeirecht würde der liebe Innenministerauch nicht darauf warten, dass die Opposition einen Vor-schlag macht. Er würde nicht das Risiko eingehen, dass dasGesetz einfach ausläuft. Es wäre in der Tat bedenklich,wenn man das so sehen würde. Es ist Aufgabe der Landes-regierung und insbesondere des Verfassungsministers,wenn es um das Wahlrecht geht, dafür zu sorgen, dass wirnach einem geordneten Verfahren wählen können und dassrechtzeitig entsprechende Maßnahmen eingeleitet werden.

Wir haben dies nun schon zweimal in kürzerer Zeit erlebt.Warum ist denn der Gesetzentwurf zum Verfassungs-schutzgesetz so spät vorgelegt worden? – Weil Sie sich inder Koalition nicht einigen konnten und dann keine Zeitmehr war, über die Landesregierung, die diesen Gesetzent-wurf ausgearbeitet hat, ihn einzubringen. Wie war es dennin diesem Fall, Frau Dorn? Sie haben nichts gemacht. Ge-macht hat das das Innenministerium. Sie haben das ledig-lich unterschrieben und das in den Geschäftsgang gebracht.

(Günter Rudolph (SPD): So ist es!)

Die Arbeit haben aber nicht Sie gemacht. Sie können auchnicht erwarten, dass wir das als Opposition machen. Das istdie verdammte Pflicht und Schuldigkeit dieser Landesre-gierung.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Wenn das nicht gemacht wird, dann nenne ich das schlichtArbeitsverweigerung.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Präsident Norbert Kartmann:

Das Wort hat der Abg. Bauer, CDU-Fraktion.

Alexander Bauer (CDU):

Herr Präsident, meine Damen und Herren, liebe Kollegin-nen und Kollegen! Es geht um die Frage: Wer kommt wieund unter welchen Voraussetzungen als Abgeordneter inshessische Parlament? Das ist die Frage. Ich denke, es isteinsichtig, dass es nicht sein kann, dass bei dem einen Kol-legen 60.000 Wählerinnen und Wähler entscheiden und beidem anderen Kollegen 102.000 Wählerinnen und Wähler.Dieses Ungleichgewicht ist sicherlich nicht verfassungs-konform. Schließlich ist die Frage des Zählwerts der Stim-me hinterfragbar. Auch in diesem Fall ist die Verfassungs-konformität zu hinterfragen.

(Günter Rudolph (SPD): Und warum schreibt unsder Minister im April?)

Diesen Status quo haben wir derzeit. Wir haben vorge-schlagen, wie man das ändern kann.

Wer ist denn dafür zuständig, die Kriterien zu bestimmen,wer in dieses Hohe Haus kommt? Das ist doch das Parla-ment. Das sind wir Abgeordnete. Wir haben zu entschei-

8564 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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den, welche Kriterien für die Wahl des Hessischen Land-tags gelten sollen.

(Zurufe von der SPD)

Nicht die Regierung hält sich ein Parlament, sondern dasParlament hält sich eine Regierung. Das ist der entschei-dende Unterschied. Wir haben die Kriterien festzulegen.Von Ihrer Seite kommt aber nichts an konstruktiven Vor-schlägen.

(Unruhe – Glockenzeichen des Präsidenten)

Der Kollege von der Linksfraktion sagt, wir hätten einschäbiges Verfahren durchgeführt. – Wir haben alle Fristengewahrt. Wir haben alle Anzuhörenden zu Wort kommenlassen. Jeder Bürgermeister, der betroffen war, konnte sichäußern. Wir haben alle Kriterien für ein ordnungsgemäßesGesetzgebungsverfahren eingehalten. Wir sind noch mit-tendrin. Wir haben jetzt die zweite Lesung. Wir habeneinen Änderungsantrag eingebracht. Wir kommen zur drit-ten Lesung. Was an diesem Verfahren ist nicht rechtskon-form, lieber Kollege Wilken?

Nun zur Validität der Zahlen. Hier wird immer gesagt, dasseien reale Zahlen. Das sind aber nur angenäherte Zahlen,und diese Zahlen sind nicht vergleichbar mit den Zahlen,die man braucht, nämlich Zahlen aus amtlichen Statistiken.Diesen Differenzbezug konnten Sie immer noch nicht ent-kräften.

Der Minister hat deutlich gemacht, dass bei der Reform imJahr 2005 Zahlen zugrunde gelegt wurden, die aus demJahr 2004, vielleicht auch aus dem Jahr 2003 stammten.Die eigentliche Wahl fand dann im Jahr 2008 statt. Dasheißt, die Zahlen waren damals schon seit vier Jahren ver-altet. Wir haben also eine Wahl durchgeführt, die damalsschon mit Blick auf die Demografie vier Jahre zurücklag.Damals hat niemand gesagt, dass dies altes Zahlenmaterialsei.

Jetzt verwenden wir Zahlen aus dem Jahr 2014 für eineWahl, die im Jahr 2018 stattfinden soll. Ich kann die Auf-regung nicht nachvollziehen, weshalb man sich selbst aufdie Bäume treibt.

Sie müssen sich schon entscheiden, welchem ArgumentSie folgen. Entweder Sie schlagen sich auf die Seite derBürgermeister, die diese Änderung nicht wollen, weil siesagen, dass sie davon betroffen seien. Als Argumente wur-den vorgebracht, dass sie eine andere Zeitung abonnierenmüssten, dass die Zusammenarbeit der Musikschulen ein-gestellt werden müsse, dass man kein interkommunalesGewerbegebiet mehr betreiben könne, weil man von einemanderen Wahlkreisabgeordneten betreut werde. Solche Ar-gumente kamen, und Sie haben diese unterstützt.

Oder man sagt, man muss eine Debatte über eine Toleranz-grenze führen. Alle Sachverständigen, auch die Sachver-ständigen, die Sie eingeladen haben, sagen, dass 25 % dasabsolute Maximum sind. Man müsste eigentlich runterge-hen auf 20 % oder 15 % Toleranzgrenze. Was wäre aberdie Konsequenz daraus? – Dann hätten wir keine neunBürgermeister, sondern 90 Bürgermeister zu Gast, die alledie gleichen Argumente vorbringen würden. Niemand willeine Änderung.

Ich wünsche uns viel Vergnügen bei der Frage, wie wir dieWahlkreise neu zuschneiden können. Wir haben klare Kri-terien festgelegt, an die wir uns auch bei der Reform 2005gehalten haben.

Ich muss noch einmal sagen: Es ist ein Vorschlag. Es isteine Anregung, mit der eine geringfügige, auf Kontinuitätausgerichtete, minimalinvasive Änderung vorgeschlagenwird. Sie können alles schöner herbeireden, aber Sie kön-nen uns bis zum heutigen Tag keinen besseren Vorschlagvorlegen. Das ist ein Armutszeugnis.

(Günter Rudolph (SPD): Ich orientiere mich an Ih-rem Minister! Besser geht es nicht!)

– Lieber Kollege Rudolph, Ihr Verhalten erinnert mich aneinen Schüler, der ständig dazwischenruft, der ständig da-zwischenhampelt, der Aufmerksamkeit erregt, am Endeaber nichts versteht.

(Zuruf von der SPD)

– Nein, Kollege. Dieses Syndrom des Aufmerksamkeitsde-fizits ist mir als Lehrer durchaus bekannt.

(Beifall bei der CDU)

Nun aber zurück zur Sache. Wir haben einen Gesetzent-wurf vorgelegt, der Rechtssicherheit schafft, der die demo-grafischen Verhältnisse berücksichtigt und der klar begrün-det, weshalb die Wahlkreise geändert werden sollen. Esliegt nichts Besseres auf dem Tisch. Nicht einmal einenÄnderungsantrag haben Sie vorgelegt, meine Damen undHerren.

Was soll denn anders gemacht werden? Wo sollen wir Än-derungen vornehmen? Nichts liegt vor. Daher würde ichsagen: Das, was wir in der zweiten Lesung beraten haben,wird durch eine dritte Lesung verstärkt und bekräftigt wer-den. Ich bin gespannt, wie wir die Debatte weiterführenkönnen. Heute sind wir mit Ihren Beiträgen kein Stückweitergekommen.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Präsident Norbert Kartmann:

Das Wort hat Abg. Frömmrich für die Fraktion BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN.

Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Ich will noch einmal versuchen, daran zuerinnern, was ich vorhin gesagt habe: Der Werdegang die-ses Gesetzentwurfs, die Frage, mit der wir es zu tun hatten,der Abwägungsprozess, die letztendliche Entscheidung,unser Angebot als Koalition an das Haus, an die Fraktio-nen, eigene Vorschläge zu machen, die wir wohlwollendübernehmen – –

(Zuruf: Wohlwollend? – Unruhe)

– Natürlich. Es ist doch die Frage – – Herr Schmitt, ichweiß gar nicht, warum Sie sich hier beschweren. Wir ha-ben den Vorschlag, den Sie gemacht haben, übernommen.Ich weiß gar nicht, warum Sie sich beschweren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU – Vizepräsidentin Heike Habermann über-nimmt den Vorsitz.)

Ihr Vorschlag, den Sie mit Ihrer Kollegin Hartmann ge-macht haben, ist in den Änderungsantrag aufgenommenworden. Genauso hätte das mit anderen Vorschlägen pas-sieren können.

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8565

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(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU – Zurufe des Abg. Norbert Schmitt (SPD))

Das Ziel war eine minimalinvasive Lösung, die am Endedazu führt, dass wir die 25 % einhalten und im nächstenJahr eine Wahlkreisreform durchführen.

(Michael Boddenberg (CDU): Sie sollen auch ein-mal etwas vorstellen! – Unruhe)

Wenn Sie hier so die Backen aufblasen – Entschuldi-gung –, sollten Sie einmal selbst etwas vorlegen. Sie habenin diesem Gesetzgebungsprozess keinen einzigen Satz vor-gelegt, den man hätte übernehmen können.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU)

Zweite Anmerkung – deswegen habe ich mich eigentlichgemeldet.

(Zuruf des Abg. Torsten Warnecke (SPD) – Unruhe)

– Entschuldigung, Sie als Fraktion. Herr Warnecke, ichschätze Sie sehr, ich habe nicht von einzelnen Abgeordne-ten gesprochen. Ich habe gesagt, dass Fraktionen etwasvorlegen sollen, was man im Geschäftsgang des Hessi-schen Landtags verwenden kann.

