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Aus den tiefen Wäldern Kanadas, einer Gegend, die erst seit191 o auf den Landkarten verzeichnet ist, kommt PatrickLewis nach Toronto, in eine Stadt, die vor Vitalität aus allenNähten platzt und bevölkert ist von Brückenbauern, Tun-nelgräbern und Emigranten aus Europa. Zunächst ein Frem-der im eigenen Land, wird Patrick allmählich zu einem Teildieser neuen Welt. Menschen kreuzen seinen Weg, begleitenihn ein Stück weit, verschwinden und kommen wieder:Ambrose Small, der vermißte Tycoon, dessen Geliebte Cla-ra, in die sich Patrick verliebt, Caravaggio, der charmanteDieb, Temelcoff, der mazedonische Brückenbauer, die An-archistin Alice, die vielleicht niemand anders ist als die Non-ne, die einst von der Brücke stürzte und in Terrelcoffs Armefiel. Am Ende wird aus dem Hinterwäldler ein Terrorist ...»Was bleibt, sind die Bilder. Über Monate hinweg haben siemich immer wieder eingeholt«, schreibt Martin Lüdke in der>Zeit<. »Beim zweiten Lesen wußte ich schon, daß mich dieseBilder nie mehr loslassen würden.«

Michael Ondaatje, von holländisch-tamilisch-singhalesischer

Abstammung, wurde am 1 o. September 1943 in Sri Lanka ge-

boren. Nach seiner Schulausbildung in England übersiedelteer 1962 nach Kanada, wo er heute noch lebt. InternationalenRuhm erlangte Ondaatje mit seinem Roman >Der englischePatient<, für den er 1992 den Booker Prize erhielt.

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Michael Ondaatje

In der Haut eines Löwen

Roman

Deutsch von Peter Torberg

Deutscher Taschenbuch Verlag

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Von Michael Ondaatjesind im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen:

Der englische Patient (1 2 I 3 I )Buddy Boldens Blues ( 12 333)Es liegt in der Familie ( 124 2 5)

Die gesammelten Werke von Billy the Kiel (12662)Anils Geist (12928)

Ungekürzte AusgbeOktober 1 993

4. Auflage November 200 1Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,

Münchenwww.dtv.de

1987 Michael OndaatjeTitel der kanadischen Originalausgabe:

>In the Skin of a Lion<(McClelland and Stewart, Toronto)

O 1990 der deutschsprachigen Ausgabe:Carl Hanser Verlag, München • Wien

Umschlagkonzept: Balk & BrumshagenUmschlagfoto: Konrad Wothe (© LOOK)

Gesamtherstellung: Druckerei C. H. Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany • ISBN 3-423-11742-7

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Dieses Buch ist dem Andenken anMichel Lambeth, Sharon Stevenson und Bill

und Michal Acres

und Linda und Sarah und Davidgewidmet.

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Ich danke der John Simon Guggenheim Fourndation,die mich beim Schreiben dieses Buches mit einem Stipendiumunterstützte, sowie dem Ontario Arts Council, dem El BashaRestaurant, der Multicultural History Society of Ontario und

dem Glendon College der York University.

Gleichfalls danken möchte ich Marg Teasdale, George undRuth Grant, Donya Peroff, Rick Haldenby, Paul Thompson

und Lillian Petroff und besonders Ellen Seligman.

Dies ist ein Roman, und ich habe mir im Umgang mit Datenund Orten gewisse Freiheiten erlaubt.

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Die glücklichen Bürger Uruks sollen trauernum dich, ich aber bleib, da du dahingegangen,

zurück mit wirrem Haar, und will das Land durchirren,gekleidet in die Haut eines Löwen.

Aus dem Gilgamesch-Epos

Nie wieder wird eine einzige Geschichte so erzählt werden,als wäre sie die einzige.

