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HISTORISCHE ZEITSCHRIFT BEGRÜNDET VON HEINRICH VON SYBEL FORTGEFÜHRT VON FRIED RICH MEINECKE UND THEODOR SCHIEDER In Verbindung mit Andreas Fahrmeir • Johannes Fried Hartmut Leppin • Werner Plumpe Frank Rexroth . Andreas Rödder Uwe Waiter· Gerrit Walther Eberhard Weis herausgegeben von Lothar Gall unter Mitwirkung von Jürgen Müller und Eckhardt Treichel Band 291 R. Oldenbourg Verlag München 2010

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HISTORISCHEZEITSCHRIFTBEGRÜNDET VON HEINRICH VON SYBELFORTGEFÜHRT VON FRIED RICH MEINECKE

UND THEODOR SCHIEDER

In Verbindung mitAndreas Fahrmeir • Johannes FriedHartmut Leppin • Werner PlumpeFrank Rexroth . Andreas RödderUwe Waiter· Gerrit Walther

Eberhard Weis

herausgegeben vonLothar Gall

unter Mitwirkung vonJürgen Müller und Eckhardt Treichel

Band 291

R. Oldenbourg Verlag München 2010

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Das Megarische Psephisma und der Ausbruch desPeloponnesischen Krieges"

Von

Michael Zahrnt

Vor gut vierzig Jahren hat Horst Braunert in der Zeitschrift "Geschichte inWissenschaft und Unterricht" den ,,Ausbruch des Kampfes zwischenAthen und Sparta" behandelt und dabei vor allem die Bedeutung des Me-garischen Psephismas herausgestellt, jenes athenischen Volksbeschlusses,der die Megarer von allen Häfen des Athenischen Reiches und vom Handelin Attika ausschloß und der während der Verhandlungen des Winters 432/31 die entscheidende Rolle spielen sollte. Braunerts Aufsatz wurde sowohlin dem von Gerhard Wirth besorgten Sammelband über .Perikles und seineZeit" wiederabgedruckt als auch in die wenig später erschienene Samm-lung seiner kleinen Schriften aufgenommen I,wurde aber, obwohl seitdemeine Fülle von Untersuchungen zur Vorgeschichte des PeloponnesischenKrieges und speziell zum Megarischen Psephisma erschienen ist, so gut

• Wiedergabe eines Vortrags, der an den Universitäten von Bielefeld, Köln, Hamburg,Dresden und Berlin gehalten wurde, denjeweiligen Diskussionsteilnehmern manche Prä-zisierung verdankt und durch Quellen- und Literaturangaben erweitert wurde. Dabei soll-te allerdings niemand eine erschöpfende Auseinandersetzung mit der einschlägigen For-schungsliteratur zum vielbehandelten Ausbruch des Krieges oder gar deren Thesau-rierung in den Anmerkungen erwarten und, wenn er etwas vermißt, mir vorschnell unter-stellen, es nicht zur Kenntnis genommen zu haben.IHorst Braunert, Der Ausbruch des Kampfes zwischen Athen und Sparta. Eine antikeKriegsschuldfrage, in: GWU 20, 1969,38-52 (hiernach im folgenden zitiert); wieder-abgedruckt in: Gerhard Wirth (Hrsg.), Perikles und seine Zeit. Darmstadt 1979,395-417,sowie in: Horst Braunert, Politik, Recht und Gesellschaft in der griechisch-römischenAntike. Gesammelte Aufsätze und Reden. Hrsg. v. Kurt Telschow u. Michael Zahmt.Stuttgart 1980, 85-102. Horst Braunert ist kurze Zeit, nachdem er Herrn Wirth einenNachtrag zu seinem Aufsatz zugesagt hatte, verstorben. Da entsprechende Aufzeich-nungen nicht vorlagen, ja uns nicht einmal bekannt war, daß dieser Aufsatz in einemSammelband wiederabgedruckt würde, haben Kurt Telschow und ich ihn in unveränder-ter Form in Braunerts "Gesammelte Aufsätze und Reden" aufgenommen. Die dort vor-getragenen Gedanken habe ich inzwischen in verschiedenen Lehrveranstaltungen weiter-entwickelt, wobei ich natürlich nicht beurteilen kann, inwieweit die jetzt zu Papiergebrachten Ausführungen noch den Ansichten meines Lehrers entsprechen würden.

© Oldenbourg DOIIO.1524/hzhz.2010.0054

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wie nie rezipiert, was in nicht geringem Maße daran liegt, daß es sich beiden neueren Untersuchungen weitgehend um englischsprachige Beiträgehandelt, von deren Verfassern bekanntlich deutschsprachige Forschungsli-teratur nur selten zur Kenntnis genommen wird. Dabei lassen sich Brau-nerts Überlegungen durch eine Reihe weiterer Beobachtungen erweiternund absichern. Ich werde mich auf letztere konzentrieren und die zumKrieg führende Entwicklung nur knapp skizzieren.s

Thukydides 1,23,4-6 unterschied bekanntlich zwischen dem wahrstenGrund und den Streitpunkten bzw. öffentlich vorgebrachten Beschuldigun-gen, die eine Entwicklung in Gang setzten, die schließlich den Krieg aus-löste. Am Anfang stand im Sommer 433 eine athenische Hilfeleistung fürdas von Korinth angegriffene Kerkyra, wobei aus Thukydides' Schilde-rung der Ereignisse hervorgeht und in der Forschung weitgehend Konsensdarüber besteht, daß bei dieser Aktion kein formaler Verstoß gegen den imWinter 446/45 zwischen Athen und den Peloponnesiern abgeschlossenendreißigjährigen Frieden vorlag. Dieser Vertrag sicherte Staaten, die keinemder beiden großen Bündnissysteme angehörten, Koalitionsfreiheit zu, unddas galt folglich auch für die Kerkyräer.3 Allerdings war das Verhältnis

2 Mehrfach zitierte Literatur: Karl Julius Beloch, Griechische Geschichte. Bd. 2: Bis aufdie sophistische Bewegung und den peloponnesischen Krieg. Erste Abteilung. 2. Aufl.Straßburg/BerlinlLeipzig 1914; Peter Astbury Brunt, The Megarian Decree, in: AlPh 72,1951,269-282 =ders., Studies in Greek History and Thought. Oxford 1993, 1-16; GeorgBusolt, Griechische Geschichte bis zur Schlacht bei Chaeroneia. Bd. 3/2: Der pelopon-nesische Krieg. 2. Aufl. Gotha 1904; Kurt von Fritz, Die griechische Geschichtsschrei-bung. Bd. I: Von den Anfängen bis Thukydides. Berlin 1967; Simon Homblower, ACommentary on Thucydides. Vo!. 1: Books I-Ill. Oxford 1991; ders., The Greek World479-323 B. C. 3. Aufl. LondonlNew York 2002; Donald Kagan, The Outbreak of thePeloponnesian War. Ithaca, N.Y./London 1969; John Francis Lazenby; The Peloponne-sian War. A Military Study. London 2004; Rona/d P. Legon, Megara. The Political His-tory of a Greek City-State to 336 B. C. IthacalLondon 1981; Russell Meiggs, TheAthenian Empire. Oxford 1972; Benjamin Dean Meritt/Henry Theodore Wade-Gery/Ma/colm Francis McGregor, The Athenian Tribute Lists. Vo!. 3. Princeton, N. J. 1950(künftig zitiert als: ATL);AnthonyJ. Podlecki, Perikles and his Circle. LondonlNew York1998; Peter John Rhodes, Thucydides on the Causes of the Peloponnesian War, in: Her-mes liS, 1987, 154-165; ders., A History of the Classical Greek World 478-323 BC.Maiden/Oxford 2006; Geoffrey Emest Maurice de Sainte Croix, The Origins of thePeloponnesian War. London 1972; John B. Salmon, Wealthy Corinth. A History of theCity to 338 B. C. Oxford 1984; Raimund Schulz, Athen und Sparta. 3. Aufl. Darmstadt2008; Edouard Will, Le monde grec et l'Orient. Vol. 1: Le V· siecle (510-403). Paris1972; Michael Zahmt, Olynth und die Chalkidier. Untersuchungen zur Staatenbildungaufder Chalkidischen Halbinsel im 5. und 4.Jahrhundert v. Chr. München 1971.3 Tatsächlich läßt Thuk. 1,35,1-4 die Kerkyräer Koalitionsfreiheit beanspruchen und incap. 40 die Korinther ihnen diese auf merkwürdige Art und Weise absprechen und zu-

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zwischen Korinth und seiner Kolonie Kerkyra fraglos ein anderes als das-jenige zwischen Athen und Kerkyra. Ein solcher Fall, daß eine ,blockfreie'Kolonie mit ihrer Mutterstadt brach und sich dem anderen Machtblock an-schloß, war im Vertrag nicht berücksichtigt worden (und zum Zeitpunkt desVertragsabschlusses auch nicht absehbar). Anders ausgedrückt: DieAufnahme Kerkyras in ein Bündnis mit Athen widersprach zwar nicht demBuchstaben, wohl aber dem Geist des Vertrages. Dieser hatte offensichtlichauch ein zweites nicht vorgesehen, nämlich die Möglichkeit, daß einer derVertragspartner ein Bündnis mit einem neutralen Staat schließen würde,der mit einem der anderen Vertragspartner im Kriege lag. Das mochtenauch die Athener empfunden haben, als sie mit den Kerkyräem lediglichein Defensivbündnis abschlossen und ihre Feldherm entsprechend instru-ierten, was diese später auch den korinthischen Feldherm gegenüber beton-ten. Tatsächlich griffen die von den Athenem entsandten Schiffe erst indem Moment in das Kampfgeschehen ein, als eine Landung der Korintherauf kerkyräischem Territorium drohte, und bewahrten dadurch die Kerky-räer vor einer Niederlage."

Die Korinther konnten zwar den Athenem keine eindeutige Vertragsver-letzung vorwerfen, sannen aber verständlicherweise aufRache, da nur dasEingreifen der athenischen Schiffe ihren schon sicher geglaubten Sieg überdie Kerkyräer verhindert hatte, und die Athener wußten natürlich um dieFeindschaft der Korinther ihnen gegenüber. Eine Möglichkeit, den Athe-nern im eigenen Herrschaftsbereich Schwierigkeiten zu bereiten, bot sichvon der auf dem Isthmos der Pallene gelegenen korinthischen Kolonie Po-teidaia aus an, die trotz ihrer Zugehörigkeit zum Seebund immer noch Be-ziehungen zu ihrer Mutterstadt unterhielt und Jahr fur Jahr von dort Beamteerhielt. Angesichts der Erbitterung der Korinther fürchteten die Athener,

gleich den Athenern Vertragsbruch vorwerfen, wenn sie die Kerkyräer als Bündneraufnähmen. Daß letzteres sachlich nicht stimmt, leuchtet sofort ein, und so besteht in derForschung weitgehend Übereinstimmung darüber, daß Athens Hilfeleistung fur Kerkyrazwar keinen Bruch des Friedensvertrags darstellte, aber als Affront gegenüber denPeloponnesiern angesehen werden konnte; vgl, z. B. Beloch, Griechische Geschichte(wie Anm. 2), 288f.; Kagan, Outbreak (wie Anm. 2), 232; de Sainte Croix, Origins (wieAnm.2), 71, 78; Salmon, Wealthy Corinth (wie Anm.2), 286ff.; Rhodes, Thucydides(wie Anm.2), 61f.; Charles William Fomara/I.oren J. Samons If, Athens from Cleis-thenes to Pericles. BerkeleylLos Angeles/Oxford 1991, 144f.; Hornblower, Commentary(wie Anm.2), 79, 82; Podlecki, Perikles (wie Anm. 2), 137; Karl-Wilhelm Welwei, Dasklassische Athen. Demokratie und Machtpolitik im 5. und 4. Jahrhundert. Darmstadt1999,149; Hornblower, Greek World (wie Anm.2), 109.4 Thuk. 1,44,1; 45,3; vg!. 49,4. 7; 52,3-53,4.