Der Vorschlag des Kollegen Schmitt und der KolleginHartmann ist aufgenommen worden. Es gab in den Ortenund in den Kreistagen gemeinsame Entschließungen. Diebeiden Vorschläge sind ausgewertet worden. Herr KollegeBauer hat gesagt, dieser Vorschlag sei einhellig angenom-men worden. Warum soll man ihn nicht übernehmen? DieMehrheit hat gesagt: Natürlich übernehmen wir ihn. Das istein sinnvoller Vorschlag. Er erfüllt genau die Vorgaben,die das Gesetz vorsieht. – Deswegen machen wir das. Dasist überhaupt keine Frage.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU)

Das hätten Sie mit den anderen Wahlkreisen auch machenkönnen – im Übrigen auch mit der Gemeinde Nieste.Wenn man meint, dass das mit der Gemeinde Nieste nichtgeht, hätte man andere Vorschläge einbringen können. Ichhabe gehört, es gab Leute, die gesagt haben, man hätteHelsa nehmen können, weil die Bezüge zu Großalmerodeda sind. Hätten Sie es einmal aufs Papier geschrieben, hät-ten wir darüber reden können. Sie haben nichts aufs Papiergeschrieben. Das muss man deutlich feststellen.

(Manfred Pentz (CDU): So ist es!)

In Richtung des Kollegen Greilich muss ich sagen: Hiervorne den Schlaumeier zu geben,

(Zuruf von der SPD – Heiterkeit und Beifall bei derSPD)

ohne einen einzigen Satz aufs Papier zu bringen, finde ichschon ziemlich abenteuerlich.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU)

Herr Kollege Greilich, wie herabschätzend Sie über dieMitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in den Verwaltungenund Fraktionen arbeiten und daran mitgearbeitet haben, re-den, das müssen Sie mit sich selbst ausmachen. Ich findees unterirdisch, was Sie hier abgeliefert haben – Ihre recht-lichen Belehrungen ebenso.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU – Zuruf des Abg. Manfred Pentz (CDU) –Gegenruf von der FDP)

Es gibt bei Juristen immer unterschiedliche Meinungen.Manchmal hat man zwei Juristen und fünf Meinungen –das weiß ich. Ich kann mich an eine Situation erinnern, dahaben wir schon einmal die Säbel gekreuzt.

(Nancy Faeser (SPD): Nicht in dieser Anhörung!)

– Bildlich gesprochen. – Sie haben uns einmal im Innen-ausschuss über Stunden damit genervt, als Sie Ihre Rechts-auffassung zu einer wichtigen Verfassungsfrage vorgetra-gen haben. Ich war da gemeinsam mit Kollegin Faeser un-terwegs;

(Nancy Faeser (SPD): Das waren noch Zeiten! – Zu-rufe von der FDP)

deswegen ist es auch überparteilich. Sie haben uns damalserklärt, warum das alles verfassungsrechtlich nicht geht.Das haben Sie uns bis zum Erbrechen erläutert. Am Endehat der Staatsgerichthof alles, was Sie vorgetragen haben,verworfen – so viel zu Ihrer Expertise. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU)

Vizepräsidentin Heike Habermann:

Vielen Dank. – Als Nächster spricht Kollege Dr. Wilken,Fraktion DIE LINKE.

Dr. Ulrich Wilken (DIE LINKE):

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren!Herr Frömmrich, es ist äußert selten, dass von diesem Red-nerpult irgendwelche Belehrungen vorgetragen werden.Ich kann für mich und meine Fraktion sagen: FDP-Frakti-on, Chapeau, gut gemacht. Es hat uns allen Spaß gemacht,wie Sie das vorgetragen haben. So wünsche ich mir einePlenardebatte.

(Beifall bei der LINKEN)

Bei der Frage, wer etwas vorgelegt hat und wer etwasübernommen hat, hat sich Herr Frömmrich gerade selbstwidersprochen; das ist ihm zum Glück noch aufgefallen.Ein anderer Widerspruch, der zumindest mir aufgefallenist, ist noch nicht aufgelöst. Sehr geehrter Herr Dr. Arnold,Sie haben gerade gesagt, dass Sie diesem Vorschlag zu-stimmen werden. Dann verstehe ich nicht, warum Sie inder Zeitung schreiben, dass Sie es nicht befürworten. Da istfür mich ein Widerspruch. Ich will jetzt nicht wieder mitder Bibel ankommen, aber für mich bleibt das ein Wider-spruch.

Ich habe mich noch aus einem anderen Grund zu Wort ge-meldet. Herr Beuth, Sie haben – für mich nicht nachvoll-ziehbar – so getan, als wäre das Wählerverzeichnis für dieBundestagswahl irgendwie vom Himmel gefallen. Dafürgibt es doch auch eine Grundlage. Sie haben nicht erläu-tern können, warum diese Grundlage rechtlich irrelevanterist als die Angaben, die wir aus der Meldestatistik haben.Daher ist für mich immer noch nicht klar, warum wir miteinem Zahlenmaterial arbeiten müssen, das deutlich älterist als das, was wir auch vorliegen haben.

Eine letzte Bemerkung von meiner Seite in der heutigenDebatte: Sie dürfen sich darauf freuen, dass Herr Schaus in

8566 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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der dritten Lesung hoffentlich wieder gesund ist, dann wirdes einen anderen Zungenschlag von unserer Fraktion ge-ben.

(Holger Bellino (CDU): War das jetzt eine Kritik amKollegen Schaus?)

Von meiner Seite noch ein Beispiel: Viele haben betont,insbesondere die Regierungsfraktionen, dass es unsereAufgabe als Parlament ist – Herr Beuth, ich glaube, Sie ha-ben das auch betont –, ein Wahlgesetz zu schaffen, mitdem die Wahl rechtssicher durchführbar ist.

Vielleicht habe ich da etwas verpasst. Haben alle Fraktio-nen in dem Moment, in dem Sie sich aufgemacht haben,das Wahlrecht zu ändern, jenseits des Briefs, die Daten be-kommen? Haben alle die Grundlage bekommen, nach derSie entschieden haben, die Veränderungen vorzunehmen?– Zumindest in meiner Fraktion ist darüber nicht gespro-chen worden.

Sie betonen: „Wir alle machen das“, und dann legen unsdie Regierungsfraktionen einen offensichtlich im Innenmi-nisterium geschriebenen Gesetzentwurf vor und sagen:Wenn ihr etwas ändern wollt, dann recherchiert einmalselbst, und dann macht es hoffentlich besser als wir. – Dasist wirklich schäbig. – Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Heike Habermann:

Vielen Dank. – Kolleginnen und Kollegen, ich habe keineweiteren Wortmeldungen. Damit ist die Debatte zu demGesetzentwurf unter Tagesordnungspunkt 15 beendet.

Wir überweisen den Gesetzentwurf zur Vorbereitung derdritten Lesung an den Innenausschuss, zusammen mit demÄnderungsantrag der Fraktionen der CDU und BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN, Drucks. 19/5450.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:

Zweite Lesung des Gesetzentwurfs der Fraktionen derCDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für ein Gesetzüber den Vollzug ausländerrechtlicher Freiheitsentzie-hungsmaßnahmen (VaFG) – Drucks. 19/5440 zuDrucks. 19/5275 –

zusammen mit Tagesordnungspunkt 50:

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschus-ses zu dem Antrag der Fraktion DIE LINKE betreffendkeine Abschiebeknäste in Hessen – in Aufnahmestruk-turen investieren, nicht in die Abschiebelogistik– Drucks. 19/5094 zu Drucks. 19/5083 –

Zu Tagesordnungspunkt 16, dem Gesetzentwurf, ist Kolle-gin Wallmann Berichterstatterin. Sie haben das Wort.

Astrid Wallmann, Berichterstatterin:

Frau Präsidentin! Die Beschlussempfehlung lautet: Der In-nenausschuss empfiehlt dem Plenum mit den Stimmen derFraktionen von CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENgegen die Stimmen der Fraktionen von SPD, DIE LINKEund FDP, den Gesetzentwurf in zweiter Lesung unverän-dert anzunehmen.

Vizepräsidentin Heike Habermann:

Kollegin Wallmann, Sie haben bereits eine Wortmeldungabgegeben. Sie können gleich weitermachen.

Astrid Wallmann (CDU):

Sehr verehrte Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Da-men und Herren! Ich möchte im Rahmen der heutigenAussprache zur zweiten Lesung des Gesetzentwurfs zumeinen Anmerkungen zu der Anhörung machen, aber auchHinweise auf die bereits in der Sondersitzung des Innen-ausschusses angekündigten Änderungsanträge der Koaliti-on geben. Ich möchte außerdem – das ist mir besonderswichtig – noch einmal auf die Notwendigkeit dieses Ge-setzentwurfs und der Einrichtung einer eigenen hessischenAbschiebehaftanstalt hinweisen; denn genau diese Not-wendigkeit hat die Anhörung bewiesen.

Der Leiter der Anstalt in Ingelheim war zugegen und hatFolgendes ausgeführt. Es gibt in Ingelheim seit 2011 einefestgelegte Maximalbelegung im Umfang von 40 Plätzen.Die Belegung ist deswegen begrenzt, weil es nur eine be-stimmte personelle Ausstattung gibt. Der Leiter der Anstalthat auf Nachfrage ausgeführt, dass es nicht mehr möglichist, Haftanträgen aus anderen Bundesländern nachzukom-men. Wir haben, wie bekannt, nicht nur die Anstalt in In-gelheim genutzt, sondern auch Anstalten in Brandenburg,in Bayern und in Nordrhein-Westfalen. Derzeit herrschtdeutschlandweit das Phänomen, dass keine Plätze mehr zurVerfügung stehen. Deshalb ist es richtig – das möchte ichhier noch einmal ausdrücklich betonen –, dass wir in Hes-sen eine eigene Einrichtung schaffen und hierzu einen ent-sprechenden Gesetzentwurf vorlegen.

Da wir heute eine verbundene Debatte führen, zum einenzum Antrag der LINKEN und zum anderen in zweiter Le-sung zu unserem Gesetzentwurf, möchte ich der Vollstän-digkeit halber darauf hinweisen – das wird die Linksfrakti-on nicht überraschen –, dass wir den Antrag der FraktionDIE LINKE ablehnen werden. Ich habe es eben schon er-läutert: Wir halten die Einrichtung einer Abschiebehaftan-stalt für notwendig.

