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Birgit Hummler Stahlbeton Ein Stuttgart-Krimi

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Birgit Hummler

StahlbetonEin Stuttgart-Krimi

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3. Auflage 2012

© 2010/2012 by Silberburg-Verlag GmbH,Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.

Alle Rechte vorbehalten.Lektorat: Michael Raffel, Tübingen.

Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.Coverfoto: © tiamtic – iStockphoto.

Druck: CPI books, Leck.Printed in Germany.

ISBN 978-3-87407-988-4

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www.silberburg.de

Birgit Hummler, Jahrgang 1953, ist in Stuttgart aufgewach-sen und lebt heute auf der Schwäbischen Alb. Sie hat Sprach-und Literaturwissenschaften (Deutsch und Russisch) sowieJournalistik und Kommunikationswissenschaften studiert.Ihre Laufbahn als Journalistin führte sie bald zu Themen ausder Arbeitswelt, in der es manchmal mörderisch zugeht.

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I – Jewhen

Die große Gestalt beugte sich über das Bündel am Boden.Dann ging der Mann in die Hocke und verharrte reglos.Seine Augen hatten sich längst an das Dämmerlicht ge-wöhnt. Eine entfernte Straßenbeleuchtung spendete geradeso viel Licht, dass er deutlich sah, was geschehen war. Dochdie Wirklichkeit drang nicht in sein Gehirn vor. Es weigertesich zu begreifen, dass Leben unwiederbringlich ausge-löscht werden konnte, dass der Tod ein Zustand war, derabsolut und unumkehrbar ist.

Noch einmal fassten seine Hände die Schultern des Totenam Boden und versuchten, sie anzuheben. Noch immer warda die Hoffnung, eine Regung des leblosen Körpers zu spü-ren. Nur einen Funken Lebenswillen, der die Bemühungen,ihn aufzurichten, durch eine kleine Bewegung unterstützthätte.

Mühsam nur erreichte die Realität sein Bewusstsein.Langsam setzte das Erkennen ein. Was hatte er getan? Wiewar er nur auf diese wahnwitzige Idee verfallen? Wie hatteer sie in diese ausweglose Situation manövrieren können?Es war alles seine Schuld. Er hatte das größte aller Verbre-chen begangen. Durch ihn hatte ein Mensch sein Lebenverloren.

Er nahm das herannahende Dröhnen des Intercitys nichtwahr. Erst die Scheinwerfer des Zuges, die für einige Sekun-den die Szene in grelles Licht tauchten, rissen ihn aus seinerErstarrung. Dann donnerte der Zug in den nebenliegendenTunnel und gab ihm Gelegenheit für einen Schrei. Er schriesich die Lunge aus dem Hals. Er schrie seinen Schmerz in dieDunkelheit. Er durfte für ein paar Momente seiner Ver-zweiflung eine Stimme geben, weil niemand ihn in dem Ge-töse hören konnte.

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Es war längst wieder Ruhe eingekehrt. Nur der ferne Stra-ßenlärm der nächtlichen Stadt lag in der Luft. Noch langeschluchzte er immer wieder auf, wimmerte leise mit beben-den Schultern. Irgendwann hatte seine Hand die Kraft, demToten sanft die Augen zu schließen. Ein Ruck ging durchseinen drahtigen Körper. Er griff in die Taschen des leblosenMannes am Boden und fischte einen Euro, zwanzig Centund zwei Griwna-Scheine heraus. Dann erhob er sich undging über die Gleise durch den Nieselregen davon.

Dienstag, 8. März 2005

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Andreas Bialas fischte die Akte aus dem Eingangskorb. Erschlug den Deckel auf und begann zu lesen.

»Der Eingang der Erstinformation über das Ereignis er-folgte am 8. März 2005 um 1.30 Uhr. Es war über Notruf.Dort wurde die Erstinformation geprüft, ob eine polizeili-che Relevanz vorliegt.«

Wie konnte ein junger und intelligenter Mensch nur sol-che Sätze fabrizieren?!

»Die Einsatzmaßnahmen des ersten Sicherungsangriffsdurch die zuerst am Ereignisort eintreffenden Polizeikräfteist erfolgt.«

Bialas stöhnte leise. Hanna sah von ihrer Arbeit auf. Siefragte: »Luca?« Er nickte nur. Sie verstand, nickte ebenfallsund bearbeitete wieder die Tastatur ihres Computers. Bialasschlug den Aktendeckel zu, schnappte sich die Mappe undging über den Gang drei Zimmer weiter.

Luca Mazzaro war ihr jüngstes Pferd im Stall. Mit deut-schem Pass und sizilianischen Eltern, die Sizilien auch nurnoch aus Urlauben kannten. Es war das erste Mal, dass LucaBereitschaft hatte, und schon hatte er einen ungewöhnlichen

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Fall am Hals. Bialas hatte den ganzen Vormittag mit Befra-gungen verbracht. Von Angehörigen, die drei Wochen nichtgeschnallt hatten, dass ihre Oma nicht mehr unter den Le-benden weilte und in ihrer Wohnung vor sich hin stank. AmNachmittag hielt er sich als Zeuge bereit für eine Anklagegegen einen prügelnden Ehemann. Der hatte seine Frau fastins Jenseits befördert – wenn nicht die Ärzte ihr schnellstensdie eingerissene Milz entfernt hätten. Er würde nie begrei-fen, warum diese Frauen ihre Männer schützten und vertei-digten und alle, die ihnen helfen wollten, wie Narren ausse-hen ließen. Die Richter konnten gar nicht anders, als ein mil-des Urteil zu sprechen. Den ganzen Tag war er also bishernicht dazu gekommen, sich um seine Leute zu kümmern.Nun musste er Luca unter die Arme greifen.

Der stand bereits in eine warme Jacke gepackt an seinemSchreibtisch und wollte offensichtlich Feierabend machen.

»Du gehst schon?«, fragte Bialas. Es war gerade halb fünf.Luca sah ihn groß an, breitete seine Arme aus und drückte

dann beide Hände auf sein italienisches Herz.»Maestro«, sagte er mit Pathos, »ich bin zwar heute morgen

um vier Uhr aus dem besten Schlaf gerissen worden. Ich bin –pflichtbewusst, wie ich nun mal bin – sofort in die Klamottengehüpft. Und jetzt hatte ich die verrückte Idee, noch nachHausezugehen,umzuduschen.Aberwenndumichrufst ...«

Bialas entsann sich: Dienstags hatte Luca sein Jiu-Jit-su-Training. Er ging dann immer recht pünktlich, wenn auchnormalerweise nicht ganz so früh wie heute.

»Lass uns die Sache kurz durchsprechen. Nur das Wich-tigste. Ich lasse dich gleich in dein Training gehen.«

Luca zog bereitwillig die Jacke aus, hängte sie über dieStuhllehne und setzte sich. Bialas zog den Besucherstuhl zuLucas Schreibtisch. Und wieder einmal hatte er beim An-blick des durchtrainierten Körpers des jungen Kollegen einschlechtes Gewissen. Warum nur konnte er sich so gar nichtzu einer regelmäßigen sportlichen Betätigung aufraffen?

