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Weihnachten 1945 — Deutschland lag in Schutt und

Asche. Viele Familien waren noch auseinandergeris-sen, Millionen von Frauen und Müttern warteten inbanger Sorge auf die Heimkehr ihrer Männer aus derKriegsgefangenschaft. Die Versorgung mit Lebens-mitteln war katastrophal. Die Wohnungen konntenkaum geheizt werden, durch Ritzen und Spalten pfiffder Wind. Aber trotz allem war das Weihnachtsfest1945 zum ersten Mal seit Jahren wieder ein Fest desFriedens, ein Fest der Hoffnung. Welche Sorgen undNöte, Hoffnungen und Erwartungen sie ganz per-sönlich in den Weihnachtsfeiertagen begleitet haben,schildern Kirchenführer, Politiker, Verleger, Künst-ler, Publizisten und Schriftsteller in diesem Buch.

Claus Hinrich Casdorff (192 5-2oo4) begann 1 947seine journalistische Laufbahn als politischer Redak-teur beim NWDR, Hamburg. Er war u. a. Programm-leiter verschiedener Ressorts und von 1982 bis 1990Chefredakteur der FS-Landesprogramme des WDR.

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Weihnachten 1945Ein Buch der Erinnerungen

Herausgegeben vonClaus Hinrich Casdorff

Deutscher Taschenbuch Verlag

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Die Vorbemerkungen zu den einzelnen Beiträgenstammen vom Herausgeber.

Ungekürzte AusgabeOktober 1989

17. Auflage November 2006Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,

Münchenwww.dty.de

Alle Rechte vorbehaltenErstveröffentlichung: KönigsteiniTs. 198 IUmschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlagfoto: Bilderdienst Süddeutscher VerlagGesamtherstellung: Druckerei C. H. Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in GermanyISBN-I3: 978-3-423-25028-3

ISBN-I0: 3-423-25028-3

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Inhalt

CLAUS HINRICH CASDORFF: Ein sehrpersönliches Vorwort 7

HEINRICH ALBERTZ: Celler Weihnachten 17

WOLF GRAF VON BAUDISSIN : SchmollendeGötterdämmerung 24

KLAUS VON BISMARCK: Von Weihnachten zuWeihnachten 35

HEINRICH BÖLL: Hoffentlich keinHeldenlied 63

CHRISTINE BRÜCKNER: Altgewordene Kinderdes Dritten Reichs 76

FRITZ BRÜHL: Bilder aus einer verstörtenStadt 84

WALTER DIRKS: Zwiespältige Erfahrungen 1o8JOSEF ERTL: Aufbruch aus der Stunde Null 119HEINZ FRIEDRICH: Versuch einer Erinnerung 13 3MARTIN GREGOR-DELLIN: Marginalien über

kein Weihnachten 1 S3HILDEGARD HAMM-BRÜCHER: Weihnachts-

geschichte 1945 1 S 8JOSEPH KARDINAL HÖFFNER: Neuer Auf-

bruch des Glaubens 169WALTHER LEISLER KIEP: Gespräch über alle

Grenzen 177

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HEINZ KÜHN: Heimkehr aus dem Exil 192SIEGFRIED LENZ: Eine Art Bescherung 205RICHARD LÖWENTHAL: »Denk' ich an

Deutschland« von England aus 212LOLA MÜTHEL: Eine Schauspielerin in

Deutschland 222LEONIE OSSOWSKI: Das Weihnachtsessen 229KLAUS PIPER: 1945. Einige Reflexionen,

damals und heute 240ANNEMARIE RENGER: Die erste Friedens-

weihnacht — zur Zukunft entschlossen. 257LUISE RINSER: Von der Liebe zum Menschen 268WALTER SCHEEL: Ohne Angst vor der

Zukunft 277FRANZ WÖRDEMANN: Weihnachten 1945.

Vergeblicher Versuch, einen Punkt zuvermessen 282

PETER VON ZAHN: Weihnacht der Einsamen. 305

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Ein sehr persönliches Vorwort

Weihnachten 1945, ein Buch der Erinnerungen, —was soll das eigentlich? Da schreiben zwei Dut-zend Frauen und Männer untereinander, was sieam ersten Weihnachtsfest im Frieden und in relati-ver Freiheit nach vielen bitteren Jahren erlebt underduldet haben, an was sie sich erfreuten und wel-che Gedanken sie in die Zukunft schickten. Aberwarum nur: Die Anteilnahme am Schicksal ande-rer ist von jeher gering, Aufmerksamkeit ist nur zuverzeichnen, wenn Sensationen angeboten werden,wenn die Möglichkeit besteht, sich am Leid vonZeitgenossen zu ergötzen.

