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' INFO-PARTNER l1111111lllllllllllllllllllllllllllllIII hl J 006863 Perspektiven der Schweiz Referat von Daniel Thürer, Professor für Völkerrecht, Europarecht, Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Zürich, an einer öffentlichen Veranstaltung der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Demokratie am 1. November 1999 I. Einführung: Probleme Für die Einladung, heute abend zusammen mit Ihnen einige Gedanken und Ideen zum Thema ,,Perspektiven der Schweiz" teilen zu dürfen, danke ich Ihnen sehr herzlich. Es freut mich natürlich, dass mir mit der ,,Arbeitsgemeinschaft für Demokratie" ein so würdiges Forum zur Verfügung gestellt wurde. Auch der Name des Ortes unserer Zusammenkunft, ,,Weisser Wind", gefällt mir. Ich weiss nicht, woher die Bezeichnung kommt. Ich assoziiere den W irtshausnamen ,,Weisser Wind", natürlich völlig unzutreffend, mit einem Mythos aus Westkanada, den ich bei Claude Lévi-Strauss' gelesen hatte. Er handelt vom Rochen, der es vor urdenklicher Zeit unternommen hatte, den Südwind zu besiegen oder sich untertan zu machen. Die Bewohner der Küste wurden damals in extremem Masse von den Winden geplagt: Die Winde, besonders die bösen Winde, wehten nämlich immerzu und machten ihnen das Fischen und das Muschelsammeln am Strand unmöglich, bis es dem Rochen gelang, den Südwind gefangen zu nehmen. Der Südwind wurde erst wieder freigelassen, nachdem er versprochen hatte, nicht mehr wie bisher ohne Unterlass, sondern nur noch ab und zu und zu besonderen Jahreszeiten zu wehen. Seither weht der Südwind nur noch zu bestimmten Jahreszeiten oder nur noch an jedem zweiten Tag; während der übrigen Zeit können die Menschen ihrer Tätigkeit nachgehen. Können wir heute abend - eine Woche nach den eidgenössischen Parlamentswahlen - diese Geschichte als ein Symbol anrufen für den Versuch der rechtsstaatlichen Verfassung, die politischen Energien dadurch zu mässigen und in einen Rahmen und Rhythmus zu zwingen, dass die Volkssouveränität nur unter bestimmten rechtlich festgesetzten Voraussetzungen, z.B. bei Wahlen, unmittelbar

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' INFO-PARTNER

l1111111lllllllllllllllllllllllllllllIII hl J

006863 Perspektiven der Schweiz

Referat von Daniel Thürer, Professor für Völkerrecht, Europarecht, Staats- und

Verwaltungsrecht an der Universität Zürich, an einer öffentlichen Veranstaltung der

Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Demokratie am 1. November 1999

I. Einführung: Probleme

Für die Einladung, heute abend zusammen mit Ihnen einige Gedanken und Ideen

zum Thema ,,Perspektiven der Schweiz" teilen zu dürfen, danke ich Ihnen sehr

herzlich. Es freut mich natürlich, dass mir mit der ,,Arbeitsgemeinschaft für

Demokratie" ein so würdiges Forum zur Verfügung gestellt wurde.

Auch der Name des Ortes unserer Zusammenkunft, ,,Weisser Wind", gefällt mir. Ich

weiss nicht, woher die Bezeichnung kommt. Ich assoziiere den W irtshausnamen

,,Weisser Wind", natürlich völlig unzutreffend, mit einem Mythos aus Westkanada,

den ich bei Claude Lévi-Strauss' gelesen hatte. Er handelt vom Rochen, der es vor

urdenklicher Zeit unternommen hatte, den Südwind zu besiegen oder sich untertan

zu machen. Die Bewohner der Küste wurden damals in extremem Masse von den

Winden geplagt: Die Winde, besonders die bösen Winde, wehten nämlich immerzu

und machten ihnen das Fischen und das Muschelsammeln am Strand unmöglich, bis

es dem Rochen gelang, den Südwind gefangen zu nehmen. Der Südwind wurde erst

wieder freigelassen, nachdem er versprochen hatte, nicht mehr wie bisher ohne

Unterlass, sondern nur noch ab und zu und zu besonderen Jahreszeiten zu wehen.

Seither weht der Südwind nur noch zu bestimmten Jahreszeiten oder nur noch an

jedem zweiten Tag; während der übrigen Zeit können die Menschen ihrer Tätigkeit

nachgehen.

Können wir heute abend - eine Woche nach den eidgenössischen

Parlamentswahlen - diese Geschichte als ein Symbol anrufen für den Versuch der

rechtsstaatlichen Verfassung, die politischen Energien dadurch zu mässigen und in

einen Rahmen und Rhythmus zu zwingen, dass die Volkssouveränität nur unter

bestimmten rechtlich festgesetzten Voraussetzungen, z.B. bei Wahlen, unmittelbar

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zum Ausdruck gelangt,

wahrnehmen können?

während im übrigen die Bürger ihre alltäglichen Aufgaben

Mit diesen Anspielungen auf den Ort unserer Zusammenkunft stehen wir, meine

Damen und Herren, bereits mitten im Thema. Ich soll also einige Gedanken äussern

über ,,Perspektiven der Schweiz".