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»Also, das Wichtigste: Männliche Leiche, etwa Anfang zwan-zig«, begann Luca. »Sie haben ihn am Feuerbacher Tunnel ge-funden. Da gibt es eine Nische, einen Bogen, der aussieht wieeine kleine Tunneleinfahrt. Da geht’s aber nur ’n paar Meterrein, dann ist Schluss.« Der Tunnel war keine zehn Minutenvom Polizeipräsidium der Landeshauptstadt Stuttgart ent-fernt. Wenn man zu einem kleinen Stadtpark wollte, mussteman über eine Fußgängerbrücke die achtspurige Stadtauto-bahn überqueren. Von dieser Brücke sah man direkt auf diezwei Tunnelröhren und auf die aufgefächerten Gleise, die sichdavor bündelten. Diesen Tunnel mussten alle Züge passieren,wenn sie in Richtung Norden die Stadt verlassen wollten.Bialas hatte das Bild vor Augen. Die kleine Nische jedoch warihm noch nie aufgefallen.

»Eigentlich ein idealer Ort, wenn man ein trockenes undwindgeschütztes Plätzchen sucht«, stellte Luca fest. »Nur ’nbisschen laut, mit all den Zügen und so ...«

»Wer hat ihn da gefunden, mitten in der Nacht?«»Das ist die Frage. Die Kollegen vom Kriminaldauer-

dienst sind vom Notruf informiert worden. Und die Not-rufzentrale hat einen Anruf bekommen, dass da am Tunneleiner liegt.«

»Weiß man, wer der Anrufer war?«»Nein. Anonym. Die haben nur gesagt, dass es ein Mann

war und dass der einen ausländischen Akzent hatte. Ich habeeine Kopie des Bandes angefordert. Ist aber noch nicht ge-kommen heute.«

»Todesursache?«»Keine Ahnung. Der Mann war völlig ganz. Kein Loch,

kein Schlitz, kein gar nichts. Der Doc stand vor ’nem Rät-sel.«

Bialas sah kurz in die Akten. Den Namen des Arzteskannte er gut. Er war einer der Mediziner, mit dem die Poli-zei schon seit Jahren routiniert zusammenarbeitete, und dersich – im Gegensatz zu manchem Kollegen – mit Todesursa-chen wirklich auskannte.

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»Der Mann war jung und recht groß«, stellte Luca fest,»Aber der hatte kein Gramm zu viel auf den Rippen. Ander Grenze zur Unterernährung, sagt der Doc. Die Todes-zeit: Etwa 12 bis 24 Stunden, bevor wir ihn gefunden ha-ben. Die Totenstarre war schon voll da. Es gibt keine An-zeichen dafür, dass der Leichnam bewegt worden ist. Nurdie Temperaturbestimmung war schwierig. Der Typ lag in’nem warmen Daunenschlafsack. Armeequalität. Erfrorensein kann er nicht. Die Temperatur heute Nacht lag nie un-ter 4 Grad.«

»Was hatte er an?«»Einfache Klamotten, aber halbwegs sauber. Cordho-

sen. Karohemd. Ein billiger Parka. Die Kriminaltechnikhat sie sich schon vorgenommen. Sie sagen, morgen kommtein erster Bericht.«

»Kann Alkohol im Spiel gewesen sein?«»Sieht nicht so aus. Der Doktor hat keine Anzeichen da-

für gefunden. Gerochen hat man auch nichts. Und es lagenkeine Flaschen herum. Ein paar Lebensmittelverpackungen,billige Sachen von Aldi, die haben wir gefunden. Und etwasweiter weg an den Böschungen am Gleisrand auch Exkre-mente. Der Typ muss da etwa drei bis vier Tage gehaust ha-ben, sagt Wildermuth von der Spurensicherung.«

»Und seine Identität?«, fragte Bialas.Luca schüttelte den Kopf: »Keine Ahnung. Wir haben ab-

solut nichts bei ihm gefunden. Keinen Ausweis, keine Geld-börse, keinen noch so kleinen Zettel. Ach, und noch etwas:Es war Blut an dem Schlafsack.«

»Blut? Und keinerlei Verletzungen am Leichnam?«»Blut. Das ist sicher. Wildermuth lässt’s natürlich unter-

suchen. Auch an ein paar Stellen in dieser Höhle waren Spu-ren auf dem Schotter, bei denen die Spurensicherung festge-stellt hat, dass es Blut ist.«

Es klopfte kurz an der Tür. Hanna steckte den Kopf he-rein: »Ich mache Feierabend. Tschüs«, und damit war siewieder verschwunden.

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Noch einmal gingen die beiden Männer die Ergebnisseder bisherigen Ermittlung durch, besprachen die Maßnah-men, die Luca bereits eingeleitet hatte, und planten denweiteren Untersuchungsablauf. Luca hatte bereits sämtli-che Daten und die Fingerabdrücke des Toten an den Er-kennungsdienst beim Bundeskriminalamt gesandt. Anfra-gen an die Vermisstenkarteien bei LKA und BKA warenhinausgegangen. Die Staatsanwaltschaft war informiert.Das Band mit dem anonymen Anrufer würde spätestensmorgen zur Verfügung stehen. Vor allem aber musste dieTodesursache geklärt werden. Der Leichnam war in dasnahe beim Präsidium gelegene Krankenhaus geschafft wor-den. Mit dem Pathologen aus Tübingen war jedoch frühes-tens morgen Nachmittag zu rechnen. Die Rechtsmedizini-schen Institute waren notorisch überlastet, seitdem dieLandesregierung auch hier den Rotstift angesetzt hatte. Diewenigen Habseligkeiten des Toten waren in der Kriminal-technik. Anträge und Formulare waren ausgefüllt, undselbst der Tatortbericht war von Luca noch am selben Tagefertiggestellt worden. Mehr konnte man nicht erwarten.

Bialas klappte die Akte zu. »Fürs erste Mal ganz ordentlich«,bemerkte er nüchtern. Lobhudeleien waren nicht seine Sache.»Mach dich vom Acker. Und morgen kommst du eine Stundespäter. Die Ergebnisse kommen ohnehin nicht vor zehn.« Ersah dem jungen Kollegen nun doch an, wie müde er war.