Solche und ähnliche selbstquälerische Gedankenhaben mich in den letzten Monaten immer wiederüberfallen, als es galt, einen spontan übernomme-nen Auftrag auszuführen und zusammenzutragen,was prominente Weggefährten vor vielen Jahr-zehnten empfunden haben, damals, als alles inSchutt und Asche lag, der Hunger sich eingenistethatte, eine düstere Zukunft nur ganz gelegentlichdurch einen dünnen Lichtstrahl aufgehellt wurde.Aber je länger die Arbeit dauerte, je größer dieZahl der Politiker, Kirchenführer, Schriftsteller,Verleger und Schauspieler wurde, die sich zur Mit-wirkung entschließen konnten, je geringer wurden

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die Zweifel an dem Sinn eines solchen Unterneh-mens. Kein Manuskript, das nicht mit einer Über-raschung aufwartete, das nicht unbekannte Seitenvon Persönlichkeiten aufblätterte, denen im Volks-mund gleichermaßen Herzenskälte wie seelischeWärme, Gewinnstreben wie Fürsorge für Hilfsbe-dürftige nachgesagt werden. Der eine schrieb aufdem grauen Papier der Umweltschützer, der ande-re ließ von seinen Mitarbeitern in gestanzten Zei-len und auf feinsten Bogen die Gedanken festhal-ten, der dritte verzichtete auf jede Akkuratesse, dervierte schickte seinen Beitrag mit Brief und Siegel.

Aber eines hatten alle Manuskripte gemeinsam:sie ließen das persönliche Erleben längst vergange-ner Tage so plastisch wieder wach werden, daßman es förmlich mit den Händen, mit dem Ver-stand, aber vor allem auch mit dem Herzen packenkonnte. Das war mehr als die Aneinanderreihungrecht zufälliger Erlebnisse und Gemütsstimmun-gen, nein, ein Stück Zeitgeschichte begann sich zubündeln. So wurde aus einem Buch der Erinnerun-gen ein Lehrstück für die heutige Generation, oftspannend wie ein Kriminalfilm, manchmal vonspröder Eindringlichkeit, häufig rührend wie einFrauenroman. Auf jeden Fall aber reihte sich Aus-sage an Aussage von Menschen, die den Beweisdafür lieferten, daß sie in der Lage sind, eigeneErfahrungen in Ratschläge für andere umzumün-zen. Deshalb sind die Kapitel in diesem Buch dazu

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angetan, bei den Älteren das Gedächtnis für einelängst vergessene Zeit zu schärfen, bei der JugendVerständnis für viele bisher nicht greifbare Wider-sprüche zu wecken.

Nicht jeder, den wir gebeten hatten, durch eigeneLeistungen in diesem Sammelband zum Erfolg bei-zutragen, konnte sich zu einer solchen Hilfe ent-schließen. Die Absagen sprachen von Zeitnot, voneigenen schriftstellerischen Plänen, von mangeln-dem Erinnerungsvermögen, von der Weigerung, bö-se Zeiten wiederaufleben zu lassen. Aber jedes Neinwar zugleich ein Glückauf — das machte Mut, sichweiter im Lande umzuschauen. Und die Ernte, dieschließlich eingefahren werden konnte, war reicherLohn für gern übernommene Mühe. Dafür sei denenDank, die sich trotz beruflicherÜberlastung und per-sönlicher Anspannung die Zeit abgerungen haben.

Der Herausgeber dieses Buches war selbst Zeit-genosse des ersten Weihnachtsfestes nach demKriege. Und so will er sich nicht darauf beschrän-ken, weiterzugeben, was andere damals gedachtund getan haben, sondern er will sich — wie sie —stellen. Denn der Appell an Dritte, die Jugend anihren Erlebnissen teilhaben zu lassen, ist eine Ver-pflichtung, es genauso zu tun. Wir alle haben eini-ges wieder gutzumachen:

Ich sehe sie noch vor mir, als sei es gestern ge-wesen, die kleine Familienrunde, die sich am Heili-gen Abend des Jahres 1945 in Hamburg versam-