Sie haben vielleicht angenommen, dass ich nun die öffentlichen

Auseinandersetzungen der letzten Monate und die eidgenössischen

Parlamentswahlen kommentiere. Gestatten Sie mir, hiervon abzusehen! Denn

hierüber sind Sie alle zur Genüge informiert worden. Zudem glaube ich: Die Themen,

welche die Medien beschäftigt haben - von der Bellasi-Affäre bis zu allen

Wechselfällen rund um die Expo 2000/01 - sind es nicht wert, so viel politische

Energien der Bürger zu absorbieren, wie es der Fall war. Und was die nun

abgeschlossenen Parlamentswahlen betrim, halte ich sie - wie übrigens auch

jüngste Wahlen im Ausland - für so wenig attraktiv und so ideenschwach, so

inhaltsleer, dass es mich nicht reizt, sie näher zu analysieren.

Gestatten Sie mir daher, meine Damen und Herren, einen alternativen -

distanzierteren, nicht so pessimistischen und vielleicht etwas spekulativen -

Approach.

Ich gehe davon aus, dass in unserer Gesellschaft ein viel höheres Potential an

Gectaltungskraft angelegt ist, als es zurzeit an der Oberfläche der Medien mit all

ihren Konjunkturen und Aufgeregtheiten zum Ausdruck kommt. Wir müssen diese

Energien aber produktiv nutzen. Wir kennen die biblische Geschichte vom Weinberg,

dessen Bestellung an drei Arbeiter vergeben wurde. Der Dritte, der am kürzesten

arbeitete, erhielt den gleichen Lohn wie die beiden anderen, da er die grösste

Leistung erbrachte: weil er das ihm anvertraute Gut optimal genutzt und das in ihm

enthaltene Potential nutzbar gemacht hat.2

' - Matthaus 29, Verse 5-16

CLAUDE LEVI-STRAUSS, Mythos und Bedeutung, Bibliothek Suhrkarnp, Frankfurt a.M. 1995, S . 34 ff.

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Wo liegt das Potential? In einer Studie eines Stanford Research Institute wurden vor

einigen Jahren drei psychologische Entwicklungsstufen von Personen und

Gesellschaften unterschieden:

- die erste wird als ,,Sustenance Driven" bezeichnet; sie ist gekennzeichnet durch

eine Priorität, die der finanziellen und sozialen Sicherheit gegeben wird, und sie

ist geprägt vom Widerstand gegen den Wandel;

der zweite Typus ist ,,Outer Directed", angetrieben durch Prestige, Ruhm, Erfolg

und äussere Geltung;

-

- der dritte Typus der ,,Inner Directedness'' stellt Talentverwirklichung,

Glaubensüberzeugung, ethische Qualitäten, innere Erfüllung und Wachstum in

der Vordergrund .

Ich glaube - dies ist mein Ansatzpunkt -,

- dass wir als Gesellschaft noch stark vom Sicherheitsdenken - finanzielle

Sicherheit bis zur Sicherheit des Landes durch eine überzogene Neutralitäts- und

Verteidigungsdoktrin - beherrscht sind;

dass nun in unserer hektischen, globalisierten Gesellschaft das äussere, letztlich

den gesellschaftlichen Zusammenhalt erodierende Erfolgsdenken einen grossen

Raum einzunehmen beginnt;

-

- dass aber für die Zukunft der Besinnung auf und der Aktualisierung von

inhärenten Werten etwa der Kultur im weitesten Sinne eine besondere Priorität

zukommen soll; dabei wird die Verwirklichung des eigenen inneren Selbst

automatisch auch zu einem richtigen Verhalten nach aussen führen.3

Was ist hiermit gemeint? Lassen Sie mich versuchen, mein Anliegen anhand von

drei Problem kom pl exen zu veranschaulichen.

Es geht mir darum, zwei Schnittstellen in unserer Gesellschaft aufzuzeigen und

schliesslich ein Projekt für die Zukunft zu entwerfen. Die erste Schnittstelle betrifft

das Verhältnis der sog. ,,privaten" zur sog. ,,öffentlichen" Sphäre und insbesondere

die mich als Verfassungsrechtler interessierende Frage, ob es in der Tat richtig ist,

3 Vgl. C.F. Ramuz, La pensée remonte les fleuves, Paris, S. 10 : ,,Je suis peut-être patriote, je ne SUIS

pas nationaliste. Patrie, nation. Qu'est-ce que ces deux mots signifient? On sent bien qu'ils ne sont pas synonyms, s'ils ne s'opposent pas absolument."

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unser Augenmerk wie gebannt auf Vorgänge der Deregulierung und Privatisierung zu

lenken, oder ob es nicht vielmehr geboten wäre, offensiv Werte unserer

verfassungsrechtlich geprägten öffentlichen Kultur auch auf die Welt des sog.

privaten Geschäftslebens zu ü bertragen. Bei der zweiten Schnittstelle

,,national/international" geht es um unser Verhältnis zu Europa und zur

internationalen Gemeinschaft schlechthin; ich versuche hier, ein Vakuum zu

betreten, das uns die Parteien im vergangenen Wahlkampf unbegreiflicher- und

unverzeihlicherweise hinterlassen haben. Und beim dritten, viel konkreteren Punkt,

den ich gerne als Staatsbürger mit Ihnen besprechen und austesten möchte, geht es

um ein mögliches Projekt, nämlich in dem meiner Meinung nach hierzu besonders

prädestinierten Kanton Graubünden eine Begegnungsstätte, bzw. ein Institut für

Minderheitenfragen zu kreiren.