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Der frisch gebackene Kriminalkommissar Mazzaro war seitetwa vier Monaten im Dezernat. Bialas hatte schnell festge-stellt, dass Luca sehr systematisch und zuverlässig arbeitete.Vor allem aber brachte er durch seine unbeschwerte italieni-sche Art frischen Wind in die eingefahrene und manchmalrecht miesepetrige Atmosphäre der Abteilung. Bialas hofftevon Herzen, dass sich Luca sein aufgeräumtes Wesen über

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die Jahre würde bewahren können. Sie alle hatten ihre Kar-riere mit Optimismus, Tatendrang und einem tiefen Gerech-tigkeitsempfinden begonnen. Doch man sah in diesem Jobeinfach so viel Gewalt, Gleichgültigkeit, Selbstsucht, zu vielLeid, zu viel körperliche und seelische Verwahrlosung, so-dass man auf irgendeine Art und Weise im Laufe der Jahreselbst verbogen wurde. Da wurden Kollegen zu Zynikernund andere depressiv. Da hatten manche mittlerweile einenGefühlspanzer, den nicht einmal mehr das Leid der Opferdurchdrang. Und Bialas wusste vom einen oder anderen,dass er den Frust mit zu viel Alkohol zuschüttete. Er selbsthatte sich die Haltung eines Chirurgen zugelegt, der tunmuss, was ein Mann tun muss, der lieber nichts über dieÄngste und Schmerzen des Patienten wissen will, sondernkonzentriert und beherzt die notwendigen Schnitte aus-führt. Die meisten Kollegen – er selbst nicht ausgeschlossen– benahmen sich zumeist wie die harten Jungs, denen nichtsund niemand etwas anhaben kann, die weder Angst nochSchwermut kennen. Nur Hanna surfte zwischen ihnen aufden Wellen der Gefühle und blieb doch immer im Lot. Unddas, obwohl auch sie schon viel Leid gesehen und selbst er-fahren hatte. Immer wieder mal ging sie zu einem Seelen-klempner und bezeichnete dies wie selbstverständlich alsPsychohygiene. Manchmal war Bialas neidisch darauf, dasseine Frau sich das viel leichter leisten konnte. Er hatte sichbewusst dafür entschieden, nicht alleine in einem Büro zusitzen, was ihm als stellvertretendem Dezernatsleiter eigent-lich zustand. Im täglichen Kontakt mit der gestandenen Kol-legin bekam er immer wieder etwas von ihrer ruhigen Gelas-senheit ab.

Zurück am Schreibtisch nahm er sich noch einmal die Aktevor. Er überflog das katastrophale Beamtendeutsch, das soüberhaupt nicht zu Luca passte, und betrachtete die Bilderder Spurensicherung, die der Akte beilagen. Die Aufnah-men des Toten in seinem Schlafsack wirkten fast friedlich.

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Er lag da, leicht zusammengerollt, fest eingemummelt, wieim Schlaf. Doch die Nahaufnahmen des Gesichtes, nach-dem ihn Arzt und Spurensicherer aus seinem Kokon he-rausgeschält hatten, muteten irgendwie trostlos an. Ob-wohl man dem Toten seine Jugend durchaus ansah, wirktenseine Züge verhärmt und ausgemergelt.

Bialas nahm sich die Fotos vom Fundort her. Die Aufnah-men von der näheren Umgebung zeigten, dass es hier selbstbei Nacht durch Straßen- und Gleisbeleuchtungen nie ganzdunkel war. Jedes Kommen und Gehen konnte durchaus be-merkt werden. Zudem waren diese Eisenbahnstrecken starkbefahren und die Zugführer konnten die kleine Tunnelhöhlewahrscheinlich einsehen. Die künstliche Höhle bot in derTat einen hervorragenden Schutz gegen die Witterung. Aberein dauerhaftes Versteck war dies nicht. Der Schotter am Bo-den und der Ruß an den Wänden, der selbst auf den Fotosdeutlich zu sehen war, ließen den Ort unwirtlich und kalt er-scheinen. Was immer dem jungen Mann widerfahren war –es war nichts Schönes.

Bialas seufzte und legte die Unterlagen beiseite. Er ließ sei-nen Blick widerwillig über das Chaos auf seinem Schreib-tisch gleiten. Nur dort, wo der Eingangskorb stand und dieaktuellen Fälle lagen, herrschte eine gewisse Ordnung. Erwusste, warum der Chef ihn nicht längst zum Dezernatslei-ter gemacht hatte. Und dies, obwohl Franz Kallinger liebendgern seine Doppelfunktion als Leiter der Kriminalinspekti-on 1 und Leiter des Dezernats für Todesermittlungen aufge-geben hätte: Andreas Bialas war in seinem Element, wennAufklärungsbedarf bestand. Auch wenn es nur um einen er-frorenen Obdachlosen oder den einsamen Tod eines altenMenschen ging – solange ermittelt werden musste, ging derHauptkommissar in seiner Arbeit auf, schaute nicht mehrauf die Uhr und verspürte keinen Hunger. Was danach kam,war ihm ein Gräuel. Termingerecht und in vertretbaren Zeit-

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räumen Berichte zu schreiben, Notizen zu ordnen, die Ak-ten für Vorgesetzte, Staatsanwaltschaft und die Nachweltaufzubereiten, schaffte er nach all den Dienstjahren nach wievor nur dann pünktlich, wenn mal drei bis vier Tage keineaktuellen Fälle hereinkamen – und das passierte äußerst sel-ten.

Er nahm sich einen kleinen Stapel ausgefüllter Formularevor und versuchte, sich darauf zu konzentrieren, sie sinnvollauf bestimmte Akten zu verteilen. Doch der Widerstand warjetzt, nach einem langen Arbeitstag, einfach nicht zu über-winden. Er sah auf die Uhr, und er hatte Hunger. Nach ei-nem grimmigen Blick auf die Aktenstapel holte er den Man-tel aus dem Schrank und verließ sein Büro.

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Bialas wusste, dass Thea nicht auf ihn warten würde. Sie hat-te sich ihr eigenes Leben eingerichtet. Und heute war Diens-tag, das hieß Steppaerobic mit anschließender Sauna und ab-schließendem Sekt oder Longdrink. Sie hatte da wohl einenette Gruppe von Frauen, Kolleginnen aus dem Steuerbera-tungsbüro, in dem sie halbtags arbeitete. Und die Kinder er-warteten ihn erst recht nicht mehr. Sie wurden beide langsamflügge. Das Leben draußen wurde spannender als die Fami-lie. Trotzdem fühlte er sich geborgen, wenn er nach Hausekam. Hier konnte er abschalten. Hier spürte er die Wärmeder Menschen, auch in deren Abwesenheit. Er brauchte die-se von Thea geordnete Beständigkeit der Gegenstände undRituale, um den Turbulenzen seines Berufs zu entkommen.

Erfreut stellte er fest, dass auf dem Herd noch Spaghetti in To-matensoße standen, die er sich nur warm zu machen brauch-te. Er hatte gerade die letzten roten Spuren am Mund mit ei-ner Papierserviette abgewischt, als Alexander, sein Junior,vom Handballtraining kam und in die Küche stürmte. »Du

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hast die ganzen Spaghetti aufgegessen«, stellte er entrüstetfest. »Ich habe so einen Hunger! Wir hatten heute so einScheißspiel. Der Fabian, der hat nur Mist gebaut, immer da-neben. Der steht nie da, wo er soll. Nur wegen dem hat Kars-ten gesagt, wir seien Nieten.« Der Dreizehnjährige steigertesich immer mehr in Rage. »Dann soll er den doch einfachnicht in unsere Mannschaft stecken. Der soll doch heimge-hen, der Fabian, wenn er nicht Handball spielen kann und al-les nur versaut. Und was soll ich jetzt essen?« Er stemmte dieHände in die Seite und sah seinen Vater vorwurfsvoll an.