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melte. Die ehrwürdige Großmutter, die währenddes Krieges in Deutschland ausgeharrt hatte, jetztaber in ihrer Leidensfähigkeit so geschwächt war,daß sie die Heimkehr in ihre brasilianische Heimatmit letztem Elan betrieb. Die Mutter, die sich vieleKriegsjahre in der Sorge um ihren Sohn verzehrthatte und jetzt immer noch kaum glauben konnte,daß der Junge wieder zu Hause war, zwar ausge-zehrt und kränklich, aber immerhin mit heilenKnochen aus der Sowjetunion heimgekehrt. Undich, ganze zwanzig Jahre alt, aber schon mit einemBündel böser Erinnerungen an Krieg und Gefan-genschaft beladen. Der Kanonenofen bollerte,Rauch durchzog in beißenden Schwaden dieWohnstube, der erste Festtagsbraten mundete wieGötterspeise, auch wenn er zäh wie Leder war. Einganzer Kasten voller Silberbestecke hatte bei sei-nem Einkauf den Besitzer gewechselt, ein Kartonmit Porzellan war für ein Getränk eingetauschtworden, das sich Cognac nannte, aber wohl ehereine besonders primitive Ausgabe von Fruchtsaftwar. Da saßen die drei Generationen einer Ham-burger Kaufmannsfamilie beieinander, glücklich,wieder vereint zu sein, aber zugleich voll bangerErwartung künftiger Zeiten, die nichts Gutes ver-sprachen. Die Großmutter sorgte sich um ihrkünftiges Leben in tropischer Hitze, die Mutterfragte sich, wie sie wohl in Zukunft ihre Familieannähernd satt bekommen sollte, der Sohn machte

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sich Gedanken über einen ll.ünftigen Beruf — mitdem Im- und Export, so wie es in Generationendie geradezu selbstverständliche Beschäftigung derMänner seiner Familie gewesen war, dürfte es aufkeinen Fall mehr etwas werden. Doch alles wurdeüberstrahlt von der Gewißheit, daß das Schlimm-ste jetzt überstanden sei, daß Menschlichkeit undGüte, Liberalität und Nächstenliebe am Ende dochüber das Böse triumphiert hatten. Und so hing einjeder seinen Gedanken an traurigere Weihnachts-feste in der Vergangenheit nach...

Weihnachten 1942. Ich war kurz zuvor aus derGestapohaft entlassen worden, ein Regime hattesich nicht entblödet, Jünglinge von 16, 17 und 18

Jahren wegen staatsfeindlicher Äußerungen undUmtriebe einzusperren, sie zu prügeln und zuschinden, sogar mit dem Tode zu bedrohen. Unddas alles nur, weil sie sich nicht mit nationalsoziali-stischer Propaganda abspeisen lassen wollten, weilsie Informationen sammelten, aus welcher auslän-dischen Quelle sie auch zu erlangen waren, weil siedann auch weitergaben, was sie über die Kopfhö-rer ihrer Radios erfahren hatten. Das genügte of-fenbar, um einen nahezu perfekten Polizeistaat inAngst und Schrecken zu versetzen. Eine HandvollKinder gegen Tausende von Agenten der Gehei-men Staatspolizei und schon triumphierte die Bru-talität der Übermächtigen. Väterliche Fürspracheund viel Glück hatten dazu geführt, daß ich nicht in

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ein Jugend-KZ abtransportiert, sondern mit derAuflage entlassen worden war, meine »tiefeSchuld« im soldatischen Kampf gegen die Feindedes Reiches abzutragen. Niemals, so mußte ichschriftlich bestätigen, würde ich Anspruch auf eineverantwortungsvolle Stellung im Hitler-Regime er-heben, das Kainsmal wurde in die Akten für alleZeiten aufgenommen, Register C, Schutzhäftlingaus Zelle B 2/17. Doch im Spätherbst, ein paarWochen vor Weihnachten, war die Gefangenschaftzu Ende, die Einberufung schon beschlossen, einSiebzehnjähriger hatte seinen Geburtstag in derHaft begangen, den Heiligen Abend hockte er wieein kleiner Junge hilfesuchend neben der Mutter,beide voller Angst, aber beide auch voller Zorn. Insolchen Stunden wird Haß geboren. Wer das Herzeiner Mutter so tief verletzt wie die NS-Häscher, derhat sich den Anspruch auf Milde verscherzt. Daranmußte ich denken, als wir am ersten Weihnachtsfestnach dem Zusammenbruch von einer Zentnerlasterleichtert zusammensaßen. Aber auch die Erinne-rungen an andere Tage wurden wieder lebendig.