John Berger

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Dies ist eine Geschichte, die ein junges Mädchen in einem Autoin den frühen Morgenstunden aufsammelt. Sie hört zu undstellt Fragen, während der Wagen durch die Nacht rollt. Drau-ßen liegt das unberührte Land. Der Mann, der am Steuersitzt, könnte behaupten: »Auf dem Feld dort steht eine Burg«,und es wäre möglich, daß sie ihm glaubt.

Sie hört dem Mann zu, während er einzelne Bruchstückeder Geschichte aufliest, zusammenbringt und versucht, sie allein seinen Armen zu tragen. Und er ist müde; manchmalerzählt er ebenso unkonzentriert, wie er die Straße beobach-tet, dann wieder ist er überdreht — » Verstehst du?« Er wendetsich ihr im fahlen Licht des Tachometers zu.

Sie fahren die vier Stunden bis Marmora unter sechs Sternenund einem Mond.

Sie bleibt wach, um ihm Gesellschaft zu leisten.

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Erstes Buch

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Kleine Samen

Wenn er früh genug wach ist, sieht der Junge die Männer, wiesie am Farmhaus vorbei die First Lake Road hinuntergehen.Dann steht er am Schlafzimmerfenster und schaut: zwischendem Ahorn und dem Walnußbaum hindurch kann er zweioder drei Laternen erkennen. Er hört ihre Stiefel auf demKies. Dreißig Holzfäller, dunkel gekleidet, mit Äxten undkleinen Essenspaketen am Gürtel. Der Junge geht die Treppehinunter und stellt sich an eines der Küchenfenster, von wo erdie Straße überblicken kann. Sie gehen von rechts nach links.Schon jetzt, noch bevor die Sonne mit ihrer Kraft zum Vor-schein kommt, scheinen sie erschöpft.

Manchmal, das weiß er, trifft diese Gruppe von Fremdenauf die Kühe, die von der Weide zum Melken getrieben wer-den, und dann bleiben sie still und höflich am Straßenrand ste-hen und halten die Laternen hoch (ein Schritt zurück, und siestecken in einer knietiefen Schneewehe), um die Kühe auf demschmalen Weg gemächlich an sich vorbeiziehen zu lassen. Abund zu legen die Männer ihre Hände auf die Flanken der Tiereund nehmen ihre Wärme auf, während sie vorbeitrotten. Sielegen ihre dünn behandschuhten Hände auf diese schwarz-weißen Geschöpfe, die man in der letzten Dunkelheit derNacht kaum ausmachen kann. Sie müssen dabei zurückhal-tend sein, dürfen kein Zeichen von Aggression oder Anspruchvon sich geben. Das Land gehört nicht ihnen, sondern demBesitzer der Tiere.

Die Holsteinerkühe trotten an der schweigsamen Reihe derMänner vorbei. Der Farmer, der den Kühen folgt, nickt. Inden Wintermonaten begegnet er dieser seltsamen Gemein-schaft fast jeden Morgen; diese Gesellschaft ist ihm stillerTrost in der Dunkelheit um fünf Uhr früh — denn über eineStunde lang hat er die Kühe zusammengetrieben, um sie zumMelken zu führen.

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Der Junge, der Zeuge dieser Prozession ist und sogar davonträumt, hat auch die Männer beobachtet, wenn sie eine Meileweiter weg unter den grauen Bäumen arbeiten. Er hat ihre hal-lenden Rufe gehört, hat ihre Äxte gehört, die in d.as kalte Holzschlagen wie in Metall, hat das Feuer am Fluß gesehen, wo dasWasser einsam und grau unter dem dünnen Eis ruht.

Der Schweiß rinnt zwischen ihren harten Körpern und denkalten Kleidern hinab. Einige sterben an Lungenentzündung,andere an dem Schwefel in ihren Lungen, der aus den Mühlenstammt, in denen sie zu anderen Jahreszeiten arbeiten. Sieschlafen in den Baracken hinter dem Hotel Bell rock und ha-ben nur wenig Kontakt mit der Stadt.