»Du wirst ja wohl noch ein Stückchen Brot und Butterund Wurst in diesem Haushalt finden. Ich glaube nicht, dassMama euch verhungern lässt.«

»Ich hab mich so darauf gefreut«, maulte Alex und mach-te sich am Kühlschrank zu schaffen. Während er sich nach-einander drei große Brote schmierte, sie mit dicken Schich-ten Wurst und Käse belegte und eines nach dem anderen ver-drückte, schimpfte er weiter auf Fabian, die blöde Kröte, dieimmer alles vermasselte.

»Einer alleine kann kein Spiel so versauen«, sagte Bialas.»Da habt ihr andern sicher auch nicht gerade ’ne Glanzleis-tung hingelegt.«

Alexander sah ihn einen Moment lang an, als müsse ernachdenken. Dann sagte er: »Na ja«, verließ die Küche undverschwand in seinem Zimmer. Brot, Butter, Wurst und Käsesowie das Geschirr blieben auf dem Küchentisch stehen.

Bialas zappte eine Weile die Fernsehsender rauf und runter.Außer schwachsinnigen Comedy-Shows, dem Schmalz ei-ner deutschen Arztserie und blutrünstigen Actionfilmenwar nichts im Programm. Er schaltete ab und nahm sich einBuch über die legendäre Shackleton-Expedition zum Südpolvor. Er liebte Bücher über die Ersteigung der höchsten Ber-ge, die Durchquerung der heißesten Wüsten oder, wie hier,die Eroberung der Eiswüsten an den Polen der Erde. Sir Er-nest Shackleton übte eine besondere Faszination auf ihn aus.

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Der Polarforscher wollte als erster Mensch den antarkti-schen Kontinent durchqueren. Er sollte die Antarktis jedochnie betreten. Zwei Jahre lang irrte er mit seiner Mannschaftim südlichen Eismeer umher. Und es grenzte an ein Wunder,dass alle achtundzwanzig Männer der Expedition trotz un-glaublicher Strapazen lebendig und vollzählig zurückkehrenkonnten.

Es war kurz nach zehn, als Thea nach Hause kam, gut ge-launt und mit rosigen Wangen von Sauna und Sekt. Sieräumte die Küche auf, schickte Alex ins Bett und setzte sichzu ihm ins Wohnzimmer.

»Wie war dein Tag?«»Normal, wie immer.« Bialas sprach zu Hause nie über

seine Fälle. Sein rationales Ich sagte ihm, dass er seine Frauund die Kinder gegen all die Gewalt und das Elend abschir-men musste, mit denen er tagtäglich in Berührung kam. Dieberufliche Auflage, keine Informationen über laufende Fäl-le, über Personen oder Ereignisse nach außen zu geben, un-terstützte diese Haltung. Im Grunde aber wollte er eineklare Trennung zwischen Arbeit und Familie. Er wollte einHeim, in dem er abschalten konnte. Er brauchte diese »hei-le Welt«, um in der andern Welt der Angst und Aggressio-nen, der Gemeinheit und Gleichgültigkeit bestehen zu kön-nen. Wenn er von seinem beruflichen Alltag erzählte, dannvom Ärger mit Vorgesetzten, von der Bürokratie in seinerDienststelle, oder von den runden Jubiläen und Familienge-schichten der Kollegen, eben darüber, was an jeder Arbeits-stelle den alltäglichen Tratsch und Frust ausmacht.

Thea hatte den Fernseher eingeschaltet, aber die Programmewaren auch jetzt nicht niveauvoller.

»Wo ist Svenja?«, fragte Bialas und bereute seine Fragefast augenblicklich.

Thea war in einem Spät-Krimi hängengeblieben und sahmit jenem Blick zu ihm herüber, den er so sehr hasste. Er

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konnte diese vorwurfsvollen, fordernden Augen nicht aus-stehen.

»Du musst mit ihr sprechen, Andreas!« Ihr Ton warscharf. »Sie geht aus, wann sie will. Sie sagt mir nicht, wohinsie geht. Sie sagt mir nicht, wann sie nach Hause kommt. Ichweiß nicht, in welchen Kreisen sie verkehrt, was das für eineClique ist, in der sie sich herumtreibt. Wenn ich sie daraufanspreche, gibt es sofort Krach.« Ihre Stimme wurde immereindringlicher. »Wenn ich verlange, dass sie mir sagt, wo sieist und wann sie heimkommt, dann heißt es sofort: ›Ich bindoch kein Baby mehr. Ich lass mir von dir nichts mehr vor-schreiben.‹ Wenn ich sie frage, mit wem sie da ständig he-rumhängt, dann fängt sofort das Geschrei an, ich hätte keinVertrauen in sie, ich würde sie überbehüten wie eine Glucke.Sie ist gerade mal fünfzehn! Da kann ich sie doch nicht ein-fach machen lassen, was sie will. Oder? Andreas, ich will,dass du mit ihr sprichst. Sie ist schließlich auch deine Toch-ter!«

Bialas war es während des Redeschwalls immer unwohler ge-worden. Er war ein guter Vater. Er war mit den Kindern, alssie noch kleiner waren, mit großer Freude in den Zoo undzum Cannstatter Volksfest gegangen. Er hatte sie zu Kinder-festen, ja sogar ins Kino oder Theater begleitet, obwohl ihmdas selbst nie besonders viel Vergnügen bereitete. Sie hattenRadtouren gemacht und ganze Tage im Schwimmbad ver-bracht. Auch heute noch liebte er solche gemeinsamen Eventsmit Alexander. Es nervte ihn jedoch, sich um die kleinen Weh-wehchen und Sorgen der Kinder zu kümmern, den Schnup-fen und die Windpocken, um den Krach mit der bestenFreundin und den Ärger mit dem Klassenlehrer. Und um dieAbnabelungsversuche einer Fünfzehnjährigen, die langsamerwachsen wurde. Aus seiner Sicht nahm Thea diese Dingealle viel zu ernst. Svenja hatte im Grunde genommen recht:Sie war eine Glucke. Dabei wusste er, dass Thea ihm dieseHaltung sehr verübelte. »Deine sogenannten kleinen Weh-

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wehchen – das sind genau die Dinge, bei denen Kinder ihreEltern brauchen«, hatte sie einmal gesagt und ihn böse ange-schaut.

»Ich werde mit ihr sprechen«, sagte Bialas und versuchte dieHalbherzigkeit in seiner Stimme zu übertünchen. Theablickte ihn resigniert an und wandte sich wortlos ihrem Kri-mi zu. Nach zehn Minuten schaltete sie mitten im Film abund ging mit einem knappen »Gute Nacht« zu Bett. Erstjetzt fand Bialas wieder die Ruhe, sich ganz Sir Ernest Shack-leton und seiner Südpolexpedition zu widmen.