Weihnachten 1943. Aus dem entlassenen Gesta-po-Häftling war ein deutscher Soldat geworden.Die Wehrmacht hatte den Krieger wider Willen indie Sowjetunion geschickt, den Untermenschen ZU

bekämpfen. Der erste Flaum kroch auf der Ober-lippe entlang, der Umgangston sorgfältiger Inter-natserziehung war rüder Soldatensprache gewi-

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chen, Blut und Schweiß gehörten ebenso zu denSelbstverständlichkeiten des Alltags wie diewachsende Begabung, sich blitzschnell zu ver-drücken, wenn Vorgesetzte den von ihnen fürsich selbst verschmähten Heldentod ihren Unter-gebenen zumuten wollten. Aber — und das seinicht verschwiegen, weil es unredlich wäre —, esgab damals auch einen Weihnachtsbrief an dieFamilie, in dem viel von der Pflicht die Redewar, das Vaterland zu schützen, die rote Flut ab-zuwehren. Die Umerziehung war an dem Jüng-ling nicht spurlos vorübergegangen. Wer gelernthatte, daß er sich jeden Tag seiner Haut wehrenmuß, wenn er überleben will, der fragt nichtmehr nach der Schuld an diesem Krieg, der siehtin jedem Mann in anderer Uniform den Feind,der ihm an die Gurgel springen will. Doch dieBesinnung setzt dann schnell wieder ein, so wiein den Weihnachtstagen des Jahres 43, als dieKälte durch Stiefel und Fußlappen kroch, derSchnaps den Verstand umnebelte, die amtlich be-stellten Sprücheklopfer sich bei der Erfindungimmer neuer Schmähreden und Aushalteparolengeradezu überschlugen und gleichzeitig eine ge-beutelte Zivilbevölkerung in einem besetztenLand schlimmer zusammengepfercht dahinvege-tieren mußte als die Pferde des bespannten Artil-lerie-Regiments. Daran mußte ich im trauten Fa-milienkreis zwei Jahre später denken, daran, daß

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der schlimmste Feind des Menschen der Menschist. Das sollte sich dann auch bald bestätigen.

Weihnachten 1944. Die Eroberer, die ausgezo-gen waren, ein Riesenreich zu unterwerfen, befan-den sich auf der Flucht in Richtung Westen. Unterdenen, die gerne mitgelaufen wären, aber das bitte-re Los der Gefangenschaft auf sich nehmen muß-ten, weil ihre verletzten Beine sie nicht mehr tru-gen, war auch ich. Nach schier endlosen Verneh-mungen und Verhören, nach einem »Triumph-marsch« durch Moskau mit 80000 anderen deut-schen Kriegsgefangenen, dem Volk als lebendeBeute vorgeführt, war ich in einem Lager an derWolga gelandet, die Nummer 188, die Stadt: Tam-bow. Spezialist war ich geworden, behend im Umgang mit der Axt beim Bau von Wolgakähnen. Ar-

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beit bei 40 Grad Kälte, Arbeit mit gefrorenemHolz, so daß Planken zersplitterten wie Zahnsto-cher, ernährt von ein paar hundert Gramm glit-schigen Brotes und einer Wassersuppe, als Nacht-lager drei übereinanderliegende Holzpritschen,Läuse, Wanzen, Krätze und Durchfall. Not, sosagt man, Not schmiedet Menschen zusammen,macht aus Nachbarn wirkliche Kameraden. Nichtsanderes als ein Schmarren ist eine solche Behaup-tung. In der Not ist sich jeder selbst der Nächste,stiehlt dem Freund die Nahrung, zieht dem ster-benden Kumpel den Ehering vom Finger, weil erihn gegen ein Häuflein Tabak eintauschen will.