Die Anhörung hat außerdem gezeigt, dass es Bundesländergibt, die weit weniger detailreiche Regelungen ausformu-liert haben, als wir es getan haben. Das will ich aus zweiGründen erwähnen: zum einen, weil es eine generelle Kri-tik an unserem Gesetzentwurf gab, zum anderen, weil dieOpposition zuletzt immer wieder Vergleiche mit Gesetzenanderer Bundesländer herangezogen hat. Ich möchte Ihneneinmal zeigen, wie das in Rheinland-Pfalz geregelt ist.

(Die Rednerin hält ein Blatt Papier in die Höhe.)

Das ist § 5 des Landesaufnahmegesetzes von Rheinland-Pfalz. Er besteht aus drei Absätzen. Das ist das, was inRheinland-Pfalz zur Frage der Abschiebehaft geregelt ist.Ich finde, das sollte man zumindest zur Kenntnis nehmenund die Kritik, die geäußert wird, angesichts des von mireben Gezeigten und Gesagten entsprechend einordnen.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es ist so, dass die Anhörung – ich glaube, da waren wiruns im Innenausschuss weitgehend einig – ein sehr indiffe-rentes Bild gezeigt hat. Das hat natürlich auch etwas damitzu tun, wer bei der Anhörung zugegen war, welche Institu-tionen eingeladen waren und wer welche Institution vertre-

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ten hat. Den einen waren die gesetzlichen Regelungen, diewir vorsehen, viel zu weitgehend; darin seien zu viele Frei-heiten. Die anderen waren der Auffassung, dass wir viel zuviele Restriktionen in diesem Gesetzentwurf haben. Wirbefinden uns hier natürlich in einem Spannungsfeld, da wiruns nicht im Bereich der Strafhaft bewegen, sondern uns ineinem besonderen rechtlichen Rahmen bewegen müssen.Dabei muss es uns gelingen, die Sicherheit der Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter dieser Einrichtung, aber natürlichauch der Unterzubringenden zu regeln. Ich glaube, dasswir das mit diesem Gesetzentwurf in einer guten Form ge-tan haben.

Ich möchte sagen, weil mir das wichtig ist und weil wir esangekündigt haben: Wir werden zur dritten Lesung Ände-rungsanträge einbringen. Ich möchte heute zumindeststichpunktartig darstellen, was das für Änderungen seinwerden.

Zum einen wollen wir klarstellen, dass die Abschiebehafteine Ultima-Ratio-Maßnahme ist. Sie wissen, dass wir inHessen immer auf eine freiwillige Ausreise setzen. Das istbekannt, und da sind wir uns, glaube ich, einig. Das hessi-sche Innenministerium tut unglaublich viel dafür, dass aus-reisepflichtige Menschen unser Land freiwillig verlassen,dass es zu keinen Abschiebungen kommen muss. Das istim Übrigen nicht nur für die Betroffenen, sondern auch fürdiejenigen, die das von polizeilicher Seite begleiten müs-sen, keine angenehme Aufgabe. Insofern sind wir auf ei-nem sehr richtigen Weg, das genau so zu machen. Dafürgilt, das darf man an der Stelle auch einmal sagen, meinDank allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die hieranAnteil haben.

Wir wollen aber auch den Zweck dieser Maßnahme mitdem Gesetzentwurf deutlicher herausarbeiten. Wir wollenaußerdem einen Verweis auf datenschutzrechtliche Rege-lungen des hessischen Strafvollzugs aufnehmen. Wir wol-len eine eigenständige Regelung zur Freizeitgestaltung so-wie zum Bezug von Zeitungen und zur Mediennutzunghinzufügen. Wir wollen einen Verweis auf die Gesund-heitsversorgung einfügen. Es geht uns darum, dass anwalt-liche und konsularische Verfahrensbevollmächtigte einenuneingeschränkten Zugang bekommen. Außerdem wollenwir einen Hinweis bezüglich der unbegleiteten minderjäh-rigen Flüchtlinge aufnehmen. – Da schaue ich KolleginFaeser an, weil sie das in der Sondersitzung des Innenaus-schusses explizit angesprochen hat.

(Nancy Faeser (SPD): Sehr gut!)

Wir werden diesen Hinweis aber in die Begründung desGesetzentwurfs aufnehmen, weil das eine Sache ist, die dieGesetzgebung des Bundes betrifft. Wir werden aber eineklare Formulierung aufnehmen.

Ich denke, man kann abschließend sagen, dass wir einenGesetzentwurf vorgelegt haben, der stimmig und solide istund auch Änderungshinweise aus der Anhörung aufgreift.Wir tragen am Ende einer notwendigen Maßnahme Rech-nung.

Fakt ist: Wir werden Abschiebungen vornehmen müssen,wenn ein Betroffener es nicht vorzieht, freiwillig auszurei-sen, wenn man in einem rechtsstaatlichen Verfahren zudem Ergebnis kommt, dass er nicht in unserem Land blei-ben kann. Daher ist es als Ultima Ratio eben geboten, eineeigene Abschiebungshaftanstalt hier in Hessen zu haben.Insofern ist der Gesetzentwurf eine runde Sache.

Wir werden in der dritten Lesung abschließend Gelegen-heit haben, über die Details der Änderungsanträge zu dis-kutieren. Ich beantrage die dritte Lesung dieses Gesetzent-wurfs.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Vizepräsidentin Heike Habermann:

Vielen Dank. – Als Nächste spricht Kollegin Faeser, SPD-Fraktion.

Nancy Faeser (SPD):

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Wir haben eswieder einmal mit einer Anhörung zu tun, die eindrucks-voll gezeigt hat, dass alle Anzuhörenden etwas an diesemGesetzentwurf zu kritisieren hatten. Es gab niemanden, dergesagt hat, der Gesetzentwurf könne so bleiben.

Ich denke, man muss den Grundsatz voranstellen, den einfrüherer Vorsitzender Richter des Verwaltungsgerichts inBerlin einmal so formuliert hat: Abschiebungshaft ist als„normales Leben minus Freiheit“ darzustellen. – Das ge-lingt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten derLINKEN und der FDP)

Zur Unterscheidung: Wir haben es hier mit Verwaltungs-haft und gerade nicht mit Strafhaft zu tun. Abschiebungs-haft dient nämlich nicht der Strafe, sondern der Sicherstel-lung der Rückführung. Sie betrifft Menschen, die nach ei-nem rechtskräftig abgelehntem Asylantrag, nach der Ab-lehnung der Verlängerung eines Aufenthaltstitels odernach Ausweisung vollziehbar ausreisepflichtig sind undabgeschoben werden sollen. Sie ist also als Ultima Ratioim Einzelfall vorgesehen.

Wir haben auch in der letzten Beratung über diese Themahier im Plenum dennoch gesagt: Wir halten eine eigeneAbschiebungshaftanstalt in Hessen für nötig, aber nurdann, wenn alle humanitären Voraussetzungen dafür ge-leistet sind und wenn der Ultima-Ratio-Grundsatz auch imGesetz verankert wird, wie es in Nordrhein-Westfalen undin Baden-Württemberg der Fall ist. – Auch das haben wirin der ersten Lesung schon gesagt. Frau Wallmann, ich binIhnen sehr dankbar, dass Sie jetzt eine entsprechende Än-derung des Gesetzentwurfs vorgeschlagen haben. Insofernfindet das unsere Unterstützung.

(Beifall bei der SPD – Dr. Ulrich Wilken (DIE LIN-KE): Schauen wir einmal!)

– Wenn es so gemacht wird. Da hat Herr Wilken recht. –Wir werden uns das aber nicht nur anschauen, sondern wirwerden, wie wir schon in der ersten Lesung des Gesetzent-wurfs angemerkt haben, eigene Änderungsvorschläge zurdritten Lesung einbringen.

Ich möchte etwas zu den Anzuhörenden sagen. Der Deut-sche Anwaltverein hat kein gutes Haar an den Regelungendes Gesetzentwurfs gelassen. Besonders kritisch sieht er –wie auch die Liga der Freien Wohlfahrtspflege – den pau-schalen Verweis auf die Regelungen des Strafvollzugsge-setzes. Ich darf zitieren:

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Der Deutsche Anwaltverein warnt eindringlich da-vor, das Gesetz mit Verweisen auf das Strafvoll-zugsrecht zu versehen.

Abschiebungshäftlinge sind unbedingt im Vollzugvon Strafhäftlingen zu trennen. Sie dürfen auch nichtwie Straftäter behandelt werden. … Der Landesge-setzgeber sollte daher auf jegliche Verweise auf dasStrafvollzugsgesetz verzichten, sondern vielmehr dieeinzelnen erforderlichen Regelungen an das Ab-schiebungshaftrecht anpassen und entsprechend indas Gesetz … formulieren.

So auf Seite 6 der Stellungnahme des Deutschen Anwalt-vereins. Meine Damen und Herren, da haben Sie einen um-fangreichen Bearbeitungsbedarf. Wir sind sehr gespannt,wie Sie das zur dritten Lesung vorlegen.

(Beifall bei der SPD)

Es geht hier schließlich um massive Eingriffe in Freiheits-rechte. Wir hatten schon zur ersten Lesung angemerkt,dass die Unterbringung von Kindern im Gesetz nicht gere-gelt ist. Frau Wallmann, jetzt habe ich von Ihnen gehört,dass Sie in Bezug auf die unbegleiteten Minderjährigen et-was regeln wollen, zumindest in der Begründung. Wir sindder Auffassung, dass unbegleitete Minderjährige gar nichtin Haft gehören.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN – Zuruf desAbg. Alexander Bauer (CDU))

– Herr Bauer, ich will es noch einmal sagen: Wir haben inder ersten Lesung gesagt, dass es um die Kinder geht, diemit ihren Familien untergebracht werden. – Dazu habenSie in dem Gesetzentwurf nichts geregelt. Dazu haben wirÄnderungsbedarfe; und wir werden unsere Änderungenauch einbringen. Dort wird es vermutlich nicht anders ge-hen, aber unbegleitete Minderjährige, die ohnehin schonsehr stark traumatisiert sind, gehören aus unserer Sichtüberhaupt nicht in Haft.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN – AlexanderBauer (CDU): Das hat auch keiner vor!)