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deren Kolonie Poteidaia könne abfallen und die anderen Bundesstädte desthrakischen Bezirks mitreißen, und forderten im Herbst 433 von den Po-teidaiaten die Niederlegung der Südmauer ihrer Stadt, die Gestellung vonGeiseln und den Abbruch der Beziehungen zu Korinth (Thuk. 1,56,2). Die-se Forderungen zeigen zugleich, daß die Athener nicht nur mit möglichenWühlereien der Korinther im Gebiet ihrer Bundesgenossen rechneten, son-dern daß sie auch an der Bündnistreue der Poteidaiaten zweifelten. Dafürgab es gute Gründe. Kurz zuvor war Poteidaias Tribut von sechs auf fünf-zehn Talente erhöht worden. S Was immer der Anlaß dafür war, die Verbit-terung der Poteidaiaten ist verständlich. Ein drittes kam hinzu: Der Ma-kedonenkönig Perdikkas 11.,früher ein Freund und Verbündeter der Athe-ner, war jetzt ihr Feind geworden, weil sie mit seinen innermakedonischenGegnern, nämlich seinem Bruder Philippos und dem Elimioten Derdas, einBündnis geschlossen hatten. Aus Furcht vor den Athenern hatte er daherschon Verhandlungen mit den Spartanern aufgenommen, um die Athenerin einen Krieg mit den Peloponnesiern zu verwickeln. Gleichzeitig stellteer sich gut mit den Korinthern, um einen Abfall Poteidaias zu erreichen,und machte auch den Chalkidiern und Bottiaiern, deren Siedlungsgebietesich östlich bzw. nördlich von Poteidaia erstreckten, Vorschläge, gemein-sam mit den Poteidaiaten abzufallen (Thuk. 1,57,2-5). Schließlich hattenes die Athener nicht nur mit der Wut der Korinther, der mangelnden Zuver-lässigkeit der Poteidaiaten und der selbstverschuldeten Feindschaft desMakedonenkönigs zu tun; es muß ihnen auch klar gewesen sein, daß man-che jüngst auf der Chalkidischen Halbinsel getroffenen Maßnahmen bösesBlut gemacht hatten. In den Athener Tributquotenlisten finden wir seit denfrühen dreißiger Jahren zahlreiche Erhöhungen der Tribute, in der Regelauf das Eineinhalbfache. 6 Die Liste des Jahres 435/34 ist vollständig er-halten; sie enthält die Namen einiger neuer bzw. in den Seebund zurück-gekehrter Mitglieder. Noch deutlicher wird das Eingreifen der Athener imfolgenden Jahr 434/33: Jetzt erscheinen elf oder zwölf neue Bundesmit-

S Zum vermutlichen Zeitpunkt dieser Tributerhöhung (vielleicht schon 438/37, späte-stens jedoch 434/33 und damit aufjeden Fall vor dem Abschluß des DefensivbUndnissesmit Kerkyra) vgl. Zahrnt, Olynth (wie Anm. 2), 40f., 215f.; de Sainte Croix, Origins (wieAnm.2), 329.6 Vgl. die Listen und ihre Auswertung bei Zahrnt, Olynth (wie Anm. 2), 40tf. - Kagan,Outbreak (wie Anm. 2), 274tf., verbindet diese Tributerhöhungen mit einer von Perdik-kas ausgehenden Gefahr, deren Abwehr die Bundesstädte mitfinanzieren sollten; wennman bedenkt, daß die Athener für die Verschlechterung des Verhältnisses zum Ma-kedonenkönig verantwortlich waren, läßt Kagans Erklärung diese Tributerhöhungen fastwie ,Schutzgeldforderungen' erscheinen.

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M Zahrnt, Das Megarische Psephisma 597glieder, die ihre Existenz zumeist der Tatsache verdankten, daß man ausden Territorien schon bestehender Städte Gebiete herausgelöst und diese zuselbständigen und zugleich abgabepflichtigen politischen Einheiten ge-macht hatte. Daß die in den ursprünglichen Gemeinden Verbliebenen bis-weilen weiterhin für die bisherige Gesamtsumme einer Stadt aufkommenmußten, hat deren Sympathien für die Athener und deren Prinzip der Abga-benerhebung sicher noch stärker abgekühlt. 7

Es kam also einiges zusammen, um die Athener zu alarmieren. Sie be-schlossen daher, daß die Flotte, die ohnehin im Frühjahr 432 gegen Per-dikkas ausfahren sollte, in Poteidaia die geforderten Maßnahmen durch-führen und einem Abfall der übrigen Städte in diesem Gebiet vorbeugensollte (Thuk. 1,57,6). Die Poteidaiaten verhandelten in Athen über eineAufhebung der Forderungen, wandten sich aber auch an die Korinther undmit deren Vermittlung an Sparta, wo man ihnen versprach, in Attika einzu-fallen, wenn die Athener gegen Poteidaia zögen (Thuk. 1,58,1). Hierüberverging der Winter 433/32. Die im Frühjahr 432 aufgezeichnete Tributquo-tenliste ist fast vollständig erhalten und zeigt, daß die weitaus meisten Städ-te ihren Zahlungsverpflichtungen in vollem Umfang nachgekommen wa-ren.8 Kurze Zeit später indes schlossen die Poteidaiaten ein Bündnis mitden Chalkidiern und Bottiaiern und fielen gemeinsam mit diesen vonAthen ab. Nach dem Abfall überredete Perdikkas die Chalkidier, ihre amMeer gelegenen Städte niederzureißen und nach Olynth überzusiedeln;ferner bot er ihnen Siedlungsland um den Bolbesee herum an (Thuk. 1,58-59,1). Dieses Angebot wurde angenommen und südlich des Sees eine Stadtnamens Apollonia angelegt. Durch einen jüngeren Inschriftenfund wissenwir, daß damals auch Teile der Bottiaier in die Mygdonia übersiedelten und

7 Häufig wird diese ,Beitrittswelle' mit dem Wunsch dieser Gemeinden erklärt, Unab-hängigkeit von ihren Nachbarn zu erreichen und als Mitglieder des Seebunds in den Ge-nuß handelspolitischer Vorteile zu gelangen. Dabei werden allerdings die Möglichkeitenüberschätzt, die diese kleinen Städte, deren größte 3000 Drachmen und die übrigen ofterheblich weniger zahlten und die z. T. an der hafenarrnen Westküste oder im Binnenlandohne direkten Zugang zum Meer lagen, gehabt haben, weiter reichenden Handel zu trei-ben. Auch bleibt unerklärlich, warum dieser Wunsch so schlagartig, bei so vielen Städtengleichzeitig und hauptsächlich im thrakischen Bereich aufgetreten sein soll. Dieses ab-rupte Anwachsen sowohl der Mitgliederzahl als auch des Gesamtsteueraufkommens läßtvielmehr an eine von der Neugründung Amphipolis aus durchgeführte athenische Aktiondenken.8 Vgl. zu den Zahlungen dieses und der folgenden Jahre Zahrnt, Olynth (wie Anm.2),SOff.

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südwestlich von ApoIlonia eine Stadt namens Kalindoia gründeten''; beideStädte bestanden bis in die römische Kaiserzeit.

Der Umfang des Abfalls vom Frühsommer 432 läßt sich erfreulicher-weise genau ermitteln, da in der nächsten Tributquotenliste der thrakischeBezirk vollständig erhalten ist. Nicht gezahlt haben im Frühjahr 431 dieStädte der Westküste bis hinunter nach Poteidaia, die Städte der nördlichenSithonia, eine Stadt auf der Akte sowie sämtliche nicht lokalisierbarenStädte im Landesinneren. Der athenische Herrschaftsbereich war also imFrühsommer 432 auf die Pallene südlich von Poteidaia, den Südteil derSithonia, den größten Teil der Akte und die Ostküste der ChalkidischenHalbinsel beschränkt.I?

Die jetzt im Norden eintreffenden athenischen Feldherrn erkannten, daßihre Truppen für Unternehmungen sowohl gegen Perdikkas als auch gegendie Aufständischen zu schwach waren; sie wandten sich daher gegen Ma-kedonien, gegen das sie ursprünglich ausgesandt worden waren. Auchmochten sie hoffen, mit der Ausschaltung des Makedonenkönigs denHauptunruhestifter in diesem Gebiet beseitigen und die Rückgewinnungder abgefallenen Städte erleichtern zu können. Zudem standen sie beimKampf gegen Perdikkas nicht allein, sondern wurden von dessen innerma-kedonischen Gegnern Philippos und Derdas unterstützt, die ihn von Ober-makedonien aus angriffen (Thuk. 1,59,2). Hingegen sahen die Athener imSommer 432 keinen Anlaß, etwas gegen die Korinther zu unternehmen.Diese indes fürchteten für Poteidaia und schickten den Feldherrn Aristeussowie 2000 Freiwillige hierher, die vierzig Tage nach dem Abfall der Stadtin Thrakien eintrafen (Thuk. 1,60). Da die athenischen Truppen nur 1000Mann stark waren, entsandten die Athener auf die Kunde vom Abfall derStädte und der Ankunft des korinthischen Hilfskontingents hin weitere2000 Hopliten. Gemeinsam bekämpften die Athener den Makedonen-könig, gelangten dann aber zu einer Übereinkunft mit ihm und wandtensich gegen die Aufständischen (Thuk. 1,61). Im Herbst 432 kam es nördlichvon Poteidaia auf dem Isthmos der Pallene zu einer für die Athener sieg-reichen Schlacht. Die Poteidaiaten wurden mitsamt ihren Hilfstruppen in

9 Vgl. Miltiades B. Hatzopoulos/Louisa D. Loukopoulou, Recherehes sur les marchesorientales des Ternenides (Anthernonte - Kalindoia), Vol. 1. Athen 1992, 71 tr.10 Die Liste des Jahres 431 verzeichnet zwar das im äußersten Nordwesten der Chalkidi-sehen Halbinsel gelegene Aineia sowie das ebenfalls am Thermaischen Golfzu suchendeSerme, doch dürften diese beiden zwischen dem Königreich Makedonien und dem Kerndes Aufstandsgebietes gelegenen Städte ursprünglich ebenfalls abgefallen. dann aber vonden im Sommer 432 in diesem Gebiet operierenden athenischen Truppen zurückerobertworden sein.

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der Stadt eingeschlossen. Der Makedonenkönig hatte sich inzwischen wie-der der Gegenseite angeschlossen und stellte damit erneut eine Bedrohungfur das den Athenern auf der Chalkidischen Halbinsel verbliebene Herr-schaftsgebiet dar (Thuk. 1,62-65).

Die Korinther hatten nicht nur auf eigene Faust Truppen nach Poteidaiageschickt 11, sondern, wie aus einer späteren Stelle bei Thukydides hervor-geht, den von Athen Abgefallenen auch Eide geschworen, und zwar nichtnur den Poteidaiaten, sondern auch denen, die sich zusammen mit diesenvon Athen losgesagt hatten (Thuk. 5,30,2f.). Allein durch diese Eideslei-stung hatten sie den Vertrag von 446/45 verletzt, in dem festgelegt wordenwar, daß kein Verbündeter abfallen und von der anderen Seite aufgenom-men werden dürfe. Die Entsendung von Truppen hatte diese Vertragsver-letzung nur sichtbar gemacht, und diese Truppen waren jetzt in Poteidaiaeingeschlossen. Formal gesehen ist es gleichgültig, ob das athenische Vor-gehen gegen Poteidaia gerechtfertigt war oder nicht; daran änderte auchdas Mutterstadt-Kolonie- Verhältnis nichts.R Und selbst wenn man dieses,wie es bisweilen in der Forschung geschieht, zugunsten der Korinther insSpiel bringt und deren Eintreten für ihre Kolonie für rechtmäßig erklärt,bleibt die Tatsache, daß die Korinther nicht nur ihre Kolonisten, sondernauch die Chalkidier und Bottiaier aktiv beim Abfall von Athen unterstütztund damit eindeutig den Vertrag von 446/45 verletzt hatten. Daß dieAthener formal im Recht waren, wie immer man die Art ihres Vorgehenseinschätzen mag, macht auch verständlich, warum die Vorfälle um Potei-daia bei den im Winter 432/31 geführten Verhandlungen zwischen Spartaund Athen keine herausragende Rolle spielten, wohl aber von den Korin-thern propagandistisch verwandt wurden .. Auf deren Betreiben kam es nämlich im Herbst 432 zu einer Ver-

sammlung von Abgesandten verschiedener Staaten in Sparta (Thuk. 1,67).

11 Thuk. 1,66. Nach der vielbenutzten, im Arternis- Verlag erschienenen und von GeorgPeter Landmann besorgten Übersetzung hätten die Korinther "das nicht von Staatswegen unternommen", und schon Arnold JJYcombe Gomme, A Historical Commentaryon Thucydides. Vo!. I: Introduction and Commentary on Book I.Oxford 1945, 224f., hat-te die Hilfeleistung "privately, not officially" durchgeführt sein lassen. Dagegen hat ins-besondere de Sainte Croix, Origins (wie Anm.2), 82ff., gezeigt, daß die Korinther vonStaats wegen, aber unabhängig vom Peloponnesischen Bund gehandelt hatten; vg!. indiesem Sinne jetzt auch Homblower, Commentary (wie Anm. 2), 107.12 Athens Recht zum Vorgehen gegen Poteidaia und die in der Stadt stationierten ko-rinthischen Truppen betonen z. B. de Sainte Croix, Origins (wie Anm.2), 81 f.; Rhodes,Thucydides (wie Anm. 2), 161 f.; Karl-Wilhelm We/wei, Sparta. Aufstieg und Niedergangeiner antiken Großmacht. Stuttgart 2004, 199.