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Das ist die Lehre aus der Gefangenschaft, einwichtiges Kapitel ist mir damals Weihnachten 1 944beigebracht worden. Wir hatten Frauen als Wach-personal, wohin sollten wir denn auch schon ent-weichen. Wir hatten einen sowjetischen Oberleut-nant als Kommandanten unseres Außenkomman-dos, aber wir hatten auch deutsche Landsleute alsAufseher. Während wir von Kopf bis Fuß gescho-ren einherliefen, ließen sie sich die Haare wachsen,während wir uns gegen die Kälte jeden erreichba-ren Lumpen auf den Körper banden, stolzierten siein fabrikneuen Wattejacken einher, während wirvom Hunger gepeinigt wurden, schlugen sie sichdie Bäuche voll —, wohlgemerkt mit der Verpfle-gung, die für alle bestimmt war. Das waren jene,die uns wieder einmal den Haß gelehrt haben. Undzum Weihnachtsfest hatten sie sich eine besondereÜberraschung ausgedacht. Sie ließen uns wissen,daß die Genfer Konvention für Kriegsgefangenezwar Feiertagsruhe vorsehe, wir aber fürstlich be-lohnt würden, wenn wir trotzdem arbeiteten. Alsowurde malocht, die versprochene SonderrationBrot, Fett und Hirsebrei war zu verlockend. Nurals wir erwartungsvoll die Küchenbaracke umla-gerten, um die zusätzliche Verpflegung in Emp-fang zu nehmen, gab es wiederum nur Wassersup-pe und den üblichen Kanten Brot. Das, was diesowjetischen Wachleute aus ihrem Vorrat bereitge-stellt hatten, war längst in den Mägen unserer

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deutschen Aufseher verschwunden. An dieses Ge-fühl der Ohnmacht, das uns damals befallen hatte,mußte ich denken, als ich dann ein Jahr später ei-nen bescheidenen Braten aufschnitt. Jeder Fort-schritt, und wenn er auch noch so gering ist, wirdals Labsal empfunden. Der Mensch lernt sehrschnell, dankbar zu sein.

So ist am Heiligen Abend des Jahres 1945 einganzes, wenn auch noch sehr kurzes Leben an mirvorbeigezogen. Seine Höhepunkte waren nicht ge-rade glänzend, ganz im Gegenteil, Angst und Nothatten immer wieder Glück und Zufriedenheit ausdem Rennen geschlagen. Aber es hatte mich auchzu der Überzeugung gebracht, daß ein Mann — na-türlich auch wie jede Frau — viel mehr ertragenkann, als sich der Zweifler vorstellt. Nur eines darfnie verlorengehen: die Zuversicht, das Gottver-trauen. Wer sich selbst aufgibt, wer die Hoffnungfahren läßt, der zerbricht schnell, der ist unfähig,aus eigener Kraft für Besserung zu sorgen. DieJahre nach dem Krieg haben bewiesen, wie vieleMenschen es in Deutschland und anderswo gibt,die sich von solcher Einsicht tragen lassen, die Ver-änderungen zum Guten herbeiführen, wo alles imSumpf zu ersticken droht.

Weihnachten 1945. Für mich war es ein neuerStart.

1981 Claus Hinrich Casdorff

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HEINRICH ALBERTZ

Millionen von Fernsehzuschauern waren Augen-zeugen, als ein bebrillter, durch die äußerliche Er-scheinung kaum beeindruckender Mann von derGangway einer Lufthansa-Maschine freundlichwinkte, bevor er einen Flug ins Ungewisse antrat.Heinrich Albertz, Pfarrer und Berliner Bürgermei-ster in vielen Jahren, hatte sein ganzes persönlichesPrestige eingesetzt, um ein schreckliches Ende terro-ristischer Gewalttaten zu verhindern, die Freilas-sung von Geiseln durch die Freigabe von verblende-ten jungen Menschen zu erreichen.

Heinrich Albertz war ein Stadtoberhaupt, dessenArbeit auch durch eigene Fehler nicht immer vonErfolg gekrönt wurde. Damals haben wir beide oftSchwierigkeiten gehabt, den anderen zu verstehen.Seine eigentliche Leistung begann viel später, siereicht bis in den heutigen Tag. Wer kann mit demgleichen Brustton der Überzeugung wie er behaup-ten, als alter Mann von der Jugend geschätzt zuwerden? Die unruhigen Geister unserer Tage, diesich von allen verfemt und verleumdet sehen, inHeinrich Albertz haben sie einen ebenso verständ-nisvollen wie kritischen Freund. Wir könnten einpaar mehr von seiner Qualität gebrauchen. EinHändedruck von ihm ist auch für uns, die wir zwi-schen den Generationen stehen, eine Auszeichnung.