I I . Drei Problemfelder

1 . Schnittstelle von ,,privater" und ,,öffentlicher" Welt

,,Dort bleiben die Götter klein, während die Menschen wachsen. Wenn sie so gross geworden sind, dass sie die Götter nicht mehr sehen, müssen sie einander erwürgen.

Gestatten Sie mir zunächst einige Überlegungen aus verfassungsrechtlicher Sicht

zum Verhältnis ,,öffentliche" und ,,private" Welt. Unser Denken steht weltweit - wohl

seit 1989 - im Banne der Oekonomie. ,,Markt" und ,,Geld" sind zum Ziele, ja sogar

zum ,,Credo" oder sogar zur ,,Religion" für viele geworden (,,ein Volk - ein Markt - ein

Geist"), während sie doch blosses Mittel zur Ermöglichung und Erleichterung einer

sinnvollen Lebensgestaltung sein sollten.

Der Kapitalismus, dessen Gier und Grenzenlosigkeit etwa Gottfried Keller schon im

letzten Jahrhundert in seinem Roman ,,Martin Salander" mit scharfen Worten

gegeisselt hatte, scheint eine Renaissance zu erleben. Alles ist, vor allem in

Eliac Canetti, Aufzeichnungen 1942 - 1972, Frankfurt a. M., 1979, S. 181. 4

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Amerika, in steigendem Masse aber auch bei uns, im Begriff, zum ,,Business" zu

werden. Unternehmungen werden vor allem nach Massgabe ihrer Effizienz und der

Gewinne bewertet, die sie für die ,,share holders" abwerfen. In der Betriebswirtschaft

und weit darüber hinaus hat sich ein Sprachgebrauch etabliert, der dem Vokabular

des Sachenrechts, der Ingenieure oder des Computerwesens verwandt ist. Man

spricht von den Aktionären als den Eigentümern des Unternehmens, den

Mitarbeitern als ,,human resources" - dies neben den Sachmitteln als ,,financial

resources" - und von ,,input", ,,output" und vom ,,planning", ,,management" und

,,controlling", während es bei diesen Wirtschaftsträgern doch nicht nur um ,,Apparate",

sondern um komplexe Formen der Zusammenarbeit von Menschen (Organen,

Angestellten, Lieferanten, Abnehmern usw.) geht und die Unternehmung doch auch

unter dem Gesichtswinkel der Wertverwirklichung in der Gesellschaft gesehen

werden müsste.

Auch wir Öffentlichrechtier sind zusehends in den Sog des rein wirtschaftlichen

Denkens gezogen worden. Slogans wie ,,Deregulierung" und ,,Privatisierung" haben

auch in unserer Wissenschaft - zum Teil freilich zu Recht - Konjunktur erlangt.

Insgesamt frage ich mich aber, ob nicht gerade die Verfassungswissenschaft in die

Gegenoffensive gehen oder zumindest ,,Gegenbilder" entwickeln sollte. Ist es nicht

so, dass die Geschichte und die ,,raison d'être" der Staatsrechtsentwicklung gerade

darin bestand, der Willkür von Machthabern Schranken zu setzen, indem ihnen -

Königen, Fürsten, Kirchenherren usw. - Grund- und Freiheitsrechte abgerungen

wurden, die Macht Schritt für Schritt geteilt, ausbalanciert und transparenter gemacht

wurde, Legitimation am Massstab des Gemeinwohls und Verfahren der

Verantwortlichkeit vor der Offentlichkeit gefordert wurden. Ist es nicht so, dass in

Form des modernen Verfassungsstaates zwar Verfahren der Machtlegitimierung, - begrenzung und -kontrolle geschaffen wurden, die eine Glanzleistung unserer

Zivilisation darstellen, diese in ihrer Relevanz und Reichweite aber in dem Masse

abgeschwächt werden, als Machtballungen im ausserstaatlichen Bereich entstanden

sind, die anderen Gesetzen gehorchen: nämlich der engen wirtschaftlichen

Zwecksetzung statt dem Gemeinwohl, der Geheimhaltung statt der Transparenz, der

Macht konzen trat ion statt der Mach tauftei I u ng .

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Es fragt sich, ob Unternehmungen nicht - wie in der angelsächsischen Literatur etwa

diskutiert wird - ähnlich wie Städte und Dörfer und nicht mehr als blosse Apparate

gesehen werden müssten, die vielleicht auf einer Art eigener Verfassung beruhten:

einer Verfassung, welche die Mitarbeiter als eine Art Bürger mit ihren Rechten und

Pflichten verstünde, Transparenz und eine Art öffentliche Rechenschaft statuierte,

gewaltenteilige, ja vielleicht sogar föderative Strukturen vorsähe, ja sogar Standards

zur Wahrung elementarer sozialer und ökologischer Interessen der jetzigen

Generation wie auch künftiger Generationen enthielte.

Ja, eine Unternehmung würde nicht bloss ,,Bürgerrechte" vorsehen, sondern sich

selbst sogar irn Rahmen des freien marktwirtschaftlichen Systems, als eine Art

Bürger konstituieren und in Pflicht genommen. Sie würde etwa darauf verzichten,

bestimmte, in menschenrechtswidrigen Verfahren hergestellte Güter zu ü bernehmen

und damit, wie schon Präsident Roosevelt gefordert hatte, dazu beitragen, die

Kanäle des Welthandels von schmutzigen Produkten wie von Konterbande

reinzu halten.