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Dabei waren die Korinther nicht die einzigen Beschwerdeführer. AuchAbgesandte der Aigineten waren erschienen und behaupteten, sie seiennicht autonom, wie im Vertrag vorgesehen sei; um welchen Vertrag es sichdabei handelt und was genau Anlaß und Inhalt ihrer Klagen war, muß trotzvieler neuerer Untersuchungen offenbleiben. Des weiteren beschwertensich die Megarer vornehmlich darüber, daß sie gegen den Vertrag von denHäfen im Herrschaftsgebiet der Athener und vom attischen Markt ausge-schlossen seien; diese Vorwürfe werden uns noch beschäftigen. Die Korin-ther fiihrten bei diesem Auftreten der Abgesandten in der spartanischenVolksversammlung offensichtlich Regie und traten als letzte auf. Poteidaiawird in der Rede, die Thukydides ihnen in den Mund gelegt hat (Thuk.1,68-71),lediglich zweimal, Kerkyra gar nur einmal genannt (68,4; 71,4),und diese Streitfälle sind in allgemeine Beschuldigungen eingebaut. Mitdem Vertrag von 446/45, den die Athener gebrochen haben sollen, wirdüberhaupt nicht argumentiert. Die Rede endet mit einem Aufruf an dieSpartaner, durch einen Einfall in Attika den Abgefallenen zu helfen, undder Drohung, sich andere Bundesgenossen zu suchen (71,4-6), womit si-cher die Argiver gemeint waren. In der Tat hätte eine korinthisch-argivi-sehe Allianz eine gewaltige Schwächung des Peloponnesischen Bundesund einen Prestigeverlust der Hegemonialmacht Sparta bedeutet. Ins-gesamt wird deutlich, daß Thukydides die Korinther mit allen möglichenMitteln wie Verleumdungen und Nützlichkeitserwägungen, ja sogar Dro-hungen und Erpressungen, nicht aber mit Rechtsgründen zum Krieg gegenAthen drängen läßt.

Bei der anschließenden Beratung der Spartaner habe die Mehrzahl derRedner die Ansicht vertreten, die Athener hätten bereits das Recht verletztund man müsse den Krieg unverzüglich beginnen (Thuk. 1,79,2). KönigArchidamos sei jedoch anderer Meinung gewesen und habe die Spartaneraufgefordert, wegen Poteidaia und der anderen Beschwerden der Bundes-genossen ein Schiedsgericht anzurufen (Thuk. 1,85,2). Allerdings stand erin Sparta mit seiner Ansicht ziemlich allein. Denn jetzt trat Sthenelaidas,einer der Ephoren, auf und hetzte die Spartaner zum Krieg (Thuk. 1,86). Ju-ristische Argumente fehlen in seiner Rede vollkommen. Vielmehr wirdeinfach behauptet, die Athener täten Spartas Verbündeten Unrecht. Spartadürfe diese nicht den Athenem ausliefern; ein Schiedsverfahren kommenicht in Frage. Tatsächlich machte sich die Mehrheit die Argumente derKorinther und der anderen Beschwerdeführer zu eigen - und setzte sichdamit über die Vertragslage hinweg (Thuk. 1,87). Die Feststellung, daß dieAthener den Vertrag gebrochen hätten, bedeutete allerdings noch nicht den

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sofortigen Krieg. Dazu bedurfte es noch eines gemeinsamen Beschlussesder Versammlung des Peloponnesischen Bundes.

Getreu seiner Vorstellung vom wahrsten Kriegsgrund waren es fürThukydides aber weniger die Reden der Bundesgenossen als SpartasFurcht vor einem weiteren Machtanstieg Athens, die die Spartaner habefeststellen lassen, daß die Athener den Vertrag gebrochen hätten (Thuk.1,88). Um dies verständlich zu machen, unterbricht er die Darstellung derVorgeschichte des Krieges und skizziert Entstehung und Ausbau derathenischen Macht bis hinab zum athenisch-samischen Krieg von 440/39,um abschließend festzustellen, daß es die Gefahrdung der eigenen Hege-moniestellung gewesen sei, die die Spartaner zum Krieg bereit gemachthabe (Thuk. 1,118,2).

Bei der nun folgenden Bundesversammlung waren die Korinther erneutdie treibende Kraft. Wieder gibt ihnen Thukydides eine längere Rede(Thuk. 1,120-124). Diese handelt hauptsächlich von der Bösartigkeit derAthener und den eigenen Erfolgsaussichten und geht erst gegen Ende aufdie Vertragslage ein, wobei ApolIon als Kronzeuge dafür herhalten muß,daß die Athener den Vertrag gebrochen hätten; schließlich wird an das do-rische Nationalgeftihl appelliert und zur Hilfeleistung fur die von Ioniernbelagerten dorischen Poteidaiaten aufgerufen. So wurde jetzt also von derBundesversammlung der Krieg beschlossen; dieser konnte aber, da manurigerüstet war, nicht sofort in Angriff genommen werden. Die Korintherhatten ihren Willen bekommen; die weiteren Initiativen lagenjetzt bei denSpartanern als der Hegemonialmacht des Peloponnesischen Bundes. In dennun folgenden Verhandlungen hatten es die Athener allein mit ihnen zu tun.

In Thukydides' Augen warder Krieg unvermeidlich und konnte folglichauch nicht durch Verhandlungen verhindert bzw. durch ein Nachgeben dereinen oder der anderen Seite vermieden werden. So hat er auch kein Inter-esse daran, die Diplomatie des Winters 432/31 detailliert nachzuzeichnen,muß aber zugeben, daß die Spartaner den Krieg vermeiden bzw. als letzt-lich unvermeidbar und damit ihren Kriegsbeschluß als berechtigt er-scheinen lassen wollten.P Als erstes läßt er die Spartaner von den Athenemverlangen, sie sollten die tluchbeladenen Alkmeoniden vertreiben (Thuk.1,126,2), und die Athener mit zwei Gegenforderungen antworten, die sichauf die Hinrichtung von Heloten, die im Poseidontempel am Kap Tainaron

13 Thuk, 1,126,1; es kann also keine Rede davon sein, daß, wie Hermann Bengtson,Griechische Geschichte von den Anfängen bis in die römische Kaiserzeit. 5. Autl. Mün-chen 1969,227, behauptet, "der Winter 432/1 ... von Scheinverhandlungen ausgefüllt"wurde.

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Zuflucht gesucht hatten, sowie auf den Tod des Regenten Pausanias bezo-gen (Thuk. 1,128,1-2). Perikles' Mutter war Alkmeonidin, und vielleichthofften die Spartaner tatsächlich, mit der Forderung nach Vertreibung desführenden Politikers dessen Stellung erschüttern zu können oder zumindesteinige Athener zum Nachdenken darüber zu bringen, was für ein Mann ander Spitze ihres Staates stand. Als Begründung für die spartanische For-derung gibt Thukydides an, daß Perikles damals der mächtigste Mann inAthen und Führer des Staates war, daß er den Spartanern in allem entgegen-zuwirken versuchte, daß er nicht zuließ, daß man sich ihren Forderungenbeuge, und daß er die Athener zum Kriege trieb (Thuk. 1,127). Wenn Peri-kies keine Nachgiebigkeit zuließ und die Spartaner deswegen seine Ver-treibung forderten, dann hatte es möglicherweise schon andere, von Thuky-dides nicht genannte und aufPerikles' Betreiben zurückgewiesene Forde-rungen gegeben. Im Zusammenhang mit der ersten von ihm geschildertenGesandtschaft weiß Thukydides allerdings nur von Forderung und Gegen-forderung nach Vertreibung von Verfluchten zu berichten. Diese genügtenihm auch, denn dadurch war es ihm möglich, in einem Exkurs vom Endedes Spartaners Pausanias und vom damit verknüpften Schicksal des Athe-ners Themistokles zu berichten (Thuk. 1,128-138).

Erst dann wendet Thukydides sich in 1,139 wieder ernsthaft, wenn auchsträflich knapp, den Verhandlungen zu und läßt die Spartaner mehrfachnach Athen kommen und den Abzug des Heeres von Poteidaia, die Gewäh-rung voller Autonomie für Aigina sowie "als das Allerwichtigste und mitder größten Entschiedenheit" die Aufhebung des Megarischen Psephismasverlangen; durch einen solchen Schritt könne ein Krieg vermieden werden.Von diesem Psephisma war im Vorfeld der entscheidenden Volksversamm-lung in Sparta schon einmal die Rede gewesen (Thuk. 1,67,4), doch läßtThukydides den damals auftretenden korinthischen Sprecher mit keinemWort darauf eingehen. In der Rede der Korinther auf der peloponnesischenBundesversammlung wird der athenische Beschluß gegen Megara mög-licherweise in 1,120,2 angedeutet, die Stadt aber nicht genannt. Das bedeu-tet nichts anderes, als daß Thukydides dieses Psephisma nicht in derselbenForm zu den Anlässen gerechnet hat wie die ausführlich behandeltenEreignisse um Kerkyra bzw. Poteidaia.t+ Dagegen spricht schon dessenPlatz innerhalb der Darstellung der Vorgeschichte: In 1,23,6 kündigt Thu-

14 Es ist also falsch, wenn beispielsweise Victor Ehrenberg, From Solon to Socrates.Greek History and Civilization during the Sixth and Fifth Centuries S.C. London 1968,253, das Psephisma zusammen mit der athenischen Hilfeleistung für Kerkyra und denEreignissen um Poteidaia als die von Thukydides genannten "immediate causes of the

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kydides an, erst einmal die beiderseits vorgetragenen Beschuldigungen zubehandeln, "derentwegen sie den Vertrag aufhoben und den Krieg began-nen". Dieser Gedanke wird in 1,66 wieder aufgenommen und festgestellt,daß das bisher Geschilderte die Vorgeschichte sei und das wiedergebe, wasAthener und Peloponnesier einander vorzuwerfen hätten; allerdings be-schränkt sich die Zusammenfassung auf die Vorgänge um Poteidaia, wo dieAthener in einer korinthischen Kolonie die dort anwesenden Korinther undPeloponnesier belagerten, nachdem letztere eine den Athenem tributpflich-tige Stadt zum Abfall gebracht und offen unterstützt hätten. Das also warenin Thukydides' Augen die Streitpunkte, die eine Entwicklung in Gangsetzten, die schließlich den Krieg auslöste. Der Weg dorthin führte übereine Versammlung von Abgesandten verschiedener Staaten in Sparta, dieanschließende Beratung der Spartaner, den Kriegsbeschluß der peloponne-sischen Bundesversammlung und die Verhandlungen des Winters 432/31.Bei diesen kommt das Megarische Psephisma wieder zur Sprache, und wieeine noch unbekannte Größe wird es erläutert, indem erneut der Inhalt desBeschlusses genannt wird: die Megarer seien ausgeschlossen von allenHäfen des Athenischen Reiches und vom Handel in Attika. Jetzt hören wirallerdings auch etwas über die Vorgeschichte des Psephismas: Die Athenerhätten den Megarem die Beackerung heiligen Bodens und strittiger Grenz-gebiete sowie die Aufnahme entwichener Sklaven vorgeworfen (Thuk.1,139,1-2).

Wir haben also bei Thukydides folgende Situation: Anfangs werdenausführlich zwei Streitpunkte erörtert, Kerkyra (Thuk. 1,24-55) und Po-teidaia (Thuk. 1,56-65), die dann aber durch das Megarische Psephisma inden Hintergrund gedrängt werden: Athens Hilfeleistung für Kerkyra spielteschon auf der peloponnesischen Bundesversammlung überhaupt keineRolle mehr, geschweige denn später bei den Verhandlungen in Athen. DieAufhebung der Belagerung von Poteidaia kam hier zwar zusammen mitanderen Beschwerdepunkten zur Sprache, scheint aber von den spartani-schen Gesandten derart halbherzig gefordert worden zu sein, daß Thuky-dides Perikles bei der Formulierung der Antwort an die Spartaner gar nichtdarauf eingehen ließ. Das ist auf den ersten Blick um so merkwürdiger, alsbekanntlich im Winter 433/32 den Poteidaiaten in Sparta versprochen wor-den war, die Peloponnesier würden in Attika einfallen, wenn die Athenergegen sie zögen. Nach allgemeiner Anschauung hätte dieses Versprechen

war" bezeichnet; damit steht er keineswegs allein, doch erübrigt sich eine Aufzählungweiterer einschlägiger Stellungnahmen.

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spätestens im Herbst 432, als die Belagerung der Stadt begann, eingelöstwerden müssen; statt dessen mußten die Spartaner jetzt überhaupt erstdurch die Korinther zu Beratungen mit ihren Bündnern veranlaßt werden.nDas erscheint als ein merkwürdiges Verhalten und nicht dazu angetan, dasVertrauen in die Zuverlässigkeit der Spartaner zu stärken. Dieser bisweilengegen sie erhobene Vorwurf ist unbegründet: Als die Poteidaiaten im Win-ter 433/32 in Sparta verhandelten, taten sie das in Erwartung des für diefolgende Feldzugssaison drohenden militärischen Eingreifens der Athener,und für diesen Fall versprachen die Spartaner einen Einfall in Attika.ts In-zwischen aber waren die Verhandlungen zwischen Poteidaia, Chalkidiern,Bottiaiern und Perdikkas weitergegangen, und es kam noch vor dem Ein-treffen der athenischen Flotte im Norden zu zahlreichen Abfällen. Damithatten nicht die Athener, sondern ihre ehemaligen Bundesgenossen mit denfeindseligen Handlungen begonnen, und eine Hilfeleistung für diese, zu-mal in der Form eines Angriffs auf Athen, wäre ein eindeutiger Bruch desVertrages von 446/45 gewesen. Dazu waren die Spartaner nun doch nichtbereit; allerdings hatten sie nicht verhindern können, daß sich die Korintherdurch die Entsendung des Aristeus und der ihm mitgegebenen Truppenüber die Vertragslage hinwegsetzten.