Es war fast halb eins, als er die Haustüre gehen hörte. Er hör-te, wie Svenja, ohne auch nur einen Blick ins Wohnzimmerzu werfen, die Treppe hinaufstieg und die Tür zu ihrem Zim-mer deutlich hörbar hinter sich zuschlug. Einen Momentlang fragte er sich, ob einem fünfzehnjährigen Teenagersechs Stunden Schlaf genügten, um am nächsten Tag wiederkonzentriert am Unterricht teilnehmen zu können. Sie kamwohl einfach nach ihm, und er hatte nie viel Schlaf ge-braucht. Er las das Kapitel zu Ende, bevor auch er sich insBett begab, wo Thea bereits wie ein kleines Kind schlief.

Mittwoch, 9. März 2005

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»Das Band ist da.« Lucas Stimme am Telefon klang, als wolleer den Frühling verkünden.

»Okay. Wir fahren zusammen rüber ins LKA.« Bialasschob mit Genugtuung die Akte beiseite, die er soeben bear-beitet hatte, und dankte Luca innerlich für die Unterbre-chung. Seit einer Restrukturierung der gesamten Polizei desLandes waren im Landeskriminalamt viele technische Ein-richtungen und die entsprechenden Spezialisten der Krimi-

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nalpolizei des Landes konzentriert. Auf hohem fachlichemNiveau standen diese nun allen städtischen Polizeipräsidienzur Verfügung. Was auf den ersten Blick durchaus sinnvollerschien, hatte eine Flut von Anträgen und Formularen zurFolge und bedeutete, dass Bialas für viele Dienstleistungennervige Fahrten quer durch die staugeplagte Stadt auf sichnehmen musste.

Im Medienraum des LKA erwartete sie eine junge freundli-che Kollegin mit braunem Haar und bernsteinfarbenen Au-gen. Bialas hatte schon einige Male mit ihr zu tun gehabt. Erkonnte sich jedoch nie merken, ob sie Schumann, Schusteroder Schubert hieß. Die kleine Frau Schu... begrüßte siefröhlich, sah mit großen Augen Luca an und hatte sich ganzoffenbar augenblicklich in ihn verknallt.

»Na, dann kann’s ja losgehen.« Luca reichte ihr die Ton-kassette, die in der Notrufzentrale mitgeschnitten wordenwar. Frau Schu... fütterte damit ein kleines Gerät, hackteBefehle in eine Computertastatur und erweckte so einender drei Bildschirme auf dem Schreibtisch vor ihr zum Le-ben. Nach weiteren Eingaben begann der Pegel des Spek-trogramms auf dem Bildschirm zu zittern und begleitetemit schnellem Auf- und Niederzucken, was sie nun hörten.Nach einem Rauschen war die Stimme des diensthabendenBeamten zu vernehmen:

»Notrufzentrale, was kann ich für Sie tun?«Es folgte Stille. Das Atmen eines Menschen konnte fast

nur erahnt werden.»Hier ist die Notrufzentrale. Liegt bei Ihnen ein Notfall

vor? Bitte melden Sie sich.«Wieder kam lange keine Antwort. Dann hörten sie die

Stimme eines Mannes. Keine tiefe Stimme, fast sanft, mit ei-nem rauen Unterton und starkem Akzent:

»Bitte – schauen an Zug-Gleis, bei Tunnel. Bei FirmaWagner. Toter Mann dort.«

»Wer sind Sie? Bitte nennen Sie Ihren Namen.«

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Am anderen Ende der Leitung war nun deutlich das At-men eines Menschen zu hören.

»Sagen Sie mir bitte, wo Sie sind«, insistierte der Beamte.Wieder nur das schwere Atmen. Und schließlich noch

einmal die leise rauchige Stimme, fast flehentlich: »Bitteschauen, bei Tunnel wo ist Bahnchof. Dass Mann kann be-kommen Grab.«

Dann wurde aufgelegt.Das Band war zu Ende.

Die kleine Frau Schu... drückte blitzschnell auf Knöpfe, fuhrdas Band in Sekundenschnelle zurück, ließ ihre Finger aufTastatur und Maus herumsausen und startete es noch einmal.Wieder hörten sie die sachlich-nüchterne Stimme des Beam-ten. Wieder verfolgten sie das Atmen und die abgehacktenSätze des Anrufers.

Nachdem wieder Stille im Medienraum herrschte, sagteLuca: »Man hat zunächst die Kollegen bei der Kriminal-dauerwache verständigt. Die konnten den Fundort vor al-lem deswegen ausmachen, weil der Mann die Firma Wagnergenannt hat. Wagner hat zwischen dem Feuerbacher Tunnelund dem Nordbahnhof ein altes zerfallenes Lagerhaus.Aber der Name Wagner ist groß draufgepinselt und immernoch gut lesbar.«

»Was ist das für ein Landsmann?«, fragte Bialas diefreundliche Kollegin.

»Bestimmt ein Klingone«, schaltete Luca sich ein. »EinSizilianer ist das auf jeden Fall nicht.«

»Ein Klingone?« Bialas runzelte die Stirn. Lucas Faiblefür die Star-Trek-Episoden war ihm fremd.

»Die krächzen genauso«, erklärte Luca.»Osteuropäer«, sagte Frau Schu... und warf Luca einen

heißen Augenaufschlag zu. »Ich würde sagen, aus den GUS-Staaten. Ein Pole ist es nicht. Die sprechen das L anders aus.Und die Tschechen haben nicht so ein gutturales Ch: ›Bahn-

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chof‹. Serbisch oder Kroatisch kommt für mich eigentlichauch nicht in Frage. Ich werde das aber noch mal genau aus-werten. Ich würde sagen GUS, ehemalige Sowjetunion, alsoein Russe. Beim BKA, da gibt es einen, der könnte Ihnen so-gar sagen, ob das ein Nordrusse oder ein Südrusse oder Vor-dem-Ural- oder Hinter-dem-Ural-Russe ist. Aber den be-kommt man nur in besonderen Fällen. Der ist ziemlich aus-gebucht, seit wir so viel mit der Russen-Mafia zu tun haben.«

»Südrusse?«, fragte Luca erstaunt.»Na ja, man könnte auch Ukrainer dazu sagen«, meinte

Frau Schu... verlegen.»Kann man erkennen, in welchen Räumen er spricht?«,

fragte Bialas.»Ich schätze mal: eine Telefonzelle. Aber das müsste ich

noch genauer analysieren.«»Tun Sie das bitte. Und machen Sie uns eine Abschrift

von dem Band.«Bialas wandte sich zum Gehen.»Und mehr wollen Sie nicht wissen?«, fragte Frau Schu...

fast ein bisschen enttäuscht.»Was könnten wir denn noch wissen wollen?«, fragte

Luca.»Zum Beispiel, in welcher Verfassung der Mann war, wie

alt er etwa ist, was für ein Typ ...«»Und?« Bialas wandte sich ihr wieder zu.»Also ich würde sagen: Kein alter Mann, eher ein jünge-

rer. Kein Schläger oder Großmaul, also eher der verhaltene,unauffällige Typ. Vor allem aber hatte er eine Scheißangst.Der wirkt verängstigt oder verzweifelt.«

»Und das hören Sie alles aus dem bisschen Band?« Lucazeigte sich beeindruckt.