Sie sehen, meine Damen und Herren, was ich im Auge habe: Die Orientierung auch

des Wirtschaftssystems an Werten wie sie sich im Rahmen des modernen

Verfassungsstaates herausgebildet haben. Natürlich fragen Sie sich, ob dies nicht

eine Utopie sei, und: wie gelangen wir vom heutigen status quo zu einem derartigen

Ziel?

Ich habe hierfür keine Rezepte, wenn auch einige Gesichtspunkte, die hier

darzulegen allerdings zu weit führte. Nur zweierlei möchte ich festhaken: Alle

Prinzipien und Institutionen, die unser heutiges soziales Leben gleichsam

selbstverständlich prägen, waren vorher einmal Utopie und Theorie und wurden als

solche belächelt. Und: Die Schweiz mit ihrer besonders ausgeprägten Öffentlichkeits-

und Miliztradition und ihren vielen mittleren und kleinen Unternehmer scheint mir ein

optimaler Boden zu sein, die Idee des Bürgerunternehmens - so konturlos und

verschwommen sie Ihnen noch erscheinen mag - voranzutreiben.

An der Universität Zürich wurde letzte Woche ein Flugblatt der UBS mit der Inschrift

herumgereicht ,,Wissen ist Vermögen". Jawohl: Wissen ist Vermögen. Dabei hat

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,,Vermögen" aber auch eine immaterielle, ideelle, werthafte Seite, meint nicht bloss

Geld, sondern auch Geltung. Und steckt im Wort ,,Ver-mögen'' nicht auch der

dynamische Gedanke der Macht zur ,,Ver-änderung"? Und dahinter die

Grundaufgabe des demokratischen Rechtsstaates, den (politischen) Willen der

Entscheidungsträger in die Bahnen eines fairen Verfahrens zu lenken?

Soviel also zum ersten meiner Gedanken, den ich - wenn Sie so wollen, aus dem

Elfenbeinturm heraus - mit all seiner dogmatischen und praktischen Unbestimmtheit

für eine künftige Schweiz im Auge habe.

2. Schnittstellen von ,,nationaler" und ,,internationaler" Sphäre

Und nun, neben den sich überschneidenden Problemflächen von ,,öffentlich" und

,,privat" einige Worte zu denjenigen zwischen ,,national" und ,,international" bzw.

,,supranational". Es gehört zu den grossen Paradoxien des zurückliegenden

Wahlkampfes, dass der Frage der internationalen und europäischen Einbettung der

Schweiz geflissentlich, ja beinahe systematisch aus dem Wege gegangen wurde.

Natürlich bestreite ich nicht, dass ein gesunder Finanzhaushalt der öffentlichen

Hand, die soziale Sicherheit, der öffentliche Verkehr, das Asylwesen usw. zentrale

Themen der Auseinandersetzungen sein mussten. Es war für mich aber doch nicht

verständlich, wie die politischen Wortführer wie paralysiert der Europa- und der UNO-

Frage aus dem Wege gegangen sind. Dabei ist sie für das Wohlergehen und die

Würde unseres Landes doch existenziell.

Sie werden sich vielleicht sagen, hier gehe es um mein Fachgebiet, daher nähme ich

es so wichtig, es handle sich hier bei mir um eine gewisse ,,déformation

professionelle". Ein englisches Sprichwort oder ,,bon mot" besagt: ,,he who is good in

hammering sees nails everywhere". ,,Weil der Thürer sich aufs Völkerrecht

spezialisiert hat" - werden einige von Ihnen denken - ,,stellt er das Völkerrecht

überall in den Vordergrund."

Dem ist nicht so. Europa und die internationale Gemeinschaft befinden sich in

fundamentaler Umgestaltung. Wir sind mitten in die modernen Prozesse der

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wirtschaftlichen, ökologischen, sozialen und kulturellen Interdependenz

hineingestellt. Es wäre dabei dumm und widerspräche unseren wohlverstandenen,

langfristigen Eigeninteressen, unsere politischen Energien allein auf die staatliche

Innenordnung zu konzentrieren und uns den Geschehnissen im Aussenbereich nicht

mit Initiative und Tatkraft zu stellen. Auch aus Selbstrespekt sind wir gehalten, für die

Fortgestaltung Europas und der internationalen Ordnung Mitverantwortung zu

übernehmen. Ich plädiere damit, meine Damen und Herren, nicht für einen

unverzüglichen Beitritt der Schweiz zur Europäischen Union, obwohl mir ein solcher

Schritt mittel- und langfristig vernünftig erschiene. Ich sage nur, dass wir die

verfassungsbildenden Prozesse in Europa und in der Welt zentral in unser Weltbild

aufnehmen m ü ~ s e n . ~ Wir müssen auch hier von einem rein bilateralen zu einem

übergreifenden, verfassungsmässigen neuen Denken oder Paradigma übergehen.

Dabei brauchen wir uns nicht unbedingt auf das EU-Europa zu fixieren.