Weder der junge noch sein Vater sind jemals in diesen dunk-len Räumen gewesen, in dieser Wärme, die der Geruch vonMännern ist. Ein roh gezimmerter Tisch, vier Schlafstellen,ein Fenster, groß wie ein Torso. In jedem Dezember werdendie Baracken aufgestellt und im darauffolgenden Frühlingwieder abgerissen. Niemand in der Stadt weiß so recht, woherdie Männer gekommen sind. Es braucht jemand anderen, vielspäter, der dem Jungen das erzählt. Kontakt zur Stadt habendie Holzfäller nur, wenn sie auftauchen, um den Fluß entlang-zugleiten, auf selbstgemachten Schlittschuhen, mit Kufen ausalten Messerklingen.

Für den Jungen ist das Ende des Winters gleichbedeutendmit einem blauen Fluß, mit dem Verschwinden dieser Männer.

Er sehnt sich nach den Sommernächten, nach dem Moment,wenn er die Lampen ausschaltet, sogar den kleinen cremefar-benen Trichter im Flur neben dem Zimmer, in dem sein Vaterschläft. Dann liegt das Haus im Dunkeln, nur das helle Lichtin der Küche brennt noch. Er setzt sich an den langen Tisch,blättert in seinem Geographiebuch mit den Weltkarten, denweißen Bögen der Meeresströmungen und probiert ganz für

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sich die Namen aus, formt das Exotische mit den Lippen. Kas-pisches Meer. Nepal. Durango. Er klappt das Buch zu undfährt mit den Handflächen darüber; er tastet über die Prägungdes körnigen Einbands mit den bunten Farben, die eine Land-karte Kanadas bilden.

Später geht er mit vor dem Körper ausgestreckter Handdurch das dunkle Wohnzimmer und stellt das Buch zurück insRegal. Er steht da in der Dunkelheit und reibt sich die Arme,um wieder Leben in seinen Körper zu bringen. Er zwingt sich,wach zu bleiben, sich Zeit zu nehmen. Es ist noch immer heiß,und er ist nackt bis zur Hüfte. Er geht zurück in die helleKüche und wandert von einem Fenster zum anderen, um nachden Nachtfaltern zu sehen, die am Fliegengitter kleben, an derHelligkeit haften. Von jenseits der Felder werden sie dieseseine beleuchtete Zimmer gesehen haben und darauf zugeflo-gen sein. Erkundung einer Sommernacht.

Käfer, Heuschrecken, Grashüpfer, rostdunkle Falter. Pa-trick beobachtet diese Dinge, die sich in der warmen Luftüber der Erdoberfläche ihren Weg gesucht und sich mit ei-nem gedämpften, klatschenden Geräusch auf das Gitter ge-worfen haben. Er hat sie beim Lesen gehört; seine Sinne sindan diese Geräusche gewöhnt. Jahre später wird er in derBibliothek von Riverdale lernen, wie die glänzenden Blatt-hornkäfer das Unterholz zerstören und wie sich die Blüten-käfer vom Saft verfaulenden Holzes oder jungen Maises er-nähren. Und plötzlich werden diese Nächte Ordnung undForm erhalten. Nachdem er ihnen Phantasienamen gegebenhat, wird er ihre offiziellen Titel lernen, als überflöge er dieGästeliste eines Balls — Der Grashüpfer! Der Erzbischof vonCanterbury!

Selbst die richtigen Namen sind wunderschön. Bernstein-flügliger Wasserläufer. Buschgrille. Den ganzen Sommer langregistriert er ihre Besuche und skizziert die Rückkehrer. Ist esdasselbe Tier? Er zeichnet die orangefarbenen Flügel desSpanners in sein Notizbuch, die Mondmotte, das sanfteBraun des Buchenspinners — wie Kaninchenfell. Er wird das

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Fliegengitter nicht öffnen und ihre pollenbestäubten Körpernicht fangen. Das hat er einmal gemacht, und das panischeFlattern des Falters — ein braunrosa Etwas, das farbigen Staubauf seinen Fingern hinterließ — erschreckte sie beide.