»Ist ja schließlich mein Job.« Frau Schu... strahlte ihn mitihren bernsteinfarbenen Augen an und versprach, so schnellwie möglich die weiteren Analysen durchzuführen und einenausführlichen Bericht zu liefern, der spätestens am nächstenVormittag an das Präsidium weitergeleitet werden würde.

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Zurück in seinem Büro machte sich Bialas notgedrungenwieder an die Bearbeitung seiner Akten. Luca sammelte der-weil im Laufe des Tages alles, was nach und nach an Infor-mationen aus anderen Stellen hereinkam und hielt Bialas aufdem Laufenden. In den Vermisstendateien von Landeskri-minalamt und Bundeskriminalamt war niemand, auf den Be-schreibung und Fotos gepasst hätten. Auch der Vergleichder Fingerabdrücke blieb ergebnislos. Am Nachmittag kamder Bericht der Spurensicherung. Wildermuth höchstper-sönlich, ein drahtiger Kollege mit großer Erfahrung undtrotz seines Alters noch fast schwarzen, dichten Haaren,ging die Ergebnisse mit Bialas und Luca durch.

»Zunächst mal zu den Spuren am Fundort. Fußspurenkann man vergessen. Dort ist alles nur Schotter, also keineverwertbaren Abdrücke. Interessanter sind schon die Texti-lien. Erst mal hatten die keine Herstelleretiketten. Rausge-schnitten. Aber so kleine Bändchen, wahrscheinlich mit derWaschanleitung, an der Innenseite des Hemdes und in derUnterhose, die waren in kyrillischen Buchstaben. Auch dieMachart der Kleidung lässt auf eine Herkunft aus Osteuropaschließen.«

Wildermuth strich über seinen schwarzen Schnauzbart undlegte ihnen die Fotos mit Nahaufnahmen der Kleidung vor.

»Der Schlafsack allerdings ist Bundeswehrware«, setzteWildermuth seinen Vortrag fort. »Schlafsack und Kleidungweisen erhebliche Mengen von anorganischen Spuren auf:Da ist natürlich zum Ersten der ganze Dreck, der da auf denGleisen liegt. Dann aber gab es in der Kleidung auch Spurenvon Erde und vor allem von Mörtel und Zement. Auch Rost-spuren konnten wir sichern. Also wenn ihr mich fragt ...«

»Okay, wir fragen dich«, ermunterte Luca ungeduldigden zögerlichen Wildermuth.

»Wenn ihr mich fragt: Ich würde das so interpretieren, dassdieser Mensch sich auf einer Baustelle herumgetrieben hat.«

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»Organische Spuren?«, fragte Bialas.»Der Mann war ja nicht verletzt, wie du weißt«, wandte

sich Wildermuth Luca zu. »Trotzdem haben wir Blut amKopfteil des Schlafsackes gefunden. DNA-Analyse läuft,dauert aber bestimmt noch etwas. Blutspuren gibt’s auch aufdem Schotter etwas abseits von der Stelle, an der der Tote lag.Ob es vom gleichen ›Blutspender‹ stammt, wird sich zeigen.Ungewöhnlich ist aber auch der Schweiß, und zwar sowohlim Schlafsack als auch im Hemd und in der Unterwäsche.Der Mann muss völlig durchgeschwitzt gewesen sein, unddas bei den Temperaturen, die wir zurzeit noch haben. Nor-malerweise hätte ihn der Schlafsack im Freien gerade mal sowarm gehalten.«

In Bialas’ Nasenflügeln begann es leicht zu kribbeln. Erkannte das. Zur Verwunderung seiner Kollegen hatte er im-mer ein Stofftaschentuch in der Tasche. Aus nicht zu feinemLeinen, mit dem er die Haut um die Nasenlöcher massierenkonnte, um dieses Kribbeln zu unterbinden. Hatte er früherdiese seltsame Reaktion seines nicht zu kleinen Riechorgansnur als lästig empfunden, so war ihm im Laufe seines Lebensbewusst geworden, dass diese Nase oft als Frühwarnsystemfungierte. Sie kribbelte, wenn etwas schieflief. Sie kribbelte,wenn Bialas irgendetwas übersah. Sie kribbelte, wenn er einvages Gefühl hatte, das er noch nicht greifen konnte.

Und sie machte sich auch jetzt bemerkbar. »Wir brauchenden Pathologen«, stellte Bialas lakonisch fest.

»Was ist mit dem Pathologen?«, bäffte der Staatsanwalt insTelefon, als Bialas ihn am späten Nachmittag mit den bishe-rigen Ermittlungsergebnissen vertraut machen wollte. »So-lange ich nicht weiß, ob eine Straftat vorliegt oder nicht, in-teressiert mich diese Kiste kein Stück. Was glauben Sie, wo-hin ich hier käme, wenn ich mir jeden toten Suffkopf underfrorenen Penner vornehmen wollte. Melden Sie sich wie-der, wenn das Obduktionsergebnis vorliegt.« Damit legte erauf.

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Donnerstag, 10. März 2005

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Es dauerte bis zum nächsten Vormittag, bis Luca und Bialasin das nahegelegene Bosch-Krankenhaus gerufen wurden.Eigentlich ein Unding angesichts der Möglichkeit, dass auchein Kapitaldelikt vorliegen konnte. Doch Bialas wusste, dassdie Mediziner der Tübinger Rechtsmedizin hoffnungslosüberlastet waren und Leichen aller Art aus dem halben Landauf den Tisch bekamen. So war es auch fast eine Ehre, dassProfessor Doktor Ehrenberg, seines Zeichens stellvertreten-der Direktor des Rechtsmedizinischen Instituts, sich destraurigen jungen Mannes vom Feuerbacher Tunnel ange-nommen hatte.

Ehrenberg war hochgewachsen und schlank und hatte bil-derbuchblaue Augen, die seinen Gesprächspartner über denRand einer dünnen Brilleneinfassung ins Visier nahmen. Sei-ne hohe runde Stirn schien das ganze Gesicht zu beherr-schen, zumal das wuselige silbergraue Haar sich nach obenhin stark lichtete. Bialas kannte ihn von einer Vielzahl vonFällen und war doch jedes Mal aufs Neue erstaunt, welchestoische Leidenschaftslosigkeit dieser Mann toten Menschenentgegenbrachte. Alle Rechtsmediziner gingen cool mit ih-ren Klienten um und waren in der Regel nur durch besonderskrasse Fälle aus der Fassung zu bringen. Wer das nicht konn-te, wurde eben kein Rechtsmediziner. Doch Ehrenberg hattedie Abgeklärtheit zu einer Perfektion getrieben, der keinemenschliche Regung mehr anzumerken war. Zugleich war erbrillant in seiner Arbeit. Was immer ein Leichnam hergebenkonnte an Informationen, Professor Ehrenberg holte es ausdem Toten heraus. Noch nie, seit Bialas ihn kannte, war ihmein Fehler oder eine Unachtsamkeit unterlaufen. Seine Gut-achten waren von einer Präzision und Stichhaltigkeit, die je-dem Staatsanwalt das Herz höher schlagen ließen. So löste

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der Mann in Bialas sehr widersprüchliche Gefühle aus. Be-fremden und Hochachtung lagen eng beieinander.