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Celler Weihnachten

Zuerst wird man wohl die Stadt beschreiben müs-sen, in der ich mit meiner Frau und zwei kleinenKindern — das dritte war noch nicht geboren undsollte erst Weihnachten 1946 unter unsäglichenVerhältnissen unter dem Weihnachtsbaum liegen —das erste Fest des Friedens gefeiert habe. Gelle al-so — eine fast heil gebliebene Stadt. Nur um denBahnhof herum hatte es einige Zerstörungen gege-ben. Sonst war alles erhalten, die schönen Fach-werkhäuser, das Schloß und die erzkonservativenBürger. Fast alle waren — wie überall sonst — Nazisgewesen, aber unter der Decke doch wohl eherwelfisch gesinnte Zeitgenossen, die überlebt hattenund sich in ihrer heilgebliebenen Welt nun plötz-lich, außer der britischen Besatzungsmacht undden aus dem KZ Bergen-Belsen freigelassenenHäftlingen — keiner hatte natürlich gewußt, daß esein solches KZ gab — Tausenden von Flüchtlingenaus dem deutschen Osten gegenübersahen. Ebenunter diesen entwurzelten heimatlos gewordenenMenschen, ohne jeden Besitz, arbeitete ich als einsogenannter Flüchtlingspastor, dem man für dieseArbeit ein Büro und die notwendigsten techni-schen Hilfsmittel zur Verfügung gestellt hatte. Zu-erst war es ein Auftrag der Kirche. Bald kam einAuftrag der Stadt Gelle hinzu und so hing vor mei-

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ner Tür— furchtbar für alle Anhänger der Lehre vonden zwei Reichen — ein Schild mit der Aufschrift:»Evangelischer Flüchtlingspastor Celle — Flücht-lingsamt der Stadt Celle«. Wir hausten im 2. Stockeines der schönsten Gebäude unmittelbar neben derStadtkirche an der Stechbahn : in einem Zimmer, alsWohnung für die Frau und zwei Kinder, gleich-zeitig Küche und Waschraum, ein kleines Büro, indem ich schlief, und drei weitere Räume, in denenein halbes Dutzend ehrenamtlicher Mitarbeiter denStrom von Sorgen aufzufangen versuchten, denHunderte von Menschen jeden Tag über knarrendeTreppen in unsere Räume brachten.

Ich habe niemals deutlicher als in diesen Monatenum Weihnachten 1945 herum die Wahrheit erfah-ren, wie sehr die Umwelt das Bewußtsein bestimmt,oder um es drastischer und mit Bert Brecht zusagen, wie sehr das Fressen vor der Moral kommt.Besitz wurde mit Händen und Klauen verteidigt,Wohnraum wurde nur unter äußerstem Druck frei-gegeben. Und umgekehrt, wie sollte es anders sein,bestimmte der Kampf um die nackte Existenz, d. h.also um Essen, Wohnung, Kleidung und irgendei-ner Art von Arbeit die Tage der Heimatlosen. Fastalle Familien dieser geflüchteten Menschen warennoch getrennt, fast jeder suchte Männer oder Söhneoder verlorengegangene Frauen und Kinder. Wirgründeten um die Stadt herum sogenannte »In-seln«, wo in primitiven Unterkünften wenigstens

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eine Adresse verfügbar war, für die der Suchdienstarbeiten konnte.

Vor diesem Hintergrund wurde Weihnachtengefeiert, kam der Advent und schließlich der Heili-ge Abend. Wiederum: Niemals in meinem Lebenhabe ich so deutlich erfahren, wie unabhängig vonBesitz und Sicherheit, ja geradezu als eine Art Ge-genwelt zu dem Rennen und Laufen um Essen undSchlafen, die Weihnachtsgeschichte unmittelbarund fast wörtlich verständlich wurde, und wie die-ses Kind, dessen Geburt wir über Generationenhin in gesicherter Bürgerlichkeit gefeiert hatten,nun plötzlich das Gesicht der eigenen Kinder an-nahm. Viele fürchteten sich vor dem Fest und wei-gerten sich zunächst, sich darauf vorzubereiten.Aber ich erinnere mich, wie in den Adventswo-chen die sonntäglichen Gottesdienste für die Hei-matlosen — natürlich am Rande der Stadt und nichtzur üblichen Zeit gehalten — immer voller wurden,wie die Lieder, von Kindheit an vertraut und zu-nächst nur zögernd gesungen, immer lauter undüberzeugter klangen, so als wolle man sich an ih-nen festhalten. Die Heimat war verloren, aber dieLieder waren geblieben. Alles hatte sich verändert,nur die alten Texte nicht. Ja, sie wurden zum er-sten Mal wirklich gehört und neu verstanden. Manbrauchte kaum etwas hinzuzufügen. Denn das»keinen Raum in der Herberge« hatten ja nun alleerlebt.

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