Aus der Nähe betrachtet sind sie prähistorisch. Die Insek-tenkiefer mahlen. Fressen sie irgend etwas Winziges, oder ge-schieht es unbewußt — so wie sein Vater auf dem Feld an seinerZunge kaut. Das Küchenlicht scheint durch ihre porösen Flü-gel; selbst die dickeren Geschöpfe, wie die apfelgrüne Blatt-laus, scheinen aus Puder zu bestehen.

Patrick zieht eine Okarina aus der Tasche. Draußen wird erseinen Vater nicht wecken, die Töne werden einfach in dieArme des Ahorns hinaufschweben. Vielleicht Dann er dieseWesen verzaubern. Vielleicht sind sie gar nicht stumm, viel-leicht kann er sie mit seinen Ohren nur nicht hören. (Als erneun war, fand ihn sein Vater auf dem Boden liegend, miteinem Ohr auf der harten Kruste eines Kuhfladens, in demer mehrere Käfer klopfen und krabbeln hörte.) Er kenntden kraftvollen Ruf, den die kleinen Körper der Zikadenhervorbringen, doch er sucht das Zwiegespräch — die Spracheder Libellen; sie brauchen etwas, das ihr Atmen übersetzt,so wie er die Okarina braucht, um sich eine Stimme zu ge-ben; irgend etwas, um damit über die Mauer dieses Ortes zuspringen.

Kehren sie jede Nacht zurück, um ihm etwas zu zeigen?Oder verfolgt er sie? So wie er sich von dem dunklen Hausentfernt und auf der Schwelle der leuchtenden Küche zu denleeren Feldern sagt: Hier bin ich. Kommt und besucht mich.

Er war in eine Gegend hineingeboren worden, die bis 191 o aufkeiner Landkarte verzeichnet war, obwohl seine Familie dortbereits seit zwanzig Jahren lebte und arbeitete und das Landseit 1816 besiedelt war.

Im Schulatlas ist der Ort blaßgrün und namenlos. Der Fluß

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schlüpft aus einem See ohne Namen und ist eine einfacheblaue Linie, bis er fünfundzwanzig Meilen weiter südlich zumNapanee wird, und schließlich wird er, nur wegen der Holz-fällerei, Depot Creek genannt. »Deep Eau.«

Sein Vater arbeitet auf zwei oder drei Farmen, schlägt Holz,macht Heu, treibt das Vieh zusammen. Zweimal täglich über-queren die Kühe den Fluß — am Morgen trotten sie zu demLand, das südlich des Creek liegt, und am Nachmittag werdensie zum Melken zusammengetrieben. Im Winter werden dieTiere die Straße hinunter zu einer Scheune geführt, doch ein-mal zog es eine Kuh, die zur oberen Weide zurückwollte, zumFluß.

Zwei Stunden lang vermissen sie sie nicht, und dann errätsein Vater, wo sie geblieben ist. Er rennt zum Fluß und schreitdem jungen Patrick zu, er solle mit den Ackergäulen folgen.Patrick sitzt ohne Sattel auf einem der Pferde und führt dasandere am Zügel, treibt sie vorwärts durch den tiefen Schnee.Durch die kahlen Bäume sieht er seinen Vater, der die Bö-schung zum Badeloch hinabrutscht.