Fritz Stern schrieb etwa kritisch:

,,Als das Europa von Brüssel über seine ursprünglichen sechs Mitglieder hinauswuchs und dem Begriff ,,Gemeinschaft" eine grössere Bedeutung zu geben versuchte, fing es an, sich seibst ais Europa schlechthin zu betrachten, überheblich in seiner Selbsteinschätzung, geruhsam provinziell, und in gewissem Masse ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass es nur ein Teil Europas war."6

Milan Kundera etwa sagte zur Identität Europas:

,,lm Mittelalter beruhte die europäische Einheit auf der gemeinsamen Religion. Diese trat in der Neuzeit ihren Platz an die Kultur (an die kulturelle Schöpfung) ab, die zu einer Verwirklichung der höchsten Werte führte, kraft derer die Europäer sich erkannten, definierten, mit der sie sich identifizierten. Heute tritt die Kultur ihrerseits ihren Platz ab. Aber was und wer tritt an ihre Stelle? In welchem Bereich werden sich die höchsten Werte, die Europa vereinen könnten, verwirklichen? Der Markt? Die Politik mit ihrem demokratischen Ideal, dem Prinzip der Toleranz? Aber wird diese Toleranz, wenn sie der fruchtbaren Schöpfung und intelligentem Denken keinen Schutz mehr gewährt, nicht leer und unnütz? Oder ist die Abdankung der Kultur als eine Art Befreiung zu verstehen, der man sich euphorisch überlassen sollte? Ich weiss es nicht. Mir scheint nur, dass die Kultur ihren Platz schon

Vgl. DIETRICH SCHINDLER, Das Schweizerische Staatsverständnis an der Wende zum 21. Jahrhundert, Zollikon (Kranich-Verlag) 1998, insbes. S. 12 f . FRITZ STERN, Die erzwungene Verlogenheit, in: Ders., Das feine Schweigen - Historische Essays, München 1999, S . 148.

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abgetreten hat. Damit rückt das Bild einer europäischen Identität in die Vergangenheit. Ein Europäer: wer nach Europa Heimweh hat."7

Wie immer wir also die Vorgänge im EU-Europa einschätzen - skeptisch wie in

diesen Zitaten, als ,,Friedenswerk" wie zu Beginn des europäischen

Integrationsprozesses oder als unentbehrlicher Ordnungs - und Steuerungsfaktor im

Prozess der Globalisierung der Wirtschaft -. Wir müssen sie zentral in unser

Selbstverständnis integrieren.

Die europäische Bewegung war von Anfang an vielfältig und hat sich verstanden als

ein Prozess. Europa ist pluralistisch konzipiert und bedeutet EU, aber auch

Europarat, OSZE und NATO. Das Europa der EU wird sich in absehbarer Zeit wohl

erheblich nach Mitteleuropa ausdehnen und vielleicht bald einmal - so jedenfalls

Lord David Owen in einem Vortrag im Zunfthaus ,,Meisen" - mehr als 40

Mitgliedstaaten umfassen. Wird und soll es dabei vermehrt konföderative Formen

annehmen? Soll und in welchem Masse soll das Subsidiaritätsprinzip in der

europäischen Union gestärkt und institutionell wirksamer garantiert werden? Soll ins

Verfassungsrecht der EU eine Grundrechtscharta aufgenommen werden, wie dies

vor allem von deutscher Seite postuliert wird? Wie ist das Recht der Europäischen

Union mit demjenigen etwa der UNO, der WTO usw. zu verknüpfen, um eine

Abschottung oder Provinzialisierung der EU zu vermeiden?

Das sind alles Fragen, die zentral in unser verfassungsrechtliches Denken eingehen

müssen, wie immer wir dann auch konkret entscheiden werden. Ich glaube, dass

Antworten sich aus unserer eigenen föderalistischen Tradition ohne weiteres

ergeben, denn wiederum führt - entsprechend unserem Ausgangspunkt - ein

Besinnen auf uns selbst ohne weiteres zum Interesse an einer mitverantwortlichen,

schöpferischen Gestaltung der Verhältnisse um uns herum, dies eben im Lichte von

Prinzipien, mit denen wir selbst unseren Staat gestaltet haben.

Und ich glaube, dass eine zu einseitige Befassung mit unserer eigenen Ordnung und

eine Ignorierung der Aussenwelt verheerende Folgen für unseren Staat in Zukunft

haben könnte. Es war Bismarck - wenn ich mich nicht irre - der die

MILAN KUNDERA, Die Kunst des Romans, Frankfurt a. M. 1989, S. 134/135 7

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Staatengemeinschaft einmal mit einer sich auf einem grossen Strom bewegenden

Flotte verglich. Würde der Kapitän des Schweizer Schiffs nicht seine volle

Aufmerksamkeit darauf verwenden, in Kontakt mit den anderen zu bleiben, sondern

sich vor allem um die Kajüten, die Küche, die Sofas usw. irn Innern kümmern, so

würde er einen gefährlichen Fehler begehen, das Schiff in die Irre, Isolation, ja

vielleicht in den Abgrund treiben lassen.

3. Proiekt ,,Zentrum für Minderheiten"

Und nun, mein dritter konkreter Vorschlag zum Thema ,,Perspektiven der Schweiz".

Es geht um einen möglichen Beitrag der Schweiz zum internationalen

Minderheitenschutz. Der Gedanke knüpft völkerrechtlich an den

Menschenrechtsschutz im Rahmen der UNO an, dessen Entwicklung der

amerikanische Völkerrechtler Thomas Buergenthal in folgenden vier Etappen

skizzierte: Einer ersten Stufe der normativen Fundierung der Menschenrechte z.5. in

der Satzung der UNO folgte jene des ,,institution building", also der Schaffung

internationaler Mechanismen zur Garantie und Umsetzung der Menschenrechte; eine

dritte Phase zeichnete sich nach Buergenthal in der Aera nach dem Kalten Krieg ab,

vor allem angesichts eines stärkeren Aktivwerdens des Sicherheitsrates; die

Herausforderung unserer heutigen, vierten Phase in den Entwicklungen des

Menschenrechtsschutzes schliesslich seien ,,individual criminal responsibility,

minority rights and collective humanitarian intervention".8

Internationaler Minderheitenschutz ist also ein besonders aktuelles Aufgabenfeld der

internationalen Gemeinschaft, und hierzu möchte ich Ihnen nun eine konkrete Idee

vorlegen - konkret insofern, weil sie unmittelbar auf eine Erfahrung zurückgeht, die

ich unlängst selber gemacht habe.