Wir haben sehr umfangreiche Anmerkungen der Liga derFreien Wohlfahrtspflege und des Paritätischen Wohlfahrts-verbands Hessen gehabt; insbesondere die Einschränkungder Besuchsrechte wurde kritisiert – vor allem die Ein-schränkung der Besuchsrechte von Rechtsanwälten; diesenPunkt will ich noch einmal herausstellen. Eine derartigeEinschränkung – ich zitiere – „ist in einer Abschiebungs-haft unangemessen“. Auch hier muss eine Änderung erfol-gen.

(Beifall bei der SPD)

Sie haben jetzt gesagt, Sie würden die Freizeitregelungnoch einmal mit aufgreifen. Das halte ich auch für wichtigund richtig. Aber ebenso sollten Sie – wir werden auch da-zu einen Vorschlag machen – die Seelsorge und die psy-chische Beratung dringend ordentlich regeln, weil das hiersehr angemessen und wichtig ist.

Ich will es heute kurz machen, weil wir eigentlich alles imnächsten Plenum in zweiter Lesung hätten besprechen kön-nen. Ich will noch einmal darauf hinweisen: so viel zu denordnungsgemäßen Verfahren, meine Damen und Herren.Am Ende des Jahres kommen Sie plötzlich mit allen wich-tigen Gesetzen.

(Günter Rudolph (SPD): Ja!)

Das hätten Sie im laufenden Jahr ordnungsgemäß machenkönnen. Die FDP und wir haben immer wieder darauf hin-gewiesen, dass wir eine eigene Abschiebehafteinrichtungbrauchen und dass es dafür eines Gesetzes bedarf. Jetztkommen Sie damit kurz vor knapp; Sie wollen schon zuBeginn des nächsten Jahres eröffnen.

(Ulrich Caspar (CDU): Stellen Sie im Novemberschon die Arbeit ein?)

– Herr Kollege Caspar, Sie sind nicht im Innenausschuss,daher wissen Sie auch nicht, dass wir extra eine Sondersit-zung brauchten, um die Anhörung zu diesem Gesetzent-wurf auszuwerten. – Wenn man ein ordnungsgemäßes Ver-fahren gemacht hätte, wenn Sie das ordentlich vorbereitethätten, hätten wir die dritte Lesung vielleicht nicht ge-braucht.

(Beifall bei der SPD)

Herr Kollege Bauer, wir hätten vor allen Dingen nicht soein Hauruckverfahren gebraucht,

(Günter Rudolph (SPD): Ja, und nichts kam!)

und dann hätte man viele der Regelungen, die Sie jetzt än-dern wollen, von Anfang an und in einem ordnungsgemä-ßen Verfahren ändern können. Ich finde, diese Sache ist sowichtig, dass man das in einem geordneten Verfahren undlangfristig hätte aufrufen müssen und dass man gemeinsametwas hätte vorlegen können. – Vielen Dank für Ihre Auf-merksamkeit.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Heike Habermann:

Vielen Dank. – Als Nächster spricht Herr Kollege Dr.Blechschmidt, FDP-Fraktion.

Dr. Frank Blechschmidt (FDP):

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Frau KolleginWallmann, Frau Kollegin Faeser, die jetzige Beratung un-terscheidet sich von der vorhergehenden schon darin, dassalle Beteiligten Änderungsanträge einbringen und wir einelebhafte Diskussion bekommen werden, mit der Über-schrift – Frau Wallmann hat das vorweggenommen; dieswurde aber auch im Ausschuss diskutiert –: „Eine dritteLesung ist dringend erforderlich“. Von meiner Seite hättees keiner dritten Lesung bedurft,

(Beifall der Abg. Nancy Faeser (SPD))

wenn wir im Dezember die zweite Lesung gemacht, allesvorbereitet und eingebracht hätten. Alle Fraktionen habenim Ausschuss signalisiert – ich glaube, es war gestern odervorgestern –, dass es Handlungsbedarf gibt. Auch meineFraktion wird Anträge vorlegen, die gegebenenfalls abge-glichen und verglichen werden und in einer Schnittmengevielleicht gemeinsam getragen werden. Ich weiß es nicht;ich denke da positiv.

In der Tat ist es so, dass uns die Thematik der Abschiebe-haft als Landtag seit Langem beschäftigt. Es gibt die Klei-ne Anfrage des Abg. Greilich vom Januar 2017; dazu ha-ben wir im Mai erfahren, dass die Hessische Landesregie-rung in Hessen eine eigene Abschiebehaftanstalt plant.Herr Minister, wir unterstützen ausdrücklich, dass dieseAbschiebehaftanstalt kommt. Wir sehen diese als unerläss-lich an, weil dies die Zahl ausreisepflichtiger Menschen

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und die geringen Kapazitäten einfach erfordern. Dies fin-det auch vollumfänglich die Unterstützung der FDP. Dasmonatelange Prüfen, welcher Standort in Betracht kommt,ob Kassel, Limburg oder Friedberg, mit Auswirkungen aufandere Ministerien, ist uns auch noch gegenwärtig. Dassjetzt Darmstadt als Standort ein bisschen aus dem Hut ge-zaubert wurde, ist auch gut, weil man dann einmal einenkonkreten Ort und ein Gesetz hat. Dass es so eines Ge-setzes bedarf – Herr Minister, ich gebe Ihnen insoweit inBezug auf die Anhörung recht –, hätte ich als Jurist nichtgedacht. Dass das Gesetz notwendig ist, zeigen der heutigeTag sowie die Anhörung. Deshalb bringen wir auch dieentsprechenden Änderungsanträge ein.

Gesichtspunkte sind angeführt worden, zum Teil von FrauWallmann, etwas näher von Frau Faeser, so auch das Tren-nungsgebot. Es wurde von beiden Vorrednerinnen sehrproblematisiert. Dazu werden wir auch einen Änderungs-antrag stellen; ob dieser dann notwendig sein oder gar zu-rückgezogen wird, weil vielleicht die SPD oder sogar CDUund GRÜNE einen etwas besseren haben, weiß ich nicht.Vielleicht kriegen wir es hin, dass wir einmal eine Schnitt-menge haben, dass wir vielleicht das eine oder andere mi-schen und gemeinsam vorwärtsbringen werden.

Zum zweiten Schlagwort, es wurde, glaube ich, von FrauFaeser gebraucht: „Abschiebehaft ist gleich“ – das war dieFormel – „normales Leben minus Freiheit“. Das ist für unswichtig; es wird ein erheblicher Aspekt unseres Ände-rungsantrags sein. In diesem Kontext war die Frage erstprofan, aber nach längerem Nachdenken war sie für michdoch erheblich: Warum werden Smartphones verboten?Warum können Handykameras nicht deaktiviert werden?Ich meine, da kann man flexibler sein.

(Beifall bei der FDP)

Das ist vielleicht ein schlechtes Beispiel, es ist aber ein gu-tes Beispiel dafür, um zu illustrieren, dass es hier einenakuten Handlungsbedarf gibt, um die Formel von FrauFaeser: „normales Leben minus Freiheit“ als Bestandteilder Anhörung etwas zu untermalen.

Genauso appelliere ich an Sie, keine Minderjährigen inAbschiebehaft zu nehmen. Wir werden versuchen, auchdazu einen entsprechenden Änderungsantrag einzubringen.Das sehen wir als erheblich an. Das geht auch nicht einhermit dem Appell, den wir alle in der Anhörung gehört habenund der eben mit den genannten Schlagworten auf denPunkt gebracht wurde. Wir werden versuchen, einen Ände-rungsantrag zu stellen, um das mit Ihnen gemeinsam aufden Punkt zu bringen, weil Minderjährige in Abschiebehaftgerade angesichts dieser Formel problematisch sind.

(Beifall bei der FDP und der SPD)

Vierter Gesichtspunkt. Ein wichtiger Gesichtspunkt, der inder Gesetzesanhörung zum Tragen kam, aber auch in unse-ren Gesprächen mit der Polizeigewerkschaft und den Jus-tizvollzugsgewerkschaften deutlich wurde, ist die Gewähr-leistung der Sicherheit in der Haft selbst, der Ausgang un-ter Aufsicht und die Gewinnung adäquaten Personals. Ichbin aufgrund dessen, was ich gehört habe, zuversichtlich,dass gerade im Hinblick auf das Justizministerium eine Lö-sung gefunden wird, dass für die Abschiebehaft wirklichgeeignetes Fachpersonal gefunden wird.

In der Gesetzesformulierung haben Sie allerdings eine For-mulierung drin, die mir Bauchweh macht. Das hätte ichgern konkretisiert, weil ich glaube, dass das Justizministe-

rium, der Minister des Innern sowie die Beratungen etwasweiter sind, sodass noch auf den Punkt gebracht werdenkann, welches Personal wir dort haben wollen. Die Beson-derheit der Haft im Justizvollzug, aber auch die Besonder-heit einer Abschiebehaft sind in dem Gesetzentwurf bis-lang nicht in Einklang gebracht worden mit dem Einsatzsämtlicher Landesbediensteter. Wir müssen auch ein Au-genmerk darauf haben, dass wir das als Gesetzgeber ent-sprechend begleiten und im Wort führen.

(Beifall bei der FDP)

Meine Damen, meine Herren, zum Fazit. Herr Minister,abgesehen von den Stichpunkten, die alle genannt habenund die ich jetzt nur pointiert wiedergegeben habe, wirddas Ziel des Gesetzentwurfs von der FDP grundsätzlichüberprüft. Wir alle sehen, dass nachgebessert werdenmuss. Wir alle bessern nach. Wir machen als Liberale ein-mal ganz bewusst die Nagelprobe und schauen, wie viel-leicht ein gemeinsamer Antrag formuliert werden könnte,gerade in Anbetracht der vorherigen Diskussionen.

Es darf zu keiner Mehrbelastung – das versehe ich mit ei-nem Ausrufezeichen – der Polizei und des allgemeinenVollzugsdienstes kommen. Die Gefahren für die Allge-meinheit, das will ich auch nicht unerwähnt lassen, sollenabgewandt oder gemindert werden. Wenn uns das gelingt,dann haben wir in Hessen in der Tat einen Gesetzentwurf,der dem Rechnung trägt, was in der genannten Formel aufden Punkt gebracht und mit der Abschiebehaft verbundenwird.