»So, meine Herren«, begrüßte sie Ehrenberg und reichte ih-nen die Hand. Ein Assistent, der an einem großen Edelstahl-becken Instrumente reinigte, nickte ihnen zu. Professor Eh-renberg zog sich die dünnen Gummihandschuhe über undreichte ihnen, zu Bialas’ Erstaunen, einen Mundschutz, wieihn Chirurgen tragen.

»Legen Sie die bitte an, zu Ihrer Sicherheit«, sagte Eh-renberg und band sich selbst ebenfalls eine Binde vor denMund. Dann trat er zu dem Toten.

»Vieles sehen Sie ja selbst. Ein Mann, etwa zwanzig Jahrealt, eins siebenundachtzig groß, athletische, wenngleichrecht ausgezehrte Konstitution. Das Gebiss lässt auf eineHerkunft aus einem osteuropäischen Land schließen, amwahrscheinlichsten aus Russland. Man arbeitet dort mitsehr einfachen, aber robusten Mitteln. Schauen Sie sich dieHände an.« Ehrenberg nahm eine Hand des Toten unddrehte die Innenfläche nach oben. »Die Schwielen und klei-nen Verletzungen lassen auf eine schwere handwerklicheTätigkeit schließen. Ansonsten weist der Leichnam keiner-lei äußere Verletzungen auf. Die Röntgenbilder zeigen kei-ne Frakturen. Nur das Schlüsselbein hat sich der jungeMann irgendwann mal gebrochen, wahrscheinlich in dermittleren Kindheit.

Was den Todeszeitpunkt betrifft, muss ich meinen Kolle-gen vor Ort korrigieren. Der Mann war mindestens 24 Stun-den tot, als man ihn fand, wahrscheinlich sogar länger. Ichkann dem Kollegen daraus jedoch keinesfalls einen Vorwurfmachen. Die Todeszeitermittlung ist nämlich durch den Um-stand verfälscht worden, dass der Tote zum Zeitpunkt desTodes eine wesentlich höhere Körpertemperatur hatte als ge-wöhnlich, nämlich mit Sicherheit über 41,5 Grad.«

»Daher die Schweißspuren in seiner Kleidung und in demSchlafsack«, stellte Bialas für sich fest.

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»Wenn man ihm fiebersenkende Mittel verabreicht hat.Die Erhöhung der Temperatur führt zunächst zu Schüttel-frost. Erst wenn die Temperatur sinkt, folgen Schweißaus-brüche. Die waren vielleicht heftig, aber sicher nicht vonDauer. Er muss sehr schnell wieder sehr hohes Fieber be-kommen haben, sodass die Proteine seines Körpers denatu-rierten – sie wurden gekocht, wenn Sie so wollen.«

»Aber woran ist er gestorben?«, fragte Luca, der sichtlichMühe hatte, die Aussagen des Professors zu interpretieren.

»Galoppierende Schwindsucht«, antwortete der lapidar.»Galoppierende was?«, fragte LucaEhrenbergs blaue Augen sahen Luca über den Rand sei-

ner Brille hinweg prüfend an. »Phthisis florida. Oder wieder Volksmund früher sagte: Galoppierende Schwindsucht.Eine sehr seltene, schnell und tödlich verlaufende Lungen-tuberkulose. In den Lungen sind große Kavernen. Mankönnte sagen, Höhlen. Dazu ausgedehnte Eiteransammlun-gen zwischen den Brustfellblättern. Der Mann hätte drin-gend in medizinische Behandlung gehört.«

»Gibt es eine Therapie?«, fragte Bialas hinter seinemMundschutz.

»Aber ja doch. Antituberkulotika. Kein Problem, wennman rechtzeitig damit beginnt und die Medikamente übereinen langen Zeitraum hin einnimmt. Er muss schon eineganze Weile Probleme gehabt haben. Husten, Atembe-schwerden, Kopfschmerzen, Erbrechen. Außerdem hat ermit Sicherheit Blut gespuckt.«

»Das Blut am Fundort«, konstatierte Luca.»Nach dem Befund der Lungen würde ich sagen: Der

Mann hatte bereits als Kind eine TB-Infektion, die aber zu-nächst still blieb, also eine geschlossene, nicht ansteckendeForm der Tuberkulose. Dann muss – in jüngerer Zeit – eineerhebliche Schwächung des Immunsystems eingetreten sein.Oder eine Zweitinfizierung. Oder beides. Damit kommt eszum zweiten Stadium, zur offenen TB. Mit den soeben ge-nannten Symptomen. Wenn dann nichts passiert, beginnt die

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Schwindsucht zu galoppieren, und das bedeutet den siche-ren Tod.«

Die Männer sahen eine Weile schweigend auf das ausge-mergelte Gesicht des Toten. »Ich dachte immer, Tuberkulose– das ist etwas aus dem vorletzten Jahrhundert«, sagte Luca.»So etwas wie Pest und Cholera.«

»Das ist leider nicht so«, antwortete der Professor. »Ichsagte Ihnen ja: Der Zahnbefund deutet auf einen Osteuropä-er hin.«

»Davon können wir ausgehen«, bestätigte Bialas, »wirhaben auch andere Hinweise, die darauf schließen lassen.«

»In Osteuropa, vor allem in Russland, haben wir einenalarmierenden Anstieg von Tuberkulose-Erkrankungen.Nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems ist leiderGottes auch das Gesundheitssystem in vielen Gegenden völ-lig zusammengebrochen. Das hat dazu geführt, dass man dieregelmäßigen Röntgenreihenuntersuchungen eingestellt hat.Vor allem aber behandelt man Tuberkulosefälle mit billigenMedikamenten, und das oft nur über kurze Zeit. Das wie-derum ist der sicherste Weg, antibiotikaresistente Bakte-rienstämme zu züchten. Und die Krankheit ist damit auchbeim einzelnen Infizierten nicht besiegt. Die Tuberkulosebricht wieder aus – mit fatalen Folgen. Man schätzt heute,dass mindestens drei Millionen Russen an Tuberkulose er-krankt sind. Von wegen vorletztes Jahrhundert. Mit der Völ-kerwanderung aus dem Osten hierher bekommen wir übri-gens auch unsere Probleme. Vor uns liegt eines.«

Nach einem kurzen Schweigen der Männer atmete Lucatief durch und sagte:

»Aber wir haben damit ein Problem weniger. Ein Mordwar das jedenfalls nicht. Fall abgeschlossen.«

Der Professor sah den Neuling kritisch an. »Das glaubeich nicht, junger Mann«, sagte er streng. »Ich musste diesenFall natürlich unseren Gesundheitsbehörden melden. Unddie werden von Ihnen genauestens wissen wollen, seit wannder Mann in Deutschland ist, wo er sich aufgehalten hat, mit

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wem er in Berührung gekommen ist, wo er sich angestecktund wen er wiederum infiziert haben könnte. Sie haben alsodurchaus einen Fall.«

Während Luca ganz offensichtlich noch nicht realisierte,was das bedeutete, war Bialas klar, dass sie damit eine missli-che Aufgabe vor sich hatten. Wie sollte die Spur eines Men-schen verfolgt werden, von dem nicht mehr bekannt war, alsdass er irgendwo aus den unvorstellbaren Weiten des ehema-ligen Sowjetreiches stammte, und von dem es bislang keiner-lei Hinweise auf seine Identität gab? Der anonyme Anrufer– das war ein Ansatzpunkt. Ein verängstigter Mensch, derimmerhin den Anruf gewagt hatte, weil er wollte, dass derTote ein Grab finden würde. Doch wie sollte man den Mannauftreiben, von dem sie noch weniger wussten als von demToten?