Es geht um folgendes. Ich reiste im letzten März im Auftrag der OSZE nach

Moldavien. Moldavien ist eine Nachfolgerepublik der früheren Sowjetunion. Ihr

westlicher, grösserer Teil ist mehrheitlich rumänisch-stämmig, der östliche, jenseits

des Dnjeper gelegene Teil ist auf die Ukraine hin orientiert. Der östliche Teil,

Transdniestrien, hat sich in den letzten Jahren vom Westteil abgesetzt und ein

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eigenes Parlament, eine eigene Regierung und eigene Gerichte gewählt. Beide Teile

der Republik Moldau sind nun physisch voneinander abgeriegelt. Ideologische und

rassistische Vorurteile treiben sich auf beiden Seiten spiralartig in die Höhe.

Wirtschaftliche, kulturelle und politische Entwicklung nehmen unvorstellbaren

Schaden. Beide Teile leben isoliert vor sich hin. Sie hatten zwar beide

Verhandlungsdelegationen bestellt, doch sind diese miteinander noch nicht in

effektive Gespräche ei ngetreten .

Meine Aufgabe war es nun, als Staatsrechtsexperte zusammen mit dem OSZE-

Missionschef in Krischina, einem erstklassigen Botschafter aus den USA, mit

Regierungs- und Parlamentsvertretern Moldaviens und des trans-dniestrischen ,,de

facto Regimes" Kontakte aufzunehmen und Modelle für eine mögliche Konfliktlösung

zu erörtern.

Wir pendelten während mehrerer Tage von der einen Seite des Dnjepr auf die

andere. Dabei versuchten wir absichtlich, in den Gesprächen bereits bestehende

Staatsformen wie den Bundesstaat (USA, Bundesrepublik Deutschland, die Schweiz

usw.) oder bestimmte konkrete Autonomieregime (2.B. Südtirol, Aalandinseln,

Grönland, Baskenland) nicht in den Vordergrund zu stellen. Wir waren vielmehr

bestrebt, mit Hilfe eines politisch und ideologisch noch nicht besetzten Begriffs,

desjenigen eines ,,common state", institutionelle Lösungen aus der konkreten

Sachlage heraus zu entwickeln. Unsere Gespräche verliefen zunächst erfolgreich.

Dabei war ich insbesondere erstaunt, wie viel die Vertreter beider Seiten über das

verfassungsrechtliche und politische System der Schweiz wussten, wie interessiert

sie an der Schweiz waren und welch grossen Respekt sie unserem Land

entgegenbrachten.

Vor allem interessierte sie zu erfahren, dass Prosperität sich in der Schweiz erst als

Folge und auf der Grundlage des politischen Friedens entíaltete, und dass

gegenseitiges Einvernehmen keine Selbstverständlichkeit war, sondern sich erst

nach einem Bürgerkrieg einstellte.

THOMAS BUERGENTHAL, The Normative and Institutional Evolution of International Human Rights, Human Rights Quarterly 1997, S. 703 ff., 71 7.

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Unsere Mission hätte in einer gemeinsamen Konferenz von Delegationen beider

Seiten gipfeln sollen; doch an dem für das Zusammentreffen geplanten Tag fielen die

ersten Nato-Bomben auf Belgrad und in der Folge platzten auch die Verhandlungen

zwischen der mit dem Westen sympathisierenden Regierungspartei und den für

Belgrad Partei nehmenden Transdniestriern.

In meinem Missionsbericht warf ich dann - und das ist der in unserem

Zusammenhang entscheidenden Punkt - die Frage auf, ob nicht etwa die Schweiz

insofern einen Beitrag zum Minderheitenschutz in Europa, aber vielleicht auch über

Europa hinaus dadurch leisten könnte, dass in unserem Land ein Zentrum für

Minderheitenfragen errichtet würde. Ein solches Zentrum könnte zunächst als blosse

Begegnunsstätte konzipiert werden. Repräsentanten von Volksgruppen könnten so

miteinander in Kontakt gebracht werden, die sich zu Hause systematisch meiden

oder voneinander und den jeweiligen Problemen und Problemlösungen keine

Kenntnis hätten. Die blosse Begegnung von aktuellen oder potentiellen

Konfliktparteien an Vorträgen, Seminaren, kulturellen Darbietungen, Exkursionen

z.B. zum kantonalen Parlament, zu einem Gericht oder Amt oder in eine schöne

Landschaft könnte möglicherweise dazu beitragen, Vorurteile abzubauen, und damit

Horizonte zu erweitern, politisch, moralisch und wirtschaftlich aufreibende

Auseinandersetzungen in der Zukunft zu vermeiden oder zu entschärfen, und somit

einen Beitrag zum Schutze von Frieden und Menschenrechten zu erbringen.