Kehren wir zurück zu den Verhandlungen des Winters 432/31. Eine letz-te spartanische Gesandtschaft brachte einzig folgendes vor: "Der Friedekann erhalten bleiben, wenn ihr den Hellenen die Autonomie zurückgebt"(Thuk. ],139,3). Nach Ansicht vieler Forscher hatte diese Autonomiefor-derung nur eine propagandistische Funktion und habe sich entweder anAthens Untertanen oder an die übrigen Griechen, die Sparta für seinenKrieg gegen Athen habe gewinnen wollen, oder gar an die athenische Op-position gegen Perikles bzw. eine sogenannte Friedenspartei in der Stadtgerichtet.'? Andere wiederum sehen hierin die ultimative Forderung, den

15 So hätten sich beispielsweise die spartanischen Versprechungen "als leeres Gerede"erwiesen (Welwe;, Das klassische Athen [wie Anm. 31, 146) bzw. hätten die spartanischenVerantwortlichen "in höchstem Maße verantwortungslos" gehandelt (ebd. 152). AuchLazenby, Peloponnesian War (wie Anm.2), 26, und Rhodes, History (wie Anm.2), 84,stellen fest, daß die Spartaner ihr Versprechen nicht eingehalten hätten, ohne allerdingsihr Verhalten zu bewerten.16 Richtig erkannt von Salmon, Wealthy Corinth (wie Anm. 2),294, der den Poteidaiatenvorwirft, das Versprechen falsch gedeutet zu haben, und die Spartaner vom Vorwurf desWortbruchs freispricht.17 Vgl. z. B. Busolt, Griechische Geschichte (wie Anm. 2), 847f.; Will, Le monde grec(wie Anm. 2), 305; Salmon, Wealthy Corinth (wie Anm. 2), 302f.; Wolfgang Will,Thuky-dides und Perikles. Der Historiker und sein Held. Bonn 2003, 181; Lazenby, Peloponne-

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Seebund aufzulösen.P Letzteres wäre wirklich illusorisch gewesen undhätte gezeigt, daß die Spartaner überhaupt nicht mehr verhandeln, sondernden Krieg wollten, fur den sie aber noch Monate später nicht gerüstet wa-ren. Wir müssen vielmehr davon ausgehen, daß die Spartaner immer nochernsthaft verhandelten, und ebenso davon, daß in einem solchen FallForderungen nicht einseitig erhöht, sondern einander angeglichen werden.Somit muß sich hinter der Forderung nach Autonomie der Seebundmit-glieder eine weniger radikale Intention verbergen. Bekanntlich maßten sichdie Athener spätestens seit der Mitte des 5. Jahrhunderts das Recht an, Ver-ordnungen zu erlassen, die fur alle Bundesgenossen Gesetzeskraft besa-ßen.'? Nehmen wir Autonomie als die Freiheit, über innere Angelegen-heiten ohne Eingriffe von außen entscheiden zu können, dann mögen dieSpartaner folgendes beabsichtigt haben: Wenn die Athener schon nicht be-reit waren, von sich aus und für sich das Megarische Psephisma aufzu-heben, dann sollten sie wenigstens ihren Bündnern die Möglichkeit geben,sich nicht mehr durch diesen Beschluß gebunden zu fühlen und den Mega-rem ihre Häfen zu öffnen.s?

Im Anschluß an das Auftreten der spartanischen Gesandten fand eineVolksversammlung statt, in der ein für allemal über die den Spartanern zuerteilende Antwort beraten werden sollte, wobei nach Thukydides' Wortendie Meinungen durchaus geteilt waren: Die einen hielten den Krieg für not-wendig, während andere die Ansicht vertraten, wenn das Psephisma demFrieden im Wege stehe, solle man es aufheben; auch das zeigt, daß die zen-trale Forderung, deren Ablehnung oder Annahme über Krieg oder Frieden

sian War (wie Anm. 2), 29; Gustav AdolfLehmann, Perikles. Staatsmann und Stratege imklassischen Athen. München 2008, 222.18 Z. B. Alfred Heuß, Hellas. in: Propyläen Weltgeschichte. Bd.3: Griechenland. Diehellenistische Welt. Frankfurt am MainlBerlin 1962.305; von Fritz, Die griechische Ge-schichtsschreibung (wie Anm. 2),651 f.; Kagan, Outbreak (wie Anm.2), 327; RaphaelSealey, A History of the Greek City States ca. 700-338 B.C. BerkeleylLos Angeles!London 1976, 320; W. George Forrest, A History of Sparta 950-192 B.C. 2. Aufl.London 1980, 110; Thomas Figueira, Autonomoi kata tas spondas (Thucydides 1.67.2),in: BICS 37,1990,73.19 Vgl, zu diesen .Jeges generales" nur Wolfgang Schul/er, Die Herrschaft der Athenerim Ersten Attischen Seebund. BerlinlNew York 1974, 106ff. (mit ausdrücklicher Erwäh-nung des Megarischen Psephismas), 127, ISO, 167, 171f.20 Diese Bedeutung der Autonomieforderung wurde richtig erkannt von Terry E. Wick,Thucydides and the Megarian Decree, in: AC 46, 1977, 85ff., der zugleich betont, daß dieSpartaner jetzt schon nicht mehr auf einer generellen Aufhebung des Psephismas be-standen, sondern nur seine Gültigkeit fur die athenischen BundesgenossenlUntertanenbeseitigt wissen wollten.

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entschied, diejenige nach Annullierung des Megarischen Psephismas war(Thuk. 1,139,4). Die Spartaner können nichts darüber Hinausgehendesgefordert haben. Damit stimmt die Rede überein, die Thukydides Periklesin 1,140-144 in den Mund legt und von der in Unserem Zusammenhang nurder Anfang und das Ende wichtig sind: Erneut fordert Perikles die Athenerauf, den Spartanern nicht nachzugeben. Schon lange sei ja deutlich, daß sieauf Athens Verderben sännen. Denn das im Friedensvertrag vorgeseheneund von den Athenern angebotene Schiedsverfahren lehnten sie ab. Stattdessen kämen sie mit Beschwerden und schließlich sogar mit Befehlen:Die Athener sollten ihre Truppen von Poteidaia abziehen, den Aiginetendie Unabhängigkeit gewähren, das Megarische Psephisma autbeben undjetzt sogar die Hellenen frei entscheiden lassen. Das Megarische Psephis-ma möge zwar in den Augen vieler Athener eine Kleinigkeit und seineAutbebung im Interesse des Friedens notwendig sein, aber ein Nachgebenin dieser Frage ziehe weitere und weitergehende Forderungen der Gegen-seite nach sich (Thuk. 1,140,2-5). Auch hier steht also das Megarische Pse-phisma im Mittelpunkt und spielen Poteidaia und Aigina nur eine unterge-ordnete Rolle. Nachdem Perikles den Athenern die Notwendigkeit, sich indieser Situation für den Krieg zu entscheiden, vor Augen gestellt hat,spricht er ausführlich über die Machtmittel der Gegner und entwickelt kurzseinen Kriegsplan. Schließlich schlägt er die zu erteilende Antwort vor(Thuk. 1,144,2): Eine Aufhebung des Megarischen Psephismas komme nurin Frage, wenn die Spartaner auf ihre von Zeit zu Zeit durchgefiihrtenFremdenausweisungen verzichtetenü; den Bundesstädten könne Auto-nomie nur gewährt werden, wenn sie diese schon beim Abschluß desFriedens von 446/45 besessen hätten22 und wenn auch die Spartaner ihrenBündnern volle Entscheidungsfreiheit einräumten-J; schließlich wird dieForderung nach einem Schiedsgericht erhoben. Krieg würden die Athenernur führen, wenn sie angegriffen würden. Perikles' Antrag wurde in dieser

21 Indem Perikles den Erlaß des Megarischen Psephismas mit den spartanischen Frem-denausweisungen gleichsetzt, macht er es gleichsam zu einer ,inneren Angelegenheit', indie sich andere ebensowenig einzumischen hätten wie in die Politik der SpartanerFremden gegenüber.n Auch das zeigt, daß die Forderung der Spartaner nicht auf die Auflösung des Seebundsabzielte, sondern auf das Selbstbestimmungsrecht der athenischen BUndnerlUntertanen,das schon vor446f45 verlorengegangen war.23 Diese Forderung zielt offensichtlich auf die Tatsache, daß Kriegsbeschlüsse derpeJoponnesischen Bundesversammlung, wenn ihnen ein entsprechendes Votum der spar-tanischen Volksversammlung vorausgegangen war, alle Bundesmitglieder banden, wo-durch also auch deren Autonomie eingeschränkt war.

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Form zum Beschluß erhoben und den spartanischen Gesandten die ent-sprechende Antwort erteilt.

Perikles hatte die Athener ermahnt, den Spartanern nicht nachzugeben,um nicht sehr bald mit weitergehenden Forderungen konfrontiert zu wer-den. Ähnliche Gedanken läßt Thukydides ihn auch in einer im zweitenKriegsjahr gehaltenen Rede äußern. Vorausgegangen war ein Stimmungs-umschwung in Athen, hervorgerufen durch den zweimaligen Einfall derPeloponnesier und die in diesem Jahr ausgebrochene Pest. Hierdurch seiendie Athener anderen Sinnes geworden und hätten Vorwürfe gegen Perikleserhoben, er habe sie zum Krieg überredet und durch seine Schuld sei all dasUnglück über sie gekommen. In dieser Situation läßt Thukydides Perikleseine Volksversammlung einberufen und eine längere Trostrede halten, inder er auch die seinerzeit auf sein Betreiben hin zustande gekommene Ent-scheidung für den Krieg rechtfertigt; er tut dies mit ähnlichen Worten wiein seiner ersten Rede (Thuk. 1,2,61,1).

Damit kommen wir zu den nach Kriegsausbruch geführten Diskus-sionen. Wohl noch zu Lebzeiten des Perikles hat der Dichter Kratinos ineiner nicht erhaltenen Komödie mit dem Titel .Dionysalexandros" diesenStaatsmann mit deutlichen Anspielungen als den Urheber des gerade aus-gebrochenen Krieges bezeichnet. Diesen Gedanken hat Aristophanes inseinen im Jahr 425 aufgeführten .Achamern" aufgegriffen. In diesemStück hat ein Bauer namens Dikaiopolis vom Krieg die Nase voll und weißsich für seinen Hof einen Separatfrieden mit den Spartanern zu besorgen.Das war ein gewagtes Thema in den Augen der Kriegspartei, die durch denKöhlerchor der Acharner repräsentiert wird, alte Marathonkämpfer, die inihrem langen Leben nichts vergessen, aber auch nichts hinzugelernt hatten.Anderen hingegen sprach Aristophanes sicher aus dem Herzen. Man standim sechsten Jahr eines blutigen Krieges und hatte zwei Pestepidemien so-wie vier Invasionen der Feinde hinter sich. Die Landbevölkerung warevakuiert, in der Stadt in Notquartieren untergebracht und zwischen denLangen Mauem zusammengepfercht; ihre Höfe waren verwüstet, ihrentäglichen Nahrungsbedarf, den sie sonst selbst produzierten, mußten sieteuer erstehen. Und an all dem sollen allein die Spartaner schuld gewesensein. In dieser Situation mußten doch Fragen aufkommen: Stimmt diesePropaganda überhaupt? Oder ist die Schuld an diesem Elend nicht odernicht auch bei den politisch Verantwortlichen in Athen zu suchen? Sicherhatte man sich schon Gedanken über das Megarische Psephisma und Peri-kies' Rolle bei seinem Zustandekommen und bei seiner Verteidigunggemacht. Kehren wir zu Dikaiopolis und seinem Sonderfrieden zurück!