In der Flußmitte, halb ins Eis eingebrochen, ist die Holstei-nerkuh des Nachbarfarmers. Da gibt es keine Farbe. Die trok-kenen Stengel der verblühten Königskerzen, graue Bäumeund der nun saubere, weiße Sumpf. Sein Vater kriecht mit ei-nem Seil über der Schulter auf allen vieren übers Eis auf dieschwarzweiße Gestalt zu. Die Kuh schreckt auf, bricht nochtiefer ins Eis ein, und das kalte Wasser schwappt hoch. HazenLewis hält inne, redet dem Tier gut zu und kriecht dann wei-ter. Er muß das Seil zweimal unter dem Körper hindurchbe-kommen. Patrick bewegt sich langsam vorwärts, bis er auf deranderen Seite der Kuh kniet. Sein Vater legt die linke Hand aufden Nacken des Tiers und steckt seinen rechten Arm so tief erkann unter den Körper ins eiskalte Wasser. Auf der anderenSeite taucht Patrick seinen Arm ein und schwenkt ihn hin undher, um an das Seil zu kommen. Sie können einander nicht er-reichen. Patrick liegt auf dem Eis, damit Arm und Schulternoch tiefer kommen; sein Handgelenk wird schon taub, und

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er denkt, daß er das Seil bald nicht mehr fühlen wird, selbstwenn es ihn berührt.

Die Kuh bewegt sich, und das Wasser dringt durch denMantel des Jungen bis zur Brust. Sein Vater richtet sich auf,und sie knien zu beiden Seiten der Kuh, schwingen ihre nas-sen Arme und schlagen sie sich gegen die Brust. Sie reden keinWort. Sie müssen so schnell wie möglich arbeiten. Sein Vaterlegt die bloße Hand auf das Ohr der Kuh, um sich daran zuwärmen. Er legt sich seitlich auf das Eis und taucht erneut sei-nen Arm ein, das Wasser ist nur wenige Zentimeter von sei-nem Gesicht entfernt. Wie in einem Spiegelbild taucht Patrickseinen Arm ins Wasser, doch wieder kann er das Seil nicht grei-fen. »Ich tauche jetzt unter. Du mußt schnell zupacken«, sagtsein Vater, und Patrick sieht, wie sich der Oberkörper seinesVaters krümmt und sein Kopf ins eisige Wasser taucht. Pa-tricks Hand packt den freien Arm seines Vaters oben auf derKuh und hält ihn fest.

Dann taucht Patrick mit dem Kopf unter Wasser und holtweit aus. Unter der Kuh berührt er das Handgelenk seines Va-ters. Er wagt nicht loszulassen und bewegt seine Hand vor-sichtig, bis er das dickgeflochtene Seil gepackt hat. Er ziehtdaran, doch es rührt sich nicht. Es wird ihm klar, daß sein Va-ter beim tieferen Eintauchen irgendwie mit seinem Körperüber das Seil gekommen ist und nun darauf liegt. Patrick willnicht loslassen, obwohl er bald keine Luft mehr hat. Sein Vaterkommt nach Luft schnappend aus dem Wasser, liegt rücklingsauf dem Eis und atmet schwer gegen den Schmerz in den Au-gen an; dann merkt er plötzlich, worauf er liegt, rollt zurSeite, und das Seil ist frei. Patrick zieht, nimmt dabei seinenFuß zu Hilfe, um sich aus dem Wasser zu stemmen, und schlit-tert übers Eis, weg von der Kuh.

Er setzt sich auf, sieht seinen Vater und hebt seine Arme ineiner Siegesgeste. Sein Vater versucht verzweifelt, das Wasseraus Ohren und Augen zu bekommen, bevor es an der Luft ge-friert; Patrick benutzt seinen trockenen Ärmel, zieht dieHand in die Jacke zurück und stopft sich den Stoff in die Oh-

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ren. Er spürt schon, wie sich auf Nacken und Kinn Eis bildet,aber er macht sich darüber keine Gedanken. Sein Vater hastetans Ufer und kehrt mit einem zweiten Seil zurück. Er knotetes an das erste, und Patrick zieht es auf seiner Seite unter derKuh hindurch, so daß nun beide Seile um die Kuh gebundensind.

Patrick sieht auf — sieht den grauen Felsen am Badeloch, dieEiche, die sich über dem schmutzigen Gestrüpp im Schnee er-hebt. Der Himmel ist klar und blau. Es kommt dem Jungenvor, als hätte er diese Dinge seit Jahren nicht gesehen. Bis zudiesem Augenblick hat es nur seinen Vater gegeben, dieschwarzweiße Gestalt der Kuh und das furchtbare schwarzeWasser, das ihm in den Augen brannte, als er sie dort untenöffnete.