Schweigend machten sich die beiden Kommissare auf denkurzen Fußweg von den modernen Gebäuden des Kranken-hauses zum klobigen Kasten des Präsidiums. Erst kurz vorder Pforte blieb Luca plötzlich stehen.

»Warum ist er nicht zu einem Arzt gegangen?« Er schüt-telte den Kopf. »Die müssen in so einem Fall doch helfen.Selbst wenn er es nicht bezahlen konnte. Oder wie ist das beiuns geregelt? Man lässt doch Menschen nicht einfach ster-ben! Und der Typ, der den Notruf angerufen hat? Der mussden Mann doch gekannt haben. Wahrscheinlich schon, be-vor es dem so dreckig ging. Warum hat der nichts unternom-men? Mamma mia! Verstehst du das?« Er hob beide Händezum Himmel und war richtiggehend erschüttert.

Bialas zuckte die Achseln. Er spürte in diesem Momentsehr deutlich, wie abgebrüht er bereits war. Man durfte dieSchicksale dieser Menschen nicht zu nahe an sich herankom-men lassen. Sein junger Kollege hatte noch eine zu dünneHaut. Oder es war einfach die italienische Seele, die vielmehr Emotionen zuließ.

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Luca tat sein Bestes, doch der Fall kam nicht mehr voran.Die Erd- und Staubspuren an der Kleidung und an dem To-ten selbst waren so unspezifisch, dass sie unmöglich irgend-einem Gebiet in der weiteren Umgebung zugeordnet wer-den konnten. Zement, Rost und Holzreste wiesen auf eineBaustelle als möglichen Aufenthaltsort hin. Doch bei alleineinem Dutzend Großbaustellen in der Region und einerVielzahl von kleineren Bauprojekten war auch damit nichtviel anzufangen. Man informierte die Kollegen von der Zoll-fahndung, die in den letzten Jahren spezielle Einheiten zurKontrolle von Baustellen aufgebaut hatten. Es wurde veran-lasst, dass aufgegriffene Schwarzarbeiter aus Osteuropa sichumgehend auf Tbc untersuchen lassen mussten.

Doch die Kollegen vom Zoll machten hier wenig Hoff-nung. »Die ohne Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis erwi-schen wir meist gar nicht. Und das sind eben die Russen undRumänen und Bulgaren und Ukrainer. Schon bevor sie zuarbeiten beginnen, baldowern die Fluchtwege aus, die wirmeist gar nicht überschauen, wenn wir auf eine solche Bau-stelle kommen. Selbst wenn wir uns vorher eingehend mitden Plänen vertraut machen. Und wir haben schon genugmit den Polen zu tun, die zwar offizielle Papiere haben, aberin Wirklichkeit weder sozialversichert sind noch die Min-destlöhne bekommen, sodass wir manchmal ganz froh sind,wenn wir nicht alle schnappen.«

Auf einer Brotverpackung aus durchsichtiger Plastikfo-lie, die man bei dem Toten am Feuerbacher Tunnel gefun-den hatte, konnte man immerhin außer dessen Fingerab-drücken die Papillarleisten von Daumen, Ring- und Mittel-finger einer weiteren Person identifizieren. Sie suchtennach der Telefonzelle, aus der der anonyme Anrufer ange-rufen haben konnte. Vor allem die Apparate der nahegele-genen U-Bahn-Station und am Nordbahnhof wurden vonder Spurensicherung eingehend untersucht. Doch die Su-

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che nach Fingerabdrücken in einer öffentlichen Telefonzel-le war etwa so erfolgversprechend wie die Identifizierungeines individuellen Zebras in einer hundertköpfigen Herde.Immerhin fand man auf dem Hörer einer Bahnhofszelle ei-nen verwischten Daumenabdruck, der in einigen Merkma-len mit denen auf der Brotverpackung übereinstimmte.Beim Bundeskriminalamt konnten die Fingerabdrücke je-doch ebenso wenig zugeordnet werden wie die Stimme desanonymen Anrufers, die man den Kollegen dort weiterver-mittelt hatte.

Das Blut stammte in der Tat von dem Toten, war mitLungenepithelgewebe vermischt und hochinfektiös mit Tu-berkelbazillen durchsetzt. Auch Speichel und Schweiß inSchlafsack und Kleidung konnten eindeutig dem Toten zu-geordnet werden. Der graue Schlafsack Marke Bundeswehrwar ein älteres Baujahr. Es gab Hunderte von Secondhand-shops, von Freizeit- und Outdoor-Läden sowie Internet-Versteigerern und -Verkaufsportalen, über die solche Warezu beziehen war.

Das Bundeskriminalamt wurde beauftragt, ein Rechts-hilfeersuchen an die entsprechenden Behörden der verschie-denen GUS-Staaten zu richten. Doch auch die BKA-Leutemachten wenig Hoffnung. »Die Zusammenarbeit ist mehrals zäh«, informierte sie ein Kollege. »Auf dem Papier gibt eswunderbare Abkommen, schon seit einigen Jahren. Aberwenn kein öffentliches Interesse an so einer Geschichte be-steht, hier oder bei denen, dann werden die Ersuchen kaumbeantwortet.« Die Chancen, den unbekannten Toten aufdiesem Wege zu identifizieren und damit einen Ansatzpunktzu haben, auf welchen Wegen er nach Deutschland gekom-men war und wo er sich aufgehalten haben könnte, warendamit gleich Null.

Alte Fälle mussten zu Ende gebracht werden, neue Fällekamen hinzu, sowohl für Bialas als auch für Luca, und füll-ten mehr und mehr das Blickfeld. Nichts Spektakuläres, eineMesserstecherei, ein verstorbener Obdachloser, tote Rent-

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ner in einsamen Wohnungen, eine Tante, die behauptete, ihrNeffe wolle sie vergiften. All das rückte den Toten vom Feu-erbacher Tunnel immer mehr in den Hintergrund, der in derZwischenzeit in einer Kühlkammer der Tübinger Rechtsme-dizin ein Zwischengrab gefunden hatte. Derweil schicktedas Gesundheitsamt regelmäßig Anfragen und verlangte Be-richte darüber, was die Polizei unternommen habe, um mög-liche Gefahrenquellen zu identifizieren.

Zu Hause drückte sich Bialas konsequent vor dem Gesprächmit seiner Tochter. Er sah sie ohnehin selten und wusste ei-gentlich auch gar nicht so recht, worüber er mit ihr hättesprechen sollen.

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