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Natürlich bekam er große Schwierigkeiten mit seinen Mitbürgern, die denSpartanern Eid- und Treubruch vorwarfen, und mußte sich ausführlich ver-teidigen:

»Nun denn! - Die Sparter haß' ich, mag Poseidon,Ihr Gott aufTainaron, mit einem ErdstoßDie Häuser allen auf die Köpfe schmettern!Auch meine Reben haben sie verwüstet.Indes, warum - ich rede hier vor Freunden-Verklagen wir die Sparter ganz allein?In unsrer Mitte, Bürger - nicht das Volk,Beileibe, nein, ich meine nicht das Volk -,Hier, sag' ich, gab es Burschen - schlechte Münze,Gefälschtes Lumpengeld, hier eingeschwärzt:Durchschnüffelt haben sie den MegaremDie Jacken; wo sie eine Gurke sahn,Ein Häschen, Ferkel, Knoblauch oder Salz,Gleich war's ,aus Megara' und konfisziert.Doch das sind Bettelein, und hier nichts Neues.Nun stahlenjunge Burschen, die zuvielGebechert, die Simaitha weg, die MetzeAus Megara; in brünst'gern Schmerz erhitzt,Entführten drauf die Megarer zwei HurenAspasiens. So brach das KriegsgewitterDenn los in Hellas dreier Metzen wegen:Im Zorn warf der Olympier PeriklesMit Blitz und Donner Hellas durcheinander,Erließ Edikte, ganz im Skolienstil,Und schloß die Megarer von Land und Meer,Von allen Märkten, allen Häfen aus.Die Megarer verspürten endlich Hunger,Und suchten Hilf' in Sparta wider diesVerbot, erlassen dreier Metzen wegen.Man bat uns oft, allein wir hörten nicht.Kein Wunder, gab's am Ende Schildgerassel.,Mit Unrecht!' sagt ihr. Nun, was war denn Recht?"24

Aristophanes gibt hier sicher eine damals in Athen weit verbreitete Mei-nung wieder, nach der das Megarische Psephisma die entscheidendeBedeutung für den Ausbruch des Krieges hatte. Das Psephisma hatte Peri-kies durchgebracht und dann verteidigt. Also war er schuld am Krieg. Nurwenn Aristophanes voraussetzen konnte, daß seine Zuschauer derartige

24 Aristophanes, Die Achamer, in: ders., Sämtliche Komödien. Übers. v. Ludwig Seeger,bearb. v. Hans-Joachim Newiger u. Peter Rau. München 1976, 509fT.

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Überlegungen schon einmal gehört oder gar selbst angestellt hatten, war esmöglich, eine ins Komische übersteigerte Version des Zustandekommensdes Megarischen Psephismas bühnenwirksam vorzutragen. Hierfür ist ty-pisch, daß nicht nur Perikles, sondern auch seiner Frau Aspasia die Schuldgegeben wird, weil sie nach dem Verlust zweier Prostituierter Perikles dazugebracht habe, wegen Geschäftsschädigung einen Handelskrieg gegen dieMegarer zu eröffnen; auch könnte die Geschichte vom gegenseitigen Raubleichter Damen eine Persiflage auf den Anfang von Herodots Werk sein, indem die Feindschaft zwischen Asien und Europa auf gegenseitige Frauen-raube zurückgefiihrt wird. Dort handelte es sich allerdings um Königstöch-ter wie Europa, Medea und Helena, hier ist von wechselseitigem Hurenklaudie Rede. Das wären die komischen Zusätze, während das Folgende weit-gehend der Darstellung bei Thukydides entspricht: Als die Spartaner wäh-rend der Verhandlungen des Winters 432/31 mit der größten Entschieden-heit erklärten, der Krieg sei vermeidbar, wenn der Beschluß über die Mega-rer aufgehoben würde, sich Perikles ebenso entschieden dagegen aus-sprach. Ähnliches hören wir jetzt bei Aristophanes: Die Megarer suchtenHilfe bei den Spartanern; diese verhandelten mehrfach mit den Athenernüber eine Aufhebung des Beschlusses; die Athener gaben nicht nach, undes kam zum Krieg. An diesem war Perikles schuld, und zwar infolge desvon ihm durchgebrachten und dann hartnäckig verteidigten MegarischenPsephismas.

Im Frühjahr 421 brachte Aristophanes das Stück "Der Frieden" auf dieBühne. Hier hat der wackere Dikaiopolis in der Person des WeinbauernTrygaios einen würdigen Nachfolger gefunden; dieser benutzt einen rie-sigen Mistkäfer als Reittier, um auf ihm in den Himmel zu gelangen undZeus zu fragen, was dieser mit den kriegsgeplagten Hellenen noch vorhabe.Er trim allerdings nur Hermes an und erfährt von ihm, daß sich die Götterin höhere Ätherregionen zurückgezogen hätten und daß Polemos, die Ver-körperung des Krieges, die Friedensgöttin Eirene in eine Höhle gesperrthabe. Glücklicherweise ist Polemos anderweitig beschäftigt, und so ruftTrygaios die Griechen herbei, die als Chor erscheinen, und sorgt dafür, daßdie Eirene aus der Höhle gezogen wird. Als dies gelungen ist, wendet sichder Chor an Hermes, der ihn folgendermaßen über das Verschwinden derFriedensgöttin aufklärt:

"Hört, ihr weisen Bauersleute,und beherzigetmeinWort,Wennihr gründlichwollt erfahren,wie sie euch abhandenkam!Ihr den ersten Stoßgegebenhat der arme Phidias.Darauf Perikles- weil ihm bangte vor des FreundesMißgeschick.

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Weil er euer Treiben kannte, eure bissige Natur-,Nur um sich zu sichern, steckt' er selber unsre Stadt in Brand,Warfhinein den kleinen Funken: das megarische Edikt,Blies sie an, des Krieges Flamme, daß in Hellas allem VolkNah und fern vor Rauch die Augen überliefen, hier wie dort.Solches hörte kaum der Weinstock, sieh, da fuhr er prasselnd auf,Und die Fässer, eins aufs andre zornig polternd, schlugen sich,Und kein Ende war des Haders: und die Göttin war entflohn!"

Trygaios kann sein Erstaunen nicht verbergen:

,,Also hat uns, beim ApolIon, niemand noch das Ding erklärt:Sie und Phidias, wie kommen die zusammen? Das ist neu!"

Auch der Chor muß eingestehen:

,,Ja, das erste, was wir hören! - Darum ist sie wohl so schön,Weil verwandt mit ihm? Oh, unsereiner weiß noch vieles nichU"2s

Auch wenn der Chor aus Griechen aller Stämme bestand, werden in er-ster Linie die Athener angesprochen, wie aus folgenden Versen hervorgeht:"Weil er euer Treiben kannte, eure bissige Natur -, Nur um sich zu sichern,steckt' er selber unsre Stadt in Brand." Wie in den Acharnern wendet sichalso der Sprecher unmittelbar an das Publikum und teilt diesem des Dich-ters Vorstellungen mit. Wieder sind das Megarische Psephisma und der fürdieses verantwortliche Perikles schuld am Kriege. Nur hatte es diesmaldamit begonnen, daß dem Bildhauer Phidias Ungemach drohte. SeinFreund Perikles bekam es daraufhin mit der Angst, in die Angelegenheitverwickelt zu werden. Er veranlaßte daher das Psephisma, jenen Funken,der Athen und ganz Griechenland in Brand steckte. Das ist eine Variante zuder in den Achamem vorgetragenen Geschichte, nach der das PsephismaAspasia und ihrem Bordell zuliebe erlassen worden war, und sowohl Try-gaios als auch der Chor müssen zugeben, bis zum elften Kriegsjahr von die-ser Erklärung des Kriegsausbruchs noch nichts gehört zu haben. Das machtdiese Version hinsichtlich ihres Wahrheitsgehalts überaus verdächtig. Tat-sächlich hat Aristophanes hier um der Originalität willen zwei damals nochbekannte Tatsachen - den wohl in der ersten Hälfte der 430er Jahre gegenPhidias angestrengten Prozeß und das von Perikles zu verantwortende Pse-phisma - zusammengebracht und dadurch eine komische Wirkung erzielenwollen. Was hingegen in beiden Komödien übereinstimmt und daher fest-gehalten werden muß, ist die Bedeutung des Psephismas für den Kriegs-ausbruch. Diese muß den Zuschauern vertraut gewesen sein.

2S Aristophones, Sämtliche Komödien (wie Anm. 24), 603ff.

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Das gilt gleichermaßen für die Nachkriegszeit: Im Winter 392/91 stellteder Redner Andokides fest, daß die Athener der Megarer wegen in denKrieg geraten seien und die Verwüstung ihres Landes hätten hinnehmenmüssen.P' Auch die spätere bei Diodor und in Plutarchs Periklesbiographievorliegende Überlieferung stellt die Bedeutung des Psephismas für denKriegsausbruch heraus, macht Perikles für diesen Volksbeschluß verant-wortlich und unterstellt ihm die verschiedensten Motive, darunter auch dieAngst, in einen gegen Phidias angestrengten Prozeß hineingezogen zu wer-den. Bei beiden Autoren liegt weitgehend eine Mischung aus Thukydides'und Aristophanes' Angaben vor, angereichert durch zahlreiche zusätzlicheDetails unsicherer Herkunft und erst recht mangelnder Glaubwürdigkeit_27Es lohnt nicht, sich mit diesen späteren Berichten auseinanderzusetzen.

Demgegenüber berichtet Thukydides nur knapp über das MegarischePsephisma und sagt insbesondere nichts über den Zeitpunkt seines Zu-standekommens. Das hat zu mannigfachen Vermutungen geführt. Tenni-nus ante quem ist die erste Erwähnung im Herbst 432, als terminus postquem wird meist die Seeschlacht bei Sybota im Hochsommer 433 ange-nommen. Das aber würde bedeuten, daß sich die Athener in der gespanntenAtmosphäre nach ihrer Hilfeleistung für Kerkyra und etwa zeitgleich mitihrem Vorgehen gegen Poteidaia eine sehr viel stärkere Provokation gelei-stet hätten; auch müßte Thukydides, der die gegenseitigen Schuldzuwei-sungen zu nennen versprochen hatte, ausgerechnet diese nicht erwähnthaben. Nun haben wir aber inzwischen gesehen, daß das Psephisma garnicht zu den von Thukydides ausführlich berichteten öffentlich vorge-

26 Andok, 3,8; vg!. Aischin. 2,175. Aus dem Kontext geht nicht hervor, ob Andokides(und ihn zitierend Aischines) den Erlaß des Psephismas oder dessen AufrechterhaItungmeint.27 Diod. 12,38-41; Plut. Per. 29-32. Zum geringen Wert der nicht auf Thukydides zu-rückgehenden Nachrichten genügt es, auf Eduard Meyer, Forschungen zur Alten Ge-schichte. Bd. 2: Zur Geschichte des filnften Jahrhunderts v. Chr. Halle 1899, 299f., zu ver-weisen, demzufolge "Ephoros und die späteren Schriftsteller : .. lediglich die AufTassungdes Thukydides und die populäre Version zu einem sehr disparaten Konglomerat verbun-den und dabei vor allem Aristophanes' Eirene zugrunde gelegt" haben; vgl, auch denAnhang (326ff.): ,,Die Ursachen des Krieges nach Plutarch, Ephoros (Diodor) und Ari-stodemos" sowie Joachim Schwarze, Die Beurteilung des Perikles durch die attische Ko-mödie und ihre historische und historiographische Bedeutung. MUnchen 1971, 144fT. ImGegensatz zu diesen kritischen Urteilen über den Quellenwert der späteren Berichte er-freuen sich diese, besonders die einschlägigen Kapitel in Plutarchs Periklesbiographie, inden letzten Jahrzehnten wachsender Beliebtheit, was hier nicht weiter verfolgt zu werdenbraucht.

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brachten Beschuldigungen gehört; schon deswegen liegt es nahe, es auchzeitlich von diesen zu trennen.

In der Tat dürfte das Psephisma in die Zeit vor dem Abschluß des Defen-sivbündnisses mit Kerkyra fallen. Während sich die Beziehungen zwischenAthen und Korinth erst in der zweiten Hälfte der 430er Jahre rapide ver-schlechterten, muß das Verhältnis zwischen Athen und Megara seit demJahr 446 vergiftet gewesen sein. Vierzehn Jahre zuvor hatten sich die vonKorinth bedrängten Megarer den Athenem angeschlossen und damit derenstrategische Position gegenüber den Staaten der Nordostpeloponnes ent-schieden verbessert. Jahrelang hatten die Athener Pagai und Nisaia, diebeiden Häfen der Megaris, nutzen und ihren Aktionsradius bis in den Ko-rinthischen Golf ausweiten können; diese Stützpunkte waren ihnen auchnach dem Waffenstillstand des Jahres 451 erhalten geblieben. Aber im Jahr446 fielen die Megarer gerade in dem Moment von den Athenem ab, alsdiese auf Euboia engagiert waren, machten die im Lande stationiertenathenischen Besatzungen zum großen Teil nieder und konnten auch nurteilweise wieder unterworfen werden. Vielmehr rückte als Antwort auf denathenischen Rückeroberungsversuch ein peloponnesisches Heer durch dieMegaris in die Ebene von Eleusis ein. Der bald danach abgeschlossenedreißigjährige Friede beraubte die Athener sämtlicher Stützpunkte in derMegaris und auf der Peloponnes. Im Jahr 440 fiel die megarische KolonieByzantion etwa zeitgleich mit den Samiem von Athen ab, und die Megarerkönnen zu denjenigen peloponnesischen Staaten gehört haben, die damalsin Sparta für eine Hilfeleistung für die Samier und damit für ein Eingreifengegen die Athener eintraten.P Damit wird insgesamt verständlich, daß esin den letzten fünfzehn Jahren vor Ausbruch des Peloponnesischen Kriegesschwere Spannungen zwischen Athen und Megara gab; dazu paßt auch derBoykott megarischer Waren, von dem Dikaiopolis spricht und der nach sei-nen Worten dem Psephisma vorausgegangen, vielleicht sogar bald nachdem Abschluß des dreißigjährigen Friedens in Kraft getreten war.29 Die alsAnlaß für das darauffolgende Psephisma genannten Grenzzwischenfällekönnen durchaus in die erste Hälfte der 430er Jahre gehören, wie von

28 Thuk. 1,115,5; 40,S; 41,2.29 Aristophanes, Die Achamer (wie Anm.24), 515fT.; die Historizität eines derartigenWarenboykotts vertreten z. B. Busolt, Griechische Geschichte (wie Anm.2), 810fT.;Brunt, Megarian Decree (wie Anm.2), 275; Meiggs, Athenian Empire (wie Anm.2),430f.; de Sainte Croix, Origins (wie Anm. 2), 383fT.; Raphael Sealey, The Causes of thePeloponnesian War, in: CPh 70, 1975, 104; Legon, Megara (wie Anm. 2), 20Sf.; Podlecki,Perikles (wie Anm. 2), 141; Christophe Pebarthe, Fiscalite, empire athenien et ecriture:retour sur les causes de la guerre du Peloponnese, in: ZPE 129,2000,67.