Ich hoffe auf eine gute Beratung und auf eine Verabschie-dung in diesem Jahr, dass das Gesetz zum 01.01. zur Ver-fügung steht und wir das, was wir ins Auge gefasst habenund jetzt in Darmstadt konkretisieren wollen, bestmöglichals Gesetzgeber begleitet haben. – Danke schön für dieAufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Heike Habermann:

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Kollege Frömmrich,BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! DerKollege Blechschmidt hat im Prinzip das Spannungsver-hältnis, in dem wir uns befinden, gut und richtig beschrie-ben. Ich bin ausgesprochen dankbar dafür, dass wir das indiesem Rahmen diskutieren können.

Natürlich ist es klar, dass wir nach dem Urteil des Europäi-schen Gerichtshofs für Menschenrechte den Auftrag haben,sehr deutlich zu machen, dass Abschiebehaft und Strafhaftgetrennt sind. Aus diesem Grund müssen wir auch andereFormen der Unterbringungen und der Behandlung vorhal-ten. Das ist ein ganz klarer Grundsatz, dem wir auch mitden Änderungsanträgen gerecht werden, die noch angekün-digt sind – deswegen auch die dritte Lesung. Wir werdenim Innenausschuss über die verschiedenen Änderungsan-träge, die von allen Fraktionen angekündigt worden sind,reden.

Frau Kollegin Faeser, es gibt durchaus unterschiedlicheGesetze. Es gibt das umfangreiche Gesetz in Nordrhein-Westfalen, aber wir haben in der Anhörung auch gehört,

8570 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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dass z. B. in Rheinland-Pfalz die Regelung der Unterbrin-gung ganze drei schlanke Sätze umfasst. Es gibt sehr klareUnterschiede.

(Zuruf der Abg. Nancy Faeser (SPD))

– Ich bin da gar nicht im Streit mit Ihnen, ich wollte es nurerläutern. Es gibt unterschiedliche Herangehensweisen. –Ich glaube, dass wir mit dem, was wir vorgelegt haben, derRechtsprechung entsprechen. Gleichwohl müssen wir nocheinige Dinge klarstellen und einige Regelungen nachrei-chen. Das haben uns in der Anhörung auch viele Anzuhö-rende gesagt, Kollegin Wallmann hat es erwähnt, z. B. dieFrage der Ultima-Ratio-Regelung. Natürlich ist es klar,dass Abschiebehaft nur Ultima Ratio sein kann. Das ist so,das wird auch eigentlich aus dem Text – wenn man die Be-gründungsteile auch liest – klar. Jetzt werden wir das nochmit einem Satz verdeutlichen. Die Frage der Präambel wer-den wir auch noch einmal diskutieren.

Abschiebehaft ist nur dann geeignet, wenn es keine ande-ren Mittel gibt. Wenn es andere Mittel gibt, sind diese vor-zuziehen. Die Unterbringung von unbegleiteten Minderjäh-rigen – vielleicht sagt der Minister noch etwas dazu – ist inder Abschiebehaft eigentlich gar nicht vorgesehen. ImBundesgesetz ist es eigentlich ausgeschlossen.

(Nancy Faeser (SPD): Was heißt „eigentlich“?)

Wir schreiben das jetzt noch einmal hinein, damit klarwird, dass unbegleitete Minderjährige damit nicht gemeintsind.

Zu der Frage der Freizeitgestaltung und des Medienkon-sums – darüber ist in der Anhörung geredet worden – un-terbreiten wir einen Vorschlag, wie man das noch einbisschen weiter fassen kann. Auch zur Handynutzung wer-den wir eine Regelung vorschlagen, wie sie in Nordrhein-Westfalen umgesetzt wurde, d. h. mit einer Versiegelungdie Kamera unbrauchbar zu machen, sodass das Handyaber noch genutzt werden kann. Außerdem wird es nocheine Regelung zum Zugang für Rechtsanwälte geben. Eswird präzisiert, dass § 12 Sätze 1 bis 4 nicht für Rechtsan-wälte und konsularische Vertreter gelten. Auch bei diesemPunkt gehen wir auf die Vorschläge in der Anhörung ein.

Ich will noch einmal etwas Grundsätzliches sagen, weil dasauch eine verbundene Debatte ist. Abschiebehaft ist für dieMenschen, die in Haft genommen werden, etwas Schlim-mes. Wir haben in Hessen in den letzten Jahren bewiesen,dass wir große humanitäre Leistungen erbracht haben, bei-spielsweise durch die Unterbringung von Flüchtlingen undAsylbewerbern; die Gesellschaft hat sehr viele Menschenaufgenommen. Dafür gibt es rechtsstaatliche Verfahren,auch im Sinne der Asylgesetzgebung. Am Ende einesrechtsstaatlichen Verfahrens steht dann die Frage, ob manbleiben darf oder gehen muss.

Die Intention der Landesregierung besteht darin, alles zuunterstützen, was die freiwillige Ausreise angeht. Es wirdeine Menge getan, um die freiwillige Ausreise zu unterstüt-zen. Es gibt einen kleinen Personenkreis, der diesen Auf-forderungen nicht nachkommt. Für diesen Personenkreisist diese Abschiebehaftanstalt gedacht.

(Zuruf der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Ich will noch einmal daran erinnern, das hat auch ein hohesVerhetzungspotenzial: Auch eine Abschiebehaft wird rich-terlich angeordnet. Es ist kein Willkürakt, sondern eine

richterliche Anordnung, die zugrunde gelegt wird. Von da-her ist es ein rechtsstaatliches Verfahren.

Es ist wichtig, dass auch wir Einrichtungen bereitstellenmüssen. Bisher haben wir Einrichtungen anderer Bundes-länder genutzt, in Brandenburg, in Nordrhein-Westfalen, inBayern und in Ingelheim. Es ist unsere Intention, jetztselbst Plätze zu schaffen und diese Einrichtung selbst zubetreiben.

Über die Auswahl der Einrichtung ist schon geredet wor-den. Mit diesem Gesetz bieten wir einen rechtlichen Rah-men für diese Unterbringung. Mit den Änderungen, die wirnoch vorlegen werden, unterbreiten wir Ihnen einen gutenVorschlag. Mit diesen Änderungen wird das Gesetz nocheinmal präzisiert. Ich freue mich auf die Beratungen im In-nenausschuss und auf die dritte Lesung. – HerzlichenDank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU)

Vizepräsidentin Heike Habermann:

Vielen Dank. – Für eine Kurzintervention hat KolleginFaeser das Wort.

Nancy Faeser (SPD):

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Herr KollegeFrömmrich, wenn Sie es bei der Beratung über das Gesetzbelassen hätten, hätte ich mich nicht mehr gemeldet. Ichhabe mich deswegen gemeldet, weil eines so nicht stehenbleiben kann: Sie haben gesagt, Sie wollten noch einmalallgemein über die Problematik reden, wie human die Ab-schiebepraxis in Hessen ist.

Dazu will ich Ihnen noch einmal etwas sagen. Es gibt einumfangreiches Schreiben der freien Liga Hessen aus demSommer, in dem sehr massive Mängel vorgetragen werdenund ein sehr restriktives Vorgehen bei der Abschiebung inHessen bemängelt wird. Unter anderem wird jeder Asylbe-werber, egal woher er kommt, am zweiten Tag gebeten,wieder in sein Heimatland zurückzureisen, unabhängig da-von, ob er aus Krisengebieten kommt oder nicht. MeineDamen und Herren, das ist alles andere als human.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Herr Frömmrich, wenn Sie in der Debatte meinen, das an-sprechen zu müssen, dann ist das ein wesentlicher Bestand-teil dessen. Deswegen haben wir uns bei der ersten Lesungüber die Ausgestaltung des Gesetzentwurfs so gewundert.Wir sind froh, dass Sie ein Einsehen haben und insbeson-dere den Ultima-Ratio-Grundsatz einfügen. Lassen Sie esaber bitte nicht stehen, dass es gerade in Hessen eine be-sonders humane Abschiebepraxis gibt. Das ist nicht derFall.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Abschiebung aus derSchule!)

Wir werden das an einem gesonderten Ort noch einmalaufgreifen, weil wir das sehr alarmierend finden, was dortbei einer grün-schwarzen Regierung alles angemerkt wird.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8571

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Vizepräsidentin Heike Habermann:

Kollege Frömmrich, zur Erwiderung.

Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Faeser, so, wie Siedas dargestellt haben, habe ich es nicht gesagt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie brauchen offensichtlich die Kontroverse. Wir habendas in der gesamten Plenarwoche schon erlebt, Sie könneneigentlich nur noch eine Richtung: Sie können nur nochmit Vollgas vor die Wand.

(Widerspruch bei der SPD)

Sie unternehmen noch nicht einmal den Versuch, bei Din-gen, die schwierig und kompliziert sind, aufeinander zuzu-gehen. Ich hätte gedacht, dass man das bei der Frage kann.Deswegen habe ich auch Herrn Kollegen Blechschmidt an-gesprochen, weil ich glaube, dass das die bessere Art ist,hier weiterzukommen. Das ist es auch für diejenigen, diebetroffen sind.

Ich will noch einmal etwas zu dem sagen, was Sie eben er-wähnt haben, Frau Kollegin Faeser.

(Zuruf der Abg. Nancy Faeser (SPD))

– Wollen Sie jetzt eine Antwort? – Es gibt kein Bundes-land in der Bundesrepublik Deutschland, das zwei Jahrehintereinander jeweils 1,5 Milliarden € für die Integrationund den sozialen Zusammenhalt in Deutschland bereitge-stellt hat. Das gibt es nirgendwo sonst in der Bundesrepu-blik Deutschland, sondern nur hier in Hessen.

Sich hierhin zu stellen und bei dem, was wir hier an Politikmachen, zu sagen, es stünde nicht die Humanität für dieseMenschen im Vordergrund, ist geradezu absurd, Frau Kol-legin Faeser. Ich weiß überhaupt nicht, woher Sie das neh-men.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU – Widerspruch der Abg. Nancy Faeser(SPD))

Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. – Ich würde mirin dieser Frage wünschen, dass andere SPD-regierte Bun-desländer mit SPD-Ministerpräsidentinnen oder -Minister-präsidenten genau solche großen Anstrengungen für die In-tegration und den sozialen Zusammenhalt unternehmenwie wir in Hessen. Der Vorwurf von Ihnen geht nach mei-ner Auffassung vollkommen ins Leere. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU)

Vizepräsidentin Heike Habermann:

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Kollege Wilken, Frak-tion DIE LINKE.