In einer zweiten Stufe könnte dann allenfalls ein aus einigen Wissenschaftern

transdisziplinär aufgebautes Institut errichtet werden, das sich mit Fragen von

Minderheitenschutzverträgen oder -arrangements, Mediation und Arbitrage und

anderen Instrumenten zum Schutze von Minderheiten befassen würde. Die

Begegnungsstätte und auch das hier anvisierte Institut kämen - gemessen an dem

mutmasslichen, freilich finanziell nicht kalkulierbaren und bezifferbaren politischen

Nutzen - billig zu stehen; die Infrastrukturen würden sich in Grenzen halten.

Wo sollte ein solches Zentrum entstehen? Ich dachte - nicht weil ich zufällig Bürger

dieses Kantons bin - an Graubünden. Dies aus drei Gründen:

- Das Bündnerland ist ein - auf der Welt vielleicht einmaliger Mikrokosmos für das

friedliche Zusammeleben von Minderheiten: protestantischen und katholischen

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Konfessionsgruppen, der deutschen, italienischen und von fünf romanischen

Sprachgruppen. Dabei ist das friedliche Einvernehmen keine

Selbstverständlichkeit. Noch im Dreissigjährigen Krieg herrschten in Graubünden

Verhältnisse, die vielleicht mit denjenigen in Jugoslawien oder in Somalia der

90er Jahre verglichen werden könnten, weshalb Friedrich Schiller Graubünden

als das ,,Land der Räuber" bezeichnete.

Erst durch die allmähliche Entfaltung von komplexen bündischen Strukturen, von

Freiheiten und Autonomiestatuten und von allmählichen kulturellen

Wachstumsprozessen ist es gelungen, die Rechte und den gegenseitigen

Respekt der so vielfältigen Volksgruppen im Lande der 150 Täler sicherzustellen.

Wäre Graubünden daher nicht ein einzigartiger Standort und Hintergrund zur

Veranschaulichung, ein Experimentierfeld zur Erprobung von Regimen zum

Schutze von Minderheiten?

- Ein zweiter Grund: Graubünden ist, wie ich meine, vom Bund aus

regionalpolitisch benachteiligt; es droht wie andere Teile der Ostschweiz auch in

zunehmendem Masse marginalisiert zu werden.

- Grund drei: Der erste Bündner Bundesrat, Felix Calonder aus Trins, hatte sich zur

Zeit des Völkerbundes, als der Minderheitenschutz im Völkerrecht seinen

bisherigen Höhepunkt erreichte, als Verhandlungsführer und Vermittler einen

guten Namen gemacht. Es wäre somit also auch ein historisch-diplomatischer

Traditionsanschluss gegeben.

Ich habe bisher die Idee ,,Minderheitenzentrum in Graubünden" nicht weiter

propagiert oder gar forciert und möchte vielmehr die Gelegenheit unserer

Zusammenkunft benutzen, Ihnen die Frage zu unterbreiten, ob Sie ein solches

Projekt als illusionär oder allenfalls und in welchem Ausmasse als nützlich

betrachten.

111. Abschluss: Einige Utopien

Ich fragte mich, als ich mir die drei eben dargelegten Problemkomplexe zurecht

legte, ob diese Darlegungen nicht für den heutigen Abend zu spekulativ, zu

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abgehoben seien. Ich stiess auf Sätze von Max Frisch, wonach sich die Schweiz

nicht als Nation erlebe durch ein Projekt, durch Engagement an eine Zukunft. Er

schrieb:

,,Die Eidgenossenschaft ist eine Hausordnung, als solche vortrefflich ... Jede blosse Hausordnung ist defensiv, nicht ein Projekt. Hervorgegangen aus einem Bauernaufstand - Rebellion, nicht Revolution - verdankt die Eidgenossenschaft ihre siebenhundertjährige Existenz ... nicht zuletzt ihrer Immunität gegenüber Ideen. Die Reformation war infolgedessen ihre schwerste innere Gefährdung. Utopie ist in allen Gesprächen hier ein negativer Begriff. Politik ist Real-Politik, pragmatisch, Politik als Arrangement mit dem Derzeit-Möglichen, im Grunde bäuerlich; man wartet die Zukunft ab wie das Wetter ... Ihr Selbstverständnis findet die Schweiz in einer politischen Moral, die jeweils den status quo zu sanktionieren hat. Die Schweiz als solche ist reaktionär."'

Nun sind diese Sätze gewiss zu apodiktisch, sie passen wie Frisch selber einräumt,

etwa nicht auf die Staatsgründung von 1848, aber auch nicht auf die wirtschaftlichen

Gründerjahre und die von der Schweiz ebenfalls im 19. Jahrhundert ausgehenden

Initiativen auf politischen, sozialen, humanitären und kulturellen Gebieten.

Vielleicht passt dieses Urteil aber auch nicht, zumindest nicht in seiner vollen

Schärfe, auf unsere welschen Mitbürger. Ich las vor wenigen Tagen in der deutschen

Wochenzeitung ,,Die Zeit" eine Gedankenskizze mit dem Titel ,,Ich habe einen

Traum" des Genfer Jean Pictet, eines hervorragenden Juristen und des geistigen

Vaters der Genfer Rot-Kreuz-Konventionen von 1949. Pictet stellt sich ein ,,Goldenes

Zeitalter" vor, in dem er sich in die Stadt Genf begibt und an der Stelle des alten

Gefängnisses eine florierende Schule vorfindet, statt ernster Geschäftsleute Bürger,

die einen grossen Teil ihrer Zeit der Musik widmen und dem Gedichteschreiben. Er

vergleicht die Bilder mit der ernüchternden Realität, kommt aber zum Schluss:

,,... wir Menschen brauchen eine Idealvorstellung; den Stern, an den wir noch nicht heranreichen."