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einigen ernstzunehmenden Forschern angenommen wird, auf jeden Fallaber in die Zeit vor der athenischen Hilfeleistung für Kerkyra. 30 Die Span-nungen zwischen den beiden Nachbarn können sich verschärft und zuÜbergriffen an der gemeinsamen Grenze geführt haben, als die Athenergegen das abgefallene Byzantion vorgingen, oder einige Jahre später, alsPerikles' Pontosexpedition athenische Kriegsschiffe in die Nähe megari-scher Schwarzmeerkolonien gebracht hatte.U In jedem Fall richtete sichdas Psephisma einzig gegen die Megarer, nicht gegen die Peloponnesierallgemein, wie schon die Tatsache zeigt, daß die Korinther ungehindert imBereich des Seebunds Flottenmannschaften rekrutieren konnten (Thuk.1,35,3f.). Allerdings waren von der gegen die Megarer verhängten Han-delssperre auch athenische Bundesgenossen betroffen, deren Häfen vonmegarischen Schiffen nicht mehr angelaufen werden durften und die nichtnur auf megarische Waren verzichten, sondern auch infolge des Fortfallsvon Hafengebühren finanzielle Einbußen hinnehmen mußten.

Bei einer Frühdatierung des Megarischen Psephismas erledigt sichnatürlich die häufig geäußerte Vermutung, Perikles habe durch seinen Er-laß einen ohnehin drohenden Krieg herbeizuführen oder gar angesichtsinnenpolitischer Schwierigkeiten "den drohenden Sturm nach außen abzu-

30 Wenn ich recht sehe, hat sich als erster Brunt, Megarian Decree (wie Anm. 2), 269fT.gegen die traditionelle Datierung des Psephismas ins Jahr 433 oder 432 gewandt, ohnesich aber auf ein genaues Jahr festzulegen. Das vermeiden auch von Fritz, Die griechischeGeschichtsschreibung (wie Anm.2), 633f., 636, 658; Schwarze, Beurteilung (wieAnm.26), 148ff. (der weitere Argumente für eine Frühdatierung anführt); Philip AustinStadter, A Commentary on Plutarch's Pericles. Chapel HilllLondon 1989,275; Horn-blower, Commentary (wie Anm. 2), ill, sowie Jon Edward Lendon, Athens and Spartaand the Coming of the Peloponnesian War, in: Loren J. Samons 11(Ed.), The CambridgeCompanion to the Age ofPericles. Cambridge 2007, 270£., die allesamt ebenfalls an dieZeit vor der athenischen Hilfeleistung für Kerkyra denken. - Legon, Megara (wieAnrn, 2), 210; Lazenby, Peloponnesian War (wie Anm. 2), 19f., und Rhodes, History (wieAnm. 2), 85, halten ein früheres Datum jedenfalls für möglich. - Elie Bar-Hen, Le decretmegarien, in: SCI 4,1978, 16fT., vermutet dabei folgende Entwicklung: Der Abfall Me-garas im Jahr 446 habe bei den Athenem starke Haßgefühle erzeugt, die zwar nicht zumAusbruch gekommen, aber im Jahr 440 verstärkt worden seien, als die Megarer denPeloponnesischen Bund gegen Athen hätten mobilisieren wollen. Das habe zu spontanenAusschreitungen gegen megarische Waren und in deren Folge zu megarischen Grenz-überschreitungen und der Aufnahme entflohener Sklaven geführt. Die athenische Ant-wort sei das im Jahr 439/38 erlassene Megarische Psephisma gewesen.31 Vgl. zu Perikles' Pontosexpedition, ihrer jetzt gesicherten Datierung ins Jahr 436 undden möglichen Auswirkungen auf die athenisch-megarischen Beziehungen Hornblower,Greek World (wie Anm. 2), 106; Lazenby, Peloponnesian War (wie Anm. 2), 17.

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lenken'v? versucht. Das schließt allerdings nicht aus, daß Perikles schonzur Zeit des kerkyräischen Hilfegesuchs und erst recht nach den Vorgängenum Poteidaia und den in Sparta gefaßten Beschlüssen einen Krieg mit denPeloponnesiern für unvermeidlich hielt und die Athener daraufvorbereitenwollte. In den Rahmen derartiger Vorbereitungen wird oft auch das Megari-sehe Psephisma gestellt, durch das die Megarer in ein Bündnis mit Athenhätten zurückgezwungen und die Landgrenze zur Peloponnes hätte gesi-chert werden sollen.33 Nach den Erfahrungen, die die Athener gegen Endedes Ersten Peloponnesischen Krieges in dieser Landschaft hatten machenmüssen, dürfte Perikles kaum gehoffi haben, mit einem erzwungenen An-schluß der Megaris ein sicheres Vorfeld gewinnen zu können; dieses Gebietwäre vielmehr eher das ,Vietnam der Athener' geworden.ö Hinfällig istbei einer Frühdatierung des Megarischen Psephismas schließlich auch Ro-nald P. Legons Vorschlag, dieses mit der Teilnahme megarischer Schiffeam zweimaligen Vorgehen der Korinther gegen Kerkyra zu verbinden unddarin den Versuch zu sehen, die Versorgung der Korinther mit Schiffbau-holz aus dem makedonisch-thrakischen Raum, das auf megarischen Schif-fen transportiert worden sei, zu verhindern.P

Mit Perikles ist sich die Mehrheit der Forscher darin einig, daß das fürdie Megarer erlassene Verbot mit den Bestimmungen des Friedens von446/45 vereinbar war, daß dieser also keine Klausel über die Handels-

32 So die Formulierung bei Belach, Griechische Geschichte (wie Anm.2), 296, für densich Perikles damals "in seiner leitenden Stellung erschüttert" gefühlt und daher seit demmit Kerkyra geschlossenen Bündnis ,,systematisch auf den Bruch mit den Peloponnesiemhingearbeitet" habe, so auch durch das Megarische Psephisma (ebd.). Vgl. gegen dessenDeutung als "innenpolitischer Befreiungsschlag" kurz Braunert, Ausbruch (wie Anm. 1),45f., der zur Widerlegung auf den Kriegsplan des Perikles verweist, mit dem dieser "eineungewöhnliche psychische und moralische Belastung der gesamten Bevölkerung inKauf' genommen habe, sowie ausführlicher jetzt Schulz, Athen und Sparta (wie Anm. 2),85ff.33 Vgl. z.B. ATL (wie Anm.2), 320f.; Sealey, History (wie Anm.18), 318; ders., AnAthenian Decree about Megara, in: Georgica. Greek Studies in Honour of GeorgeCawkwell. London 1991, 156; George Cawkwell, Thucydides and the PeloponnesianWar. London 1997,33; Podlecki, Perikles (wie Anm.2), 142; Lazenby, PeloponnesianWar (wie Anm. 2), 19.34 Infolge der Frühdatierung hinfällig und aus den Quellen auch nicht beweisbar ist dieThese von Brian R. Macdonald, The Megarian Decree, in: Historia 32, 1983, 38~ 10,hinter dem in der angespannten Lage des Jahres 432 erlassenen Psephisma hätten,,Athenian fears ofMegarian intervention in the numerous and strategically placed Mega-rian colonies in the Athenian Empire" (ebd. 385) gestanden.35 Legon, Megara (wie Anm. 2), 217ff.; vgl. auch schon ders., The Megarian Decree andthe Balance of Greek Naval Power, in: CPh 68,1973,161-171.

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M Zahrnt, Das Megarische Psephisma 615freiheit enthielt.w Folglich hätten die Megarer auch keinen Grund gehabt,sich über die gegen sie verhängte Handelssperre in Sparta zu beschweren;dort tauchten sie erst im Gefolge der Korinther auf - und diese hattenGründe, die Spartaner gegen die Athener aufzubringen, und nahmen sichdaher gerne des Anliegens ihrer Nachbarn an. Auch hat Thukydides diePentekontaetie nur bis zum Samischen Krieg geschildert und ist von dortunmittelbar zu den Ereignissen um Kerkyra und Poteidaia gesprungen.Dadurch hat er manches ausgelassen, was später nachgetragen wird, soz.B. die Gründung von Amphipolis.>? Ähnliches könnte für das Megari-sehe Psephisma gelten, das ebenfalls erst dort genannt wird, wo es wichtigwurde.

Auffällig ist allerdings, mit welcher Härte, ja Brutalität die GroßmachtAthen den kleinen Ruhestörer an ihrer Grenze zu demütigen suchte. Denndie verhängten Vergeltungsmaßnahmen standen sicher in keinem Verhält-nis zu dem von den Megarem möglicherweise angerichteten materiellenSchaden. Allerdings waren die Athener damals auch gegenüber ihrenBündnern nicht gerade zimperlich und fühlten sich als die unbestrittenenHerren des Meeres und des maritimen Handels. Dafür gibt es ein auf-schlußreiches zeitgenössisches Zeugnis: Unter den Schriften Xenophonsist eine Abhandlung über den Staat der Athener überliefert. Der Verfasserist unbekannt und hat in der Forschung die treffende Bezeichnung "Der alteOligarch" erhalten. Über die athenischen Handelspraktiken weiß dieserfolgendes zu berichten: "Den Reichtum der Griechen und der Barbarenkönnen die Athener ganz allein an sich ziehen. Denn wenn eine StadtÜberfluß an Schiflbauholz hat, wo kann sie es absetzen, wenn sie nicht denHerrn des Meeres dafür gewinnt? Ja, mehr noch, wenn eine Stadt Überflußan Eisen, Kupfer oder Flachs hat, wo kann sie das absetzen, wenn sie nichtden Herrn des Meeres dafür gewinnt? Gerade aus diesen Materialien erhal-

36 Thuk. 1,144,2; vg!. z. B. Beloch, Griechische Geschichte (wie Anm. 2),293; Gomme,Historical Commentary (wie Anm. 11), 227,449; Braunert, Ausbruch (wie Anm. I), 49f.;Kagan, Outbreak (wie Anm. 2), 266ff.; de Sainte Croix, Origins (wie Anm. 2), 294; Wick,Thucydides (wie Anm. 20), 89f.; Legon, Megara (wie Anm. 2),211; Rhodes, Thucydides(wie Anm.2), 162, 164; FomaralSamons, Athens (wie Anm. 3), 143; Ernst Baltrusch,Symmachie und Spondai: Untersuchungen zum griechischen Völkerrecht der archai-schen und klassischen Zeit (8.-5. Jahrhundert v. Chr.). BerlinlNew York 1994, 158Anrn.364, 220; Rhodes, History (wie Anm.2), 85; Lehmann, Perikles (wie Anm. 17),215. - Es wird zwar bisweilen behauptet, das Megarische Psephisma habe flagrant gegenbestehende Verträge verstoßen, ein durchschlagender Beweis hierfür aber nicht erbracht.37 Vgl, Homblower, Greek World (wie Anm. 2), 104f., zu "the Great Gap, roughly 439-434" in Thukydides' Werk.

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te ich auch meine Schiffe: Von dem einen Holz, von dem anderen Eisen,von dem Kupfer, von dem Flachs und von dem Wachs. Überdies werdendie Athener gar nicht erlauben, es an einen anderen Ort zu verfrachten _,sonst werden solche Konkurrenten ganz aus dem Seehandel verdrängt."38Die hier genannte Verdrängung aus dem Seehandel ist genau die Maß-nahme, die die Athener den Megarern gegenüber angewandt haben, und fürden Verfasser ist dies die normale Verhaltensweise des athenischen Demosgegenüber seinen Konkurrenten. Ähnliches zeigt auch ein Vertrag, den dieAthener möglicherweise in den 430er Jahren mit dem MakedonenkönigPerdikkas 11. abgeschlossen haben und in dem unter anderem bestimmtwird, daß makedonisches Schiftbauholz nur nach Athen ausgeführt werdendürfe.I?