Dr. Ulrich Wilken (DIE LINKE):

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren!Dankenswerterweise haben die meisten Vorredner undVorrednerinnen darauf hingewiesen, dass es eine verbun-dene Debatte ist; es steht auch ein Antrag von uns nocheinmal zur Abstimmung. Deswegen will ich zu Beginn sa-

gen, dass unsere grundsätzliche Haltung glasklar bleibt:Flucht ist kein Verbrechen, und niemand darf deshalb inHaft genommen werden.

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Mürvet Öz-türk (fraktionslos))

Abschiebehaft und Abschiebegewahrsam sind grundsätz-lich unverhältnismäßige Maßnahmen. Hessen muss inmenschenwürdige Aufnahmestrukturen investieren unddarf nicht noch mehr Geld in eine rücksichtslose Abschie-belogistik stecken.

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Mürvet Öz-türk (fraktionslos))

Wir bleiben dabei: Kein Mensch ist illegal. Aus unsererSicht ist deswegen eine Regelung zur Abschiebehaft über-flüssig.

(Beifall bei der LINKEN)

Nichtsdestotrotz enthebt uns das nicht, Sie darauf hinwei-sen zu müssen, wo Sie mit einer anderen politischenGrundeinstellung offensichtlich etwas reichlich falsch ma-chen. Herr Frömmrich hat sich gerade hierhin gestellt undzu allen kritischen Punkten gesagt, das sei doch vollkom-men klar. – Ich frage mich: Warum haben Sie es dannnicht von Anfang an so aufgeschrieben?

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten derSPD sowie der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Ich habe noch keine Änderung vorliegen, zu der ich sagenkönnte: Jetzt ist das Problem behoben.

Ich hatte schon bei der vorherigen Debatte gesagt, einbisschen Schizophrenie gehe immer. Sich hierhin zu stel-len und zu sagen: „Bitte in zweiter Lesung unverändert an-nehmen“, und gleichzeitig zu sagen, man bringe Änderun-gen ein – meiner Meinung nach hätte man das auch anderslösen können; darauf haben schon meine Vorredner hinge-wiesen.

Deswegen möchte ich noch einmal inhaltlich zu Ihrem Ge-setzentwurf kommen, so, wie er im Moment vorliegt. Esgab viele äußerst kritische Stellungnahmen seitens der Dia-konie, der Caritas, des Paritätischen, des HessischenFlüchtlingsrats, der Arbeitsgemeinschaft der Ausländerbei-räte und eben auch des Deutschen Anwaltvereins – das istschon erwähnt worden.

Ich will durchaus noch einmal ein paar Facetten aufgreifen.Erst einmal zur Frage, wann Abschiebehaft überhaupt an-geordnet werden darf. Frau Wallmann, Sie haben in IhremBeitrag darauf hingewiesen, dass es Ultima Ratio sein soll,und vor allen Dingen darauf hingewiesen, mit welcherAkribie Sie überzeugen wollen, dass freiwillige Ausreiseerfolgt. Frau Wallmann und Herr Frömmrich, entschuldi-gen Sie, wenn Sie sagen, das sei in Hessen so gut: Wie gutdas läuft, durften wir alle in einem Beitrag von „Kontraste“sehen, in dem unser stellvertretender Ministerpräsident,Herr Al-Wazir, eine mehr als peinlich-arrogante Rolle ge-spielt hat.

(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie derAbg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Wenn es die gute hessische Praxis ist, dass wir Menschenunter Vortäuschung eines Gesprächs in ein Büro lockenund sie mit Handschellen wieder hinausführen und ab-schieben, dann bedanke ich mich für schwarz-grüne Ab-schiebepraxis.

8572 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von den GRÜ-NEN: Das war auf Rügen, nicht in Hessen! – Weite-re Zurufe)

Noch einmal zur Ultima Ratio. Die Rechtslage sieht diver-se mildere Mittel als Abschiebehaft vor, wie z. B. Kautionoder Bürgschaft, Aufenthaltsbeschränkung, Meldepflich-ten, Überwachungssysteme, Passhinterlegung. Es wäre be-grüßenswert, wenn Sie hier für Hessen Alternativen zurAbschiebehaft als mildere Mittel ernsthaft in Erwägungziehen würden – jenseits der Tatsache, dass dem Unrechts-zustand, keinen Aufenthaltstitel zu haben, ja auch mit derVergabe eines Aufenthaltstitels durchaus abgeholfen wer-den könnte.

Dann, es wurde schon angesprochen, die Abgrenzung zurStrafhaft. Gemäß § 3 Ihres Gesetzentwurfs sollen einigeRegelungen des Hessischen Strafvollzugsgesetzes entspre-chend anwendbar sein, „soweit nicht Eigenart und Zweckder Haft entgegenstehen“. Sie haben angekündigt, hiernachbessern zu wollen. Wir werden uns das genau anse-hen. Aber der Anwaltverein hat ausdrücklich davor ge-warnt, das Gesetz mit Verweisen auf das Strafvollzugs-recht zu versehen, weil jeder noch so entfernte Eindruck,es handle sich um Strafvollzug, nun einmal unterbleibenmuss.

Ich will auch noch einmal zwei Sätze zur Anforderung sa-gen, Abschiebehaft nah am normalen Leben zu gestalten.Der Gesetzentwurf weist im Moment z. B. eine Regelungauf, die den Bezug von Zeitschriften einschränkt, weil sieSicherheit und Ordnung der Anstalt gefährden könnten.Was das sein soll, verstehe ich nun wirklich nicht. DasGleiche regeln Sie im Moment für den Radio- und Fern-sehempfang. Noch einmal: Das ist kein Strafvollzug. Wo-her kommt die Gefährdung der Sicherheit und Ordnung derAnstalt, wenn Zeitungen gelesen werden? Auch da bitteich dringend, noch einmal nachzuschauen.

Ein dritter Punkt. Unzureichend ist der Zugang zum Inter-net geregelt. Sie sagen, dass es im angebotenen Umfangder Einrichtung genutzt werden sollen. Wenn Sie – dassteht im Moment in Ihrem Gesetzentwurf, der angeblichverbessert werden soll – Menschen heute ihr Mobiltelefonabnehmen, so smart oder wenig smart es auch sein muss,unterbinden Sie dringend notwendige Kommunikation. Esist in keinster Weise einzusehen, wie das noch eine Gestal-tung nah am normalen Leben sein soll, wenn Sie dieseMaßnahme umsetzen.

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Mürvet Öz-türk (fraktionslos))

Ich würde gerne konkret mit Ihnen darüber reden, was Sieverbessern wollen – das werden wir dann in der dritten Le-sung machen müssen. Ob das wirklich ein gesundes, kor-rektes Gesetzgebungsverfahren ist, haben Sie mit IhrerMehrheit zu verantworten. Meiner Meinung nach wäre dasbesser und geschickter möglich gewesen. – Danke sehr.

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Mürvet Öz-türk (fraktionslos))

Vizepräsidentin Heike Habermann:

Vielen Dank. – Für eine Kurzintervention hat Herr KollegeFrömmrich das Wort.

Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich glaube, nachdem ichgesagt habe, wie viele Finanzmittel wir im Rahmen derFrage Flucht und Asyl bereitgestellt haben, dass wir vonIhnen da keinen Nachhilfeunterricht brauchen, Herr Kolle-ge Wilken.

(Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Was Sie mit „Flucht ist kein Verbrechen“ überschreiben,ist nicht passend – Flucht ist natürlich kein Verbrechen.Deswegen nehmen wir hier Hunderttausende von Men-schen auf, weil sie aus Ländern fliehen, in denen sie ver-folgt werden, in denen die Menschenrechte nicht geachtetwerden, in denen Krieg herrscht. Es kommen auch vieleMenschen hierher, die das Asylrecht wahrnehmen. DerBundesrepublik Deutschland, die in den letzten beiden Jah-ren inmitten von Europa, glaube ich, als einziges Land die-se humanitäre Katastrophe angepackt und sehr viel geleis-tet hat, und diesen Menschen, die sich mit sehr viel Enga-gement um die Flüchtlinge gekümmert haben, so etwasvorzuwerfen, das ist geradezu absurd, Herr Kollege Wil-ken.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU)

Ich bitte Sie einmal, Herr Kollege Wilken, schauen Siedoch einmal bei sich selbst nach. Freitag, 20. Oktober 2017im „Spiegel“ – hier geht es um eine Pressekonferenz derPartei DIE LINKE –:

Statt mit der wenig realitätstauglichen Forderung„Offene Grenzen für alle Menschen sofort“ Ängsteund Unsicherheitsgefühle zu befördern, sollten wiruns darauf konzentrieren, das Asylrecht zu verteidi-gen.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Das habt ihr zumin-dest schon mal nicht gemacht!)

Das bedeutet nicht, dass jeder, der möchte, nachDeutschland kommen und hier bleiben kann.

Das sagt Sahra Wagenknecht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undder CDU – Zurufe von der LINKEN)

Vizepräsidentin Heike Habermann:

Kollege Wilken, zur Erwiderung.

Dr. Ulrich Wilken (DIE LINKE):

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Ich antwortegerne auf die Teile Ihrer Rede, Herr Frömmrich, die sichauf die Debatte bezogen haben. Das war aber der geringsteTeil.

(Armin Schwarz (CDU): Wünsch dir was! – WeitereZurufe)

Wir sind in einer Debatte unter einem bestimmten Tages-ordnungspunkt, und darauf beziehe ich mich.

(Zuruf des Abg. Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN))

Mir zu unterstellen, dass ich geringschätzig über die Will-kommensbereitschaft vieler Millionen meist ehrenamtli-

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8573

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cher Menschen in diesem Land gesprochen hätte, das istwirklich eine Unverschämtheit, Herr Frömmrich.

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Mürvet Öz-türk (fraktionslos))

Wir haben bei den entsprechenden Haushaltsanträgen mit-gestimmt, die auch für das Land Hessen die finanziellenMöglichkeiten zur Verfügung stellen.

(Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Was ist mit Frau Wagenknecht?)

Herr Frömmrich, ich erinnere Sie an das Bild von unseremstellvertretenden Ministerpräsidenten in dieser Fernsehsen-dung.