Und:

,,Ein Goldenes Zeitalter werden wir nie erreichen; aber wir können uns ihm annähern, Schritt für Schritt. So wie es Präsident Kennedy einmal gesagt hat: Die Utopie - ist das nicht die Wahrheit von morgen?"1o

Es handelt sich hier um einen nicht veröffentlichten Text fur das ,,Tagebuch"; vgl. Der Briefwechsel Max Frisch/Uwe Johnson, hrg. von Eberhard Fehlke, Frankfurt a.M 1999, S . 257158. JEAN PICTET, Ich habe einen Traum, in: Die Zeit, Nr. 41 vom 7 . Oktober 1999, Teil ,,Leben", S. 20.

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Was wären solche Utopien von heute?

- Vielleicht ein Bundesrat, der am Neujahrstag geschlossen vors Volk träte (oder

besser schon vor Jahren vors Volk getreten wäre) und erklärte: ,,Wir wollen, dass

die Schweiz Mitglied der UNO wird."

- Vielleicht ein Bundeshaus, in dem die grossen Intellektuellen der Welt ein- und

ausgehen. (Präsident Abraham Lincoln verstand sich als ein ,,retailer of ideas")

- Vielleicht ein Verteidigungsminister, der sagt, dass Schweizer Wehrmänner

gerade wegen der (aktiv zu verstehenden) Neutralität, nicht trotz ihr sich

bewaffnet an internationalen Friedensaktionen beteiligen müssen.

- Vielleicht ein Bundespräsident, der der Bundesversammlung jährlich einen

Bericht über den Zustand der Welt vorlegt und damit eine Debatte über Fragen

zur Armut in der Welt, Bevölkerungswachstum (bereits ist die Zahl von sechs

Milliarden Erdbewohnern überschritten), Waffenhandel usw. einleitet.

- Eine Zeitung, die bereits vor Jahren über Massaker und andere massive,

systeniaiische Menschenrechisverletzungen ¡ri Ositimo; berichtet hatte.

- Vielleicht eine Schweiz, deren Diplomatie den Menschenrechten eine besonders

hohe Priorität einräumt. (Die Schweiz gehörte mit ihren Protesten gegen

Hugenottenverfolgungen in Savojen in der Völkerrechtsgeschichte zu den

Bahnbrechern der heute etablierten Rechtsauffassung, wonach die Kritik an der

Missachtung von Menschenrechten keine unzulässige Intervention in die inneren

Angelegenheiten eines Staates bedeutet.)"

- Vielleicht ein Kompaniekommandant, der bei seinen Soldaten nicht allein die

technische Handhabung der Waffen drillt, sondern ebenso Kenntnisse über den

legalen Waffeneinsatz nach Massgabe des humanitären Völlkerrechts.

- Vielleicht eine Universität Zürich, an der in vielen Sprachen unterrichtet wird und

der Ethik ein zentraler, ü bergeordneter Stellenwert für alle Disziplinen eingeräumt

wird.

MAX HUBER, Das Völkerrecht und der Mensch, in: Ders, Rückblick und Ausblick, Gesammelte Schriften Band IV, Zürich 1957, S. 317 ff.

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- Vielleicht eine Schule, in der die indianische Weisheit diskutiert wird, wonach man

einen ,,Berg" nicht besitzen könne; er gehöre der ,,Erde" und denen, die auf ihr

Leben; und er sei ihnen anvertraut als ,,Gut" für die Zukunft.

- Vielleicht eine Schweiz, in der gemeinnützige Stiftungen wie Pilze aus dem

Boden schiessen."

- Vielleicht eine Schweiz, in der - im ,,Weissen Wind" oder anderswo - die Statuten

für ein Minderheitenzentrum in Graubünden verabschiedet werden

usw.

Ich schliesse ab. Die Liste, die ich eben vorgelegt habe, ist Ihnen vielleicht zu lang

und zu ungeordnet. Wenn dies zutrifft, mögen Sie sich, mutatis mutandis, an den

Ausspruch halten, wonach seinerzeit - in der Aera Adenauer - kritische

Äusserungen der Intellektuellen über die Politik und Kultur nicht mehr gewesen seien

als ein ,,misstönendes Möwenkrächzen", das die ,,Fahrt eines grossen Schiffes"

begleitet habe.13 Oder Sie mögen sich an Edmund Burke halten, der schrieb, dass

wenn auch ein halbes Dutzend Heuschrecken ein Feld zum Erklingen bringen könne,

während Tausende prächtiger Kühe im Schatten alter britischer Eichen ruhten, man

nicht vergessen dürfe, dass die, die den Lärm verursachten, nicht die einzigen

Bewohner des Feldes seien, sondern eben nur einige wenige, kleine, hüpfende,

laute, garstige ,,insects of the hour".14

'' Vgi. die interessanten Überlegungen von HANS VONTOBEUEVELINE OECHSLIN und PETER REETZ, Reformbedürftiges Stiftungsrecht - Ein neuer Weg zur Entlastung des offentlichen Haushalts, NZZ Nr. 38 vom 16. Februar 1999, S. 15. Vgl PETRA WEBER, Carlo Schmid (1896-1979) - Eine Biographie, Frankfurt a.M. 1998, S. 589. CHARLES HANDY, The hungry spirit: beyond capitalism - a quest for purpose in the modern world, London 1997, S. 130.

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