Wichtiger als die Datierung des Psephismas ist seine Bedeutung für denKriegsausbruch. Diese geht nicht nur aus Thukydides' Darstellung hervor,auch in der Komödie sowie der späteren Historiographie steht es eindeutigim Vordergrund. Bei Aristophanes drohen die Megarer zu verhungern. Dasist sicher dichterische Übertreibung. Auch ist fraglich, ob eine vollständigeHandelsblockade überhaupt durchführbar war. Andere Staaten können fürdie Megarer eingesprungen sein, ganz abgesehen von der Tatsache, daßihnen der Landweg in die Korinthia und auf die Peloponnes sowie der See-weg nach Westen weiterhin ofTenstanden. Das ändert aber nichts an derTatsache, daß die Forderung nach Aufhebung der gegen die Megarer ver-hängten Handelssperre tatsächlich den entscheidenden Verhandlungs-gegenstand des Winters 432/31 dargestellt hat und daß sich diese Ver-handlungen gerade an Perikles' Weigerung, hier zurückzustecken, zer-schlugen. Es geht also abschließend darum, die unbedingte Forderung derSpartaner nach der Aufbebung des Psephismas und die ebenso strikteWeigerung der Athener bzw. des führenden Staatsmanns Perikles sinnvollin den Gesamtzusammenhang einzuordnen.

Der Kriegsbeschluß der Spartaner war nicht unwesentlich durch Rück-sichtnahme auf ihre Bündner herbeigeführt worden. Dabei waren dieSpartaner gar nicht zum Krieg gerüstet und verhandelten erst einmal. Beidiesen Verhandlungen ging es ihnen mehr darum, den Krieg überhaupt zuvermeiden, als die eigene Ausgangslage zu verbessern. Das ist jedenfallsdie sinnvollste Erklärung der Forderung nach Vertreibung des Perikles, der

38 [Xen.] Athen. Polit. 2,11-12.39 IG P 89; dieser nur fragmentarisch erhaltene Vertrag wird zwar meist ins Jahr 423/22,bisweilen sogar erst in die Zeit um 415 datiert, dürfte aber athenische Ansprüche schonder Vorkriegszeit widerspiegeln.

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keine Nachgiebigkeit zuließ. Es folgte die Forderung nach Abzug des Hee-res aus der Stellung vor Poteidaia; die Korinther hatten hierüber Beschwer-de geführt, und so durften die spartanischen Gesandten diesen Punkt inAthen nicht ganz unerwähnt lassen, haben aber auf dieser Forderung nichtweiter insistiert. Schließlich war das Recht zu sehr auf seiten der Athener.Ob dies auch im Falle Aiginas galt, bleibt ungewiß; deutlich ist nur, daß dieForderung nach Gewährung der Autonomie für die Insel von Perikles eben-so kommentarlos zurückgewiesen werden konnte wie diejenige nachAufhebung der Belagerung Poteidaias.

Damit war den Spartanern als den Verhandlungsführern nur das Megari-sehe Psephisma verblieben, das erstmals im Vorfeld der Volksversamm-lung in Sparta genannt worden war und das eine Politik offenbarte, vor de-ren Folgen die Korinther während der Kriegssitzung des Bundes gewarnthaben können (Thuk. 1,120,2). Selbst wenn hier keine direkte Anspielungauf das Psephisma vorliegen sollte, so sind doch Macht und Möglichkeitender Athener aufgrund ihrer überlegenen Stellung zur See deutlich ge-schildert. Deren Einsatz beeinträchtige die Ein- und Ausfuhr auch andererpeloponnesischer Staaten. Unter diesen würde die Störung ihres Handelsdie Spartaner mit ihren großen und fruchtbaren, beiderseits des Taygetosgelegenen Ebenen, die von nicht für Kriegsdienste benötigten Heloten be-wirtschaftetet wurden, am wenigsten treffen, wohl aber deren Bündner.Hinter der Forderung nach Aufhebung des Psephismas dürften neben denunmittelbar Betroffenen, also den Megarern, einem Bundesgenossen, denzu verlieren sich die Spartaner schon wegen dessen strategisch günstigerLage nicht erlauben konnten, auch andere Küstenstaaten des Peloponnesi-sehen Bundes, insbesondere die Korinther, gestanden haben. Thukydides1,118,2 stellt fest, daß den Spartanern der Geduldsfaden gerissen sei, weildie Macht Athens so augenscheinlich angestiegen sei und ihren Bundangetastet habe. Da konkrete Übergriffe gegen Mitglieder des Peloponne-sischen Bundes bisher nicht erfolgt waren, kann sich die letzte Feststellungnur auf die Schädigung der wirtschaftlichen Interessen eines der BündnerSpartas und auf die Schwierigkeiten beziehen, welche die Spartaner imeigenen Lager zu befürchten hatten, wenn sie den Athenern keine Konzes-sionen abrangen. Gerade dazu hatten sie sich sozusagen verpflichtet, als siedie Beschwerden der Megarer zur Chefsache machten und mit dem ganzenGewicht ihrer hegemonialen Stellung den Athenern gegenüber vertraten.Auch wenn das Psephisma nicht gegen den Vertrag von 446/45 verstieß, soließ sich aus diesem offensichtlich auch keine zweifelsfreie Berechtigungzu dieser Maßnahme ableiten. Hier sahen die Spartaner, die ihren Bündnern

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gegenüber unter Erfolgszwang standen, also noch Verhandlungsspiel-raum.40

So wird verständlich, warum die Forderung nach Aufhebung des Pse-phisrnas im Zentrum der Verhandlungen stand. In den Augen vieler Athe-ner war es eine Kleinigkeit, wohingegen Perikles vor einem Nachgebenselbst bei einer Kleinigkeit warnte und beschwörend von der Gefahrsprach, Zugeständnisse könnten als Furcht ausgelegt werden. Für Braunertentspricht eine solche Argumentation einem ausgesprochenen Prestige-denken, und er stellte als Arbeitshypothese die Frage auf, ob möglicherwei-se ein solches Prestigedenken den Krieg verursacht hat: "Auf ihr Prestigepflegen Staaten und Völker besonders dann bedacht zu sein, wenn sie esnicht nur mit einem Gegenüber, einem potentiellen Gegner zu tun haben,sondern wenn ihr Verhalten an exponierter Stelle von dritten Staaten beob-achtet wird, die möglicherweise aus ihren Beobachtungen Konsequenzenfür ihre Einstellung zu dem beobachteten Staat ziehen.r+' Bei der Aufspal-tung fast der gesamten griechischen Welt in zwei Machtsphären sei dies ge-nau die Situation der beiden Hegemonialmächte Athen und Sparta gewe-sen.

Ich greife diese Arbeitshypothese auf, auch wenn ich nicht vom Pre-stige, das es zu erhalten galt, sondern von der Autorität der jeweiligenHegemonialmacht spreche, die auf dem Spiel stand, und möchte abschlie-ßend zeigen, daß in der Tat in der damaligen Situation die Aufhebung desMegarischen Psephismas für die Athener unabsehbare Folgen haben konn-te. Die Abfalle im thrakischen Bereich hatten deutlich gemacht, daß AthensStellung als Beherrscherin eines Seereichs nicht mehr unbestritten undungefährdet war. Die abgefallenen Städte hatten zusammen etwa 35 Talen-te an Tributen aufgebracht, was fast 10% des damaligen Gesamtautkom-mens entsprach.V Fast die gleiche Summe stand auf dem Spiel, wenn derAbfall auch die übrigen Städte der Chalkidischen Halbinsel ergreifen soll-

40 Ähnlich Brunt, Megarian Decree (wie Anm. 2),277, demzufolge die beiden anderenForderungen (Poteidaia, Aigina) für die Athener in der damaligen Situation unan-nehmbar waren, während beim Megarischen Psephisma, das trotz mehrjährigen Be-stehens die Beziehungen zwischen den beiden Hegemonialmächten nicht entscheidendbeeinflußt hatte, noch am ehesten die Chance aufRücknahme bestanden hätte.41 Braunen, Ausbruch (wie Anm. 1), 48; von der "Wahrung der Seemacht und des Pre-stiges" bzw. von "Sorgen um die Stabilität des eigenen Bündnissystems" sowie insgesamteiner Atmosphäre .•. übersteigerten Prestigedenkens" spricht jetzt auch Schulz, Athenund Sparta (wie Anm. 2), 90f., 93.42 Zur Wichtigkeit der Chalkidischen Halbinsel für die Athener vgI. nur Meiggs,Athenian Empire (wie Anm. 2), 307f.

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te, ganz abgesehen von der Frage, welche Wirkungen diese Zahlungsver-weigerungen auf andere Bündner im thrakischen Bezirk oder anderwärtshaben mußten, wenn die Athener nicht energisch reagierten.

Einzelne Abfälle hatte es auch früher gegeben; wir wissen dies durch li-terarische Quellen von Naxos, Thasos, den Städten Euboias, Samos undByzantion und können darüber hinaus in den Athener Tributquotenlistendas vorübergehende oder dauernde Verschwinden von Städten verfolgen.Aber auch wenn es sich bei den erstgenannten abtrünnigen Bündnern umnicht unbedeutende Städte gehandelt hatte, so war doch deren Rückgewin-nung schon deswegen nur eine Frage der Zeit gewesen, weil sich dieseAbfälle jeweils isoliert ereignet und keine Resonanz bei anderen Bündnerngefunden, ja weil diese teilweise sogar die Athener bei der Unterwerfungder Abgefallenen unterstützt hatten. Die Hauptlast hatten indes jeweils dieAthener zu tragen; im Falle von Samos beispielsweise hatten die Kosten fürdie Belagerung der Stadt in etwa den Tributeinnahmen dreier Jahre ent-sprochen. Im Falle Poteidaias sollten es sogar über 2000 Talente werden,auch waren im Winter 432/31 etwa 4500 athenische Hopliten gegen dieStadt eingesetzt und damit nahezu ein Drittel der mobilen athenischenLandstreitkräfte im Norden gebunden. Der entscheidende Unterschied zufrüheren Abfallen lag aber darin, daß es sich diesmal nicht nur um ein grö-ßeres zusammenhängendes Gebiet abgefallener Städte handelte, sonderndaß es auch auswärtige Unterstützung für die Abtrünnigen gab. Die Auf-wiegelungsversuche des Makedonenkönigs Perdikkas konnten ebensoweitergehen wie die Erfolge der Aufständischen ansteckend wirken undweitere Gebiete der thrakischen Küste ergreifen.

Gerade der Makedonenkönig und seine Bedeutung für den Ausbruchdes Krieges werden meist unterschätzt; das beruht nicht nur darauf, daßman keinem makedonischen König vor Philipp II. einen entscheidendenEinfluß auf den Gang der griechischen Geschichte zuzugestehen bereit ist,sondern hängt auch mit einem Mangel an Informationen und der nichtimmer gebührenden Berücksichtigung der geographischen Gegebenheitenzusammen. So hat Thukydides innerhalb der Pentekontaetie nichts über dieim Jahr 437/36 erfolgte Gründung von Amphipolis gesagt, durch die denAthenern nach mehreren gescheiterten Versuchen endlich eine Festsetzungam unteren Strymon gelungen und der Zugriff auf die Edelmetallvorkom-men des Binnenlandes und das für die athenische Flotte notwendigeSchiftbauholz ermöglicht worden waren.v In diesem Gebiet kollidierten

43 Zur Gründung von Amphipolis und zur Bedeutung der Stadt für Athen vgl. nur ATL

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ohne Frage die athenischen mit den makedonischen Interessen, doch wardas Königreich damals aufgeteilt und herrschte in der Vorkriegszeit östlichdes Axios Perdikkas' Bruder Philippos. 44 Ausgerechnet mit diesem Philip-pos und dem Elimioten Derdas, der wie auch andere obermakedonischeFürsten dieser Zeit nach Unabhängigkeit strebte oder diese verteidigte,hatten die Athener spätestens im Jahr 433 ein Bündnis geschlossen und sichdadurch die Feindschaft des Makedonenkönigs zugezogen. Thukydidessagt nichts über die Gründe, die die Athener veranlaßt hatten, den Ma-kedonenkönig, der bis dahin ihr Freund und Verbündeter gewesen war(Thuk. 1,57,2), zugunsten seiner Rivalen aufzugeben, doch ist zu vermu-ten, daß die Athener am heute noch beeindruckenden Holzreichtum desBerglandes zwischen Axios und Strymon und an den bisaltischen Silber-minen und natürlich auch an einer Destabilisierung Makedoniens interes-siert waren, während umgekehrt Perdikkas bestrebt sein mußte, bestehendeTeilherrschaften aufzulösen und Rivalen auszuschalten. Wenn besagterPhilippos nun im Jahr 432 zusammen mit dem Elimioten Derdas vonWesten her in Makedonien einfiel, dann läßt das darauf schließen, daß eraus seiner Teilherrschaft vertrieben worden war. Auch die Landangebote inder Mygdonia zeigen, daß dem Makedonenkönig jetzt der Landweg nachOsten offenstand und daß er folglich sowohl die Kolonie Amphipolis alsauch die den Athenern verbliebenen Bündner auf der Chalkidischen Halb-insel bedrohen konnte. So wird auch verständlich, warum die athenischenTruppen im Sommer 432 sich als erstes gegen Therme wandten und dannPydna belagerten. Therme war eine Stadt Makedoniens und sicherte dessenVerbindung zum Gebiet der abgefallenen Poleis. Diese Verbindung mußteunterbrochen werden, dann konnte man sich gegen den Kern des Königrei-ches mit der Hauptstadt Aigeai wenden; aber dazu mußte man erst die pieri-sehe Küste sichern. Hier scheinen sich die Athener schon kurze Zeit vorherfestgesetzt und das nördlich von Pydna gelegene makedonische Methonein den Seebund aufgenommen zu haben, was Perdikkas zusätzlich erbitternmußte." Als dann aber der Korinther Aristeus mit Truppen nach Poteidaia