(Zurufe von dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich erinnere Sie daran, dass in Gießen ein Mensch aus derPsychiatrie gelockt wurde und abgeschoben wurde.

(Zurufe von dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn das nächste Mal Frau Wagenknecht hier in Hessenist, können wir uns auch gerne über sie unterhalten.

(Beifall bei der LINKEN – Jürgen Frömmrich(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das war Weg-ducken! Das ist Feigheit!)

Vizepräsidentin Heike Habermann:

Vielen Dank. – Als Nächster hat Herr Staatsminister Beuthdas Wort.

Peter Beuth, Minister des Innern und für Sport:

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren!Ich greife einen Satz von Herrn Kollegen Wilken auf, dergesagt hat: Flucht ist kein Verbrechen. – Ich gebe Ihnenausdrücklich recht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber darum geht es auch nicht in dieser Debatte. Für denTatbestand der Flucht brauchen wir keine Abschiebehaft-anstalt. Flucht wird nicht bestraft, sondern es geht hier umeinen ganz anderen Sachzusammenhang, Herr Kollege Dr.Wilken. Aber es ist Ihnen recht, dass Sie die Themen sodarstellen, als ob Sie diesem Land, dieser Regierung oderwem auch immer ein unmenschliches Gesicht geben woll-ten.

Meine Damen und Herren, ich muss Ihnen sagen: DiesesLand hat dies nicht verdient; denn dieses Land hat eine sogroßartige humanitäre Leistung in den letzten drei Jahrenvollbracht, dass es nicht verdient hat, von Ihnen in einersolchen Art und Weise despektierlich behandelt zu werden.

(Lebhafter Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN)

Frau Kollegin Faeser, ich finde es bedauerlich, dass Sie eseben so dargestellt haben; denn es findet bei uns im Rah-men dessen statt – ich kann Sie jetzt nicht sehen, weil HerrKollege Rudolph dazwischen steht –, was die Gesetze inunserem Lande hergeben. Wir bemühen uns darum, dasswir die Menschen, die zu uns kommen, ordentlich aufneh-men, dass sie ordentlich untergebracht werden, dass sieentsprechend beraten werden, um ihre Verfahren durchzu-führen. Wir versuchen, denjenigen, die hierbleiben, un-

glaubliche Integrationschancen zu eröffnen, mit allen Mög-lichkeiten, die der Staat und die Kommunen haben.

Ich finde, auch die Tatsache, dass wir in den letzten zweiJahren jedes Mal im Haushalt dafür nennenswerte Mittelzur Verfügung gestellt haben, sollte man schon einbisschen mit beachten, bevor man sich hierhin stellt undsagt, wir würden irgendeiner unmenschlichen Politik dasWort reden oder eine unmenschliche Politik betreiben. Ichfinde das nicht in Ordnung. Es passt nicht zu diesem Land,und es passt auch nicht zu der Politik dieses Landes. Ichdachte auch, wir wären uns hier über die Parteigrenzen ei-nig.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Aber es ist auch so, dass wir uns um diejenigen kümmernmüssen, die keine Bleibeperspektive in unserem Land ha-ben. Wir müssen ihnen möglichst schonend die Rückfüh-rung ermöglichen. Auch hier finde ich es nicht kritikwür-dig, wenn man möglichst früh im Verfahren denen, die ausLändern mit einer geringen Bleibeperspektive kommen, ih-re Möglichkeiten, auch über staatliche Förderprogramme,darstellt.

(Zuruf der Abg. Nancy Faeser (SPD))

Ich finde das nicht kritikwürdig. Ich finde das sogarmenschlicher, als sie über Jahre durch irgendwelche Ver-fahren zu ziehen und sie am Ende des Verfahrens darüberaufzuklären, dass sie doch heimgehen müssen. Das istnicht in Ordnung. Das wäre nach meiner Einschätzung un-menschlich.

(Beifall bei der CDU – Nancy Faeser (SPD): Es gehtum alle! Es geht auch um Bürgerkriegsflüchtlinge,Herr Minister!)

Wir reden hier vor allem über das Gesetz zur Verwaltungs-haft. In der Tat ist es so, dass wir im Moment an drei ver-schiedenen Punkten arbeiten. Das ist zum einen die Her-richtung einer anständigen Verwaltungshaftanstalt inDarmstadt. Darüber haben wir bereits gesprochen. Wir be-mühen uns, dort einen guten Unterbringungsstandard hin-zubekommen.

Wir unterhalten uns über die Frage des Personals. Das isttatsächlich eine Frage, die uns beschäftigt, sodass wir zumStart der neuen Verwaltungshaftanstalt auch entsprechen-des Verwaltungshaftpersonal haben werden. Wir betretenin all den Bereichen Neuland, und wir arbeiten sehr hartdaran.

Wir brauchen darüber hinaus auch eine gesetzliche Grund-lage. Über diese diskutieren wir hier.

Meine Damen und Herren, ich möchte schon sagen: In derTat ist es so, dass die Verwaltungshaft, die Abschiebehaft,die Ultima Ratio ist. Aber die Ultima Ratio steht auch imAufenthaltsgesetz. Diese Fragen sind in unserem bundes-gesetzlichen Rechtsrahmen geregelt. Wir müssen nur nochden Teil ausfüllen, der für die Abschiebehaft, die Abschie-behaftanstalt und die Behandlung derjenigen, die dort sind,noch zu entscheiden ist. Wir brauchen doch nicht dieGrundlagen neu zu legen, weil diese bereits im Aufent-haltsgesetz und in den einschlägigen Gesetzen gelegt sind.

Insofern weise ich noch einmal darauf hin: Wir füllen denRahmen aus, der sich uns in unserer Kompetenz gebietet.Die Ultima Ratio, die in der Anhörung eine große Bedeu-

8574 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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tung gespielt hat, ist bereits festgelegt in den bundesgesetz-lichen Regelungen.

Meine Damen und Herren, die maximale Angleichung derHaft an das normale Leben – so begrüßenswert das ist –muss natürlich dort die Grenzen finden, wo der Zweck derFreiheitsentziehung infrage zu stehen droht. Der Zweck ist– das möchte hier in Erinnerung rufen –, die Abschiebungzu sichern. Dafür machen wir das, dafür brauchen wir einGesetz, dafür brauchen wir einen gesetzlichen Rahmen.

Dazu gehört, dass wir natürlich das unberechtigte Entwei-chen im Blick haben müssen. Ich erinnere daran, dass esvor wenigen Wochen eine Flucht in Ingelheim gegebenhat. Wir müssen uns aber auf der anderen Seite auch darumkümmern, dass wir Selbst- und Fremdgefährdungsfragen inden Blick nehmen und dass wir möglichst dafür Sorge tra-gen, dass das nicht stattfindet. Auch hier erinnere ich dar-an, dass ein Abschiebehäftling seine eigene Zelle in Brandgesetzt hat.

Natürlich ist es so, dass die Stellungnahmen der Anzuhö-renden weit auseinander gegangen sind. Wir haben sehr di-vergierende Rückmeldungen bekommen. Den einen warder Rahmen zu eng, den anderen war er zu weit. Insofernglaube ich, dass wir mit dem Gesetzentwurf schon einenausgewogenen Vorschlag gemacht haben. Wenn wir ihnjetzt mit den Anregungen der Anzuhörenden, die geradeeben darstellt worden sind, noch ein Stückchen weiter ver-bessern, dann ist das ebenfalls nicht kritikwürdig.

Allerdings stehen viele der gewünschten Inhalte nicht inunserer Kompetenz. Sie sind entweder europarechtlichoder bundesgesetzlich bereits geregelt. Aber das werdenwir in der Ausschusssitzung mit den Änderungsanträgen,die hier angedeutet worden sind, entsprechend miteinanderberaten.

(Unruhe – Glockenzeichen der Präsidentin)

Ich denke, dass wir eine ordentliche Vorlage geliefert ha-ben. Wir werden gemeinsam mit den Koalitionsfraktionenund dann im Ausschuss mit den anderen Fraktionen dieweiteren Änderungswünsche beraten. Am Ende ist es unserZiel, den Rechtsrahmen zu bilden für eine Verwaltungshaftin Hessen, damit wir mit einer Verwaltungshaftanstalt imJanuar des Jahres 2018 an den Start gehen können. Das istein geordnetes und ordentliches Verfahren. Das ist nichtkritikwürdig.

Insofern wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie dem Entwurfheute so zustimmen und wir im Dezember in der drittenLesung endgültig das Gesetz verabschieden. – VielenDank.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN)

Vizepräsidentin Heike Habermann:

Vielen Dank. – Ich habe keine weiteren Wortmeldungen.

Dann wird der Gesetzentwurf, Drucks. 19/5440 zu Drucks.19/5275, zur dritten Lesung dem Innenausschuss überwie-sen.

Ich rufe dann noch die Beschlussempfehlung des Innenaus-schusses zu dem Antrag der Fraktion DIE LINKE betref-fend keine Abschiebeknäste in Hessen, Drucks. 19/5094 zuDrucks. 19/5083, auf. Berichterstatter ist Herr Abg. Bauer.– Auf die Berichterstattung, Kollege Bauer, können wirverzichten, denke ich.

Dann lasse ich über die Beschlussempfehlung abstimmen.Wer ihr seine Zustimmung gibt, den bitte ich um dasHandzeichen. – Das sind die Fraktionen der CDU undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Wer stimmt dagegen? –Das sind die Fraktion DIE LINKE und Frau Abg. Öztürk.Wer enthält sich?

(Unruhe)

Wenn ich das richtig sehe, beteiligt sich die SPD nicht ander Abstimmung.

(Zuruf von der SPD: Wir haben die Hand gehoben!)

Wie haben sich die Kollegen von der FDP verhalten?

(Anhaltende Unruhe)

Sie haben sich auch nicht beteiligt. Gut, dann ist – –

(Dr. Ulrich Wilken (DIE LINKE): Dagegen! – Zurufvon der FDP: Wir haben dagegen gestimmt!)

– Sie haben dagegen gestimmt. Okay, das kam bei mirnicht an, Entschuldigung. – Es gab also Gegenstimmenvon der Fraktion DIE LINKE, Frau Abg. Öztürk, der FDPund der SPD.

(Widerspruch – Anhaltende Unruhe)

Kollege Rudolph.

(Manfred Pentz (CDU), zu Abg. Günter Rudolph(SPD) gewandt: Können Sie das auf morgen verta-gen?)