Sein Vater macht die Seile an den Pferden fest. Der Kopf derhalb versunkenen Kuh, mit einem riesigen rollenden Auge,scheint unbeteiligt. Patrick wartet darauf, daß sie vollerLangeweile wiederzukäuen beginnt. Er hebt ihre Lippe undlegt seinen kalten Finger an das Zahnfleisch, um Wärme zustehlen. Dann kriecht er zum Ufer zurück.

Jeder von ihnen hält ein Pferd am Zügel, und sie feuern siean. Die Pferde zögern nicht einmal, trotz des Gewichts, dassie ziehen müssen. Vom Ufer aus sieht er die aus dem Maul derKuh hängende Zunge, und zum erstenmal ändert sich ihrselbstzufriedener Ausdruck, sie wird unruhig, während sieans Ufer gezogen wird und das Eis zersplittert, durch das siesich einen Weg bahnt. Etwa zehn Fuß vom Ufer entfernt,dort, wo das Eis dicker wird, widersetzt sich ihr Körper demZug des Seils. Die Pferde bleiben stehen. Er und sein Vater ge-ben ihnen die Peitsche, und sie fallen in Trab. Und dann tauchtdie ganze Kuh, die vier Beine steif in die Höhe gestreckt, wiedurch Zauberei aus dem Eis auf und wird unnachgiebig seit-wärts ans Ufer und über die braunen Königskerzen geschleift.

Sie lassen die Pferde laufen. Er und sein Vater versuchen, dieKnoten in den Seilen um die Kuh zu lösen, doch das ist zuschwer, und sein Vater zieht ein Messer und schneidet die Seile

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durch. Das Tier liegt schnaubend da, Dampf steigt auf in derkalten Luft; dann kommt es mühsam auf die Beine, steht undschaut sie an. Mehr als über irgend etwas sonst wundert sichPatrick über seinen Vater, der davon besessen ist, nichts zuvergeuden. So oft hat er dem Jungen eingetrichtert, Seil zusparen. Immer aufknoten. Nie zerschneiden! Das Messer zuziehen und das Seil in Stücke zu schneiden, ist ein empören-der, verschwenderischer Akt.

Sie laufen nach Hause zurück, sehen sich immer wiedernach der Kuh um. Der junge keucht. »Wenn sie wieder ins Eiseinbricht, rühr' ich keinen Finger.« »Ich auch nicht«, ruft seinVater lachend. Es ist schon fast dunkel, als sie den Hinterein-gang erreichen, und der Magen tut ihnen weh.

Im Haus zündet Hazen Lewis die Petroleumlampe an undschichtet Holz für ein Feuer auf. Der Junge zittert währenddes Essens, und der Vater sagt ihm, er könne bei ihm schlafen.Später im Bett beachten sie einander nicht, teilen sich unterder Bettdecke nur die Wärme. Sein Vater liegt so still, daß Pa-trick nicht weiß, ob er schläft oder wach ist. Der Junge blicktzur Küche und zu dem dort verglimmenden Feuer.

Er denkt sich durch den Winter, bis er ein weißer Mittsom-merschatten neben seinem Vater ist. Im Sommer träufelt seinVater Benzin auf die Raupenkokons und zündet sie an. Floff.Die grauen Spinnwebenhäute zerstieben in Flammen. Raupenfallen ins Gras, und der beißende Brandgeruch füllt den Gau-men des Jungen. Im Abendlicht durchsuchen sie beide gewis-senhaft ein Feld. Patrick deutet auf ein Nest, das sein Vaterübersehen hat, und gemeinsam ziehen sie weiter in das Weide-land hinaus.

Er ist fast eingeschlafen. In der Dunkelheit züngelt nocheine Flamme auf und vergeht dann.

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