(wie Anm. 2), 308f.; Will,Le monde grec (wie Anm. 2), 288f.; Hornblower, Commentary(wie Anm.2), 98f.; ders.; Greek World (wie Anm.2), 106.44 Vgl. zu diesem Ernst Badian, From Plataea to Potidaea: Studies in the History and His-toriography of the Pentecontaetia. BaltimorelLondon 1993, 171 tT.: ..Thucydides and theArche of Philip",45 Methones Eintritt in den Seehund und die erste Veranlagung der Stadt werden zumeistins Jahr 434 datiert: vgl. z. B. ATL (wie Anm. 2),69, 136,319; Meiggs, Athenian Empire(wie Anm. 2), 308; Will, Le monde grec (wie Anm. 2), 289. - Methone war seit alters eine

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gekommen war, drohte eine Ausweitung der Abfälle auf die südliche undöstliche Chalkidische Halbinsel. Also einigten sich die Athener notgedrun-gen mit Perdikkas und wandten sich gegen das Zentrum der Aufständi-schen, auf deren Seite der Makedonenkönig schon wieder getreten war. Alldas war noch vor den entscheidenden Versammlungen in Sparta und denanschließenden Verhandlungen geschehen und hatte natürlich Einfluß aufdie Haltung mindestens des führenden Staatsmanns Perikles.

Was wir mit Hilfe inschriftlicher Zeugnisse sowie der thukydideischenDarstellung im Bereich der Chalkidischen Halbinsel und des unterenStrymon einigermaßen sicher fassen können, mag sich auch weiter östlichangebahnt und dort ebenfalls die athenische Stellung bedroht haben.w Vonden drei wichtigsten Küstenstädten östlich des Nestos zahlte Abdera imJahr 431 nur zwei Drittel des üblichen Tributs und sind Maroneia undAinos überhaupt nicht in den Tributquotenlisten verzeichnet; legt man dieletzten bezeugten Zahlungen dieser Städte zugrunde, so waren mindestens19, möglicherweise sogar 25 Talente fortgefallen. Allerdings muß offen-bleiben, welche Rolle hier jeweils die Unzufriedenheit der Bündner oderder Odrysenherrscher Sitalkes spielte, der damals den größten Teil desthrakischen Binnenlandes unter seiner Herrschaft vereinigt hatte.

Die Athener hatten in der Zeit des dreißigjährigen Friedens nicht nurihre Positionen im thrakischen Bereich ausgebaut, sondern auch in denWesten ausgegriffen, wo sie an der Stelle des einstigen Sybaris die pan-hellenische Kolonie Thurioi anlegten und durch Bündnisse mit verschiede-nen Griechenstädten und wohl auch einheimischen Dynasten Unteritaliensund Siziliens ihre Stellung sicherten. Diese war jetzt ebenfalls gefährdet,als im Jahr 434/33 Thurioi seine Verbindung mit Athen aufkündigte. WieThurioi wies auch Amphipolis eine gemischte Bevölkerung auf und wardamit leichter äußeren Einflüssen ausgesetzt; im Winter 424/23 sollte sichdas beim Übergang der Stadt zum Spartaner Brasidas gegen die Athenerauswirken.

In der hier skizzierten Situation des Winters 432/31, als die Athener imeigenen Machtbereich Stärke demonstrieren mußten, erschienen die Spar-taner mit ihrer Forderung nach Aufhebung des Megarischen Psephismas.Dieses war seinerzeit allen Bündnern bekanntgemacht worden, und dieAthener hatten sicher dafür Sorge getragen, daß seine Einhaltung in diesen

makedonische Stadt, nicht eine Kolonie Eretrias, wie eine späte, offensichtlich der Grün-dungsgeschichte Kyrenes nachempfundene Nachricht bei Plut, mor. 293 AB behauptet.46 Vgl. nur Meiggs, Athenian Empire (wie Anm. 2), 252f.

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Städten auch überwacht wurde. Sie hatten sich also in dieser Angelegenheitstark engagiert und ihre Bündner dies auch wissen lassen. Wenn die Athe-ner nun in dieser vermeintlichen Kleinigkeit nachgegeben, also den Be-schluß aufgehoben hätten, dann hätten sie die im gesamten Seereich ver-hängte Handelssperre zurücknehmen, ja möglicherweise sogar die zu ihrerÜberwachung eingesetzten Kontrollbeamten zurückziehen müssen.

Die Forderung nach Aufhebung des Megarischen Psephismas, denSpartanern von den Bündnern aufgetragen und dann von ihnen in Athen er-hoben, hatte in der Tat fur beide Seiten eine Situation geschaffen, die keineZugeständnisse erlaubte. Sparta hätte sich als ineffektiver Hegemon erwie-sen, die Athener hätten ihren ohnehin weitgehend unzufriedenen Bündnerngegenüber offen eingestanden, sich einer Forderung der Spartaner gebeugtzu haben. Es hätte der Eindruck entstehen können, die Athener hätten ausFurcht gehandelt und würden auch bei künftigen Forderungen nachgeben-und das hätte die Stellung der Hegemonialmacht im eigenen Bereichempfindlich untergraben. Diese Gefahr hat zumindest Perikles klar erkanntund sich erfolgreich gegen die Aufhebung des Psephismas gestemmt. 47

Im Winter 432/31 konnte Perikles seine Mitbürger noch von der Rich-tigkeit seiner Politik überzeugen; nach wenigen Kriegsjahren sahen diesedas anders und machten ihn für die Lage verantwortlich, was wir bei Thu-kydides, besonders aber bei Aristophanes fassen können. Anfangs bezogdieser das nur auf die Weigerung, das Psephisma zurückzunehmen, späterverband er schon dessen Erlaß mit dem Kriegsausbruch, worin ihm spätereAutoren gefolgt sind. Demgegenüber hat man Thukydides häufig Vor-geworfen, das Megarische Psephisma fast unterdrückt zu haben. DasGegenteil ist der Fall: Er hat es dort zur Sprache gebracht, wo es in den Ver-handlungen seinen Platz hatte, und gleichzeitig hinreichend deutlichgemacht, daß es in diesem Zusammenhang einen anderen Stellenwert. eineandere Funktion hatte als die zuvor öffentlich vorgetragenen Beschuldi-gungen.

47 TrefTend von Fritz, Die griechische Geschichtsschreibung (wie Anm.2), 656: ..WieBismarck in seinen letzten Jahren vom cauchemar des coalitions, so war Perikles in sei-nen späteren Jahren vom cauchemar des desertions und des Machtverfalls geplagt und hatseine Handlungen danach eingerichtet." Im übrigen hat schon Busolt, Griechische Ge-schichte (wie Anm.2), 852 betont, daß "eine Nachgiebigkeit in der megarischenAngelegenheit bei den Bündnern unzweifelhaft den Eindruck des Zurückweichens voreinem Drucke, also der Schwäche und Furcht, hervorgerufen, das Ansehen Athens in ho-hem Grade geschädigt und auch die Autorität des Perikles geschwächt" hätte. Ausführ-lieh hat dann Braunert, Ausbruch (wie Anm. I), 47fT., diesen Gedanken weiterentwik-kelt; vgl, jetzt auch Schulz, Athen und Sparta (wie Anm. 2), 81 fT.

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M Zahrnt, Das Megarische Psephisma 623

Immer wieder einmal wird die Frage gestellt, wie sich das MegarischePsephisma zum Geist des Vertrages von 446/45 verhielt, durch den eine ArtGleichgewicht der Mächte geschaffen worden war. Dieses drohte sich inder Tat infolge der ausgreifenden Politik der Athener zu verschieben, undmit dem Megarischen Psephisma hatten diese ein Mittel gefunden, das inabgeänderter Form auch gegen andere peloponnesische Staaten eingesetztwerden konnte und damit in der Tat den Spartanern Furcht einflößen muß-te. So ist das Megarische Psephisma in zweifacher Weise für den Ausbruchdes Krieges von Bedeutung: Seine Verhängung sollte diesen zwar nichtprovozieren - das ist schon aus zeitlichen Gründen ausgeschlossen -, hatdann aber diplomatische Aktivitäten ausgelöst, an deren Ende es für keinevon beiden Seiten mehr ein Zurück gab, als dieses Psephisma plötzlich undunerwartet im Mittelpunkt der Verhandlungen und der Beratungen inAthen stand. Es war also die Politik der Athener, die zum Kriege führte,und diese Politik läßt sich für die Zeit des dreißigjährigen Friedens etwafolgendermaßen definieren: Die Athener taten nie etwas, was ausdrücklichverboten war; sie fanden aber immer wieder etwas, das noch nicht verbotenwar.

Auf die Dauer konnte das nicht gutgehen. Das Megarische Psephismawar sozusagen eine Erfindung zu viel. 48 An seinem Ende stand der Pelo-ponnesische Krieg. Aber der war schon keine der üblichen militärischenAuseinandersetzungen mehr, wie sie die Griechenwelt in der vorange-gangenen Zeit immer wieder einmal gesehen hatte; vielmehr wurde derKrieg zunehmend mit einer solchen Verbissenheit und Brutalität geführt,daß es an seinem Ende zwar Sieger und Besiegte gab, daß aber die Zeit dau-erhafter Hegemoniebildungen dahin war; aus dem das 4. Jahrhundert be-stimmenden ständigen Ringen um die Vorherrschaft in Hellas ist schließ-lich unter seinem bedeutendstem König Philipp n. mit Makedonien eineMacht hervorgegangen, die bis dahin im Kräftemessen der griechischenStaaten kaum wahrgenommen worden war. Tatsächlich hatte schon amBeginn dieses Prozesses ein Makedonenkönig gestanden.

48 Soviel zur vielbehandelten, in diesem Zusammenhang aber unwichtigen Frage nachder letztliehen Schuld am Ausbruch des Peloponnesischen Kriegs, die abwechselnd denSpartanern und den Athenern, bisweilen sogar den Korinthern angelastet wird und die ichmit meinem Lehrer Braunert, Ausbruch (wie Anm.I), bei Athen suche, "dem unter derFührung des Perikles die expansive Politik zur Last gelegt werden muß, die zu der Aus-gangslage überhaupt erst geführt hat" (ebd. 52).

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Zusammenfassung

Thukydides unterschied bekanntlich zwischen dem wahrsten Grund undden Streitpunkten bzw. öffentlich vorgebrachten Beschuldigungen, die eineEntwicklung in Gang setzten, die schließlich den Peloponnesischen Kriegauslöste. Zu letzteren gehörten die athenische Hilfeleistung für das von denKorinthern angegriffene Kerkyra (433 v. Chr.) und die Ereignisse im Nor-den der Ägäis, also der Abfall von Poteidaia und einer großen Zahl andererStädte auf der Chalkidischen Halbinsel sowie die Hilfeleistung der Korin-ther für die Abgefallenen (432 v. Chr.), was einen eindeutigen Bruch desFriedensvertrags von 446/45 v. Chr. darstellte, nicht aber, wie häufig be-hauptet, das sogenannte Megarische Psephisma, durch das die Athener dieMegarer von allen Häfen in ihrem Herrschaftsgebiet und vom attischenMarkt ausgeschlossen hatten. Dieses war nämlich nicht, wie zumeist ange-nommen, bald nach der athenischen Hilfeleistung für Kerkyra, sonderneinige Jahre vorher erlassen worden, kam aber erst im Rahmen der im Win-ter 432/31 v. Chr. von den Peloponnesiern gegen die Athener erhobenenVorwürfe zur Sprache und spielte insofern bald eine entscheidende Rolle,als in dieser Frage keine der beiden Seiten ohne einen empfindlichen Pre-stigeverlust bei ihren jeweiligen Bundesgenossen zurückstecken konnte.Das galt insbesondere für die Athener, die schon infolge der Abfälle großefinanzielle Einbußen erlitten hatten und bei einer Rücknahme des Psephis-mas mit einem weiteren empfindlichen Schrumpfen ihres Herrschafts-gebiets rechnen mußten. Die Hartnäckigkeit, mit der insbesondere der ruh-rende Staatsmann Perikles für die Aufrechterhaltung des Psephismas ein-trat, führte dazu, daß ihm schon in einigen bald nach Kriegsausbruchaufgeführten Komödien sowie bei Diodor und in Plutarchs Periklesbiogra-phie unterstellt wurde, durch Erlaß des Psephismas mit voIler Absicht denKrieg ausgelöst zu haben.