Günter Rudolph (SPD):

Frau Präsidentin, weil vom Kollegen dort drüben leiderfalsche Dinge erzählt werden: Wir haben der Be-schlussempfehlung zugestimmt.

Vizepräsidentin Heike Habermann:

Kollege Rudolph, wir nehmen das zu Protokoll. Ich stelleaber fest, dass das hier vom Präsidium nicht erkennbarwar. – Damit ist der Beschlussempfehlung so gefolgt.

(Manfred Pentz (CDU): Mein lieber Freund!)

Kolleginnen und Kollegen, wir sind am Ende der Tages-ordnung angelangt. Ich schließe die Sitzung und wünscheIhnen einen angenehmen Restabend. Bis morgen.

(Schluss: 19:01 Uhr)

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8575

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8576 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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Anlage 1 (zu Tagesordnungspunkt 78)

Abstimmungsliste über die namentliche Abstimmung

zu dem Dringlichen Antrag der Fraktion der SPD betreffend Verleihung der Wilhelm-Leuschner-Medaille – Drucks.19/5448 –

Nameder/des Abgeordneten

Frak-tion

ja nein ent-halten

gefehlt

Alex, Ulrike SPD x

Arnold, Dr. Walter CDU x

Arnoldt, Lena CDU x

Bächle-Scholz, Sabine CDU x

Banzer, Jürgen CDU x

Bartelt, Dr. Ralf-Norbert CDU x

Barth, Elke SPD x

Bauer, Alexander CDU x

Bellino, Holger CDU x

Beuth, Peter CDU x

Blechschmidt, Dr. Frank FDP x

Bocklet, Marcus GRÜNE x

Boddenberg, Michael CDU x

Bouffier, Volker CDU x

Caspar, Ulrich CDU x

Decker, Wolfgang SPD x

Degen, Christoph SPD x

Di Benedetto, Corrado SPD x

Dietz, Klaus CDU x

Dorn, Angela GRÜNE x

Eckert, Tobias SPD x

Erfurth, Sigrid GRÜNE x

Faeser, Nancy SPD x

Faulhaber, Gabriele LINKE x

Feldmayer, Martina GRÜNE x

Förster-Heldmann, Hildegard GRÜNE x

Frankenberger, Uwe SPD x

Franz, Dieter SPD x

Frömmrich, Jürgen GRÜNE x

Geis, Kerstin SPD x

Gnadl, Lisa SPD x

Goldbach, Eva GRÜNE x

Greilich, Wolfgang FDP x

Grüger, Stephan SPD x

Grumbach, Gernot SPD x

Grüttner, Stefan CDU x

Habermann, Heike SPD x

Hahn, Dr. h.c. Jörg-Uwe FDP x

Hammann, Ursula GRÜNE x

Hartmann, Karin SPD x

Heinz, Christian CDU x

Heitland, Birgit CDU x

Hofmann, Heike SPD x

Hofmeister, Andreas CDU x

Hofmeyer, Brigitte SPD x

Holschuh, Rüdiger SPD x

Honka, Hartmut CDU x

Kartmann, Norbert CDU x

Kasseckert, Heiko CDU x

Kaufmann, Frank-Peter GRÜNE x

Kinkel, Kaya GRÜNE x

Klaff-Isselmann, Irmgard CDU x

Klee, Horst CDU x

Klein (Freigericht), Hugo CDU x

Knell, Wiebke FDP x

Nameder/des Abgeordneten

Frak-tion

ja nein ent-halten

gefehlt

Kühne-Hörmann, Eva CDU x

Kummer, Gerald SPD x

Landau, Dirk CDU x

Lannert, Judith CDU x

Lenders, Jürgen FDP x

Löber, Angelika SPD x

Lortz, Frank CDU x

Lotz, Heinz SPD x

May, Daniel GRÜNE x

Merz, Gerhard SPD x

Meysner, Markus CDU x

Möller, Klaus Peter x

Müller (Kassel), Karin GRÜNE x

Müller (Schwalmstadt), Regine SPD x

Müller-Klepper, Petra CDU x

Özgüven, Handan x

Öztürk, Mürvet GRÜNE x

Pentz, Manfred CDU x

Pfaff-Greiffenhagen, Bodo CDU x

Puttrich, Lucia CDU x

Quanz, Lothar SPD x

Ravensburg, Claudia CDU x

Reif, Clemens CDU x

Reul, Michael CDU x

Rhein, Boris CDU x

Rock, René FDP x

Roth, Ernst-Ewald SPD x

Rudolph, Günter SPD x

Schäfer, Dr. Thomas CDU x

Schäfer-Gümbel, Thorsten SPD x

Schalauske, Jan LINKE x

Schaus, Hermann LINKE x

Schmitt, Norbert SPD x

Schott, Marjana LINKE x

Schwarz, Armin CDU x

Serke, Uwe CDU x

Siebel, Michael SPD x

Sommer, Dr. Daniela SPD x

Steinraths, Frank CDU x

Strube, Manuela SPD x

Tipi, Ismail CDU x

Utter, Tobias CDU x

Veyhelmann, Joachim CDU x

Wagner (Taunus), Mathias GRÜNE x

Wallmann, Astrid CDU x

Warnecke, Torsten SPD x

Waschke, Sabine SPD x

Weiß, Marius SPD x

Wiegel, Kurt CDU x

Wilken, Dr. Ulrich LINKE x

Wintermeyer, Axel CDU x

Wissler, Janine LINKE x

Wolff, Karin CDU x

Ypsilanti, Andrea SPD x

Yüksel, Turgut SPD x

Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017 8577

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8578 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · 120. Sitzung · 23. November 2017

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Anlage 2 (zu Tagesordnungspunkt 79)

Abstimmungsliste über die namentliche Abstimmung

zu dem Dringlichen Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend Verleihungder Wilhelm-Leuschner-Medaille durch den Hessischen Ministerpräsidenten – Drucks. 19/5449 –

Nameder/des Abgeordneten

Frak-tion

ja nein ent-halten

gefehlt

Alex, Ulrike SPD x

Arnold, Dr. Walter CDU x

Arnoldt, Lena CDU x

Bächle-Scholz, Sabine CDU x

Banzer, Jürgen CDU x

Bartelt, Dr. Ralf-Norbert CDU x

Barth, Elke SPD x

Bauer, Alexander CDU x

Bellino, Holger CDU x

Beuth, Peter CDU x

Blechschmidt, Dr. Frank FDP x

Bocklet, Marcus GRÜNE x

Boddenberg, Michael CDU x

Bouffier, Volker CDU x

Caspar, Ulrich CDU x

Decker, Wolfgang SPD x

Degen, Christoph SPD x

Di Benedetto, Corrado SPD x

Dietz, Klaus CDU x

Dorn, Angela GRÜNE x

Eckert, Tobias SPD x

Erfurth, Sigrid GRÜNE x

Faeser, Nancy SPD x

Faulhaber, Gabriele LINKE x

Feldmayer, Martina GRÜNE x

Förster-Heldmann, Hildegard GRÜNE x

Frankenberger, Uwe SPD x

Franz, Dieter SPD x

Frömmrich, Jürgen GRÜNE x

Geis, Kerstin SPD x

Gnadl, Lisa SPD x

Goldbach, Eva GRÜNE x

Greilich, Wolfgang FDP x

Grüger, Stephan SPD x

Grumbach, Gernot SPD x

Grüttner, Stefan CDU x

Habermann, Heike SPD x

Hahn, Dr. h.c. Jörg-Uwe FDP x

Hammann, Ursula GRÜNE x

Hartmann, Karin SPD x

Heinz, Christian CDU x

Heitland, Birgit CDU x

Hofmann, Heike SPD x

Hofmeister, Andreas CDU x

Hofmeyer, Brigitte SPD x

Holschuh, Rüdiger SPD x

Honka, Hartmut CDU x

Kartmann, Norbert CDU x

Kasseckert, Heiko CDU x

Kaufmann, Frank-Peter GRÜNE x

Kinkel, Kaya GRÜNE x

Klaff-Isselmann, Irmgard CDU x

Klee, Horst CDU x

Klein (Freigericht), Hugo CDU x

Knell, Wiebke FDP x

Nameder/des Abgeordneten

Frak-tion

ja nein ent-halten

gefehlt

Kühne-Hörmann, Eva CDU x

Kummer, Gerald SPD x

Landau, Dirk CDU x

Lannert, Judith CDU x

Lenders, Jürgen FDP x

Löber, Angelika SPD x

Lortz, Frank CDU x

Lotz, Heinz SPD x

May, Daniel GRÜNE x

Merz, Gerhard SPD x

Meysner, Markus CDU x

Möller, Klaus Peter x

Müller (Kassel), Karin GRÜNE x

Müller (Schwalmstadt), Regine SPD x

Müller-Klepper, Petra CDU x

Özgüven, Handan x

Öztürk, Mürvet GRÜNE x

Pentz, Manfred CDU x

Pfaff-Greiffenhagen, Bodo CDU x

Puttrich, Lucia CDU x

Quanz, Lothar SPD x

Ravensburg, Claudia CDU x

Reif, Clemens CDU x

Reul, Michael CDU x

Rhein, Boris CDU x

Rock, René FDP x

Roth, Ernst-Ewald SPD x

Rudolph, Günter SPD x

Schäfer, Dr. Thomas CDU x

Schäfer-Gümbel, Thorsten SPD x

Schalauske, Jan LINKE x

Schaus, Hermann LINKE x

Schmitt, Norbert SPD x

Schott, Marjana LINKE x

Schwarz, Armin CDU x

Serke, Uwe CDU x

Siebel, Michael SPD x

Sommer, Dr. Daniela SPD x

Steinraths, Frank CDU x

Strube, Manuela SPD x

Tipi, Ismail CDU x

Utter, Tobias CDU x

Veyhelmann, Joachim CDU x

Wagner (Taunus), Mathias GRÜNE x

Wallmann, Astrid CDU x

Warnecke, Torsten SPD x

Waschke, Sabine SPD x

Weiß, Marius SPD x

Wiegel, Kurt CDU x

Wilken, Dr. Ulrich LINKE x

Wintermeyer, Axel CDU x

Wissler, Janine LINKE x

Wolff, Karin CDU x

Ypsilanti, Andrea SPD x

Yüksel, Turgut SPD x

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